(Gilles Dauvé) Der Frieden ist der Krieg

Gefunden auf troploin, die Übersetzung ist von uns

(Gilles Dauvé) Der Frieden ist der Krieg

„Kleine Länder wie Belgien wären gut beraten, sich dem stärkeren Land anzuschließen, wenn sie ihre Unabhängigkeit behalten wollen.“ (Kaiser Wilhelm II. an den König der Belgier, November 1913)

„Ein großer Krieg ist in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts unvermeidlich, aber er wird eine ausgereifte ökonomische Krise, eine massive Überproduktion, einen starken Rückgang der Rentabilität, eine Verschärfung der sozialen Konflikte und der Handelsantagonismen voraussetzen, was sowohl eine Neuaufteilung der Welt als auch eine Regeneration des gesamten Systems erfordert. […] Mehr als in der Vergangenheit wird kein Reformismus den Weg zu einem, wenn nicht globalen, so doch mehr als nur regionalen Konflikt verhindern.“ (10 + 1 Fragen zum Kosovo-Krieg, 1999)

„Glaubt nicht der Propaganda, ihr werdet hier belogen.“ (Marina Ovsiannikova, unterbricht die Nachrichtensendung eines der größten russischen Sender, 14. März 2022)

* * *

„Krieg für den Frieden“ … … „die Sache der Schwachen gegen die Starken“ … „Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Herzen Europas… ein Kampf für die Zivilisation“… „ein Genozid, der in der Ukraine stattfindet“.

Das erste Zitat stammt aus der sozialistischen Zeitung Le Droit du Peuple und das zweite aus der bourgeoisen Londoner Times, beide aus dem Jahr 1914; das dritte stammt vom französischen Premierminister während des Kosovo-Kriegs 1999 und das letzte vom ukrainischen Premierminister am 9. März 2022.

Die französischen Medien werden niemals über die (von Frankreich unterstützte) Diktatur im Tschad berichten, wie sie es mit der (von Russland unterstützten) Diktatur in Weißrussland tun. Ebenso wenig werden sie die Millionen von Zivilisten, die von der französischen und amerikanischen Armee in den Kriegen in Indochina und Vietnam getötet wurden, auf die gleiche Weise zur Sprache bringen wie die Massaker an Zivilisten, die von der russischen Armee in der Ukraine verübt wurden.

Es gibt kaum etwas Neues in der Gehirnwäsche, außer dass die Propaganda intensiver wird, wenn sich der Krieg dem Herzen Europas nähert. Russland leugnet und verbietet die Wörter „Krieg“ und „Invasion“ (der französische Staat hat bis 1999 gewartet, um offiziell zuzugeben, dass er zwischen 1945 und 1962 in Algerien „Krieg“ geführt und nicht nur „Operationen“ durchgeführt hat). Der Westen beschönigt und liefert Waffen an die Ukraine über die „Europäische Friedensfazilität“.

Wenn die Wörter sich aufblähen, zerplatzt ihre Bedeutung. Insbesondere Genozid wird zum Synonym für Massaker, obwohl das Wort die Ausrottung eines Volkes als Volk bezeichnet: Hitler tat dies mit den Juden, aber weder Stalin zielte in den frühen 1930er Jahren auf die Ausrottung des ukrainischen Volkes ab, noch später Pol Pot auf die Ausrottung des kambodschanischen Volkes. Und auch Putin nicht die des ukrainischen Volkes.

Doch bevor die Verwirrung mental ist, liegt sie in der Praxis. Wenn die Ideologien verwirrend sind, wenn sich jeder auf Sozialismus, Kommunismus, Proletariat und Revolution berufen konnte (Titel des 2017 vom derzeitigen Präsidenten der französischen Republik veröffentlichten Buchs), dann liegt das daran, dass die sozialen Bewegungen bislang kein Programm erfüllt haben, das mit der Ordnung der Dinge bricht. In der politischen Mythologie und im Diskurs ist also alles erlaubt. Da der Sozialismus 1914 national war, konnten sich die Nazis darauf berufen: Der Nazi ist der „Nationalsozialist“.

Wenn wir durch gescheiterte oder fehlgeleitete Kämpfe in die Passivität gedrängt werden, empfangen wir Informationen und Bilder als Zuschauer einer Realität, auf die wir vorläufig nicht reagieren können.

Unmögliche Vorhersage, theoretische Gewissheit

Wer hätte vorhersehen können, dass Russland im Jahr 2022 eine so umfassende Operation gegen einen so großen Teil des ukrainischen Territoriums starten würde?

„Wir gehen geradewegs auf einen bewaffneten Konflikt zwischen England und den Vereinigten Staaten zu [und] dieser Konflikt kann mit größter Genauigkeit datiert werden“, erklärte Trotzki 1921 auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationale.

Ein Jahrhundert später wissen wir nichts über die Bruchlinien und die Abgrenzung der „Lager“, die in künftige Konflikte verwickelt sind. Aber wir wissen, dass die Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten – den heute dominierenden USA, China, dem wiedererstarkten Russland und der Europäischen Union, die bislang nicht in der Lage war, sich als politische Einheit zu konstituieren – die Voraussetzungen für regionale und eines Tages globale Kriege schaffen.

Alles wird getan, um uns davon zu überzeugen, dass die heutigen Staaten aus Gründen, die außerhalb der inneren Natur eines angeblich friedensfördernden kapitalistischen Systems liegen, zu militärischer Gewalt greifen. Wenn Russland im 21. Jahrhundert in den Krieg ziehen würde, wäre der Grund dafür die Rückkehr eines Nationalismus, der im Westen glücklicherweise überwunden, im Osten aber durch eine diktatorische Macht mit überzogenen Ambitionen wiederbelebt wurde.

In Wirklichkeit war der Wettbewerb zwischen kapitalistischen Unternehmen nie sanft, noch war der internationale Handel ein Faktor für dauerhaften Frieden. Im Gegensatz zu einer vor 1914 gängigen Meinung, die von einigen Sozialisten wie Kautsky aufgegriffen wurde, hinderte die ökonomische Interdependenz der Großmächte diese nicht daran, sich gegenseitig zu bekriegen. Die industrielle und handelspolitische Dynamik entwickelt eine Zone auf Kosten einer anderen, schafft rivalisierende Pole, die jeweils auf einem Territorium basieren und sich auf eine politische staatliche Kraft stützen, die auch militärisch ist.

Friedlicher Westen, kriegerisches Russland

Der amerikanische Kapitalismus muss selten Länder besetzen: Seine ökonomische Überlegenheit, seine höhere Produktivität und seine ausländischen Direktinvestitionen ermöglichen den USA eine ausreichende Kontrolle über große Teile der Welt, ohne dort Truppen zu entsenden. In Italien oder Frankreich nach 1945 und in Osteuropa nach 1991 beruhte die US-Macht mindestens ebenso sehr auf multinationalen Konzernen wie auf GIs. Deutschland und Japan wurden erst als Folge des Zweiten Weltkriegs besetzt, und der Verbleib der US-Truppen diente in erster Linie dazu, den Rivalen Russland in Schach zu halten. Die USA scheuen sich nicht, an ihren Grenzen militärisch zu intervenieren, wie 1914 in Mexiko, aber nur, um zu versuchen, dort die ihnen genehmen politischen Anführer einzusetzen oder wiedereinzusetzen: Sie müssen nicht den Rio Grande überqueren, um dort ihre Investitionen in die Maquiladoras zu fördern.

Russland ist zwar eine Supermacht, aber wie einst die UdSSR hat es eine viel geringere kapitalistische Dynamik als die USA, Westeuropa (und China), und der Großteil seiner Stärke auf dem Weltmarkt beruht auf Öl- und Gasexporten. Daher neigt es dazu, die Kontrolle über seine Nachbarn anzustreben, um sicherzustellen, dass sie in seiner Umlaufbahn bleiben. Wie die OPEC-Länder nutzt es seine Rolle als großer Rohstoffproduzent nicht nur als ökonomische und politische Waffe, sondern seine militärische Stärke ermöglicht es ihm (bislang) auch, die zentralasiatischen Länder zu vasallisieren und eine internationale Rolle zu spielen, die sich nur wenige Länder der Welt leisten können (China ist dazu – bislang – nicht in der Lage). Es ist nicht unlogisch, dass die Anführer eines auf dem Weltmarkt schwachen Russlands glauben, die Macht des Landes (und ihren Machterhalt) dadurch zu sichern, dass sie sich direkter als ihre Rivalen auf Waffengewalt berufen. Zumal das Russland des 21. Jahrhunderts im Gegensatz zu den Zeiten, als der Einfluss der UdSSR durch stalinistische KPs weltweit vermittelt wurde, nicht über die Soft Power verfügt, die die USA genießen.

Aber warum sollte man sich heute in einen Krieg in Europa verwickeln?

Nach 1945 verfügte die UdSSR über ein Imperium, die USA über die Hälfte der Welt. Amerika, das in eine neue Ära der Expansion eingetreten war, hatte kein Bedürfnis, den polnischen oder chinesischen Markt zurückzuerobern, und Russland konsolidierte seine Kapitalakkumulation, ohne Westeuropa etwas anderes als Ideologie anbieten zu können.

Die Konfrontation fand an der Peripherie statt (Korea, Indochina, Naher Osten, Afrika), und wenn sie sich einem Abgrund näherten (Kuba-Raketenkrise, 1962), zogen sich die USA und die UdSSR zurück. Jede Supermacht erkannte die Hegemonie des Gegners in seinem Gebiet an, in dem er so ziemlich nach Belieben handelte (Guatemala, 1954; Ungarn, 1956; Berliner Mauer, 1961; Tschechoslowakei, 1968 usw.). Die zahlreichen Krisen wurden in Europa ohne Konfrontation bewältigt, ohne den Einsatz von Waffen beispielsweise bei der Berlin-Blockade (1948-1949). Es standen sich zwei Lager gegenüber, die in dem Sinne relativ gleichberechtigt waren, dass jeder gezwungen war, das Territorium des anderen zu respektieren, die sich aber in sozioökonomischer Hinsicht stark unterschieden.

Der „bürokratische“ Kapitalismus hatte erfolgreich die Industrialisierung vorangetrieben und eine mächtige Rüstungswirtschaft geschaffen, war aber unfähig gewesen, Arbeit und Kapital produktiv zu organisieren. Die Herrschaft einer Klasse, die sowohl das Kapital als auch den Staat kollektiv besaß, hemmte den Wettbewerb – den Motor des Kapitalismus – und führte zur Schaffung von Lehen, die ihre Stärke nicht durch eine höhere Produktivität in Industrie und Handel, sondern durch privilegierte Verbindungen zum Staat erhielten. Die Krise des russischen „bürokratischen“ Kapitalismus löste sich schließlich in ein System auf, in dem die „Oligarchen“ lediglich die Besitzer von Monopolen sind, die völlig von der politischen Macht abhängig sind. Da sie nicht in der Lage ist, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren und im Ausland zu investieren (wie es China gelingt), ist die einzige Garantie für den Fortbestand der russischen herrschenden Klasse die Priorität der militärischen Macht. Was auch immer man vom „Bruttoinlandsprodukt“ halten mag, seine Statistiken geben eine Größenordnung vor: In Dollar ausgedrückt beträgt das BIP etwa 20 Billionen für die USA, 13.000 für China, 4.000 für Deutschland und 1.600 für Russland, was dem von Südkorea oder Italien entspricht. Russland ist nur eine regionale (Groß-)Macht.

Nach 1989 gewann die überlegene Dynamik der USA und Westeuropas schließlich auf friedliche Weise den osteuropäischen Raum, den die UdSSR 1945 durch Krieg erobert hatte, von Russland zurück.

Das Gleichgewicht des Schreckens war auch ein soziales Gleichgewicht auf beiden Seiten gewesen: Das Auftauchen oder Wiederaufleben neuer Konkurrenten (Deutschland, Japan, China…) unterbrach diesen Status quo und eröffnete letztlich die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts im Herzen Europas.

Früher hatte der sowjetische Riese kein Interesse daran, Westeuropa zurückzuerobern: Im 21. Jahrhundert schafft die – relative – Schwäche Russlands die Gefahr eines Krieges in der gesamten europäischen Region. Nach den erzwungenen Abspaltungen von Randgebieten (Transnistrien, Abchasien und Ossetien) und der Besetzung der Krim ist die Invasion der Ukraine ein weiterer Versuch Russlands, das zu bewahren, was es nur schwer zusammenhalten kann.

Häufig ist es die schwächste Großmacht, die die Initiative für eine Offensive ergreift. Im 19. Jahrhundert, als England die Welt beherrschte, griff es nur „unterentwickelte“ Länder an und führte Kolonialkriege in Indien und Afrika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten andere Imperialismen seine Hegemonie in Frage: Die deutsche ökonomische Macht untergrub das berühmte „europäische Gleichgewicht“, und die japanische bedrohte Asien. Nach 1945 beruhigte sich alles für einige Jahrzehnte dank der russisch-amerikanischen Aufteilung der Welt (Indien blieb gesondert, China ebenfalls). Doch nun lastet das Gewicht der Europäischen Union auf den ehemaligen russischen Satelliten und das Gewicht Chinas auf Asien.

Die UdSSR war in ihrem Einflussbereich und an ihren Rändern imperialistisch und kompensierte ihre soziale Schwäche, indem sie sich hinter angrenzenden Satelliten schützte, die als Puffer zwischen zwei getrennten, aber nie wasserdichten Blöcken dienten: Dieser Rand existiert praktisch nicht mehr.

Von Korea über Vietnam und Angola bis hin zu Afghanistan hatten sich die USA und die UdSSR immer wieder als Stellvertreter bekämpft, doch diesmal ist die Peripherie sehr nah.

Während die anderen Imperialismen nur im Nahen Osten und in Afrika Krieg führen, hat sich die NATO allmählich auf den europäischen Osten ausgedehnt, und Finnland und Schweden bereiten sich darauf vor, dem Bündnis beizutreten.

1998 hielt George Kennan (1904-2005), Diplomat und nach 1945 Architekt der Eindämmung (containment) der UdSSR, diese Ausweitung für wenig sinnvoll: „Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, ohne die Mittel oder die Absicht zu haben, dies ernsthaft zu tun“. Zehn Jahre später warnte ein CIA-Bericht vor einem Beitritt der Ukraine zur NATO: Dies würde in den Augen nicht nur Putins, sondern der gesamten russischen Elite die schwerwiegendste rote Linie überschreiten und die russische Einmischung auf der Krim und in der Ostukraine fördern.

Die Prediger der Mäßigung vergessen, dass Eindämmung und Zurückdrängen (roll back) Hand in Hand gehen, wenn die USA es für notwendig und möglich halten, wie es Truman und Eisenhower zu ihrer Zeit praktiziert und anerkannt haben. Seit über zwanzig Jahren hält die NATO Russland sowohl im Schach als auch im Zaum. Es ist normal, dass ein Staat oder ein Bündnis einen Rückschlag des Konkurrenten nutzt, um seine eigenen Schachfiguren voranzubringen. Die UdSSR hat das früher auch getan (der gescheiterte Versuch, 1945 eine autonome Republik Aserbaidschan im Norden des Iran zu gründen, sich in Asien und Afrika festzusetzen usw.). Im Jahr 2022 führt die NATO ihrerseits einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, so wie einst die UdSSR Nordvietnam aufrüstete.

Wie auch immer der russisch-ukrainische Frieden aussehen mag, er wird eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Auf europäischer Ebene geht es darum, ob die Europäische Union sich auf eine Freihandelszone beschränkt oder eine politische Führung um einen deutsch-französischen Dreh- und Angelpunkt mit einer „europäischen“ Armee erhält – eine Hypothese, die angesichts der aktuellen Entwicklungen, die die US-Dominanz über die NATO festigen, immer unwahrscheinlicher wird. Gewinnen (oder nicht verlieren) bedeutet ohnehin nicht dasselbe für Russland (eine starke, aber regionale Macht) und die USA, die ihre Weltmacht neu ausrichten müssen, gegen das, was zu ihrem Hauptgegner wird: China. Wir werden es jedoch vermeiden, Trotzki mit abenteuerlichen Prognosen nachzueifern.

Rationalität = 600 Millionen Tote

Dennoch kam die russische Invasion überraschend. Im Jahr 2014 hatte die Schwäche der Rebellen im Osten des Landes Russland dazu veranlasst, dort militärisch einzugreifen und bei der Entstehung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu helfen. Aber der Versuch, in einen großen Teil des Landes einzumarschieren und Kiew zu belagern?

War es 1982 für Großbritannien „rational“, eine Armada ans Ende der Welt zu schicken, um ein paar kleine Inseln zu erhalten, die a priori weder ökonomisch wertvoll noch strategisch wichtig waren?

Man kann rational davon ausgehen, dass Hitler keine Chance hatte, gegen die anglo-russisch-amerikanische Koalition zu gewinnen, aber er hielt es für möglich, die UdSSR zu besiegen, bevor die USA ihre gesamte industrielle Macht mobilisieren konnten. Krieg ist bekanntlich „die Herrschaft der Ungewissheit“. Im Jahr 1914 dachten die Generalstäbe, dass sie den Krieg in sechs Monaten beenden würden. Als die Russen (1979) und dann die Amerikaner (2001) in Afghanistan einmarschierten, glaubten sie, dass eine massive Intervention einen Gegner besiegen würde, der logischerweise als militärisch weit unterlegen galt. Durch ihn bestand das eigentliche Ziel darin, ein Imperium – ökonomisch für die USA, quasi-kolonial für die UdSSR – gegen den Rivalen zu konsolidieren, und zwar zu anfänglich als angemessen erachteten Kosten. Die beiden Imperialismen konnten sich beruhigen, indem sie sich an ihre erfolgreichen außenpolitischen Operationen erinnerten: in Ungarn (1956), in Santo Domingo (1965).

Doch die Angelegenheit war nie primär militärisch. Im Jahr 1918 hatten die Kriegsparteien schließlich aufgehört, weniger gezwungen durch die Stagnation im Feld als vielmehr durch den Zerfall der Heimatfront, vor allem in Deutschland und Österreich-Ungarn. Im Gegensatz dazu führte das Naziregime einen „totalen“ Krieg, da es in erster Linie um die Herrschaft über das deutsche Volk ging, und wenn das deutsche Volk dem Schicksal, das die Nazis ihm zugedacht hatten, nicht gewachsen war, verdiente Deutschland für Hitler den Untergang. Normalerweise führt man keinen Krieg, um zu zerstören, schon gar nicht, um alles zu zerstören – aber die Nazi-Logik nahm 1945 die Selbstzerstörung Deutschlands in Kauf. Im Krieg stehen sich zwei Kräfte gegenüber, von denen keine entscheidet, was die andere tun wird, und die Gegenseitigkeit der Aktionen enthält die Möglichkeit der Zuspitzung. Die Selbstbeschränkung (Vermeidung der Zerstörung dessen, was man erobern will) findet selbst ihre Grenzen. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein, eine andere, Selbstmord zu begehen, oft schließt das eine das andere aus, doch Hitler tat beides: Für ihn war Politik eine Frage des „Alles oder Nichts“.

Putin ist nicht Hitler, aber auch für ihn ist die Grenze zwischen einem Teilziel (eine Grenze verändern) und einem Gesamtziel (einen Politikwechsel erzwingen, das Land neutralisieren) leicht zu überschreiten: Manchmal treibt die politische Führung eines Landes es bis zu einem Punkt, den es auf eigenes Risiko überschreitet.

Aber was ist ein gewonnener oder verlorener Krieg? Und vor allem: Was sind die Folgen? Die US-Interventionen im Irak und in Afghanistan werden immer wieder als Misserfolge bezeichnet, aber sowohl in Bagdad als auch in Kabul handelte es sich um Polizeiaktionen eines großen Landes gegen ein kleines. Weder die wichtigsten Interessen der USA, geschweige denn ihr Überleben, standen auf dem Spiel. Gewinnen bedeutet nicht – zumindest in Vietnam war es das nicht – zwangsläufig, das Land zu besetzen, sondern aufzuhören, sich von ihm bedroht zu fühlen: Haben die USA 1975 in Vietnam verloren, obwohl das Land seit über 20 Jahren für ausländisches Kapital auf der Suche nach niedrigen Löhnen offen ist?

Wie auch immer die russisch-ukrainische Affäre ausgehen mag, in ihrer Konfrontation mit Russland versuchen die USA – und in ihrem Gefolge die Europäische Union – auch, sich gegenüber China in eine starke Position zu bringen. Früher gab es zwei nukleare Supermächte, heute sind es drei (vier oder fünf, wenn man Indien und Pakistan mitzählt), und auch wenn ein zukünftiger Einsatz von Atomwaffen nicht sicher ist, wäre es naiv, ihn auszuschließen, weil er katastrophale Auswirkungen für die Menschheit, aber auch für die Herren der Welt, die an ihrer Position und ihren Privilegien festhalten, haben würde.

Der einzige Richter über die „vitalen Interessen“ eines Landes und die Mittel, die es zu ihrer Verteidigung wählt, ist weder die Menschheit noch eine abstrakte Vernunft oder eine Definition von Souveränität, sondern die Anführer, die an der Spitze des Staates stehen. Wenn er die Atombombe gehabt hätte, hätte der Nazi Hitler nicht gezögert, sie einzusetzen. Der Demokrat Truman zögerte (hier liegt einer der Unterschiede zwischen Faschismus und Demokratie) und setzte sie zweimal ein.

Fünf Jahre später erklärte der US-Präsident angesichts der Rückschläge in Korea, dass er alle Möglichkeiten in Betracht ziehe, „was alle Waffen, die wir haben, einschließt“, einschließlich der Atomwaffe: „Wir haben ernsthaft darüber nachgedacht“. Die nukleare Drohung wird von Nixon gegen Nordvietnam (1969) und von Trump gegen Nordkorea (2017) wiederholt.

In den 1960er Jahren dachte der US-Generalstab, weil er die UdSSR für unfähig hielt, einen atomaren Erstschlag zu überleben und mit einer großen Vergeltung zu antworten, an einen atomaren Angriff auf die UdSSR und China, der etwa 400 Millionen Tote verursachen würde, dazu 100 Millionen in den Nachbarländern und ebenso viele in Westeuropa, insgesamt also 600 Millionen. Absurd, das alles, wird man sagen, der Preis wäre zu hoch … Aber für wen? Die Regierenden sind nicht verrückt und die Militärs nicht blutrünstig. Ihr Wahnsinn hat Methode, würde Shakespeare sagen: Ein monströser Gegner verlangt den Einsatz von Mitteln gegen ihn, die schrecklicher sind als seine eigenen.

Anfang des 21. Jahrhunderts haben die USA ihre Pläne aktualisiert, und Russland und China haben ihre eigenen. Die staatliche Rationalität besteht darin, nach den Interessen des Landes und den Interessen seiner Anführer zu handeln, die übereinstimmen. Das Ziel ist das Fortbestehen, nicht der Selbstmord, aber Maßlosigkeit und Exzesse sind Teil der Gleichung. 1914 handelten die Imperien nicht irrational, ebenso wenig wie die Nazis 1939 oder 1941. In Vietnam hatte die Domino-Theorie ihre eigene Rationalität. Ebenso die „Strategie des Terrors“, bei der die USA, um ihre eigene Zerstörung zu begrenzen (Mutually Assured Destruction: MAD), regelmäßig versuchten, eine Überlegenheit gegenüber der UdSSR und damit eine Chance auf den Sieg zu erlangen und zu behalten. Auf Kosten von Hunderten Millionen Toten, aber das ist ein Preis, den man zu zahlen bereit ist, denn so schrecklich er auch sein mag, er kann als besser angesehen werden als die Versklavung durch „Feinde der Menschheit“, die uns Schlimmeres bringen würden.

Während des chinesisch-japanischen Krieges 1938 ließ die nationalistische Regierung die Deiche des Gelben Flusses zerstören, um den Vormarsch der japanischen Truppen zu verzögern: Das Ziel wurde erreicht, und die Flut tötete 500.000 Chinesen. Wahrscheinlich das größte Kriegsverbrechen in der Geschichte, mit der Besonderheit, dass es von einer Armee gegen die eigene Bevölkerung verübt wurde. An dem Tag, an dem eine Regierung, egal welche, es für vernünftig hält, 500 Millionen Menschen zu töten, um eine Milliarde zu retten, wird sie es tun.

Die USA sollen über etwa 1.350 einsatzbereite Atomsprengköpfe verfügen (davon etwa 100 auf Stützpunkten in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden), während es auf russischer Seite 1.400 sind. Auf diesem Niveau der „Übervernichtung“ verliert die Kluft zwischen den jeweiligen Overkill-Kapazitäten ihre Bedeutung.

Wenn die Nation unvollständig ist

Was auch immer über eine Globalisierung gesagt wird, die Staaten und Grenzen unter der Herrschaft einer kosmopolitischen Finanzoligarchie und staatenübergreifender multinationaler Konzerne absorbiert hat, der Planet ist nicht deterritorialisiert. Sie ist nach wie vor in staatliche Einheiten gegliedert, die zwar nicht dem US-amerikanischen „Schmelztiegel“ gleichen, aber als Nationalstaaten recht gut funktionieren, andere nicht, und die Länder, die die Welt beherrschen, gehören zur ersten Gruppe. Die USA, China, Russland und Indien sind Nationalstaaten, und eine bislang nicht überwundene Schwäche der Europäischen Union ist, dass sie kein nationales Gebilde ist – ob föderal oder nicht.

Ein Staat ist eine politische Macht, die in der Lage ist, sich in einem von ihr kontrollierten Gebiet durchzusetzen. Das Besondere an einem Nationalstaat ist, dass er „Komponenten, die nach Sprache, Herkunft oder Religion oft sehr unterschiedlich sind, durch die Möglichkeit einer selbstzentrierten kapitalistischen Entwicklung auf einem militärisch, aber auch steuerlich kontrollierten Territorium zusammenbringt. […] Die Nation setzt diese moderne Schöpfung voraus, das Individuum, ein von den Bindungen der Geburt befreites Wesen, das prinzipiell „frei“ ist, Bourgeois oder Proletarier zu werden, und sie entspricht der Notwendigkeit, diese Individuen zu einer neuen Gemeinschaft zu verbinden, wenn die vorherigen zerfallen sind. […] Über die Individuen hinaus vereint die Nation Klassen […] durch eine fließende Zirkulation von Kapital wie Arbeit, eine relative Angleichung zwischen den Produktivitätsniveaus der Regionen […] Ein Markt allein reicht nicht aus: Die Addition von Konsumenten macht noch keinen Zusammenhalt.“ (La Nation dans tout son état, 2019)

Da die Vereinigten Staaten nicht nur Rohstoffe exportierten oder ausländisches Kapital empfangen konnten, sondern auch über eine wettbewerbsfähige Industrie verfügten, waren sie in der Lage, die 1845-1848 von Mexiko eroberten Gebiete, die der Union sechs neue Staaten hinzufügten, zu integrieren. Die Fähigkeit, sich in das globale kapitalistische System einzugliedern, ermöglichte es, die gesamte Bevölkerung zu erfassen und ihr eine Zugehörigkeit zu den „Vereinigten Staaten von Amerika“ zu verleihen, die über die Kriterien der Sprache, der Geburt oder der Religion hinausging. Der spanischsprachige Mensch ist also nicht in erster Linie oder hauptsächlich „spanisch“ oder „lateinamerikanisch“, sondern er ist Amerikaner. Wir schreiben von der Gesamtheit der Bevölkerung, nicht von der Gesamtheit, und diese Gesamtheit selbst schwankte: „Nativismus“, der neuen Einwanderern gegenüber feindlich eingestellt war, Begrenzung der asiatischen Einwanderung, antijüdische Quoten an Eliteuniversitäten bis in die 1950er Jahre, und besser weiß als Afro-Amerikaner…. Trotz allem fördert der Kapitalismus eine (sehr relative) Gleichmacherei, auch an der Spitze (farbige Männer und Frauen wurden Außenminister, Armeechef oder Präsident der Vereinigten Staaten).

Wo eine solche sozioökonomische Vereinheitlichung des Landes und damit eine politische Befriedung nicht möglich oder nicht erreicht ist, ermutigen die Entwicklungsunterschiede zwischen den verschiedenen Regionen das politische Zentrum, sie zu ignorieren oder sogar zu diskriminieren, was zentrifugale Kräfte begünstigt, die dazu neigen, sich von einem Zentrum abzukoppeln, das selbst nicht in der Lage ist, sie zu kontrollieren.

Die Länder, die im 19. Jahrhundert aus Regionen entstanden, die nach und nach vom Osmanischen Reich abgetrennt wurden, lebten in ständiger Instabilität, insbesondere Griechenland und Serbien, wo 1903 die königliche Familie massakriert und durch eine neue Dynastie ersetzt wurde. Diese unvollständigen Nationen gerieten in das Spiel von Mächten, die stärker waren als sie selbst, allen voran Frankreich und England. Nicht ohne Bündnisumkehrungen, wobei Großbritannien befürchtete, dass die Unabhängigkeit neuer slawischer Staaten Russland stärken würde: Im Krimkrieg (1853-1856), damals wie heute eine strategisch wichtige Halbinsel für die russische Marine, verbündeten sich Frankreich und England mit der Türkei gegen Russland.

Im Orient und auf dem Balkan stellen „Minderheiten“ ein Problem dar. Engels schrieb am 22. Februar 1882 an Bernstein: „Die Serben sind in drei Religionen geteilt. […] Aber für diese Menschen zählt die Religion mehr als die Nationalität, und jede Konfession will dominieren. Daher wird ein Großserbien nur Bürgerkrieg bedeuten, solange es dort keinen kulturellen Fortschritt gibt, der wenigstens Toleranz möglich macht.“ Die österreichische Annexion von Bosnien und Herzegowina im Jahr 1909, in denen eine Million Serben lebten, schürte den Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Serbien – eine explosive Situation, die 1914 den Funken überspringen ließ und bis zum Ende des 20.

Die Bewegung der „Nationalitäten“ in der Vergangenheit und die nationalen Befreiungskämpfe im 20. Jahrhundert waren eine historische Neuheit von globalem Ausmaß, aber die Schaffung eines nationalen Ganzen ist nur dort möglich, wo es eine relativ homogene und kohärente kapitalistische Entwicklung gibt: Andernfalls zählt „die Religion [oder ein anderes Identitätskriterium] mehr als die Nationalität“.

Die meisten neuen Staaten leiden nicht nur unter Uneinigkeit, sondern, wie Wilhelm II. 1913 den belgischen König zurechtwies, wenn es für ein kleines Land oft notwendig ist, sich auf eine Seite zu schlagen, ist das Spiel riskant.

In der Regel wird die Unabhängigkeit mithilfe einer Großmacht erlangt und häufig anschließend von einer anderen Macht, die mit der vorherigen rivalisiert, garantiert. 1948 profitierte der neu gegründete israelische Staat von tschechischen Waffen, die mit der Zustimmung der UdSSR geliefert wurden, die die englische Vorherrschaft in der Region schwächen wollte, und später wandte sich Israel an andere Unterstützer. Ebenso wurde Ägypten erst von der einen, dann von der anderen Seite bewaffnet. Mit dem Risiko einer Kehrtwende: Die Kurden wurden von den USA in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützt, aber was wird aus Rojava, wenn die Amerikaner der Türkei, der NATO-Säule in der Region, den Vorrang geben?

Der Schutz eines „kleinen“ Landes durch ein „großes“ Land ist nicht unbedingt ein Garant für Sicherheit. Im April 2008 kündigte die NATO an, sie sei bereit, Georgien und die Ukraine aufzunehmen: Im August griff Russland Georgien an. Die Unterscheidung zwischen Angreifer und Angegriffenem zeigt den Ort des Ausbruchs eines Konflikts an, nicht seine Ursache oder Logik.

„Es gibt so viele ökonomische, finanzielle, politische und militärische Aspekte, die die Innen- und Außenpolitik eines Staates bestimmen, dass dieser – insbesondere wenn er sich in einem geopolitischen Gebiet befindet, das für die innerimperialistischen Rivalitäten von großer Bedeutung ist, wie Osteuropa – gezwungen ist, seine ‚Unabhängigkeit‘ und damit sein Territorium, seine Ökonomie und seine Regierung an einen der imperialistischen Pole zu verkaufen, der seine nationalen Interessen am besten fördern oder ihn zumindest vor den Begehrlichkeiten der feindlichen Länder schützen kann.“ (Internationale Kommunistische Partei, 24. Februar 2022)

Was ist ein „Ukrainer“? Was ist ein „Russe“?

„Unsere Geschichte ist anders“, sagte ein Ukrainer, um zu erklären, warum man Lenin-Statuen niederreißt, während überall die Porträts von Stepan Bandera blühen. Der bolschewistische Anführer symbolisiere Diktatur und Fremdherrschaft. Umgekehrt verkörpert der nationalistische Militante, ungeachtet seiner Verantwortung für den Tod von Hunderttausenden Juden (und zahlreichen polnischen Zivilisten), das ukrainische Streben nach Freiheit. Er wurde 1909 geboren und repräsentiert vor allem die Wendungen und Kehrtwendungen, die jeder nationalen Bewegung innewohnen. Nach 1945 kollaborierte er mit dem deutschen und britischen Geheimdienst, der bis 1955 regierungsfeindliche Maquis (A.d.Ü.) in der Ukraine unterhielt. 1959 starb Bandera, vermutlich vom KGB ermordet: Zunächst war er Anhänger eines ethnischen Nationalismus, doch am Ende wurde er Anhänger einer gewissen Sozialdemokratie. Ideologie der Umstände, Suche nach unvereinbaren Verbündeten… der Nationalismus nutzt die Unterstützung, die er findet, und wechselt sie, manchmal mit Erfolg, möglicherweise auf seine Kosten.

Die Ukraine in ihrer heutigen Form ist nicht die einzige neuere staatliche Realität in der Region: Vor 1914 glaubten nur wenige, dass es ein belarussisches Volk gab, das die Gründung eines unabhängigen Staates rechtfertigte, und in Wilna, der Hauptstadt des heutigen Litauens, sprachen nur wenige Prozent der Einwohner Litauisch. Transkarpatien, das ehemals österreichische Galizien im Westen, die Krim im Süden… die Bestandteile der Ukraine haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert, ebenso wie die Grenzen des heutigen Russlands, der Ukraine, Polens, Belarus und Litauens sich seit 1917 ständig verschoben haben.

Die Länder, die aus dem russischen und dem osmanischen Reich hervorgegangen sind, leiden nicht nur unter oft in Frage gestellten Außengrenzen, sondern auch, wenn nicht sogar noch mehr, unter dem, was man als innere Trennung bezeichnen könnte.

Die kapitalistische Produktionsweise sammelt und vereint Bevölkerungen dort, wo das Lohnverhältnis, eine Zirkulation von Arbeit wie Kapital und eine endogene Entwicklung dies ermöglichen. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder den USA existieren verschiedene Sprachen und Religionen nebeneinander, aber eine Sprache dominiert, manchmal auch zwei (Französisch und Deutsch in der Schweiz). Spanisch ist die Muttersprache von 40 Millionen der 330 Millionen US-Amerikaner, und sie bekennen sich zu einer katholischen Religion in einem mehrheitlich protestantischen Land, ohne dass dadurch ein „Ethno-Konfessionalismus“ entsteht, ohne dass dadurch eine Gesellschaft gespalten wird, die gekennzeichnet ist durch „die höchste Mobilität der Arbeiter, […] und eine unaufhörliche Wanderung von einem Industriezweig zum anderen […] eine fortwährende Schaffung neuer Arbeitsweisen […] kurz eine wachsende Arbeitsteilung in der ganzen Gesellschaft.“ (Marx, Ein unveröffentlichtes Kapitel aus dem Kapital, 1867)

Da diese Voraussetzungen fehlten, litten die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen europäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit (und leiden trotz des Bevölkerungstransfers immer noch) unter einem „Nationalitätenproblem“ von Minderheiten.

Wir wollen hier nicht die Episoden nach 1918 zusammenfassen, in denen sich Bolschewiki, weißen Russen1, Polen und verschiedene Parteien und Regionen in der heutigen Ukraine unter dem Einfluss der Sieger von 14-18, insbesondere Frankreich, gegenüberstanden. 1920 marschierte Polen mit der Unterstützung eines Teils der lokalen Bevölkerung in ukrainisches Gebiet ein, in der Hoffnung, dort ein Pufferland zu schaffen, das es vor Russland schützen würde. Es scheiterte, annektierte jedoch die westlichen Regionen des Landes sowie Teile Litauens und Belarus.

1945 wurde die polnische Grenze weiter nach Westen verschoben, was zur Vertreibung von Millionen Menschen führte: Zwangsumsiedlung von „Deutschen“ nach Deutschland und von Polen, die in der Ukraine, Belarus oder Litauen wohnten, in ein Polen, dem gerade Ostpreußen, Pommern und Schlesien zugesprochen worden war. Eines der Ziele war die Bildung von Staaten mit einer homogenen Bevölkerung: „Alle Länder werden auf nationalen und nicht auf multinationalen Prinzipien aufgebaut“, erklärte Gomulka, der Anführer des neuen Polens, im Mai 1945.

Die an die UdSSR angeschlossene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik lieferte zwar ein Drittel der Industrieproduktion der Union, doch ihre Ökonomie war für eine selbstbestimmte Entwicklung, die den sozialen und politischen Zusammenhalt des Landes förderte, nach wie vor zu stark von Russland abhängig. Nach dem Ende der UdSSR beherrscht die Mehrheit der ukrainischen Staatsbürger die russische Sprache gut und Millionen von ihnen arbeiten und wohnen in Russland. Aber wenn sich im Donbass einige Millionen Menschen als „Russen“ bezeichnen – im Gegensatz zu denen in Kiew – und wenn Russland einen separatistischen „Ethno-Nationalismus“ manipulieren konnte, dann liegt das daran, dass diese Region und ihre Bevölkerung nur sehr unvollständig in den Rest der Ukraine integriert wurden.

Die nationale Unvollständigkeit spiegelt sich auch im politischen Leben wider. Die berühmten russischen „Oligarchen“ haben ihre Entsprechungen in der Ukraine. Eine „Gasprinzessin“ (Julia Tymoschenko) war dort Premierministerin und ein „Schokoladenkönig“ (Petro Poroschenko) Präsident der Republik. Der ukrainische Parlamentarismus ist weit von westeuropäischen Praktiken entfernt. Obwohl die Ukraine über eine bedeutende Rüstungsindustrie und eine exportorientierte Landwirtschaft verfügt, streiten sich Monopole, manchmal verstärkt durch Medienimperien, um die ökonomisch-politische Macht und teilen sie untereinander auf, und es kam vor, dass der Staat einen Oligarchen direkt zum Gouverneur einer Region ernannte. Die Orange Revolution von 2004 hat dem kein Ende gesetzt, ebenso wenig wie der Maidan im Jahr 2014.

Vor zwanzig Jahren schrieb Emmanuel Todd: „Obwohl die Ukraine über die Fähigkeiten verfügt, sich kulturell von Russland zu unterscheiden, fehlt ihr eine Eigendynamik. Sie könnte Russland nur entkommen, indem sie sich in den Orbit einer anderen Macht begibt. Doch Amerika ist zu weit entfernt und Europa ist keine militärische und politische Macht. Selbst wenn Europa eine solche wäre, hätte es kein Interesse daran, die Ukraine zum Satelliten zu machen. Der Fall der Ukraine offenbart die konkrete Nichtexistenz der USA im Herzen Eurasiens. Ihre ökonomischen Verbindungen mit der Ukraine sind schwach. Die einzige echte Verbindung besteht darin, durch die ideologische und politische Rolle des IWF die Illusion von Finanzmacht zu vermitteln. Der Handel zeigt die Abhängigkeit der Ukraine von Russland und Europa. Da die Vereinigten Staaten nicht mehr Geber des „Marshall-Plans“ sind und der Ukraine nichts zu verkaufen haben, können sie bei der Rettung des Landes keine Rolle spielen.“

Um ihre Unabhängigkeit zu erlangen, hatte sich die ukrainische Nationalbewegung nach 14-18 nacheinander auf Deutschland, die Entente, d. h. die Sieger des Krieges, und 1920 auf Polen gestützt. Ein Jahrhundert später: „Die Ukraine hat lange Zeit die Widersprüche zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt, aber das hat sich letztlich als gefährliches Spiel erwiesen. Die Ukraine bedeutete Russland mehr als jedes andere Land.“ (Richard Sawka)

2014 hatte Russland versucht, die Ukraine zu seinem Vorteil zu föderalisieren: aber die Annexion der Krim „hat es nicht geschafft, die Unterstützung der ethnischen Russen außerhalb des direkt von der russischen Armee kontrollierten Gebiets zu mobilisieren.“ (Id.) Im Jahr 2022 hoffte der Kreml, diesen Misserfolg wieder gut zu machen, indem er seine Ambitionen über den Donbass hinaus ausweitete: Der Fehler bestand darin, den nationalen Faktor – beim Gegner – unterschätzt zu haben.

Die Volksrepubliken Lugansk und Donezk kamen zu den Kleinststaaten hinzu, die unter dem bewaffneten Druck Russlands entstanden waren: Transnistrien, das von Moldawien abgetrennt wurde, Abchasien und Südossetien, die Georgien weggenommen wurden.

Im ehemaligen Jugoslawien schuf Belgrad abtrünnige Einheiten: in Kroatien die Serbische Republika Krajina (die heute nicht mehr existiert) und in Bosnien und Herzegowina die Republika Srpska, die heute Teil des Landes ist, in der der Separatismus jedoch weiterhin stark ausgeprägt ist. Das Kosovo, das 2008 dank der NATO unabhängig wurde, wird bis heute weder von den Vereinten Nationen noch von der Europäischen Union als Staat anerkannt.

Während diese „Marionettenstaaten“ ihre Existenz dem Krieg verdanken, versuchen andere unter dem Druck einer ökonomischen und sozialen Dynamik, die ihnen eine Autonomiefähigkeit verleiht, die zur Abspaltung drängt, zu entstehen: Katalonien, Schottland, Flandern und Padanien (wobei nur die ersten beiden eine gewisse Aussicht auf Erfolg haben). Die unerhörte globale sozialisierende Kraft des Kapitalismus ist auch eine zersetzende Kraft, die Bevölkerungsgruppen zusammensetzt, zerschlägt und neu formt.

Der Krieg in der Ukraine wird wahrscheinlich mit einem Kompromiss enden, der dem Donbass (vielleicht erweitert um einen Streifen entlang des Schwarzen Meeres) ein mehr oder weniger hohes Maß an Autonomie oder sogar Unabhängigkeit zugesteht. Was die ukrainische „Union sacrée“ betrifft, so wird es ihr gelungen sein, die Bevölkerung, einschließlich der „Russischsprachigen“, mit Ausnahme des Südostens zu „ukrainisieren“, was die geringe Lebensfähigkeit einer ukrainischen Nation, wie sie in ihren 1945 gezogenen und 1991 bestätigten Grenzen existierte, beweist.

1914 und 2022

In den Jahrzehnten vor 1914 war Engels nicht der einzige, der die Möglichkeit eines europäischen Krieges in Betracht zog, in dem „unsere Partei in Deutschland sofort von der Flut des Chauvinismus überschwemmt und vernichtet werden würde; ganz dasselbe würde mit Frankreich geschehen“. (Brief an Bebel, 22. Dezember 1882) Dieser Konflikt, „von bisher nicht vorstellbarer Größe und Gewalt“, in dem Millionen von Menschen kämpfen werden, wird zum Fall von Imperien führen, „zur allgemeinen Erschöpfung und zur Schaffung der Bedingungen für den Endsieg der Arbeiterklasse. […] Der Krieg wird uns vielleicht vorübergehend zurückwerfen, er kann uns manche bereits eroberte Position wieder nehmen. Aber […] welche Wendung die Dinge auch immer nehmen mögen, am Ende der Tragödie […] wird der Sieg des Proletariats bereits errungen oder zumindest unvermeidlich sein.“ (Einleitung zu einer Broschüre von Sigismund Borkheim, 1888). „Trotz eines Wiederauflebens des Chauvinismus in allen Ländern“ und einer Reaktionsperiode, die auf der Verhungerung aller ausgebluteten Völker beruht“ (Brief an Paul Lafargue, 25. März 1889), würde der Kapitalismus also so erschüttert werden, dass seine Verewigung unmöglich wird.

Angesichts des Militarismus blieb die Arbeiter- und Sozialistenbewegung nicht untätig. Da sie in den Betrieben und auf der Straße (und im Parlament…) agierte, versuchte sie, innerhalb der militärischen Institution zu intervenieren: Die CGT schickte ihren wehrpflichtigen Gewerkschafts- Syndikatsmitgliedern einen kleinen Betrag (die „Sou du soldat“), um ihre Verbindung zur Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten. Aber Parteien und Gewerkschaften/Syndikate sahen keine anderen Maßnahmen vor als einen „Kampf für den Frieden“, der den Krieg unmöglich machen sollte: Es gab keine Vorkehrungen für den – vermeintlich unwahrscheinlichen – Fall, dass es doch zu einem Krieg kommen würde. Ob man nun daran glaubte oder nicht, die Drohung mit einem Generalstreik (friedlich für die Gemäßigten, aufständisch/insurrektionalistisch für die Radikalen) war ebenso wenig real wie die erklärte Absicht, eine Revolution zu machen … irgendwann.

Daher gab es in den meisten zukünftigen Kriegsparteien in dem Monat zwischen der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien zahlreiche Massendemonstrationen gegen den drohenden Krieg: ihr Ziel war es jedoch, Druck auf die bourgeoisen Regierungen auszuüben, und nicht, selbst als Proletariat zu handeln. Das war logisch: Die überwiegende Mehrheit der Sozialisten und Gewerkschafter/Syndikalisten (und ein Teil der Anarchisten) verhielt sich als Gegner und Partner der Arbeiter in einer bourgeoisen Welt. Wenn man de facto (egal, was man darüber denkt und sagt) das Wesentliche einer Gesellschaft akzeptiert, bereitet man sich darauf vor, auch die wichtigsten Entscheidungen zu akzeptieren, die von ihren Anführern getroffen werden – vor allem den Krieg. Im Sommer 1914 verriet die Zweite Internationale vielleicht ihre Ideologie, nicht aber ihre Praxis.

Angesichts dessen, was das Proletariat nicht verhindern konnte oder wollte, muss für Lenin jeder Revolutionär die Niederlage seines eigenen Landes herbeiwünschen und im Rahmen des Möglichen dazu beitragen. In Russland wäre aus der Sicht der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen das „kleinere Übel“ die Niederlage der Zarenmonarchie. Lenin hält kommende Revolten in der Armee wie 1905 für möglich. Ist das unrealistisch? Nein, wenn man die kapitalistische Welt als in einer schweren Krise befindlich einschätzt, einer Krise, die vorübergehend durch die Union Sacrée überwunden wurde, aber unweigerlich wieder auftauchen wird, verschärft durch die Fortsetzung des Krieges. Von der üblichen Sicht eines Kapitalismus als Kriegstreiber ging Lenin zu der eines Kapitalismus als Ursache des Krieges und damit der Revolution über.

Sobald der Krieg begonnen hatte, konnte anfangs nur eine kleine Minderheit handeln, die sich auf die von Liebknecht ausgedrückte Überzeugung stützte, dass für jeden der Feind im eigenen Land stehe. Denn damit ein „revolutionärer Defätismus“ zu einer materiellen Kraft werden konnte, musste der Stillstand der Kämpfe die militärischen und patriotischen Energien verschleißen, wie Engels die Möglichkeit dazu vorausgesehen hatte: „Es ist eine offenkundige Tatsache, dass die Desorganisation der Armeen und eine völlige Lockerung der Disziplin sowohl die Vorbedingung als auch die Folge aller bisherigen erfolgreichen Revolutionen gewesen sind.“ (Brief an Marx, 26. September 1851) „Das Beste wäre eine russische Revolution, mit der jedoch erst nach mehreren schweren Niederlagen der russischen Armee zu rechnen ist.“ (Brief an Bebel, 13. September 1886) Die bolschewistische Strategie ergab nur Sinn auf der Grundlage der begründeten Gewissheit, „dass der Krieg in Europa eine revolutionäre Situation schafft“ (Lenin, 1915): Er rief zu einer (von Rosa Luxemburg damals für verfrüht gehaltenen) Spaltung einer breiten politischen Bewegung auf, die zwar versagt hatte, deren „gesunde“ Teile sich aber trennen sollten, um revolutionäre Parteien (wieder) zu gründen, die die allgemeine Krise infolge des Krieges nutzen würden, um den Kapitalismus niederzuwerfen.

Die Situation ist ein Jahrhundert später nicht mehr dieselbe, insbesondere durch das Fehlen der substanziellen radikalen Minderheiten, an die sich Lenin wandte. Und die Opposition gegen imperialistische Kriege (z. B. den Krieg gegen den Irak 2003) ist entweder einfach pazifistisch oder unfähig, die Situation zu beeinflussen.

„Die Aufrufe zur Desertion, zum Defätismus und zur Sabotage des Krieges auf beiden Seiten, die in diesen Tagen aus vielen Kreisen kommen, sind aus Klassensicht sicherlich die einzig gangbare Position. Sie sind daher lobens- und teilenswert – und sicher viel würdiger als der einseitige Antiimperialismus derjenigen, die sich jedes Mal verpflichtet fühlen, einen „schwächeren“ Imperialismus zu unterstützen. Dies zumindest im Prinzip. Aber solche Appelle laufen Gefahr, inhaltlich, wenn nicht „ideologisch“, so doch zumindest völlig unfruchtbar zu sein“. (Lato Cattivo, 2. März 2022)

Revolutionärer Defätismus?

„Was nützt ein internationalistisches Prinzip, wenn das eigene Dorf von einem russischen Panzer beschossen wird? Wie weit müssen ukrainische Arbeiter gehen, um sich einfach gegen eine militärische Aggression zu verteidigen? War es möglich, denjenigen, die sich im Warschauer Ghetto, in Srebrenica oder zum Zeitpunkt eines Angriffs von Daesh befanden, zu sagen, dass sie nicht zu den Waffen greifen sollen, weil sie ihnen von Nationalisten geliefert werden könnten oder weil ihr Widerstand sich an den Interessen einer der imperialistischen Großmächte orientiert?“, fragte ein Teilnehmer einer von Angry Workers organisierten Diskussion am 12. März 2022, worauf dieser antwortete: „Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“

(Übrigens ist es missbräuchlich, die Ukrainer, die gezwungen waren, Wege zu finden, sich vor der Invasion zu schützen, mit den Aufständischen im Warschauer Ghetto von 1943 zu vergleichen. Mit dem Rücken zur Wand, praktisch ohne Unterstützung von außen und dem sicheren Tod geweiht, zogen es die Juden im Ghetto vor, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Die Ukrainer des Jahres 2022 haben glücklicherweise mehr als eine einzige Option).

Wenn die Frage legitim ist, stellte sie sich im Sommer 14 unter deutschem Kanonenfeuer genauso den Bewohnern belgischer Dörfer, wo die Invasoren Tausende Zivilisten erschossen und Millionen Menschen zwangen, in die nicht besetzten Regionen Frankreichs zu flüchten.

Anstelle der Ukrainer darauf zu antworten, wäre unmöglich und hätte im Übrigen fast keine praktischen Konsequenzen. Für die Notlagen der Welt haben wir keine unmittelbaren Lösungen, und die kommunistischen Minderheiten haben nicht die Fähigkeit, mehr zu tun, als die Proletarier selbst in den Situationen und Ländern, in denen sie sich befinden, tun können.

Gegenüber dem russischen Aggressor hat sich ein kollektiver Widerstand entwickelt, eine gegenseitige Hilfe auf Dorf- und Nachbarschaftsebene, mit basisdemokratischen Aspekten, die Freiwilligenbataillone, militärische und krankenpflegerische Ausbildungszentren schaffen, Flüchtlinge aufnehmen, manchmal die offiziellen Hierarchien umgehen, auch mit Tauschhandel (Tausch eines Waffenlagers gegen ein Fahrzeug), ohne Unterbrechung zwischen einer „zivilen“ materiellen Solidarität und der „bewaffneten“ Selbstverteidigung der eigenen Stadt und des eigenen Lebens.

Eine unter „radikalen“ Kreisen verbreitete Position besteht darin, eine Form des revolutionären Defätismus zu befürworten und zu praktizieren, allerdings nur auf einer der beiden Seiten, in Russland, um seine Kriegsanstrengungen zu schwächen, während man innerhalb der Ukraine einen vermeintlich autonomen Widerstand unterstützt oder sich ihm anschließt und versucht, ihn nach Möglichkeit auszuweiten.

Diese vielgestaltige Reaktion läuft parallel zu den militärischen Aktionen des Staates, sie ergänzt sie und nur sehr wenige ihrer Teilnehmer haben das Ziel, sie zu ersetzen. Die Hoffnung, dass sich in der Ukraine durch die Selbstorganisation des Widerstands eine direkte Demokratie ausbreitet, stützt sich auf keine konkreten Fakten. Da die Situation so ist, wie sie ist, ist es unmöglich, die Bevölkerung mit Waffengewalt zu schützen, ohne sich auf den Staat zu stützen und ihm im Gegenzug, ob man will oder nicht, Unterstützung zukommen zu lassen. Es gibt kein ukrainisches Volk, das neben dem Staat kämpft, ohne von ihm beherrscht oder betreut zu werden. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf den Spanischen Krieg besonders unglücklich: Im Sommer 36 wurden diejenigen Anarchisten, die die Aufrechterhaltung einer bourgeoisen Regierung unter dem Vorwand akzeptierten, dass sie nicht die wahre Macht habe, die in den Händen der populären Massen gelegen hätte, die den Anti-Franco-Krieg durch ihre autonomen Organisationen führten, weniger als ein Jahr später auf grausame Weise widerlegt. Mai 37 zeigte, wer die Macht innehatte: Die Republik unterdrückte die Radikaleren, brachte die Arbeitermilizen in die Schranken, verwandelte die Aufstandsbewegung endgültig in einen Frontkrieg und gewann das Spiel gegen die Proletarier, bevor sie es gegen Franco verlor.

1914 war es nicht chauvinistische Kriegstreiberei, dass fast alle sozialistischen Parteien die nationale Union akzeptierten, sondern im Namen des Interesses des Volkes (und des Proletariats), also seines Rechts, sich gegen den Eindringling zu verteidigen. Im Jahr 2022 geben einige zwar zu, dass sich in der Ukraine zwei Imperialismen gegenüberstehen, empfehlen aber, die eine Seite (weil demokratisch und angegriffen) gegen die andere (diktatorisch und angreifend) zu unterstützen. Die Geschichte stottert.

Wir sind weder pazifistisch noch gewaltfrei: Die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft erfordert den Einsatz von Waffen. Aber ein bewaffneter Kampf, selbst wenn er selbstorganisiert ist, reicht nicht aus, um die Fundamente einer Gesellschaft zu erschüttern. Aus sich selbst heraus wird eine Partisanenbewegung, selbst wenn sie zahlenmäßig groß ist, zur Niederlage des Feindes beitragen, ohne dadurch eine Revolution einzuleiten. Es ist nicht überraschend, dass für einige unserer ukrainischen Gefährten der Abzug der Invasoren eine Priorität ist, aber wenn sie sich davon eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung erhoffen, ist es zweifelhaft, ob der nationale Zusammenschluss dafür förderlich ist: da „das Volk“ alle Ukrainer aller Klassen umfasst (und nur gegebenenfalls die Kollaborateure des Feindes ausschließt), wird die Nachkriegszeit nicht gegen die Interessen der Besitzenden gerichtet sein. Bestenfalls wird es zu einigen Reformen kommen, aber sicherlich nicht zu einer breiten direkten Demokratie oder zu Strukturveränderungen.

Etwas anderes wäre die Entstehung von Gruppen, die den Widerstand gegen eine Situation der „Doppelmacht“ anführen, was dazu führen würde, dass man sich nicht nur mit der russischen Armee auseinandersetzen müsste (die ihrerseits von innen durch Misserfolge geschwächt und sogar durch Meutereien unterminiert ist), sondern auch mit der Armee eines ukrainischen Staates, der ebenfalls von innen heraus umstritten ist. So weit sind wir noch nicht. In der Ukraine gibt es nicht drei Kräfte: die russischen Invasoren, die offizielle Armee und darüber hinaus einen autonomen populären Widerstand, der sich ausbreiten kann. Im Übrigen hätte dieser, sofern er sich weder von den regulären Truppen noch von der Territorialverteidigung einspannen ließe, keinen Zugang zu den Waffen, die über das Schicksal der Kämpfe entscheiden (z. B. Panzerabwehrraketen), oder zu einer Logistik, die unverzichtbar geworden ist (Munition, Treibstoff, Nahrungsmittel, Evakuierung von Verwundeten usw.), und würde nur eine Hilfsrolle spielen. 1944 trugen die Résistance und der Maquis zur Niederlage der Deutschen bei, doch Frankreich wurde von den alliierten Armeen befreit.

Wie jede schwere Krise bringt ein Krieg die Fundamente einer Gesellschaft in Bewegung, aber er vertieft Brüche ebenso wie er Spaltungen verschärft, und alles kann aus ihm hervorgehen, wenn es scheinbar eine Lösung bietet: die bolschewistische Partei im Russland von 1917, die Faschisten in Italien 1922. Der Schock eines Krieges führt nicht ipso facto zu einer Antikriegsreaktion – und diese kann die gegensätzlichsten Formen annehmen, revolutionäre, konservative oder reaktionäre. Vor genau hundert Jahren behauptete Lenin, der in Sachen revolutionärer Defätismus aus Erfahrung sprach, dass „die nationale Frage“ dazu bestimmt sei, „unausweichlich von der Arbeiterklasse zugunsten ihrer Bourgeoisie entschieden zu werden.“ Das vergangene Jahrhundert hat ihm eher Recht gegeben.

Gerade im angreifenden Land hatte Liebknechts Formel eine praktische Bedeutung. Nach 1918 unterbrachen Hafenarbeiter in verschiedenen europäischen Ländern Waffenlieferungen an die weißen Russen2. In kleinerem Maßstab fiel 2003 während des Krieges gegen den Irak in Großbritannien eine Mobilisierung zur Blockade von Militärstützpunkten mit der Weigerung von Bahnarbeitern zusammen, Material für die Armee zu transportieren. Im Jahr 2022 zerstörten russische Anarchisten Rekrutierungszentren der Armee, sabotierten weißrussische Eisenbahner Eisenbahnstrecken, die russische Truppen und Material in die Ukraine beförderten, und wehrten sich amerikanische, schwedische und britische Hafenarbeiter gegen die Entladung russischer Schiffe. Wenn sich diese Bewegungen fortsetzen könnten und in Russland und unter den Invasionstruppen die Ablehnung eines unpopulären Krieges wächst, weil das Feld zertrampelt wird und zu viele „Zinksärge“ zurückkehren, dann werden Überläufer, Meutereien und sogar Verbrüderungen möglich. Zu diesem Zeitpunkt (Juni 2022) ist dies (noch?) nicht der Fall.

1940 schrieb Otto Rühle: „Die Frage, mit der wir heute konfrontiert sind, ist, ob Liebknechts Losung: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ für den Klassenkampf heute noch genauso gültig ist wie 1915.“ Darauf antwortete er: „Ganz gleich, auf welcher Seite sich das Proletariat stellt, es wird zu den Besiegten gehören. Deshalb darf es sich weder auf die Seite der Demokratien noch auf die der Totalitären stellen.“.

G.D., Juni 2022

* * *

Lektüre/Lesestoff:

Für eine genaue Analyse des Ausbruchs und des Verlaufs des Krieges: Tristan Leoni, Adieu la vie, adieu l’amour… Ukraine, guerre et auto-organisation: https://ddt21.noblogs.org/?p=3424

Und die Version auf Englisch: Farewell to Life, Farewell to Love… Ukraine, War and Self-Organisation: https://ddt21.noblogs.org/?page_id=3460

Sowie die auf Deutsch: Lebewohl zum Leben, Lebewohl zur Liebe… Ukraine, Krieg und Selbstorganisation: https://panopticon.noblogs.org/post/2022/05/26/frankreich-lebewohl-zum-leben-lebewohl-zur-liebe-ukraine-krieg-und-selbstorganisation/

L’Appel du vide, 2003: https://troploin.fr/node/18

Demain, orage. Essai sur une crise qui vient, 2007: https://troploin.fr/node/26

La Nation dans tout son état, 2019:

https://ddt21.noblogs.org/?page_id=2158

https://ddt21.noblogs.org/?page_id=2176

Tristan Leoni, Manu militari, nouvelle édition augmentée, Le Monde à l’envers, 2020.

Lettres d’Ukraine, 1, 18 mars 2022: http://dndf.org/?p=20012#more-20012

Hier auf Deutsch: Ukraine-Korrespondenzen: Teil I und II

Jean-Numa Ducange, Quand la Gauche pensait la Nation: Nationalités et socialismes à la Belle-Époque, Fayard, 2022.

Über die Internationalisten des 3. Lagers, 1940-1952 („Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie jegliche Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager ablehnen“):

https://archivesautonomies.org/spip.php?rubrique367

Lato Cattivo, Du moins, si l’on veut être matérialiste, 2 mars 2022 :

https://dndf.org/?p=19975

Texte der Internationalen Kommunistischen Partei: https://pcint.org/

Fragments of a debate amongst AngryWorkers on the war in Ukraine, 12 mars 2022:

https://libcom.org/article/fragments-debate-amongst-angryworkers-war-ukraine

Hier auf Deutsch: Fragmente zum Krieg

Zur 1. und 2. Internationale angesichts des Krieges 1870 und 1914 siehe die Anhänge I und II von 10 + 1 questions sur la guerre du Kosovo, (1999- 2010): https://troploin.fr/node/31

Liebknecht: L’ennemi principal est dans notre propre pays(mai 1915):

https://www.marxists.org/francais/liebknec/1915/liebknecht_19150500.htm

Hier auf Deutsch, Karl Liebknecht: Karl Liebknecht, Der Hauptfeind steht im eigenen Land! (Mai 1915): https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1915/05/feind.htm

Engels, Introduction à la brochure de Sigismund Borkheim, 1887:

https://www.marxists.org/francais/engels/works/1887/12/borkheim.htm

Friedrich Engels, Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre, 1887:

http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_346.htm

George Haupt, L’Historien & le mouvement social, Maspéro, 1980. Chapitres 6 et  7.

Rosa Luxemburg, La Crise de la social-démocratie (Junius brochure), 1915, chapitre 8 :

https://www.marxists.org/francais/luxembur/junius/rljhf.html

Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, [Die „Junius“-Broschüre], (1916):

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/index.htm

Lénine, À propos de la brochure de Junius, Juillet 1916:

https://www.marxists.org/francais/lenin/works/1916/07/vil191607001.htm

Wladimir Iljitsch Lenin, Über die „Junius“-Broschüre, (Juli 1916):

https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/16-juniu.htm

Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569-1999, Yale UP, 2003.

Serhic Plockty, The Gates of Europe. A History of Ukraine, Basic Books, 2015.

Norman Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War 1919-20, Pimlico, 2003.

Sur Bandera : Stephen Dorril, MI 6. Inside the Covert World of Her Majesty’s Secret Service, Simon & Schuster, 2002, chapitre 14.

Tim Judah, In Wartime. Stories from Ukraine, Penguin, 2015.

Richard Sakwa, Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands, Tauris, 2015.

Emmanuel Todd, Après l’empire, Gallimard, 2002.

Max Hastings, Catastrophe 1914: Europe Goes to War, W. Collins, 2014. Des origines de la guerre jusqu’en décembre 1914.

Über den Bruch der Dämme des Gelben Flusses im Jahr 1938: Rana Mitter, China’s War with Japan 1937-1945, Penguin, 2014, pp. 157-162. Über die Beziehungen zwischen der NATO, Russland und der Ukraine: Tariq Ali, «Before the War», London Review of Books, 24 mars 2022.

Über die militärische Strategie der Vereinigten Staaten: Jerry Broown, «Washington’s Crackpot Realism», New York Review of Books, 24 mars 2022.

Über die Möglichkeit eines nuklearen Krieges: Tom Stevenson, «A Tiny Sun», London Review of Books, 24 février 2022.

Otto Rühle, Which Side To Take ?, 1940:

https://www.marxists.org/archive/ruhle/1940/ruhle01.htm

Otto Rühle, Welche Seite ergreifen?:

https://panopticon.noblogs.org/post/2022/07/06/otto-ruhle-welche-seite-ergreifen/


 

1A.d.Ü., auf Deutsch ist die Rede der Weißen Armee, der Weißen Bewegung oder ganz schlicht die Weißen. Hierbei handelt es sich um eine nationalistische politisch-militärische Bewegung die während des sogenannten Bürgerkrieges in Russland (1919 – 1921) gegen die Bolschewiki und der Machnowtschina kämpfte.

2A.d.Ü., siehe Fußnote Nummer Eins.

This entry was posted in Gilles Dauvé (Jean Barrot), Krieg, Russland-Ukraine Krieg, Texte. Bookmark the permalink.