(Argentinien) BLEIB ZU HAUSE?

Gefunden auf der Nummer 75 der anarchistischen Publikation Oveja Negra, die komplette Ausgabe dieser Nummer ist hier auf Spanisch zu lesen, die Übersetzung ist von uns. Weitere Artikel dieser Publikation sind auch auf unserer Seite.

Einleitung der Soligruppe für Gefangene

Vor dem Hintergrund des kürzlich vom Bundesverfassungsgerichts gekippten Berliner Mietendeckels und dem darauf folgenden Protest, der sich durch eine große Spontandemo in Berlin am Abend des Urteils artikulierte, ist der Text, der sich auf die Situation in Argentinien bezieht, aktuell auch für die Diskussion hier vor Ort von Relevanz. Im Großen und Ganzen war der Tenor des Echos auf die Spontandemonstration innerhalb der sogenannten Linken (eigentlich egal ob sie sich das Label radikal oder nicht auf die Brust heftet) eher positiv, endlich trägt die Mieten- oder Mieterbewegung ihren Zorn mal tatsächlich auf die Straße, anstatt nur darüber zu schreiben wie wütend sie sind, und der Mietendeckel wurde quasi als Motor der sozialen Veränderung oder des sozialen Wandels gepriesen, zumindest innerhalb der Grenzen dieser Stadt. Wir wollen auch gar nicht in Abrede stellen, dass die Menschen tatsächlich wütend sind, oder dass es für viele tatsächlich von existentieller Bedeutung ist, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, kein Geld zurückhalten konnten, usw.

Was uns nur verwundert ist, dass dieser durch und durch reformistische Mietendeckel, der ja auch nicht bis in alle Ewigkeit gegolten hätte, von Tausenden so vehement verteidigt wird, als sei er das Allheilmittel gegen einen Wohnungsmarkt, der doch in einer kapitalistischen Gesellschaft immer nur auf Profit ausgelegt sein kann und sich nie am Gemeinwohl orientiert, höchstens zufällig mit diesem korreliert, wenn sich damit Gewinne erzielen lassen. Dieser Irrglaube, dass durch staatliche Regulationen oder Übernahmen (Hallo, Deutsche Wohnen enteignen!) sich tatsächlich etwas an den Ausbeutungsverhältnissen ändern würde, ohne zu erkennen, dass es sich einfach nur um den vulgärsten Reformismus handelt, der nur den sozialen Frieden bewahren möchte, um eben genau zu verhindern, dass sich die Verhältnisse ändern, ist uns unverständlich. Das wir damit nicht allein sind und vielleicht auch nicht so danebenliegen, was zu unserem Unglück ja durchaus vorkommt, konnten in diesem Artikel lesen, der ziemlich deutlich darlegt, was solche Instrumente wie die Deckelung der Mieten bezwecken und bewirken.


BLEIB ZU HAUSE?

Bei der Vermietung eines Hauses geht es im Grunde darum, dass die Hausbesitzer den maximalen wirtschaftlichen Vorteil aus ihren Immobilien ziehen, egal in welchem Zustand sie sich befinden: Kann das Interesse der Hausbesitzer identisch mit dem der übrigen Gesellschaft sein?

In den letzten zehn Jahren ist der Immobilienmarkt weltweit gewachsen. Das ist wichtig, wenn man bedenkt, dass der Wirtschaftskrise von 2008 ein Aufstieg- und Abstiegszyklus der Immobilienpreise vorausging. Auch seit Beginn der allgemeinen Einsperrung, als alles nach einer tiefen Wirtschaftskrise aussah, setzte der Immobilienmarkt seinen Aufwärtszyklus fort.

Bei der Vermietung eines Hauses geht es im Grunde darum, dass die Eigentümer den maximalen wirtschaftlichen Nutzen aus ihren Immobilien ziehen, egal in welchem Zustand sie sich befinden: Kann das Interesse der Eigentümer mit dem der übrigen Gesellschaft identisch sein?

In den letzten zehn Jahren ist der Immobilienmarkt weltweit gewachsen. Das ist wichtig, wenn man bedenkt, dass der Wirtschaftskrise von 2008 ein Anstieg und Absturz der Wohnungspreise vorausgegangen ist. Auch seit Beginn der allgemeinen Einsperrung, als alles nach einer tiefen Wirtschaftskrise aussah, setzte der Immobilienmarkt seinen Aufwärtszyklus fort.

In Argentinien hingegen ist der Markt für den Kauf und Verkauf von Immobilien geschrumpft. Dies ist nicht nur auf niedrige Löhne und Preisinstabilität zurückzuführen, sondern auch auf den Mangel an zugänglichen Krediten für den Erwerb von Wohnraum. Aus diesem Grund ist es ein Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung zur Miete wohnen muss. Dies bedeutet auf der anderen Seite eine größere Anzahl von Häusern, die von ihren Besitzern als reine Investition, als Ersparnis angesichts der Abwertung der lokalen Währung oder als Profitquelle durch Miete vermarktet werden.

Es ist auch so, dass die Streitigkeiten zwischen Vermietern und Mietern in der Region eine herausragende Bedeutung erlangt haben und der Staat hier eingreifen musste. Im Laufe des Jahres 2020 wurde ein neues Mietgesetz verabschiedet, und seit März 2020 wurden der Mietstopp und die Aussetzung von Zwangsräumungen durch das sogenannte Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU – Decreto de Necesidad y Urgencia) verlängert.

Anfang März dieses Jahres verkündete der Minister für Territoriale Entwicklung und Lebensraum Jorge Ferraresi, dass es keine erneute Verlängerung dieses Dekrets geben würde, trotz der offensichtlichen sozialen Katastrophe, in der wir uns befinden. Das bedeutet, dass ab dem 1. April verschuldete Mieter auf der Straße stehen und es zu einer Fülle von Zwangsvollstreckungsprozessen kommen wird.

Dieses DNU, das Zwangsräumungen im formellen Sektor oder mit einem Vertrag verbietet, behält den Mietpreis vom März 2020 bei und verlängert automatisch Mietverträge. Es ist jedoch anzumerken, dass jede der Verlängerungen der DNU von der Regierung einige Tage vor Ablauf der Verlängerung angekündigt wurde. Was in der Verzweiflung, die durch die Ungewissheit und den Druck der Immobilienfirmen verursacht wurde, Tausende von Menschen dazu zwang, nach Häusern zu suchen, die immer teurer zu mieten waren, da sie nicht in der Lage waren, das Dekret zu nutzen, in einer Situation von wachsender Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit und mit wirklich eingefrorenen Gehältern.

Der Mangel an Wohnraum ist ein weiteres großes soziales Problem in der Region, das sich im Jahr 2020 verschärft hat. Die Landbeschlagnahmung in Guernica (Buenos Aires) war zwar emblematisch, aber nicht die einzige. Dort siedelten sich etwa 2.500 Familien (ca. 10.000 Menschen) auf einem für eine private Nachbarschaft bestimmten Grundstück an und leisteten zwei Monate lang Widerstand, bis sie heftig unterdrückt wurden. Diese Landbeschlagnahmungen in verschiedenen Städten sowie die territorialen Rückgewinnungen, die das Mapuche-Proletariat im Kampf auf dem patagonischen Land durchgeführt hat, provozierten die Reaktion der Bourgeoisie zur Verteidigung des Privateigentums, ein Thema, das einige Wochen lang in den Medien zirkulierte.

Mitten in der Debatte, ob die DNU verlängert werden soll oder nicht, traten Landbesitzer und Geschäftsleute auf den Plan, um für die Verteidigung des Privateigentums und für unser Überleben zu kämpfen. Die großen Zeitungen und Sender des Landes trugen ihren Teil dazu bei, indem sie Informationen verschwiegen oder verfälschten, die Mieter verwirrten und ihnen noch mehr Angst einflößten. In der Zwischenzeit präsentierten die Vermieterkammer und die Immobilienagenturen des Landes, Hand in Hand mit Juntos por el Cambio (A.d.Ü., ist eine rechtskonservative Partei in Argentinien), ein Projekt zur vollständigen Aufhebung des Gesetzes 27.551 oder „neues Mietgesetz“; das, abgesehen von den wenigen Vorteilen, die es für die Mieter bietet, in vielen Fällen nicht mehr als ein toter Buchstabe ist, da, wie immer, „das Haus das Eintrittsrecht behält1“.

Während die Reallöhne stark sinken, mit Kürzungen in vielen Sektoren oder Erhöhungen völlig unterhalb der Inflation, wertet der argentinische Peso weiter beschleunigt ab, mit den damit verbundenen Auswirkungen auf die Preise und Lebenshaltungskosten. Diese Situation beschleunigte sich im Jahr 2020, wiederholt sich aber seit Jahrzehnten zyklisch. In den letzten vier Jahren haben sich die Kosten für den Warenkorb2 (A.d.Ü., auf Spanisch wäre die Übersetzung Grundnahrungsmittelkorb) für eine „typische Familie“ um das 4,5-fache vervielfacht, ebenso wie viele Grundnahrungsmittel in zehn Jahren um 1.200% gestiegen sind. Im letzten Jahr sind die Mieten um 61,6% gestiegen, allein zwischen Januar und Februar um 9%.

Selbst mit den Krümeln aus der DNU haben heute 35,7 % der Mieter Mietschulden bei ihren Vermietern von mindestens drei unbezahlten Monaten. Dies bedeutet, dass sie sich in einer Situation der drohenden Zwangsräumung befinden. Die Familien haben ihren Lebensstandard seit Monaten mit verschiedenen Schulden aufrecht erhalten. Eine erste Welle von Zwangsräumungen begann in Guernica, wo 80 % der Familien angekommen waren, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten, und eine zweite Welle wird wahrscheinlich nach dem 31. März folgen.

Zusätzlich zu diesem Angriff auf die Löhne ist die enorme Masse der Arbeitslosen im letzten Jahr gewachsen. Millionen von Menschen leben in Armut und erreichen nicht einmal den Grundnahrungsmittelkorb. Nach offiziellen Angaben ist jeder dritte Argentinier arm (mehr als 14,3 Millionen Menschen, eine Zahl, die auf fast die Hälfte der Bevölkerung ansteigt, wenn man die Altersgruppe 0-14 Jahre berücksichtigt). Hunger ist eine unvermeidliche Folge, die zur Verschlechterung der Lebensmittelqualität und der Ernährungsprobleme beiträgt.

Wohnen ist im Kapitalismus nichts anderes als eine Ware, deren Miete man sich heute mit einem Grundlohn kaum noch leisten kann. Es war bereits eine Ware, die für jeden jungen Proletarier unerschwinglich war, jetzt ist es zu einer Luxusware geworden, die man nicht einmal mehr mieten kann. Eine Umfrage ergab, dass in der Stadt Buenos Aires im Jahr 2001 68 % der Häuser von ihren Eigentümern und nur 22 % von Mietern bewohnt wurden. Zehn Jahre später ist ersterer auf 56 % gesunken und letzterer auf 30 % gestiegen. Zahlen, die diesen Trend sicherlich noch verstärken werden, mit der offensichtlichen Folge, dass der Wohnraum für seinen Besitzer immer mehr zu einem reinen Geschäft und nicht zu einem Ort zum Leben wird. Abgewrackte Häuser, 20m2-Wohnungen, feuchte, ungelüftete Orte ohne Grundversorgung, überfüllte Pensionen… und doch lassen die von den Immobilienfirmen vermittelten Ansprüche der Eigentümer es so erscheinen, als ob wir in einem Palast leben wollen.

Ein Sozialdemokrat aus den späten 1800er Jahren, Otto Bauer, wies darauf hin: „Nur Sozialdemokraten konnten die Arbeitslosen befrieden und die Arbeiter davor bewahren, der Versuchung zu revolutionären Unternehmungen zu verfallen“. Heute ist es in Argentinien die peronistische Sozialdemokratie, die mit Krümeln wie der sukzessiven Erneuerung der DNU versucht, das Wasser zu beruhigen. Das Einfrieren des Mietpreises für ein Jahr, während die Löhne nicht steigen und viele Arbeitsplätze verloren gehen, ist eine Klassenvereinbarung, mit der sich einige Teile der Bourgeoisie angegriffen fühlten. Wir werden einige Auszüge aus dem Buch „The Housing Monster“3 nehmen:

„Das einzige Interesse, das der Staat an der Kontrolle der Mieten hat, ist, zu verhindern, dass sie zu hoch steigen, damit sie keinen Druck auf die Arbeitgeber ausüben, die Löhne zu erhöhen. Politiker verwenden oft eine Mietkontrolle, die nur für einen kleinen Teil des gesamten Wohnungsbestands gilt oder nur sehr schwache Grenzen für Erhöhungen setzt, um zu zeigen, dass sie etwas für „die arbeitenden Menschen“ tun. (…)

Es werden mieterfreundliche Maßnahmen zum Schutz vor der Mieterbewegung verabschiedet. Die Mietkontrolle wird verabschiedet, um die Mieter des Proletariats zu kontrollieren. Der Kapitalverkehr ist aber nicht nur von der staatlichen Gesetzgebung abhängig. Die Einschränkung des Rechts von Vermietern, ihre Mieter zu vertreiben oder die Kaution zu missbrauchen, ist ein echter Fortschritt, der aber dem in Mietwohnungen investierten Kapital nicht schadet. Vor allem, wenn der Markt stabil ist, muss der Vermieter nicht ständig Mieter zwangsräumen, und es gibt immer Möglichkeiten, das Gesetz zu umgehen. Effektive Mietkontrolle ist anders. Per Definition muss die Mietpreiskontrolle die Gewinne der Vermieter begrenzen. Da man als Vermieter, wie jede andere Art von Geschäft, einen Gewinn erzielen muss, ermöglicht die Mietpreiskontrolle, dass die Vermietung von Häusern ein weniger wettbewerbsfähiges Geschäft ist. (…) Je länger die Mietpreiskontrolle andauert, desto größer ist der Anreiz für Vermieter, ihr Geld in ein anderes Geschäft zu stecken. Eine ernsthafte Mietpreiskontrolle, die auf unbestimmte Zeit andauern kann, führt zwangsläufig zu Desinvestitionen in der Wohnungswirtschaft.

Die Mietpreiskontrolle ist ein gesetzlich festgelegter Höchstpreis für eine Ware. Sie treibt die Wertströme voran, da verschiedene Geschäftszweige um Investitionen konkurrieren. Typischerweise kann eine Branche, deren Produkte stark nachgefragt werden, ihre Preise erhöhen und mehr Kapital anziehen. Wenn es eine starke Mietpreiskontrolle gibt, übersteigt die reale Nachfrage nach Häusern das Angebot, aber die Preise können nicht steigen, so dass entweder die Mietpreiskontrolle abgeschafft wird oder sich ein Schwarzmarkt bildet, auf dem Häuser über dem gesetzlichen Niveau vermietet werden – was die Wirksamkeit der Mietpreiskontrolle untergräbt. Wenn gegen den Schwarzmarkt vorgegangen wird und die Mieten strikt auf dem festgelegten Niveau gehalten werden, wird nicht nur das Geschäft der Vermieter nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Da das Kapital das Mietwohnungsgeschäft aufgibt, schrumpft der Wohnungsmarkt. (…) Mit der Zeit führt dies zu einer Wohnungsknappheit. Der Staat steht dann vor der Wahl: die Mietpreisbindung beenden, sich einer Wohnungskrise stellen oder selbst zum Mieter werden.“

In Argentinien befinden wir uns heute in einer Situation, in der es nicht viel zu holen gibt. Der Staat baut keine Sozialwohnungen wie vor Jahrzehnten, er erlaubt nicht einmal die Besetzung von Grundstücken ohne Trinkwasser oder Strom. Die Wohnungsfrage ist zweifellos eine Bombe, die bereit ist zu explodieren.

Wenn der Ärger aufkommt, weil „einige so viel und andere so wenig haben“, müssen wir uns daran erinnern, dass einige so viel unter der Bedingung haben, dass andere so wenig haben. Privateigentum ist nicht einfach eine Beziehung zwischen Menschen und Dingen, es ist eine Beziehung zwischen Menschen, die sich gegenseitig als Dinge behandeln. Und selbst unter diesen Bedingungen der Ungerechtigkeit und Unvernunft ist es spöttisch, wenn nicht gar abstoßend, die Notwendigkeit der Abschaffung des Privateigentums zu verkünden. In einem alten Manifest von 1848 heißt es: „Ihr entsetzt euch darüber, daß wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben, es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert. Ihr werft uns also vor, daß wir ein Eigentum aufheben wollen, welches die Eigentumslosigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Gesellschaft als notwendige Bedingung voraussetzt.

Ihr werft uns mit einem Worte vor, daß wir euer Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir.“

 

1A.d.Ü., damit ist ein Wortspiel aus dem Hausrecht des Eigentümers geworden, der immer entscheidet wer dort wohnt, deswegen Eintrittsrecht.

2A.d.Ü., hier als Warenkorb, ist die wirtschaftliche Berechnung an Waren die eine durchschnittliche Familie, je nach Land logischerweise komplett unterschiedlich, zu Verfügung hat um nicht zu verhungern.

3A.d.Ü., ein sehr empfehlenswertes Buch, hier auf Englisch zu lesen.

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