(Chile) Auf dem Drahtseil: Beiträge und Überlegungen aus und für den anarchistischen Kampf

Hier ein Text von Franciso Soler, wir haben den Text auf Contrainfos gefunden, wo dieser auch auf anderen Sprachen zu finden ist

Auf dem Drahtseil: Beiträge und Überlegungen aus und für den anarchistischen Kampf

Dieser Text versucht ein Beitrag zur Entwicklung und Vertiefung des anarchistischen informellen Kampfes zu sein, wobei die technologischen Fortschritte betrachtet werden, die sich immer mehr auf die Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung allgemein und vor allem derer, die sich darauf einlassen gegen das Bestehende zu rebellieren, spezialisieren.Er entspringt auch dem Bedürfnis, der Macht härtere und fortwährende Schläge zuzufügen, welche Risse erzeugen, die weiter vertieft werden können.

Niemanden überrascht der schnelle Anstieg der Überwachung durch Kameras, durch die unzähligen Kredit- und Punktekarten die wir für fast alles benutzen müssen und der beginnende aber rasante Anstieg des Gebrauchs von Drohnen zur Überwachung. Wenn wir dem noch die Kontrolle durch die Handys hinzufügen, dann verschärft sich das Panorama noch viel mehr. Dieses technologische Räderwerk übernimmt dadurch, dass es vernetzt ist fast die absolute Kontrolle über die Stadt, unserem Schlachtfeld. Das Verknüpfen von Aufnahmen, Uhrzeiten und das Benutzen von diesem oder jenem Hilfsmittel, sei es der öffentliche Nahverkehr oder Andere, führen dazu, dass es möglich ist die Bewegungen jedes Individuums zu registrieren und zu erfassen. Die ganze Stadt steht unter Beobachtung, und ohne zu übertreiben kann man sagen, diese Welt ist praktisch ein Hochsicherheits-Freiluftsgefängnis. Wenn wir noch die Anwesenheit der Polizei und jetzt des Militärs an jeder Straßenecke berücksichtigen, zeigt sich das Szenario noch eingeengter und kontrollierter.

Wenn also jedes Individuum der Gesellschaft durch die genannte Vernetzung der Überwachung unter Beobachtung steht, verschärft sich die Kontrolle für jene erheblich, die sich als Feinde dieser Gesellschaft bekennen und demzufolge handeln, wobei die Situation noch schwieriger wird, wenn man an jene Personen denkt, die den repressiven Apparaten schon bekannt sind, weil sie bereits im Gefängnis waren, weil sie mit Räumen in Verbindung stehen, die auf die Konfrontation setzen oder aus diversen anderen Gründen. Der Spielraum für kompromisslose Aktionen verkleinert sich und führt dazu, dass der Angriff zu einem Drahtseilakt wird bei dem man die ganze Zeit kurz davor steht abzustürzen. Was tun um den repressiven Schläge auszuweichen? Oder eher: Was tun um den Repressionsbehörden ihre Arbeit zu erschweren?

Optionen und Entscheidungen

Ein Kritikpunkt der informellen Tendenz des Anarchismus an den politisch-militärischen Gruppen der Linken, ist ihr großer Organisationsapparat, der sie untere anderem dazu bringt sich für die Klandestinität als Strategie des Kampf zu entscheiden. Diese Situation der Klandestinität bringe eine klare Verteilung der Funktionen/Rollen mit sich, die mit der Militarisierung dieser Gruppen direkt in Verbindung stehe. So verstanden wäre die Klandestinität also fundamental im Räderwerk einer Organisation, die ihre Militante in Legale und Illegale unterteilt, wobei letztere der verborgene Flügel wären, der sich darum kümmert die Schläge auszuführen und erstere das öffentliche Gesicht, dazu bestimmt Unterstützungs-, Logistik-, und Propagandanetzwerke aufzubauen. Das Leben in Klandestinität kennzeichne sich dadurch, sehr auf operative Aspekte begrenzt zu sein; eine Dynamik des permanenten Kampfes die laut ihren Kritiker_innen essenzielle und bereichernde Aspekte beiseite lässt wie zum Beispiel den nötigen Austausch an Erfahrungen, das Teilen von Ideen in Bezug auf den Kampf oder sich mit Dingen beschäftigen, die, wenngleich sie sich nicht nur um den bewaffneten Kampf drehen, für die totale Befreiung unverzichtbar sind. Ausgiebige Diskussionen über verschiedene Themen, die das Blickfeld erweitern sind in der Klandestinität sehr schwer oder sogar unmöglich zu führen, was zeigt welche Momente und entscheidende Erfahrungen man in dieser Situation verpasst. Nicht der Logik des Konsums zu verfallen ist in der Klandestinität auch ziemlich kompliziert, da diese es verlangt bürgerliche Wege zu beschreiten wenn man beabsichtigt nicht aufzufallen. Diese und noch viele weitere sind die Einschränkungen, die diese Art von Leben, deren wesentliches Element die Einsamkeit ist, mit sich bringt.

Ich will klarstellen, dass ich gerade von einer Art der Klandestinität in und für den Kampf spreche und nicht von einer, die, egal wie gültig und legitim sie auch ist, darin mündet vor dem Feind zu fliehen um ein ruhiges Leben zu führen, ohne in die Offensive zu gehen. Ich meine eine gewählte  Klandestinität – auch wenn es jene gibt die in diese Situation gezwungen werden – als Strategie des Kampfes, als Strategie dem Feind stetige und starke Schläge zu verpassen.

Eine andere oft gemachte Kritik an Gruppen und Organisationen, die sich für diesen Weg entscheiden ist, dass sich schließlich ihre ganze politische Tätigkeit darum dreht, ihre „klandestine Struktur» aufrechtzuerhalten, die viele Ressourcen jeglicher Art benötigt um zu bestehen. Dadurch unterlässt man so unverzichtbare Aufgaben wie die Propaganda oder das Generieren von Unterstützernetzwerken um die Klandestinen zu unterhalten, etwas was letztendlich ganz offensichtlich kontraproduktiv ist und den Militarismus stärkt.

Beispiele die man berücksichtigen sollte

Nicht nur die politisch-militärischen Organisationen der Linken haben die Klandestinität gewählt um die Macht zu konfrontieren. Auch anarchistische und autonome Gruppen haben auf diese Strategie zurückgegriffen, Erfahrungen die erwogen werden sollten, in dem Moment, wenn diese Option im Raum steht.

Eine der bemerkenswertesten Erfahrungen in diesem Sinne war die der MIL (Movimiento Ibérico de Liberación), die in Katalonien zu Beginn der 1970er Jahre aus der Klandestinität heraus gegen die Franco–Diktatur gekämpft hat. Offensichtlich war der erstickende Würgegriff Francos dafür ausschlaggebend, dass die genannte Gruppe diese Option wählte. Trotzdem gingen ihre Mitglieder_innen obwohl sie von den repressiven Strukturen noch nicht identifiziert worden waren automatisch in die Klandestinität, sobald die Gruppe gegründet wurde oder sie dieser beitraten. Die Besonderheit der MIL war zweifellos ihre reichliche theoretische Produktion, welche sie auf gute Art und Weise mit dem bewaffneten Kampf zu ergänzen wussten. Die konstante Publikation von Texten und Überlegungen, wobei sie sogar den Verlag «Mayo del 37» gründeten, zeigt, dass die Propaganda und die Schaffung von politischen Überlegungen eines der wichtigsten Anliegen der MIL darstellte, sogar wichtiger als der bewaffnete Kampf.

Einen ähnlichen Weg beschritten die autonomen Gruppen, die hauptsächlich in Barcelona, Valencia und Madrid operierten, zu gleicher Zeit und nach dem MIL, während dem demokratischen Übergang im spanischen Königreich. Die Individuen mussten im Moment in dem sie sich dazu entschieden Teil einer dieser Gruppen zu werden, schon Waffen, Kontakt zu einer konspirativen Wohnung und falsche Papiere haben um auf diese Weise zur Aktion überzugehen. Verschiedenen Erzählungen zufolge führte diese Situation der Klandestinität schließlich dazu, dass die politische Praxis im Grunde darin endete Banken zu enteignen um die Klandestinität zu finanzieren, was unter anderem verhinderte Unterstützernetzwerke aufzubauen und auszuweiten. Es ist interessant zu betrachten, dass die repressiven Strukturen des spanischen Staates – die Brigada Político Social (politisch soziale Brigade) – während des demokratischen Übergangs intakt blieben, was dazu ausschlaggebend sein könnte, dass die autonomen Gruppen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre mit der selben Dynamik weitermachten wie die Gruppen die während der Diktatur operierten.

Die Erfahrung der Verschwörung der Feuerzellen (CCF) in Griechenland sollten auch berücksichtigt werden, da es sich dabei um eine informelle anarchistische Gruppe der Aktion der letzten Jahre handelt die sich für die Klandestinität entschieden hat. Ich weiß nicht, ob diese Entscheidung dadurch erzwungen wurde, dass eine_r oder mehrere ihrer Mitglieder_innen zuvor durch die repressiven Strukturen identifiziert wurden. Aber Fakt ist, dass sie konstant angriffen, mehrere dutzend Mal in einem Jahr, was vielleicht einen der Vorteile der Klandestinität widerspiegelt.

Eine andere anarchistische Gruppe die im selben Territorium den bewaffneten Kampf führte war «Revolutionary Struggle» die aufgrund der polizeilichen Verfolgung in den Untergrund ging und der Macht in dieser Situation harte und heftige Schläge versetzte. Der Fall von «Revolutionary Struggle» ist ein klares Beispiel von Klandestinität im sozialen Krieg wobei ihre Aktionen in ihrem Umfang das System als Ganzes in Schach hielten – dies laut einem der Urteile gegen sie.

Alle genannten Gruppen hatten die Besonderheit, dass sie nicht aus rigiden Strukturen mit einer klaren Rollenverteilung bestanden, wie sie die politisch-militärischen Organisationen der Linken aufweisen. Ihre Wahl für den bewaffneten Kampf war eine frei getroffene Entscheidung, wobei sie den Preis berücksichtigten den diese mit sich brachten. Ihre politische Praxis mündete im bewaffneten Kampf; einige führten sporadische Aktionen großen Ausmaßes durch und andere rastlose Angriffe die der Macht keine Ruhe ließen. Trotzdem vernachlässigten sie weder das Reflektieren noch die Verbreitung dieser Gedanken, was einen Beitrag zu der qualitativen Entwicklung anarchistischer Kämpfe darstellte, indem sie in den Taten eine Kohärenz zwischen dem was propagiert und dem was praktiziert wird aufzeigen.

Über das Bedürfnis hart zuzuschlagen

Der Angriff gegen das Bestehende ist legitim seit Staat und Kapitalismus existieren und diese Ansicht, so glaube ich, wird in der informellen anarchistischen Tendenz geteilt. Nun, das Bedürfnis, dass diese Aktionen ein größeres Ausmaß annehmen sollten, ist etwas, was bei verschiedenen Gelegenheiten propagiert wurde, was aber wenig Verwirklichung erfuhr. Angriffe die die Mächtigen erzittern lassen, die dem Unternehmer, der einen Fluss austrocknen lässt um seine Avocado-Plantage zu wässern, klarmachen, dass seine Handlungen Konsequenzen haben werden, sind unentbehrlich für eine anarchistische Perspektive des Kampfes.

Aktionen die Schlagkraft und Entschlossenheit zeigen und von jedem Individuum reproduziert werden können, das als Perspektive die Freiheit hat. Sei es im Kontext einer Revolte, um diese auszuweiten oder zu vertiefen, in der „Normalität» um zu versuchen Brüche zu erzeugen, oder auch als Racheakt, wird es notwendig sein einen qualitativen Sprung im informellen, anarchistischen Kampf zu machen, um neue Möglichkeiten zu eröffnen, die wir noch nicht kennen. Wenn wir beabsichtigen, dass unsere Aktionen eine größere Wirkung haben, sollten sie relativ häufig stattfinden, denn die Erinnerung wird immer schwächer und kurzfristiger, weshalb unsere Schläge, sollten sie zu sporadisch sein, das Risiko laufen zu Einzellfälle und Anekdoten zu werden. Wie jemand mal sagte: «Wenn sich die Angriffe ein ums andere Mal wiederholen, beginnt die Poesie».

Ist es also in einer Situation der Legalität, wo der Feind deine Schritte kennt und weiß wo du aufzufinden bist, möglich komplexe Angriffe großen Ausmaßes mit einer erheblichen Häufigkeit durchzuführen? Würde es die Klandestinität erleichtern Aktionen dieser Art durchzuführen?

Letzte Worte

Es ereignet sich eine Aktion gegen die Macht die auf irgendeine Weise die Normalität aufwühlt, die Polizei beginnt sofort zu arbeiten es gelingt ihr Hinweise oder einen starken Verdacht zu erlangen, wer die Verantwortlichen sein könnten. Es sind jedoch weder ihr Aufenthaltsort noch die Orte bekannt die sie regelmäßig besuchen, noch die Leute mit denen sie in Kontakt stehen.«

Dieses Beispiel zeigt einen der Vorteile der Klandestinität. Die polizeiliche Arbeit in Bezug auf die Suche und Festnahme zu erschweren. In diesem Punkt ist es wichtig auf den Punkt des technologischen Fortschritts der Kontrolle und Überwachung zurückzukehren: Indem fast die gesamte Stadt überwacht ist, eine Überwachung die sich tagtäglich perfektioniert, wird jeder Fehler in der Ausführung sehr kostspielig und sollten die, die sie durchführen der Polizei bekannt sein, werden sie unmittelbar festgenommen. Dies passierte zum Beispiel den Gefährten Alfredo Cospito und Nicola Gai als sie auf den Atom-Unternehmer Adinolfi schossen. Die Klandestinität würde auf die ein oder andere Weise dazu führen, dass die Technologie teilweise für die Überwachung an Effektivität verlieren würde, denn in dem Moment in dem die Täter ausfindig gemacht würden, wären diese bereits wieder abgetaucht und daran sich für den nächsten Angriff zu verschwören. Die ständige polizeiliche Überwachung die über die Feinde der Macht ausgeübt wird, würde wirkungslos werden, was zweifellos einen weiteren Vorteil der Klandestinität ausmacht da sie viel mehr Bewegungsfreiheit erlaubt. Die Tatsache überall überwachende Augen zu haben schränkt das Handlungsvermögen enorm ein, sei es für sporadische Schläge oder noch mehr wenn diese regelmäßig durchgeführt werden. Die Klandestinität würde also eine Praxis des systematischen Angriffs genauso erleichtern, wie das Generieren von Komplizenschaften, da die politische Tätigkeit fast in ihrer Gesamtheit der Verschwörung und der Aktion gewidmet wären.

Aber diese Art von Leben, ist das wirklich das was wir suchen und wollen? Können wir diese Dynamik leben ohne in militaristischen Verhaltensweisen zu enden? Zweifellos würden in dem Moment, wo man sich für die Klandestinität entscheidet mehrere unverzichtbare Aspekte der anarchistischen Praxis auf der Strecke bleiben. Das permanente Hinterfragen das auf individueller und kollektiver Ebene betrieben wird um zu versuchen uns von autoritären und/oder bürgerlichen Verhaltensweisen zu lösen, wäre etwas, das schwer werden würde, wenn man die Dynamik der Klandestinität  berücksichtigt, die, wie zuvor dargestellt, es verlangt Verhaltensweisen anzunehmen die oft nicht mit dem Ziel zu vereinbaren sind, nicht aufzufallen. Diskussionen sowie ausgedehnte und ergiebige Debatten mit Gefährt_Innen, die in unserer Entwicklung so hilfreich sind würden wegfallen, da die öffentlichen Kontakte spärlich oder praktisch inexistent wären.

Zu dem davor Gesagten kommt noch, dass die Klandestinität auch das Risiko beinhaltet Hierarchien und vertikale Beziehungen zu erschaffen, wobei wir zu dem werden was wir kritisieren und angreifen, wodurch eine abgrundtiefe Distanz zwischen Mittel und Zweck geschaffen wird. Von dem Moment an, wo dieses geschieht haben wir verloren, haben wir begonnen Methoden zu benutzen, die dem was wir propagieren entgegengesetzt sind und in diesem Fall wäre es ratsam die Option der Klandestinität zu verwerfen.

Darum: Wie sind eine Praxis des systematischen Angriffes großen Ausmaßes mit der notwendigen individuellen Entwicklung in den verschiedensten Bereichen vereinbar?

Allein die Offensive und das Perfektionieren des informellen anarchistischen Kampfes und die Wege die dieser eröffnen kann werden uns Antworten geben.

Francisco Solar

Hochsicherheitsbereich des Cárcel de Alta Seguridad, Santiago de Chile

September 2020

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