(Otto Rühle) Brauner und Roter Faschismus

Der vorliegende Text, geschrieben von Otto Rühle im Exil 1939, ist eine ausführliche und direkte Kritik an den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus und anderen sozialdemokratischen Kräften, ähnlich wie in den Texten von Paul Mattick und anderen. Mit vielen wichtigen Fragen setzt sich Rühle in diesem Text auseinander, die noch geltend sind. Seine Hauptthese ist die dass der Bolschewismus, noch durch Lenin angeführt, verstanden als eine sozialdemokratische Ideologie, die Grundlage für den Faschismus stellte, da dieset, also der Bolschewismus sowie die Sozialdemokratie, die deutsche ganz voran, mit der Zerschlagung der sozialen Revolution das Proletariat dermaßen entwaffnete, und auch ermordete, dass dieser Jahre später komplett desillusioniert auf den Schoß des Faschismus nur landen konnte. Darauffolgend, dann ab unter Stalin, die enge Zusammenarbeit beider Staaten, also der UdSSR und Nazi-Deutschland, auf politischer und ökonomischer Ebene, was noch 1939 Rühle dazu führt auf vielen Hinsichten beide Staaten zu vergleichen und gemeinsame Merkmale zu benennen.

Hierbei darf ab nicht vergessen werden, dass der Anfang nicht das Ende vorsehen kann, was damals niemand konnte, das Gegenteilige zu glauben, würde bedeuten an das Metaphysische an Handlesen, an Wahrsagerei zu glauben, aber im Sinne des Glaubens. Daher müssen, ob die These von Rühle richtig oder falsch ist, dennoch mehrere historische Ereignisse berücksichtigt werden, denn was wir hier vorfinden ist nicht eine Schrift, die wie sie heutzutage genannt werden würde, die sogenannte Totalitarismustheorie – oder Hufeisentheorie – vertritt. Geschrieben wurde diese Schrift wie gesagt 1939, noch vor dem Holocaust und Rühle starb 1943. Unserseits wäre es jetzt gerätselt ob Rühle später Gulags und KZ´s gleichgesetzt hätte, was genau die Totalitarismustheorie vertritt, wir aber nicht, Rühle nennt es insgesamt, „Eine verblüffende Übereinstimmung in den Grundanlagen der Systeme – in der Machtdoktrin, dem Autoritätsprinzip, dem Diktaturapparat, der Gleichschaltungsdynamik, den Gewaltmethoden“, oder ob er evtl. diese Kritik zu einem späteren Moment korrigiert, bzw. erweitert hätte. Denn erst durch die Erkenntnis und das Wissen können die Waffen der Kritik geschärft werden. Es ist genauso wie wenn wir ‚Max Horkheimer – Autoritärer Staat‘ aufgrund derselben Gründe, 1940 geschrieben, als nichtig erklären würden, weil dieser den Holocaust als rassistische industrielle Vernichtungsmaschinerie, welche nur durch das Kapital handlungsfähig war und nur aufgrund diesen überhaupt stattfinden konnte, nicht vorher sah. Auf so eine Idiotie wollen wir uns gar nicht erst einlassen.

Für uns ist aber dennoch, abgesehen von der Richtigkeit oder der Falschheit seitens Rühles Vergleich von Bolschewismus und Faschismus, welchen wir nicht teilen, dies eine Schrift die in ihrer Kritik an den Bolschewismus vieles sagt was wir so auch teilen. Es darf nicht vergessen werden dass Otto Rühle, wie viele andere in seiner Zeit, und danach auch, den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus (oder auch Marxismus-Leninismus ab Stalin) scharf kritisierte und immer und überall angriff, als Kommunist, er soll sich aber den Anarchismus in seiner Exilzeit genährt haben, war er gegen den Bolschewismus und dies ist immer begrüßenswert.

Wir veröffentlichen diesen Text mit einigen Korrekturen. Es gibt eine Ausgabe von Rowohlt der viele Fußnoten beigefügt wurden, die so im Netz nicht zu finden sind. Wir wollten, diesen Text für sich seit einer längeren Zeit veröffentlichen, haben aber darauf gewartet, weil wir diesen mit der Schrift von ‚Miguel Amorós, Leninismus, eine faschistische Ideologie’ zusammen veröffentlichen wollten. Zu beiden Texten haben wir gewissermaßen ähnliche, dennoch für sich getrennte Einleitungen geschrieben.

Soligruppe für Gefangene


Otto Rühle

Brauner und Roter Faschismus

1939

Synopsis

Der Charakter der gegenwärtigen Weltsituation wird in erster Linie bestimmt durch europäische Faktoren, an deren Spitze Deutschland und Russland stehen.

Diese Faktoren, in Deutschland durch den Nazismus, in Russland durch den Bolschewismus verkörpert, sind Ergebnisse einer Entwicklung, die den Inhalt der europäischen Nachkriegswirtschaft und Nachkriegspolitik bildet.

Diese Nachkriegsepoche ist ökonomisch verankert im ultraimperialistischen Monopolismus, der zum System des Staatskapitalismus drängt. Politisch bahnt sie eine totalitäre Staatsordnung an, die im Diktatursystem gipfelt.

Nur aus der kritischen und analytischen Betrachtung dieser Phänomene und Zusammenhänge lässt sich der Zugang zum tieferen und eigentlichen Verständnis des Faschismus wie des Bolschewismus gewinnen. Alles andere sind Rand-, Begleit- und Folgeerscheinungen der zentralen Ursachen, die, zum Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchung erhoben, nur zu einer schiefen Betrachtungsweise verleiten und ein verfälschtes Bild der Situation ergeben.

Das vorliegende Buch erhebt Anspruch darauf, als bisher erster Versuch einer wissenschaftlichen Analyse angesehen zu werden, die von der ökonomischen und politischen Nachkriegsentwicklung in Deutschland und Russland ausgeht und dadurch den Schlüssel gewinnt für die Aufhellung all der Vordergrundprobleme, die heute das weltpolitische Szenarium entscheidend beherrschen.

Scharf umrissen und in die Klarheit historisch-dialektischer Argumentation gerückt erscheinen in der Reihe dieser Probleme die aufschlussreichen Nachweise

1. für die Unvermeidlichkeit und innere Notwendigkeit des Zusammenbruchs der alten Arbeiterbewegung, deren typischer Repräsentant die Sozialdemokratie war;

2. für die unhistorische Konzeption und organisationstechnische Verfehltheit des sozialistischen Experiments in Russland, dessen Träger der Bolschewismus war;

3. für die entwicklungsmäßige Folgerichtigkeit der Neuorientierung Russlands am Staatskapitalismus und an der bürokratischen Diktatur, deren Durchführung die historische Aufgabe des Stalinismus ist;

4. für die Tatsache einer neuen industriellen Revolution in Europa, deren Konsequenzen politisch und sozial auf dem traditionellen Niveau des Liberalismus und der Demokratie nicht mehr zu bewältigen sind;

5. für die Entfaltung des Imperialismus zum Ultramonopolismus und die Geltendmachung seiner totalitären Machtansprüche im Aufkommen des Faschismus, dessen aktivste und richtungsweisende Spitze der Nazismus ist;

6. für die innere Kongruenz der Tendenzen des deutschen und russischen Staatskapitalismus und ihre strukturelle, organisatorische, dynamische und taktische Identität, deren notwendiges Resultat der politische Pakt und die Einheit der militärischen Aktion ist;

7. für die Unabwendbarkeit des Zweiten Weltkriegs, als des Versuchs zur Auseinandersetzung zwischen den ultramonopolistischen und staatskapitalistischen Mächten einerseits und den liberal-demokratischen Mächten andererseits auf der Basis des überlieferten Europa, dessen nationale Grenzverhältnisse, individualrechtliche Besitzverhältnisse und demokratische Verwaltungsverhältnisse dem politischen Primat der totalitären und omnipotenten Machterfordernisse eines werdenden Globalmonopolismus, wenn nicht dem neuen System des Sozialismus, zum Opfer gebracht werden müssen;

8. für die Unmöglichkeit, all diese zur Austragung und Lösung drängenden Probleme auf dem Boden des kapitalistischen Systems, auch wenn dies zum Staatskapitalismus gewandelt, von den Bindungen des Privateigentums befreit, zur Planwirtschaft entwickelt und durch die Weiträumigkeit einer internationalen Staatenföderation begünstigt ist, wirklich und endgültig zu lösen. […]

Neue Wirtschafts-Ära

Der Weltkrieg 1914/18 sah an seinem Ende nur scheinbar Sieger und Besiegte. In Wirklichkeit gab es nur Besiegte. Auch die Sieger waren besiegt. Nicht freilich durch die Gewalt der Waffen. Wohl aber durch die Macht der historischen Entwicklung. Der Krieg selbst war der entscheidende Abschnitt dieser Entwicklung gewesen. Er hatte die allgemeine Niederlage, die Katastrophe für alle herbeigeführt.

So kam es, dass sich nach dem Kriege nicht nur Russland und Deutschland als andere Länder wiedersahen – als Länder, in denen eine Revolution den alten Bestand der Dinge über den Haufen geworfen hatte. Auch in den ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Strukturen Frankreichs, Englands, Italiens und Nordamerikas waren tiefe Wandlungen und Umbrüche vor sich gegangen. Nur mit dem Unterschied, dass bei den militärisch Besiegten diese Tatsache offenkundig war, während sie in den Siegerstaaten weder den Regierungen noch den Massen zum Bewusstsein kam.

Die Staaten waren im Zeichen des Imperialismus in den Krieg gegangen. In erster Linie Deutschland, dessen Kapitalismus im heißen Drange des Zuletztgekommenen rasch bis an die Grenzen vorgestoßen war, wo ihm der nationale Rahmen zu eng wurde. Darum suchte er mit starker Expansivkraft die Fesseln seiner Weiterentwicklung zu sprengen, die Schranken seines Spielraums weiter hinauszurücken. Sein provokatorischer Eroberungswille forderte eine Neuverteilung des Erdballs. So ging von ihm die Aktivzündung des Krieges aus.

Doch auch die anderen Kapitalstaaten waren nicht friedvoll und unschuldig gewesen. Alle hatten gerüstet, ihren Militarismus entwickelt, den gelegentlichen Angriff vorbereitet, mit der Unvermeidlichkeit eines Weltkriegs allen Ernstes gerechnet. Denn alle waren vom Kapitalismus beherrscht und auf der Bahn des Imperialismus bis zum Konflikt als letzter Entscheidung vorgeschritten. Nach den Bedingungen ihres Systems öffnete sich allen die Tür zur weiteren Zukunft nur durch die Gewalt der Waffen.

Die Stunde der Entscheidung war schließlich gekommen. Der Krieg war ausgebrochen. Die stärkere Gewalt – die Gewalt der größeren Heeresmassen, der entwickelteren Waffentechnik und der silbernen Kugeln – hatte gesiegt. Aber nur militärisch. Das heißt: nur nach den Spielregeln der kriegerischen Entscheidung.

Zugleich war während des Krieges das bürgerliche System, dessen letzter Schieds- und Urteilsspruch der Krieg war, in allen Ländern der kapitalistischen Welt, ob sie am Krieg teilgenommen hatten oder nicht, bis hart an die Grenzen seiner Geltung gerückt. Die Macht dieses Systems war im Innern gebrochen. Sein Gesetz, seine Ordnung, seine Autorität und sein Effekt waren am Ende angelangt. Die Geschichte hatte ihm den Todesstoß versetzt.

Das kapitalistische System ist kein in allen Stadien seiner Entwicklung gleiches und einheitliches, kein einmaliges System.

Deutlich sind unterschiedliche Phasen erkennbar, durch wechselnde, veränderliche Strukturmerkmale, Funktionen, Ausdrucksformen, Wirkungen und Ergebnisse charakterisiert. Nur im Grundgehalt seiner Aufgabe, im Prinzip seiner Konstitution, im Rhythmus seiner Funktion und im Generalnenner seines Effekts besteht Einmütigkeit, Norm und Dauer.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem soll – wie jedes Wirtschaftssystem – die Gesellschaft mit den Lebensgütern versorgen, deren sie zu ihrer Erhaltung und Weiterentwicklung bedarf. Es soll also einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen. Nach Maßgabe seiner Beschaffenheit vermag es dies aber nur auf dem Umwege privater Bereicherung. Mit dem sozialen Hauptzweck verkoppelt sich ein individueller Nebenzweck, der für den einzelnen Wirtschaftsträger zum Hauptzweck wird. Denn der Wirtschaftsträger in Gestalt des Unternehmers steht auf dem Boden des Privateigentums, aus dem sich die Verfolgung eines Privatinteresses folgerichtig ergibt. Für ihn ist daher die persönliche Bereicherung der praktische Sinn des wirtschaftlichen Tuns. Wirtschaft ist ihm Erwerb, Geschäft, Gewinnchance und Gewinn, dessen Nutznießer er ist. Das Mittel zur Erfüllung seiner sozialen Aufgabe wie seines individuellen Erwerbszwecks findet der kapitalistische Unternehmer in der Lohnarbeit. Er stellt Arbeiter, die ohne eigene Produktionsmittel sind und nur vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben können, in seinen Betrieb ein und beutet sie aus. Diese Ausbeutung erfolgt, indem er sie zu einer Arbeitsleistung zwingt, deren Ertrag über die gezahlte Lohnsumme hinausgeht. Der Mehrertrag oder Mehrwert fließt als Profit in seine Tasche.

Sosehr die abstrakte Gesetzmäßigkeit wie die praktische Mechanik dieses Ausbeutungsverfahrens sich in allen Phasen der kapitalistischen Entwicklung gleichbleiben, so verschieden sind die Formen und Ergebnisse je nach dem Stande der Arbeitstechnik, der Produktionsmethode, der Distributionsweise, des Zirkulationsprozesses, des Reifegrades vom Gesamtsystem.

Die Versorgung der Gesellschaft mit Lebensgütern erfolgt durch Waren, die gegen Geld auf dem Markt zu erwerben sind. Aber die Beschaffenheit dieser Waren, die Belieferung des Marktes, der Bedarf der Konsumenten, die Kaufkraft des Geldes, die Zahlungsfähigkeit der Käufer, die Akkumulation des Profits zu neuen Kapitalanlagen, die Reproduktion des Produktionsprozesses, letzten Endes die Summe aller Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft ist stetem Wechsel unterworfen. Denn sie gehen in ihren Ursachen zurück auf Voraussetzungen und Gesetze, die ihrerseits – unabhängig vom menschlichen Willen – dem Gebot steten Wandels unterliegen.

So bietet die kapitalistische Wirtschaft ein anderes Bild in der Zeit des‚ kleinbürgerlichen Handwerks und städtischen Kundenmarktes, ein anderes in der Zeit der Manufakturen, der Fabriken und des nationalen Marktes, ein anderes schließlich in der Zeit der Großindustrie, der Kartellwirtschaft, des Finanzkapitals, des Weltexports und Weltmarktes. Viele Phasen reihen sich aneinander. Obwohl sie alle am kapitalistischen Prinzip orientiert sind, bietet ihre Folge ein wechselndes Bild von Variationen.

Als der Weltkrieg ausbrach, war die Entwicklung des Kapitalismus an den Punkt gekommen, wo nationale Trusts gegen andere nationale Trusts kämpften, die Konkurrenz der verschiedenen Finanzgruppen gegen ihre nationalen Schranken stieß, die Herrschaft über den Weltmarkt nur dem zu winken schien, der durch kriegerische Welteroberung zur Weltmacht aufstieg. Der Drang nach Weltprofit lieferte dem Weltkrieg die eigentliche Parole.

Als aber der Weltkrieg zu Ende ging, stellte sich heraus: die nationale Wirtschaft war in jedem Lande bis ins Mark zerrüttet, das Wechselspiel von Arbeit und Konsum lag bis zur Funktionsunfähigkeit gelähmt, die Kaufkraft der Massen schien völlig ausgeronnen und ausgedorrt, der Verlust des Weltmarktes riss die Exportindustrien der besiegten Länder in den Bankrott, die gesamte Warenwirtschaft befand sich im Zustand der Agonie. Die Zirkulation von Geld und Gütern erlitt verheerende Unterbrechungen. Inflationen fraßen den letzten Besitz. Die Banken sperrten. Die Kassen waren leer. Die Börse starb.

Die Produktion kam nicht mehr auf ihre Kosten. Der Mehrwert blieb aus. Damit wurde das Kapital wertlos als Profitquelle der Besitzenden. Und mit dem Fortfall der Bereicherung für Wenige hörte auch die Versorgung für alle auf. Dazu kamen die ungeheuren Belastungen der Völker durch den Neuaufbau der verwüsteten Kriegsgebiete, die Kriegstribute, die Abbürdung der Kriegsschulden, die Heilung der Kriegswunden und Kriegsschäden an Menschen und Dingen. Eine wachsende Mauer von Schwierigkeiten umstellte alle Versuche zu einer Regeneration. Zersetzung und Verfall verzehrten das letzte Aas.

Die Wirtschaft – unfähig zur Erfüllung ihrer sozialen Aufgabe der Versorgung mit Lebens- und Sachgütern. Das Kapital – ohne Gewinn und darum ohne Anreiz und Antrieb zur Funktion. Die Massen – ohne Arbeit und Lohn, daher ohne die Möglichkeit zur Fristung ihrer Existenz. Die Menschheit – ohne die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer historischen Entwicklung…

Der Untergang des Abendlandes schien gekommen. Oswald Spengler hatte seinen größten Bucherfolg. Das Chaos gebar die Revolution…

Historischer Wendepunkt

Der Weltkrieg war schlimm gewesen. Noch schlimmer war die allgemeine Niederlage, die er gebracht hatte. Aber das Schlimmste war die völlige Blindheit aller Beteiligten, ihre Unfähigkeit, diese Niederlage zu erkennen.

Daher wurde man sich weder diesseits noch jenseits von Sieg und Niederlage des historischen Gehalts der Situation bewusst.

Kein Wunder, dass die Regierungen, denen das Schicksal ihrer Völker anvertraut war, entscheidende und verhängnisvolle Fehler machten.

Die Regierungen der siegreichen Staaten blähten sich auf im hohlen Triumph ihres schließlichen und teuer erkauften Erfolgs. Sie schrien Ruhm in die Welt, brüteten Rache gegenüber den zu Boden geworfenen Feinden und diktierten ihnen harte, opferschwere oder schmachvolle Friedensverträge. Der Individualismus, ins Nationale transformiert und zum Chauvinismus entartet, erlebte seine höchste Schwindelblüte.

Hätten die Sieger verstanden, dass der Krieg auch für sie ein Phasenwechsel, ein tiefgreifender Umschwung im objektiven Bestand ihrer Existenzbasis gewesen war, würden sie sich vielleicht zu einer anderen Haltung verstanden haben. Keine Vergeltungspolitik, keine materiellen Erpressungen und kein Wort von Schuld und Sühne!

Aber sie waren trunken von Siegesübermut, blind vor Wut und taub vor Hass. Nicht nur, weil sie selbst auch kapitalistische Menschen waren, in denen der Krieg, als letzte und wildeste Form des Konkurrenzkampfes, alle bösen Instinkte aufpeitscht und entbindet. Sondern vor allem auch, weil die jetzt ihrer Rache ausgelieferten Besiegten nicht eine Minute lang aufhörten, die alten Wölfe des Egoismus und Hyänen der Beutegier zu sein. Nur zu nahe lag die an blutigen Erfahrungen gereifte Vorstellung, dass die Besiegten in der Rolle der Sieger ungleich grausamere und tückischere Methoden der Unterwerfung und Vergeltung an ihnen geübt haben würden.

Wohl fehlte es nicht an Versuchen, Menschlichkeit zu predigen oder die Friedensverträge unter das Licht besserer Einsicht und Vernunft zu rücken. „Verbindung mit den besiegten Ländern und Völkern in freiem Entschluss zu größerer und fruchtbarerer Gemeinschaft! Verbrüderung unter Wahrung gleicher und gemeinsamer Rechte auf höherer Ebene der Interessen! Aufschwung zu einer Erhebung über die Schranken nationalen Pfahlbürgertums zu einem freien Weltbürgertum und Zusammenschluss zu einem kontinentalen Föderativstaat oder internationalen Staatenbund!“ Das waren Thesen, Programme, Manifeste, Ziele – entsprechend der historischen Aufgabe und würdig der historischen Situation. Aber der Egoismus der Beutehungrigen schrie sie nieder. Und der Herrenwahn der Individualisten fegte sie vom Verhandlungstisch.

So blieb die alte Ideologie ungebrochen. Ja, sie lebte sich in lärmvollen Feiern schrankenloser aus als je. Auf allen Masten und Zinnen wurde, vom Siegestaumel umjubelt, die Nationalfahne gehisst. Und zum tausendsten und zehntausendsten Male feierte auf Rednertribünen bei Denkmalsweihen das Pathos der Ruhmredigkeit seine Orgien. Neue Grenzen wurden gezogen. Die Grenzposten hinter Stachelzaun und Drahtverhau erhielten doppelte Besetzung und verschärfte Wachtbefehle. Die nationalen Gegensätze wurden mit allen Künsten der Demagogie zu erbitterter Gereiztheit gesteigert.

Hinter der ideologischen Maskerade aber erhob sich wie ein Phönix aus der Asche wieder der alte Privatkapitalismus zu stattlicher Gestalt. Wer sagte, dass er abgedankt habe? Wo war der Beweis dafür? Nur Narren und Phantasten konnten solche Behauptungen aufstellen. Sah man nicht, dass der Krieg ihm zu einer herrlichen Neugeburt verhelfen hatte!

Und in engstirnigem Eigennutz scheffelte der Kapitalismus wieder seine fetten Gewinne, als ob das System der Ausbeutung und Bereicherung aus Feuer und Gefahr nun für die Ewigkeit gerettet sei.

Das gleiche Bild der politischen Einsichtslosigkeit und Unbelehrbarkeit auf der ändern Seite, bei den besiegten Staaten, in erster Linie in Deutschland. Hier war die Vernunft nicht durch Stolz und Rachsucht, sondern durch Schimpf und Scham vergiftet.

Die alte Macht war wie durch Blitzschlag niedergestreckt. Der Kaiser ein Deserteur. Ludendorff ein Bittsteller um Waffenstillstand. Das Heer ein berstender Koloss.

Durch eine spontane, unklare und in ihren Zielen vielfach gespaltene Volkserhebung wurde die sozialistische Partei zur Höhe der Regierungsmacht emporgetragen.

Aber ein tragischer Irrtum wollte, dass die Männer, die die Massen als Inhaber und Vollstrecker der revolutionären Macht erkoren, genau dieselben waren, die angesichts der ausbrechenden Massenerhebung angstschlotternd und im feindseligen Gefühl ihrer verletzten Autorität erklärt hatten, dass sie die „Revolution wie eine Sünde hassten“.

In ihrem Machtwillen gebrochen und in all ihren Hoffnungen enttäuscht, dankte die Bourgeoisie ab. Sie wartete des weiteren Verlaufs der Dinge und der neuen Initiative.

Aber die neue Initiative blieb aus. Die neuen Männer sahen sich hilflos nach den alten um. Es erwies sich, dass die Linke nur eine kleinere und unfähigere Garnitur der Rechten war.

Diese Linke war mit der Bourgeoisie in den Krieg gezogen, „um das Vaterland zu verteidigen“. Sie hatte den Sozialismus im Stich gelassen und ihre revolutionäre Rolle preisgegeben. Während der ganzen Dauer des Krieges war sie ihrem Klassengegner auf Gedeih und Verderb treu an der Seite geblieben. Alle Prinzipien und Parolen des Klassenkampfes waren vergessen.

Mit der Länge des Krieges hatte sich aus der nur provisorisch gedachten Verbindung im Zeichen der Verteidigung eine dauernde Verschmelzung im Zeichen der nationalen Einheit entwickelt. Diese Einheit sollte zu einer Einheit des Sieges werden. Nun war sie zu einer Einheit der Niederlage geworden.

Diese Niederlage bot ihr immerhin eine Chance, sich auf ihre bessere Vergangenheit zu besinnen und zur revolutionären Fanfare ihrer Doktrin zurückzukehren. Sie hätte das Steuer ihrer verfehlten Kriegspolitik herumwerfen und unter flotten Segeln aufs neue in den Strom des Klassenkampfes einmünden können. Dieser Entschluss würde nicht nur den Jubel der deutschen Arbeiterschaft ausgelöst haben, sondern auch dem Beifall und Widerhall der russischen Revolution begegnet sein.

Aber man kann ein Maultier nicht zu einem Löwen machen. Das Kriegsbündnis mit der Bourgeoisie hatte die deutsche Sozialdemokratie auf ihre wahre Wesensgrundlage zurückgeführt. Sie war immer nur scheinbar eine sozialistische Bewegung gewesen. Jahrzehntelang hatte sie über das im Grunde bürgerliche Prinzip ihrer Konstitution hinweggetäuscht. Doch niemals hatte sie es überwinden können. Sie war und blieb eine kleinbürgerliche Reformpartei der Enttäuschten, Zukurzgekommenen, am kapitalistischen Aufstieg Verhinderten. Keine revolutionäre Bewegung, sondern nur eine Revolte wildgewordener Möchtegern-Kapitalisten.

Daher ihre Bereitwilligkeit, sich mit der Bourgeoisie zu verbünden, als das bürgerliche Prinzip, das ihr eigenes Prinzip war, in ernste Gefahr geriet. Daher ihre Hemmungslosigkeit bei der Preisgabe ihres sozialistischen Etiketts, ihrer klassenkämpferischen Verpackung. Daher ihr inneres Widerstreben und ihr äußerer Widerstand gegenüber jeder Regung einer Aktivität, die folgerichtig zur Revolution führen musste. Mit der Begeisterung des Spießers war sie in den Krieg gezogen, um die heiligen Güter des Privateigentums, des Profits, der Nation und des Individualismus zu retten. Mit dem Grausen des Spießers und dem schlechten Gewissen des Verräters, wich sie jetzt vor jeder Revolution zurück, die all diesen heiligen Gütern den sicheren Untergang ansagte.

Mit Russland gemeinsam hätte die deutsche Arbeiterbewegung – wie die tschechische, österreichische und ungarische im weiteren Kreis – die Linksregierungen Mittel- und Osteuropas stabilisieren und damit einen unüberwindlichen Gegenpol der ökonomischen und politischen Orientierung gegen die westlichen Demokratien schaffen können. Damit wäre auf einen Schlag der scheinbare Sieg dieser demokratischen Siegerstaaten als ihre Niederlage, als tatsächliche und definitive Niederlage des kapitalistischen Systems entlarvt worden. […]

Als positive und praktische Demonstration dieser Entlarvung würden die befreiten Völker unter dem fruchtbaren Ausgleich ihrer ökonomischen und sozialen Interessen das Fundament zu einem wahrhaft sozialistischen Gesellschaftssystem bereitet haben. Die hohe industrielle Entwicklung besonders Deutschlands hätte sich mit den Reichtümern Russlands an Agrar- und Rohprodukten verbunden. Die westliche Kultur hätte sich mit der östlichen zu einem neuen, unendlich reicheren Kulturgehalt verschmolzen. Der kapitalistische Mensch wäre im feudalen, der feudale Mensch im kapitalistischen zu einem höheren Menschentyp aufgegangen, der den Weg zum Sozialismus gefunden haben würde. Die Sprengung der Tore zu einer besseren Zukunft für die gesamte Menschheit wäre von hier aus möglich gewesen.

Leider stand diesem Ziel die ganze Konstitution der Sozialdemokratie entgegen, die im wesentlichen die innere wie äußere Konstitution des deutschen Proletariats war. Nicht zu reden von den Widerständen, die ihm auf russischer Seite begegneten und seine Verwirklichung verhinderten.

Mit einem gewissen Recht durfte auch die Sozialdemokratie zur Begründung ihrer Haltung die Frage erheben: Wer beweist, dass der Kapitalismus als System durch den Weltkrieg geschlagen ist? Wo sind die positiven Belege für diese Behauptung? Soll sich das Proletariat von Narren und Phantasten verleiten lassen, den Sprung in das Nichts zu wagen?

Die Massen, soeben von einem mörderischen Sprung in das Nichts mit zerschmetterten Gliedern zurückgekehrt, hatten nicht den Mut und die Kraft zu einem zweiten Wagnis dieser Art. Sie hatten nicht die Überzeugung und das Vertrauen, dass es ohne diesen Sprung in das Nichts in der Geschichte kein Gelingen und keine Entwicklung gibt.

So behielten die Spießer recht. Der Opportunismus gewann die Oberhand. Zur Niederlage des Krieges kam die Niederlage der Revolution. Am historischen Wendepunkt blieb die historische Wende aus.

Das deutsche Fiasko

Es ist hier kein Schuldbuch zu schreiben. Darum kann die Frage unentschieden bleiben, ob den Vertretern der deutschen oder der russischen Revolution die größere Verantwortung dafür zufällt, dass die Verbindung zwischen Deutschland und Sowjet-Russland zum gemeinsamen Aufbau der sozialistischen Ordnung nicht zustande kam. Beide Seiten haben falsch operiert.

Aber auch ohne diese direkte Verbindung würde die deutsche Sozialdemokratie in der Lage gewesen sein, den erforderlichen Kontakt mit dem Pulsschlag der historischen Notwendigkeit zu finden, wenn sie das entsprechende revolutionäre Organ hierfür besessen hätte. Dieses Organ hatte sie nicht erst durch ihre Kriegspolitik verloren. Sie hatte, es nie besessen. In ihrer Kriegspolitik war nur dieser Mangel erst aller Welt offenbar geworden. Und er bestätigte sich erneut in ihrem Versagen gegenüber der revolutionären Aufgabe.

Es scheint nicht überflüssig, heute noch einmal diese Aufgabe ins Auge zu fassen. Wenn auch nur, um festzustellen, wie nahe ihre Lösung lag und welch relativ geringer Einsatz an Machtmitteln ausgereicht hätte, um sie durchzuführen. Alle objektiven Voraussetzungen lagen vor. Es fehlte nur eine Kleinigkeit, die freilich der Vulgärmarxismus nie in Rechnung gesetzt hatte: der subjektive Wille, das Selbstvertrauen, der Mut zum Neuen. Aber diese Kleinigkeit war alles.

Die deutsche Revolution stellte mit dem einmütigen Rufe nach Sozialisierung die entscheidende Aufgabe auf die Tagesordnung der Aktion. Dieser Ruf, durch die russische Revolution geweckt, und den Gehirnen als Symbol des Umbruchs eingehämmert, ging von der Arbeiterschaft aus, fand im Kleinbürgertum Widerhall, ergriff die Kreise der Intellektuellen, der Beamtenschaft, und gewann sogar Eingang in die Klasse der Bourgeoisie. Denn allgemein war das Gefühl, dass der Kapitalismus im vollen Zusammenbruch liege und seine Herrschaft zu Ende sei. Rettung vor dem Untergang schien nur durch den Sozialismus möglich. Hic Rhodus, hic salta! lautete die Losung des Tages.

Jedoch die parteioffiziellen Vertreter des Proletariats wussten mit der Sozialisierungsparole nichts anzufangen. Sie hatten immer nur brav ihren traditionellen Agitationskatechismus aufgesagt und sich im Kleinverschleiß einer reformistischen Sozialpolitik getummelt. Nie war ihnen dabei zum Bewusstsein gekommen, dass Sozialpolitik im Grunde eine Absage an die Revolution bedeutet, dass ihre billigen Abschlagszahlungen den Kapitalismus für die Massen nur erträglicher machen, dass sie Interesse und Neigung für das Studium der revolutionären Probleme systematisch einschläfert und abtötet.

Ein flach und mechanistisch aufgefasster Marxismus hatte sie in dieser Unterlassung bestärkt. Sozialismus – so meinten seine Apologeten in ihrer Naivität – kommt von selbst, sobald das Proletariat erst die politische Macht erobert hat. Er beginnt Wirklichkeit zu werden an dem berühmten Tage nach der Revolution. Jeder Versuch, diese Wirklichkeit einmal als das unendlich komplizierte und schwierige Werk von Menschen ins Auge zu fassen, galt als unangebrachte und spielerische Utopie, die man nur verlachen und abweisen konnte.

Aber nun, im Wirbel der Revolution, rebellierte die Straße gegen diese bequeme Gedankenlosigkeit der Führer. Die Massen litten unter der Pein des Hungers wie unter den Folgen des Krieges. Von ihnen konnten sie, wie sie mit Recht meinten, nur durch den Sozialismus erlöst werden. Und sie wollten nicht ein zweites Mal betrogen sein. Also forderten sie die Sozialisierung.

Und sie setzten es durch, dass eine Sozialisierungs-Kommission gebildet wurde, die – nach dem Wortlaut des Regierungsdekrets – den Auftrag erhielt, „festzustellen, welche Industriezweige nach ihrer Entwicklung zur Vergesellschaftung reif seien und unter welchen Umständen dies geschehen könne“.

So schlecht wie der Stil dieses Dekrets war sein gedanklicher Gehalt. Keine Zitierung des sonst so geläufigen Programmsatzes: „Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln!“ Kein Wort über Konfiskation, ob mit oder ohne Entschädigung. Keine Aufhebung des privaten Rüstungsmonopols, keine Staatskontrolle über das Bank- und Finanzkapital, keine Beschlagnahme der Kriegsgewinne. Kein Eingriff in die Wirtschaftsmacht der Hochburg aller Reaktion, der Junkerdomäne des west- und ostelbischen Agrarbesitzes. Nichts von alledem! Nur Zagen und Zögern, völliger Mangel an Entschlusskraft und zielbewusster Aktivität, absolute Ignoranz und Indolenz bei allen entscheidenden Stellen. Der Tag nach der Revolution war da, aber der Sozialismus kam nicht von selbst.

Um dieses glatte Fiasko zu verschleiern, bemühten sich die zu Staatsmännern gewordenen Arbeiterführer, die Massen zur Geduld zu mahnen oder ihrem kritischen und misstrauischen Blick die Situation zu verfälschen. Ein alter Demagoge, der Bergarbeiterführer Hué, warnte mit aufgehobenem Beschwörungsfinger davor, seine Partei in die Rolle des Konkursverwalters zu drängen, da er statt des Kapitalismus nur dessen Bankrott sozialisieren könne. Otto Braun, der den Sessel des preußischen Ministerpräsidenten erklommen hatte, erklärte mit der Miene des Mannes, dem Gott mit dem Amt auch den dazu nötigen Verstand gibt, dass es „für die Sozialisierungskampagne keinen unglückseligeren Zeitpunkt“ geben könne als den des allgemeinen kapitalistischen Zusammenbruchs. Scheidemann, Ebert, Hilferding, Eisner, David und der ganze Schwärm der zweiten und dritten Führergarnitur bliesen abwiegelnd und beschwichtigend in dasselbe Hörn. Auf dem Berliner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte lieferte Hilferding, der prominente Wirtschaftsspezialist der Sozialdemokratie, geradezu ein Meisterstück der Bagatellisierung und Sabotierung der Sozialisierungsaufgabe. Zuerst schied er die bäuerliche Produktion und die Exportindustrie grundsätzlich von ihr aus. Dann lehnte er die Schaffung von Produktions-Assoziationen durch H Arbeiter kategorisch ab. Hierauf teilte er die Industrien in sozialisierungsreife und -unreife ein. Sodann erfand er die Tabulatur der Ganz-, Halb- und Viertel-Sozialisierung. Und schließlich, als von dem beschnittenen, zerstückelten, ausgehöhlten und zum leeren Geschwätz verflüchtigten Problem überhaupt nichts mehr übrig geblieben war, verlangte er für die Inangriffnahme der eigentlichen Sozialisierungsarbeit „eine gewisse Zeit“. Seiner Weisheit letzter Schluss war: „Ein bankrotter Kapitalismus lässt sich nicht sozialisieren. Wir müssen ihn erst wieder zu Kraft und Größe aufbauen. Wenn er dann gesund und stark wieder vor uns steht, werden wir mit dem Sozialisierungswerk beginnen!“ Eine Scharlatanerie, deren Dummheit nur durch ihre Unverfrorenheit überboten werden konnte. Aber sie hatte den gewünschten Erfolg.

In der Sozialisierungskommission kam man nach unendlichen Diskussionen, Verschleppungen, Manövern und Drehs schließlich zu einem platonischen Bekenntnis zur Nationalisierung des Kohlenbergbaus. Das praktische Ergebnis war eine Mehrheitsentschließung ohne Hand und Fuß, lediglich in dem Vorschlage bestehend, „eine Kohlenorganisation zu schaffen, deren Geschäfte durch Arbeiterschaft, Betriebsleitung und Allgemeinheit geführt werden sollte“. Eine Konfusion, ein Gallimathias – nicht zu überbieten! Aber schon prangte an den Reklamesäulen und Häuserwänden das bombastisch verlogene Flugblatt von Scheidemanns Hand: „Der Sozialismus ist da! Die Sozialisierung marschiert!“

Zu gleicher Zeit rückten auf Scheidemanns Befehl die Truppen Noskes in das Ruhrgebiet ein, um das Bergkapital vor dem energischeren und besser beratenen Zugriff der empörten Grubensklaven zu schützen, die von den Arbeitern aus eigener revolutionärer Vollmacht bestellten Zechenräte zu beseitigen und die auf wirkliche Sozialisierung drängende Tätigkeit der revolutionären Neuner-Kommission zu unterbinden.

Was schließlich im Parlament als Sozialisierungsgesetz, als Gesetz zur Regelung des Kalibergbaus, als Erlass zur Regelung der Kompetenzen der Sozialisierungskommission und als Sozialisierungsgesetz der Kohlenindustrie zur Beratung gelangte, stieß auf den leidenschaftlichsten und stärksten Widerstand des Kohlen- und Finanzkapitals. Schon die ersten Proben der Unfähigkeit und Schwäche des sozialdemokratischen Regierungsklüngels hatten genügt, um im Kapitalismus das Bewusstsein seiner wiederkehrenden Machtstellung zu erwecken. So schleuderte er den lächerlichen Dilettantismus der Sozialisierungsprogramme in den Papierkorb und ersetzte ihn durch ein hochkapitalistisches Vertrustungsprogramm, wie es der Kriegs- und Revolutionsgewinnler Stinnes im Reichswirtschaftsrat als Ziel seiner hochfliegenden Profitpläne entwickelt hatte.

Die Massen waren, statt vom Kapitalismus befreit zu werden, in noch schlimmere Sklaverei gestürzt. Trotzdem jagten sie ihre Führer nicht zu allen Teufeln. Verräter und Verratene waren einander wert.

Das russische Experiment

Die Menschen lernen nichts aus der Geschichte. Auch die Arbeiter nicht. Sie hätten von Russland lernen können, wie man eine Revolution macht. Der Anschauungsunterricht des russischen Vorbildes war sehr eindrucksvoll gewesen. Und sie waren ihm mit Begeisterung gefolgt.

Aber als sie selbst von einer Revolution überrascht wurden, wussten sie weder aus noch ein.

Das lag nicht an ihnen oder nicht an ihnen allein. Sondern erstens daran, dass Russland nicht Deutschland war. Und zweitens daran, dass eine historische Situation nicht ein zweites Mal in ihrer Originalfassung wiederkehrt.

Daher schon ein auffälliger Unterschied in der Dynamik der Bewegungskurve. So sehr die mitteleuropäische, in erster Linie die deutsche Arbeiterbewegung hinter den Ansprüchen zurückblieb, die ihr die Geschichte stellte, so sehr schoss die russische Arbeiter- und Bauernschaft über die historisch entwickelten Ansprüche hinaus. Das hatte seine tiefen Gründe.

Während Deutschland eine alte, geschulte, starke und disziplinierte Arbeiterbewegung hatte, fehlte es in Russland gänzlich an einer bodenständigen Organisation des Proletariats. Schon aus diesem Mangel war es nicht möglich, eine Revolution planvoll und in großem Ausmaß vorzubereiten. Der Zarismus, als System barbarischer Feudalreaktion, hatte nach seinem Siege über die Revolution von 1905 gewaltig an Kraft gewonnen, um jeden Versuch zu einer neuen Erhebung der Massen blutig und erfolgreich zu unterdrücken. Nun aber der Zarismus im Weltkrieg plötzlich zusammenbrach, stand die Entwicklung unversehens vor, einem Abgrund, der übersprungen werden musste. Die Massen waren ratlos. Da sprang eine Intellektuellenschicht, die in der Hauptsache aus Emigranten bestand und im Ausland marxistische Schulung genossen hatte, in die Bresche. Sie riss die Führung der Revolution an sich und zwang den Verlauf der Ereignisse, entsprechend den Eingebungen ihrer Doktrin, in eine bestimmte Bahn. Das war ein Wagnis, eine Kühnheit ohnegleichen.

Doch bald zeigte sich, dass es Tollkühnheit gewesen war. Denn die Bahn entfernte sich rasch und immer rascher von den Bedingungen der Wirklichkeit. In der abstrakten Theorie war alles richtig. Jeder Schritt war aus Marx zu belegen. Aber Marx hatte nicht für Russland, sondern für das hochindustrielle Westeuropa geschrieben. So entstand zwischen Idee und Wirklichkeit eine Kluft. Die Praxis führte ungewollt und unvermeidlich mit jedem Schritt tiefer in die Konstruktionen einer imaginären Welt. Der Mut zur Utopie landete in der Utopie.

Die Auseinandersetzungen mit dem Zarismus, der Grundherrlichkeit und der Bauernschaft in einem Lande, das am Vorabend der Revolution noch volle vier Fünftel seiner Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigte, hätte eine Revolution bedingt, wie sie sich in England um die Mitte des 17., in Frankreich am Ende des 18. und in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts abgespielt hatte. Eine Revolution bürgerlichen Charakters.

In der Tat war ja auch die Februar-Revolution 1917 zunächst eine Erhebung der Bauernmassen und des noch nicht klassenbewußten Proletariats. Sie wandte sich gegen den Zarismus, der seit der Revolution von 1905 – trotz scheinbarer äußerer Erstarkung – im Prinzip seiner Existenz tödlich getroffen war. Und sie tat dies ohne besondere revolutionäre Programmatik, sozusagen in einem Akt instinktiver Notwehr. So wie man einem Raubtier den Garaus macht oder einen faulen Giftpilz mit dem Fuß zertritt.

Wenn nach dieser revolutionären Abbruchsaktion die Vertreter der Bourgeoisie, an ihrer Spitze Miljukow, Gutschkow, Rodsjanko, Kerenski u.a., die Regierungsmacht übernahmen, so entsprach dies durchaus dem Gesetz der historischen Erbfolge. Die Bourgeoisie war jetzt an der Reihe. Ihr fiel nach überliefertem Schema die Initiative und Repräsentation der neuen Ordnung zu.

Es kam nur darauf an, ob die russische Bourgeoisie ihrer historischen Aufgabe gewachsen war. Die Anwartschaft als Thronfolger allein genügte nicht. Zur Berufung musste die Fähigkeit, die Kraft der Leistung kommen. Und da erwies sich, dass die verkümmerte, verworrene und hilflose Bourgeoispolitik bald im Fiasko endete. Damit verlor die Revolution mehr und mehr ihre bürgerliche Tendenz. Statt deren gewann sie in wachsendem und schließlich entscheidendem Maße an proletarischem Einschlag. Denn nicht nur, dass die Bourgeoisie versagte. Die proletarischen Führer waren zielbewusster, politisch geschulter und auf ihre revolutionäre Rolle besser vorbereitet. So gewann die Revolution ein neues Gesicht, sie wandelte sich zur proletarischen Revolution.

Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu folgern, dass die russische Revolution damit die Gesetzmäßigkeit der phaseologischen Ablaufsfolge im revolutionären Rhythmus für alle Zeiten außer Kraft und Geltung gesetzt hätte.

Seit Jahrhunderten hat sich in der Geschichte aller Völker die Mechanik des Gesetzes bestätigt, dass auf den Feudalismus unausweichlich und unabänderlich der Kapitalismus folgte. Welcher Grund läge vor, für Russland eine Ausnahme gelten zu lassen? Und welcher Grund erst wäre vorhanden, seit der Extratour Russlands für alle Zukunft die Ungültigkeit dieses Gesetzes zu erklären?

Nach historischer und logischer Folgerichtigkeit hatte also in Russland auf die feudale Aristokratie die kapitalistische Bourgeoisie in der Herrschaft zu folgen. Nicht das Proletariat und nicht der Sozialismus. Auch dann nicht, wenn sich nicht nur verschwindend kleine Teile der revolutionären Massen, ja selbst des industriellen Proletariats zu ihm bekannt hätten.

Die Pravda gab dieser Erkenntnis denn auch Ausdruck, indem sie in ihrer ersten Nummer 1917 als „Grundaufgabe“ der Revolution zutreffend „die Einführung des demokratisch-republikanischen Systems“ bezeichnete.

Aber die führende Intellektuellenschicht trieb mit ihrer Politik anderen Zielen zu. Sie fragte nicht nach den Gesetzen der Geschichte. Lieber ließ sie sich von der Gunst des Tages tragen. Die Massenaktionen überstürzten sich in ihrer quantitativen Wucht wie in ihrem qualitativen Gehalt. Die Chance eines Machtgewinns über Nacht übte immer unwiderstehlichere Reize aus. Der See raste und wollte nicht nur seine Opfer, sondern auch seine Bändiger haben. So fiel den Bolschewiken die volle politische Macht in den Schoß.

Noch im Sommer 1917 hatte Lenin die Meinung vertreten, dass es sich am Ausgang des Revolutionskampfes nur um die Aufrichtung eines linksbürgerlichen Regimes mit starkem proletarisch-sozialistischen Einflusssektor handeln könne. Und schon im Oktober verfügten die bolschewistischen Extremisten über den ungeteilten Sieg.

Damit war für sie selbstverständlich geworden, dass sie von der errungenen Macht im Sinne ihrer politischen Theorie und sozialistischen Zielsetzung praktisch Gebrauch machten. Was gestern noch als Utopie erschien, sollte nun Wirklichkeit werden.

Die feudale Konterrevolution war dem Ansturm der Revolution glatt erlegen. Von ihr ging keinerlei Widerstand gegen die Machtergreifung durch die Bolschewiki mehr aus. Um so weniger war die bürgerliche Konterrevolution geneigt, sich ihr zu unterwerfen.

Nicht so sehr die bourgeoise Konterrevolution Russlands, als die der Welt überhaupt. Im Bewusstsein der Solidarität aller kapitalistischen Interessen gegenüber dem Klassengegner fühlte sie sich um die historische Nachfolge auf russischer Erde und im Rahmen der russischen Geschichte geprellt. Darum suchte sie dem Bolschewismus wieder zu entreißen, was nach ihrer Meinung ihr gehörte. Soweit diese Versuche von außen kamen und darin bestanden, mit Hilfe von weißen Invasionsarmeen zu ihrem historischen Recht zu gelangen, wurden sie samt und sonders abgeschlagen. Das war die sensationellste Leistung und die glorreichste Epoche der jungen Revolutionsregierung.

Russland gibt die Revolution preis

Die Konterrevolution muss nicht notwendig von außen kommen. Sie kann sich auch im Innern entwickeln. Sie entspringt dann dem dialektischen Rückschlag, der jedem revolutionären Vorstoß zu folgen pflegt.

Wie unter der Wirkung eines physikalischen Gesetzes schnellt der überspannte Bogen der revolutionären Forderungen und Ziele nach dem Schuss unter das Niveau des Erreichten zurück, um einen Ausgleich der Kräfte herbeizuführen. Wird der Rückschlag nicht abgefangen oder gebremst, ist die Konterrevolution da. Die russische Revolution hatte im Zeichen der Sowjetparole gesiegt. Alle Macht den Räten! Diese faszinierende Losung hatte ungeahnte Kräfte ausgelöst und ungeheure Kampfleistungen erzielt. Auf dem Fundament des Sowjetgedankens sollte nun im geistigen Bild der neuen Sowjetmachthaber die sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden.

Aber das Sowjetsystem erforderte Menschen, die sich nicht nur für die Sowjetidee begeistern, sondern auch für die praktische Verwirklichung dieser Idee reif und entwickelt genug sind. Das Erlebnis des primitivkommunistischen Gemeinschaftsgeistes, wie es in Russland noch lebendig war, reichte hierfür ebensowenig aus wie die Schule des feudalistischen Patriarchalismus, die dem Zarismus das erforderliche Menschenmaterial lieferte. Mehr aber vermochte das russische Volk in seiner Rückständigkeit nicht zu bieten. Ihm fehlte vor allem die Erziehung zu den spezifischen Persönlichkeitswerten des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters. Nicht zum letzten auch die intellektuelle und charakterliche Schulung durch die Arbeitstechniken und Produktionsmethoden der modernen Industrie. Denn der Kapitalismus schafft nicht nur Fabriken und Maschinen, andere Arbeitsweisen und einen höheren Arbeitsertrag, er schafft auch neue Menschen, Menschen mit neuen Produktions-, Geistes- und Charakterqualitäten.

Nicht ohne Grund hat daher Marx den Sieg der proletarischen Revolution an die entscheidende Voraussetzung geknüpft, dass vorher die kapitalistische Welt wirtschaftlich, sozial und kulturell auf dem Höchstgrad ihrer Entwicklung angelangt sein müsse. Denn nur dann stehe der proletarischen Revolution und der sofort beginnenden sozialistischen Aufbauarbeit das entsprechende taugliche Menschenmaterial zur Verfügung. Ein Menschenmaterial, ohne das eine sozialistische Gesellschaft nicht denkbar sei.

In Russland fehlte diese elementar wichtige Voraussetzung. Und damit fehlte der entscheidende Faktor, der den wirklichen Sieg bedingte und garantierte.

Die bolschewistischen Führer hatten sich selbst betrogen, als sie unbedenklich und überschlau die Sowjetparole aufgriffen und mit ihr die Macht, die auf der Straße lag, an sich rissen. Die Sowjetparole war nicht das Produkt ihrer eigenen revolutionären Orientierung, sondern fremdes Gut, mit dem sie gewuchert hatten. Sie war ein großer Gewinn für sie gewesen – aber nun stellte sie sich als Verhängnis für sie heraus. Denn der Sowjetparole und dem Sowjetstaat fehlten die Sowjetmenschen. Dieser Mangel ließ sich durch nichts einholen, durch nichts ersetzen. Man hatte sich selbst und ein ganzes Volk täuschen können, jedoch nicht die Geschichte. Unerbittlich stellte sie den Sieg der russischen Revolution als einer proletarisch-sozialistischen Revolution in Frage.

An diesem Punkte, dem Punkte des geringsten Widerstandes, setzte die innere Strategie der Konterrevolution und damit der immanente Antagonismus im konstitutionellen Wesen der russischen Sowjetmacht ein.

Um die Invasionsversuche der weißen Armeen des westeuropäischen Kapitals zurückzuschlagen, bedurfte Russland einer Roten Armee, die die Grenzen des neuen Reiches verteidigte, den Bürgerkrieg erstickte und die Kräfte der militärischen Konterrevolution zerbrach.

Es gelang, diese Armee in kurzer Zeit aufzubauen, in ihr eine ungewöhnliche militärische Schlagkraft zu entwickeln und sie so zu einem zuverlässigen Werkzeug des Schutzes und der Sicherung des revolutionären Erfolgs zu machen. Diese Leistung wurde freilich erkauft durch das Opfer, dass man in der Organisationsstruktur, der Funktionsdynamik und namentlich in der Leitung der Kriegsoperationen grundsätzlich auf die Anerkennung und Durchführung des Sowjetprinzips verzichtete.

Hiergegen erhob sich im Heere selbst eine Opposition, an deren Spitze Frunse, Gussew, Woroschilow u. a. standen. Sie vertrat die Auffassung, dass die Rote Armee sich nicht nur in ihren politischen Aufgaben, sondern auch in ihrer Struktur, Strategie und Taktik von den Armeen der kapitalistischen Staaten unterscheiden müsse. Darum verlangten sie eine proletarische Kriegsdoktrin und ein sowjetisches Militärsystem. Das war nicht, wie Trotzki, als entschiedenster Gegner dieser Bewegung, dies darstellt, ein „Versuch, die Freischärlermethoden der ersten Bürgerkriegsperiode zu einem dauernden und universellen System zu erheben“. Es war vielmehr der Versuch, dem Sowjetprinzip auch im Aufbau der Roten Armee Geltung zu verschaffen.

Dieser Versuch missglückte. Nicht deshalb, weil Trotzki als oberster Militärchef die Macht hatte, ihn gewaltsam zu unterdrücken. Auch nicht, weil Trotzkis Argumente treffender und durchschlagender gewesen wären. Sondern deshalb, weil er ein Versuch am untauglichen Objekt war. Das Sowjetprinzip war im bolschewistischen System ein Fremdkörper. Es fand dort weder Basis und Milieu, noch Nahrung und Existenzmögilichkeit vor. So konnte es sich nicht behaupten und zur Wirklichkeit entfalten.

Die Kommunistische Partei lehnte denn auch, von ihrem Standpunkt aus mit vollem Recht, die Forderungen der Opposition ab. Und die Bürokratie, die als herrschende Macht bereits die ersten Stufen ihrer Entwicklung erklommen hatte, griff gierig nach den militärischen Kommandopositionen. Denn sie sah in ihnen neue Gelegenheiten zur Befriedigung ihres Machtbedürfnisses und wichtige Stützpfeiler für ihre soziale und politische Sonderstellung.

So wurden die Ansätze zu einem Sowjetheer für sozialistische Verteidigung umgebildet und zurückgeführt zu dem traditionellen Klischee der Autoritätsarmee für bürgerliche Eroberungszwecke. Damit zogen autoritäre Befehlsgewalt, Disziplin, Subordination und Kadavergehorsam wieder in ihr ein.

Trotzki, der sich nicht eingestehen will, dass er selbst einer der Hauptbegründer der russischen Bürokratie ist, begründet die Wandlung in der Armee, die er in schiefer Polemik auf Stalin umdatiert, wie folgt: „Um das Vertrauen der bürgerlichen Verbündeten zu gewinnen und die Gegner nicht allzu sehr zu reizen, galt es, sich von den kapitalistischen Armeen nicht mehr um jeden Preis zu unterscheiden, sondern im Gegenteil, ihnen so sehr wie möglich zu ähneln. Hinter den Wandlungen der Doktrin und dem Neuanstrich der Fassade vollzogen sich soziale Prozesse von historischer Bedeutung.“ In der Tat: vor allem der Prozess der Entwicklung vom Barrikadensturm zum Thermidor. Ein Prozess, der aber nicht erst mit Stalin, sondern schon unter Trotzki begann.

Trotzki hat bei anderer Gelegenheit noch eine andere Erklärung dafür, warum die Rote Armee die erste Institution der Sowjetmacht war, die das Sowjetprinzip preisgab. Bei der Verteidigung der Revolution gegen die konterrevolutionären Armeen habe man nicht warten können, bis Sowjetmenschen in genügender Zahl und Reife herangewachsen waren, um ihnen die militärische Dispositionsgewalt anzuvertrauen. Man musste schnell und mit den vorhandenen Mitteln handeln, wenn anders die Verteidigung nicht versagen sollte.

Das ist richtig, aber doch nicht ganz und nicht im Sinne der historischen Erfahrung. Auch gegen Paris hat einmal die Konterrevolution alle Mächte des Verderbens entfesselt, um die Errungenschaften der Großen Revolution wieder zu vernichten. Und die Gefahr der französischen Hauptstadt in einem relativ kleinen Lande war sicher größer als die Gefahr des weiten Russland mit seinen fernen Grenzen und außerordentlichen Operations- und Versorgungsmöglichkeiten. Aber da fand der Konvent in Carnot einen Mann, dem es gelang, unter denkbar schwierigsten Verhältnissen die ganze französische Armee und das ganze System der Kriegführung von unten bis oben neu zu organisieren. Seine bewunderungswürdige Tat war, dass er die neuen Prinzipien der bürgerlichen Doktrin, des freiheitlichen Elements im Heer so zur Anerkennung und Wirksamkeit brachte, dass dieses den reaktionären Armeen weit überlegen war. Carnot handelte als Revolutionär, nicht als Epigone der Überlieferung. Und darauf kam es an, wenn die Revolution gerettet werden sollte. Diese Heeresreform selbst war eine revolutionäre Tat.

In Russland fehlte ein Carnot, fehlte eine Revolutionierung der Armee. Fehlte die Etablierung des grundlegenden Bestimmungsmoments der proletarischen Revolution in der Konstituierung der militärischen Gewalt.

In Russland ergriff das bürgerliche Prinzip wieder Besitz von der zentralen Machtposition. Die Festung der Revolution wurde dem Feind freiwillig ausgeliefert. Damit hatte die Konterrevolution im Herzen des neuen Regimes Fuß gefasst. Sie brauchte nicht mehr von außen zu kommen, nicht mehr von den Kornilows, Judenitschs, Denekins und Wrangels ins Land getragen zu werden.

Während Carnot als Führer die Massen aktivierte, aktivierten sich in Russland die Führer wieder über den Massen. Um nicht aus der Macht geworfen zu werden, warfen sie ihr oberstes Prinzip aus der Macht. Sie retteten damit scheinbar den Bestand der Revolution, aber sie pflanzten ihr eine konterrevolutionäre Seele ein.

Zurück zur Autorität!

In seinem Buche Staat und Revolution vertritt Lenin unter Berufung auf Marx die Doktrin, dass der Staat, als die typische Herrschaftsform der Bourgeoisie, nach der proletarischen Revolution zu verschwinden hat.

Doch nicht so, dass man ihn mit einem einzigen Schlage beseitigt. Vielmehr so, dass er zum langsamen, aber sicheren Absterben gebracht wird.

Diesen Prozess des Absterbens in die Wege zu leiten und durchzuführen, war die Aufgabe, die dem Bolschewismus in Russland gestellt war. Man muss zugeben, dass der Versuch zu ihrer Lösung unter außerordentlich schwierigen und ungünstigen Umständen unternommen werden musste.

Lenin hatte als einziges und einzig taugliches Mittel für die Durchführung seiner Aufgabe nur die Sowjets. Die Sowjets aber hatten überhaupt keinen Platz in dem von ihm geschaffenen bolschewistischen System.

Nun handelt es sich keineswegs nur um die einfache Frage: Sowjets oder nicht? Sowjets oder nicht – das bedeutet, dass tiefgehende Unterschiede bestehen in der organisatorischen Struktur, der revolutionären Strategie, den kämpferischen Mitteln, den taktischen Methoden, der sozialen Zielsetzung, dem praktischen Neuaufbau, den Prinzipien der neuen Gesellschaft.

Angesichts dieser Feststellungen ergibt sich, dass ein Lenin mit Sowjetparole an Haupt und Gliedern ein völlig anderer Mensch hätte sein müssen als ein Lenin ohne Sowjetparole.

Weiter aber ergibt sich auch, dass die ungewöhnlichen Schwierigkeiten und Hindernisse bei seinem Versuch, in Russland den Sozialismus zu errichten, für das Gelingen seines Versuchs von ganz untergeordneter und nebensächlicher Bedeutung waren.

Hätte Lenin sein bolschewistisches System für eine internationale Arbeiterbewegung geschaffen und hätte er das Glück gehabt, es im fortgeschrittensten Lande der Welt, im Revolutionskampfe eines modernen Industrieproletariats erproben zu können, er hätte – das ist mit hundert gegen eins vorauszusagen – genauso Schiffbruch erlitten wie in Russland.

Denn das Scheitern der russischen Revolution, als einer Revolution die die Ausbeutung beseitigen, den Staat zur Auflösung bringen, die Menschen von ihrem Proletarierschicksal erlösen und den Sozialismus verwirklichen sollte, ist nicht bedingt durch Russland, durch das Ausbleiben der Weltrevolution, durch die Sünden der Bürokratie, durch Stalin. Es ist einzig und allein bedingt durch das bolschewistische System.

Lenin hatte bei seinen jahrelangen Studien und Vorarbeiten immer nur an den Sturz des Zarismus und dessen Ablösung durch eine linksbürgerliche Bourgeoisregierung gedacht, gegen die ein bolschewistisch geschultes und geleitetes Proletariat seine Kämpfe führen sollte.

Auf eine proletarische Regierung war er theoretisch wie praktisch in keiner Weise vorbereitet. Nichts ist hierfür bezeichnender als die Tatsache, dass er sein Buch Staat und Revolution erst ganz kurz vor den entscheidenden Kämpfen schrieb, als die Problematik der proletarischen Revolution schon sozusagen auf die Nägel brannte.

Als die russische Revolution sich dann zur proletarischen entwickelte, wuchsen ihm die Ereignisse über den Kopf. Sie stellten ihn gegen alle Erwartungen im Handumdrehen vor das Problem, mit seinem bolschewistischen System die neue sozialistische Gesellschaft aus der Erde zu stampfen. All die Bedürfnisse, an denen der Zarismus und die Bourgeoisie gescheitert waren, wollten jetzt durch eine sozialistische Wirtschaft gedeckt sein. Vor der Größe dieser Aufgabe versagte die Unzulänglichkeit seines Systems. Was er unternahm, lief als sogenannter Kriegskommunismus auf einen beschämenden Dilettantismus hinaus. Nachdem die Verwirklichung der Sowjetidee im Heer gescheitert war, folgte nach und nach auch der Abbau der Sowjets in der Verwaltung, im Staatsapparat, im gesamten Sozial- und Kulturaufbau.

Man ging dabei vorsichtig, schrittweise, listig zu Werke, die Preisgabe möglichst verschleiernd, die grundsätzliche Schwenkung vertuschend, teils um das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen, teils um das Misstrauen und den Widerstand der Massen nicht zu wecken oder zu reizen. Mit ostentativer Betonung wurde in allen offiziellen Kundgebungen am Lippenbekenntnis zum Sowjetsystem festgehalten. Und die Staatsmacht wurde nicht müde, sich als Sowjetmacht zu deklarieren, selbst als die Macht der Sowjets längst zu lächerlichen Schatten geworden war. Sie wurde schließlich nicht einmal schamrot, als ihr Betrug vor aller Welt offenkundig war und der Sowjetstern nur noch den Hohn auf die längst abgedankte Sowjetidee krönte.

Als Trägerin der Sowjetpropaganda und des Sowjetexperiments hatte in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, die Partei gedient. Dann hatte die Partei am lebhaftesten die Sowjets unterminiert und gesprengt. Nun übernahm die Partei die Aufgaben der Sowjets.

Die Partei jedoch ist im Grunde nicht eine Organisationsform des Proletariats, sondern der Bourgeoisie. Sie ist nur vom Proletariat vor Jahrzehnten notgedrungen als Organisationsform übernommen worden. Denn als das Proletariat sich am Wahlsystem der Bourgeoisie zu beteiligen begann und schließlich selbst zum Parlamentarismus überging, besaß es hierfür keinen eigenen Apparat. So schuf es Wahlvereine, die mit der Zeit immer mehr den Charakter von Parteien annahmen. In der Folgezeit bewährte sich die Partei als politische Aktions- und Kampfform innerhalb des bürgerlich-politischen Milieus auch für die Interessen der proletarischen Opposition so gut, dass man sie beibehielt, ausbaute und zu hoher Leistungsfähigkeit entwickelte. Die sozialistische Bewegung jener Epoche sah daher keinen Anlass, früher oder später an die Stelle der Partei eine andere Organisationsform zu setzen. Ja, je mehr das Proletariat seine Kämpfe in die Parlamente verlegte und in der Sozialpolitik das eigentliche Arbeitsfeld seines parlamentarischen Wirkens erblickte, desto mehr erschien ihm auch die Partei als zweckmäßigste Interessenvertretung der Massen.

Die Partei funktionierte nur mit Hilfe einer Bürokratie. Ihr ganzer Apparat ist nach dem Vorbild des bürgerlichen Staates aufgebaut, autoritär-zentralistisch, von oben nach unten wirkend, mit der typischen Scheidung der Mitgliedschaft in zwei Klassen. Initiative, Befehlsgewalt und Rangüberlegenheit ist ausschließlich bei den Führern. Die Massen haben Befehle abzuwarten und entgegenzunehmen, nach Kommando einzuschwenken und zu manövrieren, das knet- und formbare Material in den Händen ihrer Führer zu bilden. Sie empfangen fertige Parolen, lesen ihre von der Führung geschriebene Zeitung, befolgen die von oben inaugurierten Beschlüsse, glauben an die von Parteipriestern ausgelegte Wahrheit ihrer heiligen Schrift. So ist die Partei weltanschauliche Kirche und politischer Militarismus in einem, und wie diese zugleich Abbild des bürgerlichen Staatsapparats, in dem sich die technisch-organisatorische Vollendung des Bürokratismus manifestiert. Indem die Bolschewisten sich als Partei organisierten, brachten sie zum Ausdruck, dass sie sich der bürgerlich reaktionären Konstitution dieser Organisationsform nicht bewusst waren. Und indem sie die Partei zum Funktionsorgan des Staatsapparats machten, verschafften sie dem autoritären Klassenprinzip wieder Eingang in die staatliche Machtausübung und Machtrepräsentation. Die Partei wurde zur Klippe, an der ihre sozialistischen Absichten scheiterten.

Wohl war auch die Partei zunächst als Organ der Staatsbeseitigung gedacht. Lenin verlangte, die Bürokratie seile ihrer Eigenschaft als „den Menschen entfremdete, über den Massen stehende, privilegierte Macht“ entkleidet werden. Sie sollte den Nimbus des „Privilegs als Vorgesetzte“ verlieren und den „Staatsbeamten zum einfachen Vollstrecker von Aufträgen“ machen. Dabei war Lenin des naiven Glaubens, dass es eine gute und eine schlechte Bürokratie gäbe. Die schlechte sah er überall in der bürgerlichen Welt. Die gute aber erwartete er in erster Linie von der Kommunistischen Partei. Von hier aus sollte sie sich auch in der Sowjetgesellschaft entwickeln. Und als echter Bolschewik versprach er sich von der Gewalt, dass sie das Wesen der Bürokratie nach Bedarf und Gutdünken verändern könne.

Das war ein gewaltiger Irrtum. Was vorauszusehen war, trat ein: auch die von ihm erhoffte gute Bürokratie erwies sich schon nach ganz kurzer Zeit als die übliche und sattsam bekannte schlechte Bürokratie.

Man erstaunt, dass ein Mann wie Lenin, der wie kein Zweiter das Wesen der Dialektik erfasst zu haben meinte, einen so irrigen Gebrauch von der Dialektik machte. Aber gerade sein Anspruch, der beste Dialektiker zu sein, suchte unbewusst nur die Tatsache zu verdecken, dass er der schlechteste Dialektiker war. Er war überhaupt kein Dialektiker, sondern ein Opportunist. Diese Verwechslung charakterisiert sein ganzes System und seine gesamte Politik. Sie ist auch zum Erbteil seiner Nachfolger geworden. Noch heute ist es typisch für ihr Verhalten, dass sie selbst die ärgste opportunistische Untreue am Prinzip als geniale dialektische Schwenkung zu rechtfertigen suchen.

Einmal in den Teufelskreis des Irrtums geraten, kam der Bolschewismus nicht wieder aus seiner Verstrickung heraus. Die Logik des Selbstbetrugs und der Selbsttäuschung führte mit innerer Konsequenz zur Täuschung und zum Betrug der irregeführten Massen.

Statt des Staates, der sich durch die Sowjets nicht abbauen ließ, wurden die Sowjets durch den Staat abgebaut. Und statt die Bürokratie zum Diener des Volks zu machen, wurde das Volk wieder zum Sklaven der Bürokratie. Ein umgekehrter König Midas verwandelte alles Gold zu Staub.

Die Funktionen der Sowjets und damit deren politische Bedeutung wurde immer mehr beschnitten, eingeschränkt, auf andere Organe übertragen. Schließlich spielten sie nur noch die Rolle deutscher Fabrikkomitees der wilhelminischen Epoche. Nur Fragen und Angelegenheiten ganz untergeordneter Natur blieben ihrem Einfluss und ihrer Kompetenz unterstellt. Schon 1920 waren sie zu Schatten ihrer ursprünglichen Bedeutung geworden. Sie bildeten eine schöne Agitationsphrase und einen attraktiven Dekorationsschnörkel ohne realen Gehalt und praktische Wirksamkeit.

Aber anstatt die Preisgabe der Sowjets offen und freimütig einzugestehen, hielt man für die russischen Massen wie für die politische Weltöffentlichkeit den Glauben aufrecht, dass in Russland eine Sowjetherrschaft bestehe, also die Verwaltungsform, die angeblich dem Sozialismus entspricht und ihn verbürgt. Noch heute spricht der Stalinismus weiter von Sowjet-Russland, Sowjet-Regime und Sowjet-Politik, obwohl schon die Spatzen von den Dächern pfeifen, dass dies alles ausgemachter Schwindel ist.

Die Bürokratie selbst ist es, die an diesem Schwindel mit großer Zähigkeit festhält. Sie hat ihre guten Gründe dafür. Die bewusste und planvolle Irreführung bot ihr von Anfang an den Vorteil, sich hinter der falschen Sowjet-Fassade ungestört und in voller Schrankenlosigkeit zu entwickeln. Und sie bietet ihr heute den Vorteil, völlig verantwortungslos ein bürokratisches Regiment zu führen, sozusagen auf Kosten des Sowjetsystems, das praktisch nicht mehr existiert. Damit findet sie selbst die erwünschte Rückendeckung, sobald die Fehler und verhängnisvollen Folgen des Bürokratismus zutage treten. Und zugleich entwertet sie vor der Weltöffentlichkeit das ihr verhasste Sowjet-System als eine untaugliche und gefährliche Form der Staatsführung.

Denn die Bürokratie will nicht nur keine Sowjets, sie will auch keine proletarische Revolution. Darum muss sie dieser die Spitze abbrechen, indem sie das Sowjet-System theoretisch wie praktisch bis zum vollen Vertrauensverlust diskreditiert.

Partei ist Bürokratie

Lenin hatte der Bürokratie eine Arbeiterkontrolle an die Seite gestellt, um ihre Entwicklung nach der schlechten Seite zu verhindern.

Aber auch sie war nicht imstande, zu vermeiden, dass die Bürokratie das wurde, was sie werden muss, weil es ihr Wesen ist.

Wie die Unteroffiziere im Heer, so rekrutieren sich auch die Unterführer in der Partei im allgemeinen aus den anstelligsten und intelligentesten, aber auch willfährigsten, anpassungsfähigsten, berechnendsten und oft genug korruptesten Elementen der Mannschaft oder Mitgliedschaft. Es geht ihnen meist nicht so sehr um direkte materielle Vorteile, etwa höhere Entlohnung, bessere Verköstigung und Wohnung, längeren Urlaub, Dienst im Büro usw. In Russland wurde jedenfalls von Anfang an im Sinne Lenins großer Wert darauf gelegt, dass der Führer viel unbezahlte Arbeit leisten und unter allen Umständen auf Extravergütungen verzichten musste, die gewöhnlichen Parteimitgliedern für besondere Tätigkeit gewährt wurden. Sicher war der Unterführer materiell in der Regel schlechter gestellt als der qualifizierte Arbeiter.

Aber gerade für diese Führerkategorie spielte meist die entscheidende Rolle der beträchtliche Geltungs- und Machtgewinn, der mit der herausgehobenen Position verbunden war. Also nicht ein materielles, sondern ein psychisches Moment. An der Spitze stehen, kommandieren dürfen, Entscheidungen in der Hand haben, zur Leitung gehören – das ist ihnen ein ungleich höherer und schmeichelhafterer Gewinn, der sogar materielle Nachteile in Kauf nehmen lässt. So bildet denn auch der bürokratische Apparat immer und überall einen der Hauptanziehungspunkte für alle ehrgeizigen und machtlüsternen Menschen, die in der Beamten oder Führerfunktion eine willkommene Gelegenheit sehen zur Befriedigung ihres Erhöhungsdranges oder Machtbedürfnisses.

Wenn man in Russland glaubte, ein Mittel zur Vermeidung oder Abwehr dieser Erscheinungen in der Arbeiterkontrolle gefunden zu haben, so vergaß man, dass die Auslese der Arbeiterkontrolleure in keiner Hinsicht nach psychologischen Gesichtspunkten erfolgte. Die Psychologie genoss und genießt in den Parteien überhaupt eine stiefmütterliche Behandlung. Besonders die Vulgär-Marxisten witterten in ihr eine gefährliche Konkurrenz gegen die materialistisch-ökonomische Orientierung der marxistischen Doktrin. Leider kannten sie diese aber nur aus zweiter und dritter Hand. Bei Marx selbst würden sie gefunden haben, dass gerade er in den revolutionären Konzeptionen seiner Lehre dem psychologischen Moment das allergrößte Gewicht beimaß.

Auch die Kommunistische Partei stand aller Psychologie mit banausischer Überheblichkeit gegenüber und lehnte jede Berücksichtigung ihrer Erkenntnisse für die Praxis fast feindselig ab. Infolgedessen hatte selbst der wohlgemeinte, von ernster Besorgnis diktierte Kampf gegen die schlechte Bürokratie bei den durchschnittlichen Parteimenschen keine psychologische Stütze. Er blieb ein Scheinkampf und musste ein solcher bleiben, auch wenn der tiefere Grund hierfür den Parteileuten nicht zum Bewusstsein kam. Denn ein wirklicher Kampf gegen das bürokratische System hätte die Partei selbst zum Ziel haben müssen. Damit geriet die Behandlung des russischen Problems wieder zu dem alten verhängnisvollen Zirkel, der, einmal fehlerhaft begonnen, immer wieder und auf alle Fälle fehlerhaft ausläuft.

Die praktische Anwendung der Psychologie als eines Mittels im Kampfe gegen die Bürokratie setzt nicht nur voraus, dass man über psychologische Kenntnisse verfügt, sondern auch, dass man das entsprechende Milieu vorfindet, das ihre richtige Anwendung gestattet. Denn nicht jeder Deckel passt auf jeden Topf, nicht jede Doktrin auf jede Situation. In Russland lagen die Dinge jedenfalls so, dass die soziale und politische Gesamtsituation der Anwendung moderner psychologischer Verfahren entschieden widersprach.

Das russische Volk war nach langer und tiefer Knechtschaft zu politischer Freiheit und Emanzipation aufgestiegen. Im Antagonismus des historischen Wechsels konnte auf die These des feudalistischen Patriarchalismus zunächst nur die Antithese des bürgerlichen Liberalismus folgen. Dieser aber ist untrennbar verbunden mit Individualismus, Persönlichkeitsstreben, Erhöhungsdrang, Entwicklung und Steigerung des Geltungsstrebens und Machtgefühls. Der liberale Mensch ist der strebende, unternehmende, dem individuellen Wettkampf konkurrierende, im Wirtschaftsleben auf egoistische Bereicherung, in der Politik auf Macht und Führung ausgehende Mensch. Der Mensch des kapitalistischen Zeitalters. Der wirtschaftliche Tummelplatz dieses Menschen ist Geschäft und Markt. Der politische Tummelplatz Partei und Parlament.

Indem sich die sozialistische Arbeiterbewegung in Russland als kommunistische Partei konstituierte, schuf sie den historisch richtigen Bewegungsspielraum für den Menschen der anbrechenden individualistischen Epoche. Indem aber der neue Sowjetstaat zugleich sozialistisch sein wollte, das Privateigentum konfiszierte, die kapitalistische Produktion mit ihren individuellen Erwerbsmöglichkeiten aufhob und außerdem das Parlament beseitigte, entzog sie dem individualistischen Menschen fast alle Gelegenheiten, seine individuellen Energien zu entfalten und erfolgreich zu gebrauchen. Die Versuche, ihn zu einem sozialistischen Menschen zu erziehen, ihn in Sowjets, Wirtschaftskollektivs und Kommunen einzugliedern und für eine kollektivistisch orientierte Wirklichkeit nutzbar zu machen, schlugen fehl. So blieb dem individualistischen Menschen nur ein einziges Gebiet, auf dem er zum Bewusstsein und Erlebnis seiner Persönlichkeit kommen konnte: die Partei. Das Leben der Partei wurde so zum Inhalt seines Lebens. Der russische Mensch nach 1917 wurde der typische, klassische Parteimensch mit allen Vorzügen und Fehlern, allen parteimäßigen Tugenden und Vollkommenheiten Lastern, Einseitigkeiten und Unausstehlichkeiten.

Wie der russische Mensch nicht für die Sowjets getaugt hatte, so taugten die Sowjets nicht für ihn. Als feudaler Mensch war er zu unfähig. Als individualistischer Mensch zu sehr Individualist. Er fand hier nicht seinen Platz.

Aber in der Partei stieß er auf das Element, das ihm zusagte. Von hier aus führte ihn sein Geltungstrieb zur Bürokratie. Von der Parteimacht stieg er zur Staatsmacht empor. Denn indem sich die Parteibürokratie zur Staatsbürokratie verwandelte, entwickelte sich der individualistische Mensch zum Bürokraten. Damit wurde er Mitglied jener „privilegierten, den Menschen entfremdeten, über den Massen stehenden Schicht“, jener Klasse, die, als Element bürgerlicher Klassengegensätzlichkeit, dem Proletariat sozusagen von Natur aus feindlich gegenübersteht.

Diese ganze Entwicklung wurde begünstigt durch die besonderen sozialen und kulturellen Verhältnisse Russlands, die allgemeine Rückständigkeit und zahlenmäßige Kleinheit des Proletariats, die tiefe politische und ökonomische Zerrüttung infolge des langen Bürgerkrieges, die ständig drohende Gefahr des Zusammenbruchs der Staatsmacht, die Kriege der Invasionsarmeen an den Landesgrenzen und den ganzen provisorischen Charakter des von Experiment zu Experiment tappenden sozialistischen Regimes.

Nach Lenins Konzeption hatte die Staatsmacht eigentlich abgebaut werden sollen. Nun setzte man alles daran, sie aufzubauen und zu sichern. Wenn sie aber aufgebaut und gesichert sein würde, dann sollte sie wirklich abgebaut werden. Wer sollte das verstehen, wer vermochte diese merkwürdige Doktrin zu begreifen? Der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis war handgreiflich. Doch es gab viele solcher Widersprüche. Auch der Kampf gegen die Bürokratie und das üppige Wachstum der Bürokratie gehörten dazu.

Die Massen konnten nicht sehr über diese Widersprüche nachdenken. Sie hatten tausend Sorgen um ihr nacktes Leben. Außerdem duldete die Diktatur keinen Widerspruch. Diese Diktatur des Proletariats, die mit jedem Tage mehr zu einer Diktatur über das Proletariat wurde.

Die Führer setzten ihre ganze Hoffnung auf den Glückstreffer der Weltrevolution. Von ihr musste die schließliche Rettung der Sowjetmacht kommen. Sie arbeiteten das Rezept dieser Weltrevolution bis in alle Details aus, ganz nach russischem Muster, und priesen es dem Proletariat aller Länder und Völker an.

Aber die Weltrevolution kam nicht. Russland war in eine Sackgasse geraten. Das Revolutionsmodell stimmte nicht. Die Prognose stimmte nicht. Die Staatsdoktrin stimmte nicht. Die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Bürokratie stimmte nicht. Die Aufbaupraxis stimmte nicht. Der ganze Bolschewismus stimmte nicht.

Wenn sich in der Geschichte herausstellt, sagt Marx, dass zwischen Theorie und Praxis etwas nicht stimmt, so liegt der Fehler immer bei der Theorie. Die bolschewistische Theorie hatte die geschichtliche Entwicklung nicht zwingen können, nach ihren Intentionen zu verlaufen.

So zwang die geschichtliche Entwicklung den Bolschewismus, sich nach ihren Tatsachen umzuformen.

Schon hatte Lenin den Marxismus in den Leninismus verwandelt. Nun verwandelte Stalin den Leninismus in den Stalinismus.

Das war nicht die Erfüllung der Revolution, sondern ihr Ende.

Streitfragen unter Theoretikern

Der Bolschewismus hatte vor seiner Machtergreifung keinen guten Start. Er zählte nicht nur eine lächerlich kleine Sekte von Anhängern. Es wurde ihm auch von vielen Gegnern aufs heftigste zugesetzt.

Dass Bourgeoisie, Agrarier, Kleinbürger, Bauern den Bolschewismus, soweit sie von seiner Existenz als Theorie überhaupt etwas wussten, wie den Tod fürchteten und bekämpften, ist selbstverständlich. Davon soll hier nicht die Rede sein.

Auch nicht von den Sozialdemokraten, die, indem sie ihren Opportunismus und Verrat fortsetzten, mit dem Kampfe gegen den Bolschewismus die Geschäfte der bürgerlichen Klasse besorgten.

Ebensowenig von den radikalsozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Kreisen, die, obwohl revolutionär, weder die bolschewistische Doktrin akzeptierten, noch mit der bolschewistischen Praxis einverstanden waren. Es wäre überflüssig, heute noch auf all die Gegensätze, Abweichungen und Verschiedenheiten der theoretischen Meinungen und taktischen Verhaltungsweisen einzugehen, die einander im Wirrwarr des politischen Hexenkessels jener Zeit begegneten und das Geltungsrecht streitig machten.

Wichtig scheint nur, eine Richtungsdifferenz ins Auge zu fassen, die weniger während des aktuellen Ablaufs der Ereignisse als vielmehr in deren nachträglicher Kritik eine Rolle gespielt hat und teilweise noch spielt. Sie ist besonders unter dem Schlagwort Rosa Luxemburg contra Lenin zu einem Vorwand benutzt worden, die revolutionären Taktiken der Bolschewisten und der deutschen Linken gegeneinander auszuspielen. Dabei ist alles Mögliche an historischen Entstellungen und schiefen Beurteilungen geleistet worden, um die jeweils verfochtene Auffassung auf Kosten der ändern zu beweisen. Wie immer in solchen Fällen ist beiden Seiten entgangen, dass sie beide recht und unrecht haben.

Weil die Kontroverse ein wahres Schulbeispiel dafür ist, wie Menschen, einmal im Parteisystem festgefahren, selbst unter günstigsten persönlichen und politischen Voraussetzungen nicht imstande sind, den völlig unrevolutionären Charakter der Partei zu sehen und zu begreifen, soll hier die Kontroverse ihrem Inhalt wie ihrer Bedeutung nach kurz resümiert werden.

Sowohl Lenin wie Rosa Luxemburg kamen auf dem Wege über die Sozialdemokratie zur modernen Arbeiterbewegung.

Die Sozialdemokratie war damals die einzige Partei, die den Klassenkampf des Proletariats im marxistischen Sinne führte. Und sie fand ihre theoretisch wie organisatorisch entwickeltste, um nicht zu sagen klassische Form in Deutschland. Als ihre prominentesten Führer galten August Bebel und Karl Kautsky. Sowohl Lenin wie Rosa Luxemburg zählten zu den unbedingten Bewunderern dieser Führer. Sie sahen in ihnen ebenso unbestrittene Autoritäten wie in der deutschen Partei das Muster einer marxistisch geschulten, vortrefflich auf- und ausgebauten, taktisch richtig operierenden und von revolutionärem Geiste erfüllten Organisation. Rosa Luxemburg, die das Schwergewicht ihres Wirkens in Deutschland fand und die Partei aus nächster Nähe kennenlernte, war jedoch bald von ihr in mehr als einer Hinsicht enttäuscht und begann von 1904 an, eine kritische Stellung ihr gegenüber einzunehmen.

Lenin hingegen entwickelte als russischer Emigrant, ganz nach Emigrantenart, eine revolutionäre Tätigkeit, die sich ganz auf Russland konzentrierte und einzig auf den Sturz des Zarismus abzielte. Von den kritischen Rissen, die sich im Gefüge der deutschen Sozialdemokratie zu markieren begannen, nahm er keine Notiz. Erst bei Beginn des Weltkrieges wurde er durch das katastrophale Versagen der von ihm bewunderten Partei aus allen Wolken seiner Illusionen gerissen.

Rosa Luxemburg erkannte den im Grunde konservativen, bürokratisch verknöcherten und sterilen Charakter der deutschen Partei, ihre strategische Unelastizität, ihre traditionelle Enge, ihre Unlust und Unfähigkeit zur Erfassung neuer Probleme, ihre Preisgabe des revolutionären Elans zugunsten sozialpolitischer Schachergeschäfte und Abschlagszahlungen, ihre Verspießerung und Verbürgerlichung im Element der Führergarnitur. Sie führte daher, nur von einer kleinen Gefolgschaft unterstützt, einen ununterbrochenen, zähen Kampf gegen die Parteileitung, einen Teil der Parteipresse und die immer mehr verwässernde Taktik der Parlamentsfraktion. 1910 ging sie zu einem Frontalangriff gegen das bürokratisch-doktrinäre Offiziösentum Kautskys und den anspruchsvollen, aber leerlaufenden Routinismus des Parteiapparats über. Damit scheuchte sie alle Opportunisten und Banausen, alle selbstgefälligen Hohlschwätzer und dunklen Geschäftemacher zu wüstem Spektakel auf.

So mutig diese Attacke war, fehlte ihr doch die Kraft, aufs Ganze zu gehen. Rosa Luxemburg scheute davor, einen Bruch herbeizuführen oder etwa gar zur Etablierung einer selbständigen Linksbewegung mit wirklich revolutionärem Programm zu schreiten. Denn sie selbst war bis in die Knochen Parteimensch, und Disziplinbruch erschien ihr als Todsünde. Die Unerschrockenheit ihrer Kritik war nicht steigerungsfähig bis zur großen Konzeption einer revolutionären Konkurrenzbewegung. Und die Parteileitung war klug genug, sie nicht durch Ausschluss vor ein fait accompli zu stellen. Noch gegen Ende des Weltkriegs, inmitten des vollen Bruchs mit der Partei, als sie die Programm-Thesen des Spartakusbundes entwarf, reichte ihre Entschlossenheit zum Äußersten nur bis zu dem Gedanken an die Gründung einer neuen Partei. Der Funke der in Russland bereits agitatorisch und praktisch aktualisierten Räteidee hatte in ihr überhaupt nicht gezündet. Es bedurfte vieler Diskussionen und starker Nötigungen, um sie in ihrem Programm-Konzept wenigstens zu dem Zusätze zu bewegen, dass die neue Partei „keine Partei im bisherigen Sinne“ sein solle. Der tiefste revolutionäre Kern aller proletarischen Kampforganisationen blieb auch ihr unerschlossen.

Noch befremdender verhielt sich Lenin. In all den Jahren vor dem Weltkrieg widmete er der Opposition Rosa Luxemburgs gegen die deutsche Partei nicht die geringste Aufmerksamkeit. Weder fühlte er sich als links orientierter Sozialdemokrat verpflichtet, seine ziemlich isolierte Kampfgenossin in einer sehr prekären Situation zu unterstützen, was für ihn ohne jedes persönliche Risiko gewesen wäre, da er ja außerhalb der deutschen Partei stand. Noch machte er den leisesten Versuch, seine bolschewistische Theorie und Taktik in die Kanäle der deutschen Linken zu leiten, um diese für eine konsequent revolutionäre Haltung zu gewinnen oder doch zu ermuntern. Selbst der Konflikt von 1910, der zum vollen persönlichen Bruch zwischen Rosa Luxemburg und Kautsky führte, gab ihm keinen Anstoß zu einer decisiven oder gar aggressiven Stellungnahme gegenüber der deutschen Partei. Er blieb bedingungsloser Bewunderer Kautskys und verharrte in seiner partikularistisch-nationalen Russlandpolitik. Ja selbst hier, auf seinem eigensten Gebiet, wurde er sich der Wichtigkeit koordinierter taktischer Verbundenheit mit der deutschen Partei oder der polnischen Partei, die mehr oder weniger unter der geistigen Führung Rosa Luxemburgs stand, für den Fall einer russischen Revolution nicht bewusst.

Es ist erstaunlich, wie wenig der Blick Lenins in die Breite der proletarischen Gesamtbewegung ging, wie stark sich sein als unbestechlich gerühmter Geist von ephemeren Oberflächenerscheinungen täuschen ließ und wie gering sein Verständnis dafür entwickelt war, Stützpunkte für seine revolutionäre Politik in den Außenbezirken zu schaffen, die beim Zusammenbruch des Zarismus sofort in Mitleidenschaft gezogen werden mussten.

Vor allem aber ist erstaunlich, dass er bei der Aufstellung seiner revolutionären Prinzipien, beim Ausbau seiner revolutionären Strategie und bei der Entwicklung seiner revolutionären Taktik zu Ergebnissen kam, die im direkten Gegensatz zu den Konsequenzen standen, die Rosa Luxemburg aus ihren kritischen Beobachtungen und Erfahrungen in der deutschen Sozialdemokratie zog.

Es ergab sich das höchst merkwürdige Resultat, dass von den stärksten und gereiftesten revolutionären Persönlichkeiten jener Zeit die eine, Rosa Luxemburg, aufs Haar genau dieselben Prinzipien aufstellte, Forderungen erhob und Thesen verfocht, die die andere, Lenin, mit aller Schärfe und polemischer Kraft als verfehlt, untauglich und unrevolutionär ablehnte, verurteilte und verwarf. Es wäre unmarxistisch, diesen Gegensatz als Zufall anzusehen oder ihn aus einem Gegensatz der intellektuellen Erkenntnis, der subjektiven Charakterhaltung oder des revolutionären Temperaments erklären zu wollen. Ebenso unmarxistisch würde es sein, bei der Stellungnahme zu diesem Gegensatz einen rein abstrakten Maßstab anzulegen und sich nach einem normativen Wertschema für das eine oder andere System zu entscheiden. Beide Fehler werden gleichwohl häufig gemacht. Sie können nur vorkommen, wenn man bei der Behandlung der Frage undialektisch verfährt.

Rosa Luxemburg war bei ihrer kritischen Betrachtung des Parteiapparats zuerst auf die hohle, subalterne und in ihrer unsachlichen Gewichtigkeit höchst verderbliche Autorität des Berufsführertums gestoßen. Von da aus hatte sie in der Bürokratie den Krebsschaden der ganzen Bewegung erkannt. Indem sie dann von der Außenseite dieser Erscheinung aus die Entstehungsursachen des Übels zu untersuchen begann, wurde ihr klar, dass letzten Endes alle Schuld bei dem Prinzip der zentralistischen Führung zu suchen war.

Aus diesem Beobachtungsergebnis leitete sie die Forderung ab, das Gewicht der Bewegung mehr in die Massen zu verlegen, der inneren Arbeiterdemokratie größeren Spielraum zu erobern, eine allgemeine Auflockerung der Konsistenz des Parteilebens anzubahnen. Alle diese Ziele fasste sie in dem Satze zusammen, dass die Sozialdemokratie als eigene Bewegung der Arbeiterklasse anzusehen sei. Diese Formulierung war zu allgemein, zu abstrakt, zu unsubstantiell, gab infolgedessen zu vielen Missverständnissen und Missdeutungen Anlass. Wäre Rosa Luxemburg auf den konkreten Vorschlag zugekommen, das Parteisystem als Organisationsform durch das Rätesystem abzulösen, hätten alle Diskussionen sofort ihre klare Plattform, alle Verwirrungen ihre Klärung gefunden. Leider kam sie zu diesem positiven Vorschlag nicht.

Vielleicht nicht so sehr deshalb, weil der Gedanke des Rätesystems ihrem Geiste nicht vertraut genug gewesen wäre. Eher wohl deshalb, weil sie als Parteimensch vor dem Gedanken zurückschreckte, diesen grundsätzlichen Bruch mit dem ganzen System, der ganzen Vergangenheit und dem ganzen Inhalt ihrer politischen Welt zu riskieren. Es fehlte ihr in diesem Punkt das überparteiliche Format und der historische Mut zum Außerordentlichen. Ihr größter Vorzug wurde hier zu ihrem größten Mangel: sie war zu sehr Kind jener Epoche, die immer groß in der Analyse und Kritik, aber immer klein in der Synthese und im Entschluss zum Neuen war.

Das persönliche Verhalten Rosa Luxemburgs in der Revolution 1918/19 scheint dies zu bestätigen. Sie stand der wuchtig, hoffnungsvoll und erfolgreich einsetzenden Rätebewegung ziemlich ratlos, inkonsequent und unaktiv gegenüber. Auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei fiel sie sogar haltlos zurück in die verräterische Parteiparole, die der deutschen Rätebewegung den Dolch in den Rücken stieß. Wieviel Schwung, Konzentration und Zielklarheit hätte sie der Rätebewegung geben können, wenn sie sich an deren Spitze gestellt und den Bruch mit aller Partei demonstrativ zur revolutionären Losung erhoben hätte.

Heute macht die Kritik sie für die Niederlage der Linken in der deutschen Revolution verantwortlich, mit der irrigen Motivierung, dass der von ihr propagierte Rätegedanke nicht die erforderliche revolutionäre Tragkraft entwickelt habe.

In Wirklichkeit hätte die damalige Linke allen Grund, sich darüber zu beklagen, dass Rosa Luxemburg sich in jenen Kämpfen nicht energisch, leidenschaftlich und zielbewusst genug für die Räteidee wie für die Schaffung einer Rätebewegung und eines Rätesystems eingesetzt hat.

Lenin hätte einen solchen Vorwurf nie verdient gehabt. Denn aus seiner Doktrin ließ sich keineswegs eine Verpflichtung zum Rätesystem ableiten. Seine Vorbereitung der russischen Revolution rechnete niemals mit einer Massenbewegung. Auch hatte er niemals mit den Massenbewegungen seiner Gastländer auch nur das Geringste zu tun. Er lebte als Emigrant in völliger Isolation. Und seine revolutionäre Strategie war eine reine Schreibstubenangelegenheit.

Soweit er sein System in die Praxis umsetzte, kam er nur mit einem Generalstab auserlesener Berufsführer in Berührung, die er in revolutionären Kursen militärisch einexerzierte, um sie später an die Spitze der von Hunger, Empörung und Demagogie aufgewühlten und auf die Beine gebrachten Massen zu stellen. Sie hatten die Aufgabe, die Revolution nach einem genau vorgezeichneten Plan und Schema durchzuführen, als straff zentralistisch organisierte und geschulte Minderheit die zufällige, unklare Mehrheit mit sich zu reißen und ins Treffen zu führen. Dort sollte das heiße Eisen der revolutionären Materie nach den exakt studierten, erprobten und mit mathematischer Sicherheit wirkenden Methoden des revolutionären Geistes zu Erfolgen geschmiedet werden.

Eine tiefe Verachtung, zum mindesten Geringschätzung der Massen spricht aus diesem Revolutionssystem. Die Proletarier sind – wie im bürgerlichen Heer – nur Kanonenfutter, nur Kulis – wie im kapitalistischen Betrieb. Worauf es ankommt, das sind die Offiziere, die Generalstäbler, die Ingenieure und Techniker. Nach dem Schema der Klassenwissenschaft: sind Kraft und Stoff, Geist und Materie streng geschieden. Das autoritäts-zentralistische Führungsprinzip in zugespitztester Ausprägung feiert seine glänzendsten Triumphe.

In der Tat – rufen die Anhänger Lenins aus –, nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis.

Denn in der Revolution hat sich das System Lenins glänzend bewährt. Mit ihm hat Lenin in Russland den Sieg erfochten.

Rosa Luxemburg hingegen ist in der deutschen Revolution unterlegen. Ihre Strategie und Taktik haben versagt.

Die Beweiskraft dieser Gegenüberstellung scheint überzeugend. Sie wird denn auch von allen Verfechtern des autoritär-zentralistischen Systems immer mit überlegener Geste ausgespielt.

Und doch ist sie falsch, beruht sie auf einem Denkirrtum, einer völlig undialektischen Beweisführung.

Der Gegensatz zwischen Lenin und Rosa Luxemburg ist in Wirklichkeit nicht der Gegensatz zweier Personen, zweier Geister, zweier Systeme als Produkte dieser Geister und Personen. Er ist der Gegensatz zweier historischer Situationen, zweier Zeitalter und damit zweier Systeme, die sich aus den Bedingungen zweier verschiedener Zeitalter ergeben.

Jedes dieser Zeitalter verfügt über andere Waffen und kämpft nach anderen Methoden. Jedes Zeitalter hat sein ihm entsprechendes System.

Bei der russischen Revolution handelt es sich um die Ablösung des feudalistischen Zarismus durch den bürgerlichen Kapitalismus.

Bei der deutschen Revolution ging es um die Ablösung des bürgerlichen Kapitalismus durch den proletarischen Sozialismus.

In der russischen Revolution siegte Lenin. Er siegte gegenüber dem Feudalismus mit der typischen Parteitaktik der bürgerlichen Klasse. Das war im Februar. Und im Oktober siegte er gegenüber der Bourgeoisie mit den Räten, die er den Menschewiki aus den Händen genommen hatte. Er siegte zweimal, einmal auf bürgerliche und ein anderes Mal auf proletarische Weise.

Aber indem er nach dem Siege die Räte wieder abbaute, ging ihm auch der proletarische Sieg wieder verloren. Er blieb historisch nur Sieger der bürgerlichen Revolution.

In der deutschen Revolution unterlag Rosa Luxemburg. Sie unterlag nicht, weil sie nicht auch, wie Lenin in Russland, parteimäßig kämpfte. Vielmehr unterlag sie, weil in Deutschland die unhistorisch gewordene Parteitaktik versagte und sie selbst nicht vermochte, die der proletarischen Klasse in ihrem Revolutionskampfe entsprechende Rätekampfwaffe zur Anwendung zu bringen. Hätte Rosa Luxemburg das deutsche Proletariat unter dem Banner des Rätesystems in den Kampf geführt, wäre ihr wahrscheinlich der Sieg sicher gewesen. So siegte die Sozialdemokratie, die nur die Vollendung der bürgerlichen Demokratie mit Hilfe der Partei wollte. Und als die Zeit dieser Demokratie abgelaufen war, verwandelte sich ihr Sieg in eine Niederlage, die schließlich zum Faschismus Hitlers führte.

Das gleiche Schicksal hatte der Bolschewismus in Russland. Der Parteisieg Lenins reichte eben für die Aufrichtung des Kapitalismus aus, nicht aber für die Verwirklichung des Sozialismus. Nicht des Kapitalismus im alten Sinne, sondern gemäß der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung als Staatskapitalismus. Und in voller Kongruenz zu dieser wirtschaftlichen Notwendigkeit erschien der russische Faschismus in Gestalt der Diktatur Stalins.

Ziehen wir das Fazit:

Lenin war seiner historischen Berufung nach der Mann der bürgerlichen Revolution Russlands. Insoweit er die Grenzen dieser Berufung überschritt, erlitt er sein Fiasko.

Rosa Luxemburg war ihrer historischen Berufung nach die Führerin der proletarischen Revolution in Deutschland. Insoweit sie hinter den Ansprüchen dieser Revolution zurückblieb, erlitt auch sie ihr Fiasko.

Man kann in der Revolution an dem Platze, an den man von der Geschichte gestellt ist, zuviel oder zuwenig tun. Worauf es ankommt, ist, im richtigen Moment und im richtigen Maß das Richtige zu tun.

Alles Unrichtige wird von der Geschichte unerbittlich korrigiert. Und die Menschen, die das Unrichtige tun, werden von ihr gerichtet.

Der Bolschewismus wird konterrevolutionär

Während die russische Revolution, wenigstens in ihrer ersten Zeit, allen Ernstes bemüht war, zu einem Kompromiss zwischen Parteisystem und Sowjetsystem zu kommen, konnte davon in der deutschen Revolution keine Rede sein.

Die im Grunde völlig unrevolutionäre Sozialdemokratie stand dem Bolschewismus und seinen revolutionären Methoden in tödlicher Feindschaft gegenüber. Otto Braun hatte schon im Jahre 1917 im offiziellen Organ der Partei, der Neuen Zeit, kategorisch erklärt, dass zwischen der Sozialdemokratie und dem Bolschewismus nur ein dicker Trennungsstrich gezogen werden könne. Und den bis ins Mark verspießerten und korrumpierten Gewerkschaftsführern erschien schon die Verbundenheit mit einer Klassenkampfpartei als eine fast unerträgliche Zumutung. Die Grenzen waren scharf gezogen.

Als es nun aber 1918 doch, gegen den Willen der Partei, zu einer revolutionären Erhebung kam und die Leidenschaft der Massen in dem Rufe nach dem Rätesystem Feuer fing, hätte man glauben sollen, dass dieser Moment von den russischen Bolschewisten als willkommene Gelegenheit benutzt werden würde, um dem Rätegedanken auch in Deutschland zum Sieg zu verhelfen.

Aber sowenig früher Lenin daran gedacht hatte, den Radikalismus Rosa Luxemburgs zu unterstützen und zu einer wirklich revolutionären Bewegung auszubauen, sowenig fühlte er sich jetzt veranlasst, der deutschen Linken mit revolutionären Ratschlägen oder tatkräftigen Mitteln zu Hilfe zu kommen.

Rosa Luxemburg versagte, so sagen heute ihre bolschewistischen Kritiker, aus Mangel an Konsequenz. Ihrer richtigen Analyse des deutschen Opportunismus fehlte der Mut zum Äußersten. Nun wohl. Ihre Konsequenz und ihr Mut hätten sich nach zwei Richtungen hin entladen können.

Einmal konnte Rosa Luxemburg die Opposition in der deutschen Sozialdemokratie zu einer scharf zentralistisch organisierten Eigenbewegung zusammenfassen, um dem Opportunismus in Partei und Gewerkschaften die Spitze zu bieten. Das wäre ihre Aufgabe im Sinne des Bolschewismus vor dem Weltkrieg gewesen.

Oder aber, sie konnte sich in der Revolution der Rätebewegung bemächtigen und diese mit großer Wucht dem offiziellen, in vollen Misskredit geratenen Partei- und Gewerkschaftsapparat entgegenwerfen. Das war die Aufgabe, die ihr die Revolution stellte und die ebenfalls der Praxis des Bolschewismus entsprochen hätte, der ja in Russland das gleiche getan hatte.

Rosa Luxemburg entschied sich weder für das eine noch für das andere. Ihr Mangel an Konsequenz und Mut sind unverkennbar. Aber was hat der Bolschewismus, der heute als Kritiker Rosa Luxemburgs auftritt, getan, um diesen Mangel im Interesse der deutschen Revolution zu beheben? Wie hat sich im besonderen der Bolschewismus, der in Russland zur Macht gekommen war, gegenüber den Erscheinungen verhalten, die das Versagen von Rosa Luxemburg in Deutschland zur Folge hatte? Hat er sie ignoriert, wie Lenin in der Vorkriegsepoche, oder hat er zu ihrer Korrektur praktisch eingegriffen, um die Revolution zu retten?

Der Bolschewismus hatte in Russland mit einer winzig kleinen Partei und einer in kurzer Zeit zu ungeheuren Dimensionen angeschwollenen Sowjetbewegung gesiegt. Auch der deutsche Spartakusbund, zu dessen Führern Rosa Luxemburg gehörte, war im Grunde nur eine kleine, lockere Gruppe. Hätte es da nicht nahegelegen, sie nach russischem Muster durch eine gewaltige, aus der Erde gestampfte Rätebewegung zu ergänzen, zu verstärken und in ihrer Aggressivkraft so unwiderstehlich zu machen, dass der Sieg nicht ausbleiben konnte?

Selbst wenn Lenin, was nicht erwiesen ist, damals in der Sowjetbewegung schon ein nur zufälliges Mittel gesehen hätte, dessen man sich bedient, um die Macht zu erobern, und das man später wieder beiseite wirft – selbst in diesem Fall wäre es seine revolutionäre Pflicht gewesen, die deutsche Linke zu dem gleichen Vorgehen zu ermutigen, sie zur Schaffung’ einer Rätebewegung zu drängen, ja nötigenfalls sie sogar durch moralischen Druck dazu zu zwingen.

Aber nichts von alledem. Lenin wie der Bolschewismus nahmen genau die entgegengesetzte Haltung ein. Kaum, dass in der deutschen Revolution die Räteidee in den Massen gezündet hatte und im Begriff war, eine revolutionäre Macht zu werden, deren Konstituierung nur der beratenden und formenden Hilfe bedurfte, fiel man ihr von Russland her in den Rücken.

Der revolutionäre Lautsprecher „Alle Macht den Räten!“ fand nicht nur von Russland her kein Echo, sondern wurde von einer sofort einsetzenden Lärmkanonade bolschewistischer Störungsmaschinen auf alle erdenkliche Weise unverständlich gemacht, sabotiert und in seiner Werbekraft behindert. Kein anfeuernder und ermutigender Widerhall. Nicht „Besetzung der Betriebe!“ Nicht „Verankerung der Revolution in den Produktionswerkstätten!“ Nicht „Ergreifung der Wirtschaftsmacht unmittelbar durch die werktätigen Massen!“ Nicht „Grundsätzliche Änderung des gesamten legislativen und exekutiven Systems!“ Nicht „Der Wille der Massen ist das höchste Gesetz!“ Nichts von alledem.

Statt dessen die unglaubliche, unmögliche Parole, die auf alle revolutionären Kämpfer nur wie eine Mystifikation, ein Schlag vor den Kopf, ein ungeheuerlicher Verrat wirken konnte: „Wieder zurück in die Partei! Zurück in die Gewerkschaften! Zurück in die Parlamente!“ Es war ein regelrechter Dolchstoß. Mitten im Anlauf zu neuen, revolutionären Zielen dieser Überfall! Mitten im mühsam geweckten, entflammten und hochgepeitschten Bewusstsein der eigenen Kraft, im schönsten Sturmangriff der zu Revolutionären gewordenen Kriegsproleten dieses tückische Feuer im Rücken! Mitten in der glühenden Ekstase endlich erzielter revolutionärer Aktivität dieses donnernde Halt! Und dieses konsternierende Kommando von einer Stelle aus, die als Hochburg der Revolution galt, den Massen als Olymp aller revolutionären Weisheit, Tatkraft und Erfahrung galt! Es ist nicht auszusprechen, wie diese Retraite wirkte!

Also keine Sowjetparole? Kein Rätesystem? Kein Bruch mit der Vergangenheit? Aber warum nicht? Warum in Russland und nicht in Deutschland? Wie konnte hier eine Dummheit und ein Verbrechen sein, was dort eine Genieleistung und ein Triumph der Revolution war?

Was bedeutete diese plötzliche Schwenkung? Was ging da vor? Ein Irrtum? Ein Missverständnis? Eine Intrige der Sozialdemokratie? Eine Kontremine der Bourgeoisie? Ein Überfall aus dem Hinterhalt? Ein Verrat?

Doch nein! Alles war viel schlimmer. Die Gegenparole gegen die Rätelosung war ein ganz legaler Akt bolschewistischer Politik. Lenin deckte sie mit seinem Namen. Und der ganze bolschewistische Generalstab stand hinter dieser Chamade, die vordem eine Fanfare gewesen war.

Radek erschien als bolschewistischer Kommissar auf deutschem Boden und erklärte im Namen seiner Auftraggeber die Räteparole für einen Wahnsinn, die Verkünder und Verfechter dieser Parole für Narren und Verbrecher, die Idee einer Räteregierung in Deutschland für eine lächerliche Groteske und ein unheilvolles Abenteuer.

Und in seiner Gefolgschaft warf sich ein von Russland bezahltes Heer bolschewistischer Agenten dem revolutionären Sturm entgegen. Der mit überwältigender Mehrheit gefasste Beschluss des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei, dass diese im Sinne des Rätegedankens – antizentralistisch, antiparlamentarisch und antigewerkschaftlich – aufgebaut werden und funktionieren solle, wurde sabotiert, ohne Gegenbeschluss über den Haufen geworfen und durch Gründung einer straff autoritär-zentralistischen Partei im leninistischen Sinne ad absurdum geführt. Ein Massenaufgebot bolschewistischer Agitatoren mit Dollarsold und eine unerschöpfliche Flut bolschewistischer Flugblätter überschwemmte den ganzen Kriegsschauplatz der deutschen Revolution. Alle Schleusen wüstester Propaganda waren geöffnet. Und alles brüllte mit Lungenkraft die Gegenparole: „Nieder mit der Rätebewegung! Schluss mit der Sowjetkomödie! Zurück in Partei, Gewerkschaft und Parlament!“

Die Massen waren verwirrt, verstört, wie niedergedonnert, verzweifelt. Das Gelächter der Reaktionäre umheulte sie. Die Partei- und Gewerkschaftsbonzen wetzten grinsend an ihnen ihren Spott. Die Presse goss Kübel von Verleumdungen über die Misswirtschaft der Räte, ihre „Prassereien, Unterschlagungen, Kassendiebstähle und Weibergeschichten“ aus. Wo Widerstand geleistet wurde, sorgten Denunziationen, Polizeiüberfälle, Schnellgerichte und Einkerkerungen für die Beseitigung der Ordnungsfeinde. Überall traten bolschewistische Funktionäre oder Parteigänger als Spitzel, Angeber, Zuträger, Zeugen, Helfershelfer und Typen eines Gangstertums auf, das man erlebt haben muss, um zu verstehen, aus welchen Arsenalen sich später die Knüppelgarden des Faschismus so rasch rekrutieren konnten.

Unter der konzentrischen Wirkung aller dieser Methoden der Ächtung, Verleumdung, Isolierung, Verdächtigung, Bespitzelung, Zermürbung, Niederbrüllung und Niedermachung ging die deutsche Rätebewegung langsam, aber unaufhaltsam zugrunde. Liebknecht, Rosa Luxemburg, Jogiches und fast alle übrigen Begründer des Spartakusbundes wurden ermordet. Andere saßen zu Tausenden in den Kerkern. Noske tötete in Straßenkämpfen und Polizeikellern Abertausende. Viele flohen aus der Barbarei dieses Zusammenbruchs, in dem sich westliche Konterrevolutionäre und östliche Revolutionäre so einträchtig gegen den „Rätewahnsinn“ der verhassten „Ultralinken“ fanden.

Auf den Trümmern der deutschen Rätebewegung aber und dem Grabe der deutschen Revolution pflanzten die alte Sozialdemokratie, die alten Gewerkschaften und die alten Parlamente unter dem Segen des bolschewistischen Sowjetstaates die politische Macht des schwarz-rot- goldenen Nachkriegsdeutschlands auf.

Diktatur über das Proletariat

Die Aufbauarbeit nach dem Weltkrieg war in allen Ländern schwer. Am schwersten aber wohl in Russland. Hier vereinigten sich die Verwesungsreste des verfaulten Zarismus mit den Blutorgien des Kriegs, die Verwüstungen des Revolutionsorkans mit den Exzessen eines langen und schrecklichen Bürgerkriegs zu einem unheilvollen Chaos.

Die gesamte Wirtschaft lag schwer darnieder. Nur die elementarsten Bedürfnisse konnten notdürftigst befriedigt werden. Überall herrschten Massenelend, Unkultur, Verwüstung, Verfall, Untergang. Man lebte wie in einer belagerten Festung von den letzten, armseligen Vorräten einer provisorischen und bis zur völligen Leistungsunfähigkeit zerrütteten und zusammengebrochenen Kriegswirtschaft.

Eine straffe Reglementierung des Verbrauchs war unerlässlich, um einigermaßen Ordnung in die Verteilung und den Konsum der vorhandenen Lebensgüter zu bringen. Dieser Kriegskommunismus brauchte also Institutionen mit Dekretierungs- und Exekutivgewalt, eine behördliche Apparatur und eine bürokratische Befehlshaberschaft, um des allgemeinen Mangels, Wirrwarrs, Durcheinanders und Gegeneinanders im Kampf um den armseligsten Hungerbissen Herr zu werden.

Wohl schwebte der Regierung immer vor, den Kriegskommunismus zu einem Planwirtschaftssystem zu entwickeln. Aber es gab da vielfältige Hindernisse zu überwinden, um diese Entwicklung in Gang setzen zu können: den allgemeinen Rückgang des Getreideanbaus, der Industrieproduktion und des Handels, die ständige Beunruhigung durch den Bürgerkrieg, die Verschärfung der Beziehungen zwischen Stadt und Land infolge der mit großer Rücksichtslosigkeit durchgeführten Zwangsrequirierungen, das Auseinanderstreben der Industrie- und Agrarpreise, die Zerstückelung der Bauernwirtschaft infolge der Landaufteilung, den Mangel an Saatgut, Dünger und Arbeitsvieh, die Lethargie der Massen, nachdem die Erfüllung ihrer sozialistischen Hoffnungen ausgeblieben war, die allgemeine Erschöpfung infolge Hunger, Angst, Kampf und Unsicherheit. Nicht zum letzten auch die notorische Unfähigkeit der leitenden Stellen für Organisationsaufgaben großen Stils. So versank das Land in immer tieferem Chaos.

Lenin suchte Rettung vor dem Untergang in der zeitweiligen Rückkehr zu den Methoden der vorrevolutionären Privatwirtschaft. Aber auch sie brachte den erhofften Aufschwung nicht. So musste die NEP wieder liquidiert werden. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde in Angriff genommen. Die Industrialisierungskampagne begann. Das Geldwesen wurde in Ordnung gebracht. Schließlich setzte die Planwirtschaft ein. Langsam arbeitete sich die Wirtschaft aus der Tiefe ihres Verfalls und ihrer Agonie empor. Aber noch immer kamen Dürre, Missernte, Hungerjahre. Millionen wurden dahingerafft. Die Energie und Widerstandskraft der Massen vermochte weitere Geduldproben und Experimente nicht mehr zu ertragen. Sie sah sich im äußersten Zustande der Erschöpfung.

In allen Phasen dieser Entwicklung hatte die Armut, der Hunger, der allgemeine Mangel immer und immer wieder an die Hilfe der lokalen Behörden, der legislativen und administrativen Verwaltung des Landes, der amtlichen Stellen und der Staatsregierung appelliert. Die Not erzwang Regulative, Dekrete, Zwangsmaßnahmen, Kontrollen, exekutive Eingriffe aller Art. Das ergab sich ja auch aus dem Wesen der Diktatur, die zur herrschenden Regierungsform erklärt worden war.

Zwar sollte diese Diktatur – nach der bolschewistischen Doktrin – vom Proletariat über die Reste der Bourgeoisie ausgeübt werden. Ihre Organe sollten die Vertretungen des Proletariats, die Sowjets, sein. Aber die Sowjets versagten in den meisten Fällen. So mussten Parteifunktionäre oder besondere Kommissare ihre Funktionen übernehmen. Die Bürokratisierung der Partei, wie sie die ganze Arbeiterbewegung der kapitalistischen Länder kennzeichnet, übertrug sich in Russland auf das gesamte öffentliche Leben. Und sie nahm um so gröbere, härtere und gewaltsamere Formen an, je größer die Armut, je rückständiger die Bevölkerung und je offener der Widerstand waren. Der Verwaltungsbeamte, der Mann hinter dem Schalter, der Gendarm, der Kommissar mit Armbinde und Aktentasche wurden zu typischen, ebenso gefürchteten als verhassten Vertretern der staatlichen Gewalt. Die bürokratische Autorität in alter Gestalt war wieder am Werk und beherrschte die Massen. Diktatur über das Proletariat! So sah der verheißene Sozialismus aus!

„Und es ist kein Zweifel“, sagte Trotzki in seiner Verratenen Revolution „wenn die proletarische Revolution in Deutschland triumphiert hätte – ihren Sieg verhinderte allein die Sozialdemokratie –, die Wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion wie auch Deutschlands hätte solche Riesenschritte gemacht, dass das Schicksal Europas und der Welt heute viel günstiger aussähe !“ In der Tat: es hätte schon damals günstiger ausgesehen, und vor allem würde Russland zu einem Sozialismus gekommen sein. Aber Trotzki irrt, wenn er meint, dass die deutsche Sozialdemokratie allein die Schuld für die Verlorene Revolution trage. Das ist eine von Moskau aus in die Welt gesetzte Legende, die die mindestens ebenso große Schuld der damaligen Sowjetmachthaber verdecken soll. Die deutsche Rätebewegung wäre das Mittel gewesen, den Verrat der Sozialdemokratie zu korrigieren und zu kompensieren. Aber sie wurde durch das Eingreifen Russlands gestürzt. Und das ist Russlands unsühnbare Schuld, die sich zuerst und am härtesten an Russland selbst rächte.

Natürlich geht die überaus ungünstige Situation Russlands in jener Epoche auf noch tiefere Ursachen zurück. Es fehlte die Höchstentwicklung der Technik, die Höchstergiebigkeit der Arbeitsproduktivität, die relative Höchstentwicklung der Menschen, die nun einmal nötig sind, um den Sozialismus zu verwirklichen. Es fehlte die ganze kapitalistische Epoche, die in ihrem Verlauf allmählich Technik, Arbeitsproduktivität; und Menschen auf den Grad der Reife bringt, dass eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform möglich und durchführbar wird. In, Russland wollte man ein ganzes Jahrhundert organischer Prozesse mit ihren materiellen Resultaten und menschlichen Qualitäten durch überspitzte Theorie, schlaue Spekulation, scheinlogische Überlistung, bombastische Überredungskünste, ausgeklügelte Manöver, straffe Organisation, hochgeschraubte Autorität und ein ganzes System von Zwang, Gewalt und Diktatur ersetzen. Man kann mit all diesen Mitteln bis zu einem gewissen Grade die Natur bändigen und vergewaltigen. Aber die Geschichte nicht. Auch der Bolschewismus hat damit seinen Schiffbruch erlitten.

Lenin sann Tag und Nacht darüber nach, wie er – der Grundforderung von Marx und Engels und seiner eigenen Überzeugung entsprechend – das Aufkommen einer parasitären und entwicklungshemmenden Bürokratie verhindern und zur Organisation einer wirklichen sozialistischen Neugestalt der Gesellschaft gelangen könne. Aber alles stand ihm im Wege: die Primitivität der Wirtschaft, die Rückständigkeit der Sozialstruktur, die Tiefe des Kulturniveaus, die Unreife der Menschen. Vor allem sein eigener großer Mangel: dass er Marx und das Problem der historischen Dialektik in Wirklichkeit nie begriffen hatte.

In Anlehnung an die von Marx und Engels aufgestellten Forderungen hatte Lenin, um die Entstehung einer Bürokratie zu vermeiden, als Maßnahmen vorgesehen: 1. nicht nur Wählbarkeit, sondern auch Absetzbarkeit zu jeder Zeit; 2. eine den Arbeitslohn nicht übersteigende Bezahlung; 3. Verwandlung der Aufsicht und Kontrolle zu allgemeinen Funktionen, die im bestimmten Turnus von allen zu verrichten sind, „damit alle eine Zeitlang Bürokraten werden, so dass niemand Bürokrat werden kann“.

Aber die Praxis des Lebens war stärker als sein Projekt aus der Schreibstube. In all den schweren Notzeiten musste man die Massen versorgen, an unterschiedliche Bezugssysteme gewöhnen, zur Durchführung der angeordneten Maßnahmen anlernen; man musste sie dabei überwachen, unterstützen, ermuntern, eventuell zwingen oder strafen. Zugleich musste man ihre Gesinnung kontrollieren, ihrer Kritik begegnen, ihren Widerstand brechen, ihre Opposition bekämpfen, ihren Übergang ins feindliche Lager der Konterrevolution verhindern. Aufkommende Revolten mussten unterdrückt, Zwangsrequirierungen mit Gewalt durchgeführt, Bauernkriege mit militärischen Mitteln niedergeschlagen werden. Der Analphabetismus wollte überwunden sein, kirchliche und religiöse Bindungen galt es zu beseitigen, es gab Seuchen im Land. Selbst Sommerhitze und Winterkälte schienen sich gegen das Sowjetsystem verschworen zu haben.

So hatte die Bürokratie alle Hände voll zu tun. Auf allen Gebieten des Lebens erwuchsen ihr neue und immer größere Aufgaben und Möglichkeiten sich zu betätigen, zu bewähren, als nützlich zu gelten und ihre Uentbehrlichkeit zu beweisen. Sie war es, die die Ordnung aufrechterhielt, die Massen im Zaum hielt und den Staat rettete. Ohne ihre Tatkraft und Wachsamkeit wäre er nicht zu halten gewesen. Natürlich musste man ihr dankbar sein. So kam es, dass die zum Absterben bestimmte Bürokratie schon nach wenigen Jahren zu einem Zwangsapparat ausgewachsen war, wie ihn die Geschichte noch niemals gekannt hat.

Im Laufe der Jahre traten unter den Führern, besonders seit Lenins Tode, große Meinungsverschiedenheiten über die politische Taktik im allgemeinen und die Lösung wichtiger Lebensfragen des Staates im besonderen auf. Es entwickelte sich von rechts und links eine wachsende Opposition gegen die herrschende Regierungsclique und die Vormachtstellung der Bürokratie. Diese, direkt angegriffen und in ihrer Existenz bedroht, stellte sich der Regierungsmacht rückhaltlos zur Verfügung und bildete deren zuverlässigste Kampfkader. Allein der Umstand, dass Stalin, als Generalsekretär der Partei, Hunderttausende von persönlich ausgesuchten, angestellten und auf ihn verpflichteten Parteisekretären ins Treffen führen konnte, sicherte ihm ein ungeheures Übergewicht bei allen Entscheidungen. Rückwirkend brachte diese persönliche Machtsteigerung wiederum einen Machtzuwachs der Bürokratie. Mit raschen Schritten und wechselseitigen Überhöhungen verstärkte sich der Einfluss der Staatsfunktionäre und der Staatsspitze auf die Art der Staatsführung und Gesamtpolitik, wie umgekehrt diese wieder auf die Machtsteigerung der Bürokratie zurückwirkte.

So verwandelte sich zusehends die Diktatur des Proletariats in die Diktatur eines politischen Klüngels, schließlich zur Diktatur einer ganz kleinen Gruppe, zuletzt zur Diktatur einer allmächtigen Einzelperson, von der man nie weiß, inwieweit sie selbst nur die Gefangene der Bürokratie ist.

In demselben Umfange und in derselben Progression verlor die Arbeiterdemokratie sowohl in den Organisationen wie in den Staatsgeschäften an Boden und Spielraum. Ihre Bedeutung schwand. Ihr politisches Mitbestimmungsrecht stand nur noch auf dem Papier und wurde schließlich auch da beseitigt. Ihre Autonomie wurde zur Farce. Die Sowjets sanken zu reinen Attrappen herab. Auch die Partei wurde ausgehöhlt, ein leerlaufender Mechanismus. Parteisekretäre und andere Funktionäre durften nicht mehr von den Mitgliedschaften gewählt werden, sondern wurden von den Zentralstellen ernannt. Ebenso wurden die Redaktionen von oben besetzt, die Mandate vergeben. Parolen, Resolutionen, Manifeste wurden nicht mehr von den Genossen aus theoretischen Diskussionen und praktischer Parteiarbeit entwickelt, sondern von den Parteibüros aus dekretiert. Ein straff organisierter Informationsdienst vermittelt klischeehaft die Meinung und Haltung in jeder Frage. Er schreibt auch jede Initiative, Meinungsänderung, Schwenkung, Achsendrehung vor. Und dies so summarisch, mit so bedingungsloser und sturer Gleichschaltung, dass die Agitationsphrasen, Aktionsparolen, Operationstaktiken für den Ural wie für Sachsen, Asturien, Kanada und Feuerland die gleichen sind. Nie gab es einen schlimmeren Helotismus, eine ärgere Züchtung von Kadavergesinnung en masse als hier.

Die Mitglieder der Partei bilden nur noch die Staffage bei Meetings, Abstimmungskomödien und feierlichen Anlässen. Ihre politische Sklavenrolle gestattet ihnen nur noch unbeschränkte Freiheit in der Beweihräucherung der Führer. Stalin, der Vater der Völker, unterscheidet sich hierin in keinem Zuge von Hitler, dem Retter der Nation.

Lenin bekämpft die deutsche Linke

„Das besondere Glück der Bolschewiki in Russland war, dass sie fünfzehn Jahre Zeit hatten, planmäßig und konsequent den Kampf gegen die Menschewiki (d.h. die Opportunisten und Zentristen) und die Linken zu Ende zu führen, also lange vor dem unmittelbaren Kampf der Massen um die Diktatur des Proletariats. In Europa und Amerika müssen wir jetzt dieselbe Arbeit im Eiltempo durchführen.“ So schrieb Lenin in einem Artikel aus dem Jahre 1920.

In demselben Jahre ließ er seine Broschüre Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismuserscheinen, die diesen Kampf einleiten und begründen sollte. Sie trug in ihren ersten Ausgaben noch den äußerst gewagten und anfechtbaren, darum später wohl auch fortgelassenen Untertitel Versuch einer populären Darstellung der marxistischen Strategie und Taktik.

Den direkten Antrieb zu dieser Arbeit bot unausgesprochen in erster Linie der Umstand, dass die bolschewistische Partei in fast drei Jahren nicht imstande gewesen war, ein wirkliches Sowjetsystem aufzubauen. Sie hatte zwar mit Hilfe der ihr wesensfremden Rätebewegung die politische Macht erobert und die proletarische Diktatur proklamiert, war aber in der Stabilisierung ihrer Macht und im Aufbau ihrer Wirtschaft kaum einen Schritt weitergekommen. Vor allem hatte sie nicht vermocht, das Rätesystem, eben weil es ihr wesensfremd war, in den Komplex ihrer staatspolitischen Maßnahmen, die sie für sozialistisch hielt, erfolgreich einzubauen. Mit Sehnsucht hatte sie währenddessen auf die Weltrevolution gehofft, von der sie annahm, dass einzig sie ihre Macht sichern könne. Aber die Wehrevolution unterstand nicht der russischen Diktatur, sie war nicht gekommen.

Da erkannte Lenin, dass es dringend nötig sei, endlich das Weltproletariat für die bolschewistische Theorie und Praxis, Strategie und Taktik zu gewinnen. Es war beunruhigend, dass das Weltproletariat trotz des rauschenden Triumphes, den der Bolschewismus in Russland erzielt hatte, sichtlich geringe Neigung zeigte, sich mit der bolschewistischen Methode zu befreunden. Noch beunruhigender war, dass die Dritte Internationale, einzig zu Propagandazwecken im Interesse Russlands gegründet, so gut wie völlig versagte. Entweder blieben die Massen in der alten Sozialdemokratie oder ihre revolutionäre Aktivität trieb sie zum Anschluss an die in vielen Ländern aufgekommene, besonders aber in Deutschland, Holland und England stark entwickelte Rätebewegung.

Diese Rätebewegung war das, was Lenin für Russland nicht gebrauchen konnte. Sie widerstrebte auch jedem Versuch, sich für eine revolutionäre Erhebung nach bolschewistischem Muster gewinnen zu lassen. Wohl war von Moskau aus eine riesige Agitationsmaschine in Gang gesetzt worden. Aber die radikalen, ultralinken Agitatoren verstanden – wie Lenin selbst bezeugt – ihre Sache besser als die Sendboten der Kommunistischen Partei. Sie waren zwar weniger gut bezahlt, dafür aber ehrlicher überzeugt. So kam es, dass die Kommunistische Partei immer nur ein kleines, schreiendes und sich wild gebärdendes Häuflein zwischen zwei großen Lagern blieb. Rechts von ihm gewann die Sozialdemokratie einen großen Teil des proletarisierten Abfalls der Bourgeoisie, soweit er nicht zu den reaktionären Revancheverbänden lief. Links von ihm zog die Rätebewegung mit wahrhaft magnetischer Kraft alles revolutionäre Element im Proletariat an sich.

Da musste mehr Dampf hinter die bolschewistische Agitation gemacht werden! Vor allem galt es, gegen die Ultralinken kräftig vom Leder zu ziehen! Denn sie hatten, seit man sie aus der Kommunistischen Partei hinausgeworfen und nach bolschewistischer Manier mit Schimpf und Schande bedeckt hatte, bei den Massen nur an Vertrauen und Ansehen gewonnen. Hatte das Rätesystem in Russland versagt – wie konnte sich jetzt eine Konkurrenzbewegung erfrechen, der Welt beweisen zu wollen, dass das Rätsesystem mit der bolschewistischen Methode gewiss unvereinbar, mit einer anderen Methode jedoch sehr wohl durchführbar ist! Also Pech und Schwefel über diese Konkurrenz!

So setzte sich Lenin wutgeladen in den Sessel und schrieb ein geharnischtes Pamphlet. Rasende Angst vor dem Verlust der Macht und glühende Empörung über den Erfolg der Ketzer führten ihm die Feder. Wäre er Stalin gewesen – er hätte sie allesamt als Volksfeinde erster Klasse prozessiert und füsiliert. So verfasste er nur eine Broschüre: Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus, mit dem Untertitel Versuch einer populären Darstellung der marxistischen Strategie und Taktik, der später fortfiel, wohl weil man sich des unlauteren Bluffs schämte. Denn die Berufung auf Marx war nichts als Bluff.

Die Broschüre Lenins war eine polemische Schrift, voller Gift und Galle, aggressiv, grob, von Verdrehungen, Verdächtigungen und Fälschungen strotzend, gehässig und verfolgungssüchtig wie eine päpstliche Bannbulle, ein wahres Herrenfressen für jeden Konterrevolutionär. Aber doch zugleich unter allen bolschewistischen Programmschriften diejenige, die das Wesen des Bolschewismus am schonungslosesten enthüllt, am reinsten darstellt. Der Bolschewismus ganz ohne Maske! Als Hitler in Deutschland 1933 die gesamte sozialistische und kommunistische Literatur unterdrückte, war diese Schrift die einzige, deren Weitererscheinen er gestattete. Er wusste, warum.

Von dem Inhalt der Schrift interessiert hier nicht, was Lenin über die russische Revolution, die Geschichte der Bolschewiki, deren Auseinandersetzungen mit anderen Strömungen der Arbeiterbewegung und Bedingungen der bolschewistischen Erfolge in Russland sagt. Alles ist einseitig dargestellt, anfechtbar und fordert zur Diskussion heraus. Doch dazu ist hier nicht der Platz. Hier sollen nur die Hauptpunkte der bolschewistischen Strategie und Taktik erörtert werden, in denen sich der entscheidende Gegensatz zwischen Bolschewismus und Ultralinken ausdrückt.

Lenin sah den aktuellen Wert der Schrift in der Aufzeigung dieses Gegensatzes und besorgte diese Aufzeigung auf seine Weise. Die Ultralinken haben ihrerseits dazu Stellung genommen und den Gegensatz von ihrem Standpunkt aus beleuchtet. Der bolschewistischen Agitation, die mit ungeheuren materiellen Mitteln arbeitete, war es ein leichtes, die ultralinke Gegenschrift so gut wie völlig aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Es kam ihr nicht auf ehrliche Rede und Gegenrede, sondern auf brutale Mundtotmachung an. Das entsprach ihren damaligen Bedürfnissen.

Aber die Bedürfnisse haben sich geändert. Nicht in Russland, aber in der übrigen Welt. Damals setzte ein erheblicher Teil der Weltöffentlichkeit seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf das bolschewistische Russland. Heute ist für die Überzahl diese Hoffnung verflogen. Sie hat sich dem Faschismus zugewandt. Und da liegt es nahe, Bolschewismus und Faschismus miteinander zu vergleichen. Was aber stellt sich bei diesem Vergleich heraus?

Eine verblüffende Übereinstimmung in den Grundanlagen der Systeme – in der Machtdoktrin, dem Autoritätsprinzip, dem Diktaturapparat, der Gleichschaltungsdynamik, den Gewaltmethoden. Es wird von alledem noch ausführlicher die Rede sein.

Hier soll nur gesagt werden, dass die Schrift Lenins wieder einmal einem aktuellen politischen Bedürfnis entspricht, nämlich dem Bedürfnis sich – mit dem Faschismus im Hintergrund – über das Wesen des Bolschewismus klar zu werden. Dieser Klärung leistete Lenin den wichtigsten Dienst. Indem er die Ultralinken zu erschlagen glaubte, hielt er den Scheinsozialismus des Bolschewismus für gerettet. Indem er aber den Scheinsozialismus rettete, begründete er den Faschismus. Sein von Hitlers Hass verschontes Buch zeugt gegen ihn.

Partei – wann und wozu?

Lenins Polemik gegen Ultralinks konzentriert sich auf vier Punkte: Partei – Gewerkschaften – Parlament – Kompromisse.

Zuerst also die Partei.

Lenin hatte seine Partei, die ursprünglich russische Sozialdemokratie hieß und eine Sektion der Zweiten Internationale bildete, nicht in Russland, sondern in der Emigration, im Ausland aufgebaut. Seit der Spaltung in London 1903 war der bolschewistische Flügel nur noch eine kleine Sekte mit wenig Mitgliedern, deren fähigste die unmittelbare Avantgarde Lenins bildete. Die bolschewistischen Massen standen nicht einmal nur auf dem Papier, sie führten lediglich ein phantastisches Dasein in den revolutionären Kalküls der Führer. Die Avantgarde wurde wissenschaftlich geschult, straff diszipliniert, revolutionär einexerziert, ständig kontrolliert und durch fortgesetzte Purifikation konform gehalten. So war die kleine Partei eine Art Kriegsakademie der revolutionären Vorbereitung. Ihre wichtigsten Erziehungsgrundsätze waren: unbedingte Führerautorität, strengste Zentralisation, eiserne Disziplin, unablässiger Drill zu Gesinnungstüchtigkeit, Kampfeifer und Selbstaufopferung, völliges Aufgehen der Persönlichkeit im Parteiinteresse.

Was Lenin auf diese Weise schuf, war ein Offizierskorps, eine Elite von Intellektuellen, eine Spitze, eine Avantgarde, die, in die Revolution geworfen, deren Führung an sich zu reißen und sich des errungenen Erfolgs zu bemächtigen hatte.

Ob diese Art der Revolutionsvorbereitung richtig oder falsch ist, kann durch logisch-abstrakte Überlegung nicht entschieden werden. Die Frage ist nur dialektisch zu lösen. Also durch Stellung und Beantwortung von Unterfragen: Um welche historische Revolution handelt es sich? Welches Ziel soll die Revolution haben? Geht es um die bürgerliche oder um die proletarische Revolution?

Lenins Führerpartei und Führerideologie war richtig in Russland, wo ,es sich um die verspätete bürgerliche Revolution handelte. Dort hatte die Partei die historische Aufgabe, das Feudalsystem des Zarismus zu stürzen und die bürgerliche Gesellschaft zu schaffen. Je straffer in dieser Revolution der Wille der führenden Partei konzentriert ist, je bewusster und zielgerichteter ihr Zugriff bei der Eroberung und Gestaltung der Macht ist, desto erfolgreicher ist der Prozess der bürgerlichen Staatsbildung, desto aussichtsvoller die Position der proletarischen Klasse in der neuen Staatsordnung.

Was aber für eine bürgerliche Revolution als glückliche Lösung des Revolutionsproblems gilt, kann nicht gleichzeitig auch für die proletarische Revolution als solche gelten. Schon deshalb nicht, weil beide verschiedene Aufgaben haben, mit verschiedenen Bedingungen und Mitteln rechnen müssen, verschiedene Ziele verfolgen.

Nach Lenins Revolutionsmethode bilden die Führer den Kopf der Massen. Sie verkörpern die absolvierte revolutionäre Schulung, den Intellekt als dirigierendes Element, die geistige Überlegenheit im Erfassen der Situation und im Kommando über die vorhandenen Kampfkräfte. Sie sind die studierten Fachleute der Revolution, die Berufsstrategen, die Generäle der Schlacht.

Nun entspricht aber die Scheidung in Kopf und Körper, Geist und Masse, Offizier und Truppen dem Dualismus der Klassengesellschaft, dem charakteristischen Oben und Unten der bürgerlichen Ordnung. Eine Klasse oder Schicht oben – zum Herrschen erzogen, vorbereitet, bestimmt. Und eine andere Klasse oder Schicht unten – im voraus als Gefolgschaft gedacht, zum Gehorsam verpflichtet, einem fremden Willen unterworfen. Aus diesem alten Klassenschema ist die Parteivorstellung Lenins geboren. Seine Partei ist ein verkleinerter Abklatsch der bürgerlichen Wirklichkeit und ihrer Existenzgesetze.

Wer eine bürgerliche Ordnung will, findet in der Scheidung von Führer und Masse, Avantgarde und Proletariat die richtige, der Aufgabe und dem Ziel entsprechende Voraussetzung und Vorbereitung der Revolution. Und er hat die besten Chancen für seine Aktion, je intelligenter, geschulter und überlegener die Führerschaft ist, je williger, gehorsamer sich die Massen den Überlegungen und Weisungen der Führer unterordnen. Lenin wollte die bürgerliche Revolution in Russland, also war seine Avantgarde als Partei richtig am Platz. Als freilich die Revolution ihren Charakter änderte und sich zur proletarischen entwickelte, Lenin jedoch seine Revolutionsmethode nicht änderte, sondern beibehielt, begannen seine strategischen und taktischen Künste zu versagen. Wenn er schließlich doch siegte, dankte er dies nicht seiner Avantgarde, sondern der Rätebewegung, die aus dem Lager der Menschewiki kam. Und als er nach dem Siege die Rätebewegung wieder abdankte, fiel der gesamte Revolutionserfolg unaufhaltsam wieder zurück in die Sphäre der Bürgerlichkeit, deren letzter Erbe und Vollstrecker heute Stalin ist. Der mit lauten Posaunen verkündete Sowjetstaat sieht heute den faschistischen Staaten zum Verwechseln ähnlich, und die sozialistischen Schnörkel und sowjetischen Bluffdekors ändern an seiner wahren Natur nicht das Geringste.

Man muss den Mut haben, es auszusprechen, dass Lenin ein völlig undialektischer Geist war, ganz außerstande, die Dinge und Prozesse ihrem historischen Zusammenhange und in ihrer dialektischen Bedingtheit zu sehen. Sein Denken funktionierte absolut mechanistisch, in starren Gesetzen, in stabilen, genormten Geleisen. Für ihn gab es eine wirklich revolutionäre Partei – die bolschewistische. Nur eine wirkliche Revolution – die russische. Nur eine sichere, erfolgreiche, Revolutionsmethode – die leninistische. Was für Russland galt, hatte auch für Deutschland, Holland, Frankreich, England, Amerika, China, Somliland und Hindustan zu gelten. Was in der bürgerlichen Revolution Russlands richtig gewesen war, musste auch für die proletarische Revolution der ganzen Welt richtig sein. In egozentrischen Kreisen bewegte sich mit monomanischer Eintönigkeit die Dynamik einer einmal gefundenen Formel, unbekümmert um die Unterschiede von Zeit und Raum Material und Milieu, Entwicklungsgrad und Kulturhöhe, Menschen und Ideen. Er war die verkörperte Diktatur des Maschinenzeitalters in der Politik, der Techniker und Monteur der Revolution, der Erfinder Gleichschaltung im sozialen Sein, der stählerne Roboter als Revolutionär. Darum blieb ihm für immer verborgen der tiefe revolutionäre Sinn einer grundsätzlichen Abkehr von der Tradition der Partei. Nie begiff er das Geheimnis der sozialistischen Neuorientierung im Rätesystem, das ihm immer nur gelegentliches Instrument, nie aber Ankergrund der sozialistischen Konzeption überhaupt war. Nie verstand er die Verneinung der Gewalt, des Zwanges, des Terrors der Diktatur als Mittels menschlichen Befreiung. Immer bestand seine politische Welt aus zwei Hemisphären: Autorität, Führung, Gewalt auf der einen, Gehorsam, Kaderbildung und Subordination auf der ändern Seite. Diktatur und Disziplin sind die in seinen Schriften am häufigsten vorkommend Worte.

So ist es begreiflich, dass er fassungslos und voller Empörung vor der ultralinken Bewegung stand, die es wagte, sich seiner Revolutionsstrategie zu widersetzen. So ist es möglich, dass er für ihr Verhalten niemals sachliche Gründe sah, sondern nur Unverstand, Beschränktheit, Gedankenverwirrung, Dummheit, Leichtsinn, Niedertracht, Bosheit und Gemeinheit. So ist es erklärlich, dass seine ärgsten und zügellosesten Wutausbrüche ausgelöst wurden durch jene Forderung, die den Rätekommunisten das Allerselbstverständlichste war: dass endlich einmal die Proletarier ihr eigenes Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen dürfen.

Revolutionierung der Gewerkschaften

Das eigene Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen – das bildet überhaupt das Stichwort aller Fragen, den Angelpunkt aller Gegensätze in den Auffassungen zwischen Bolschewiken und Ultralinken.

Wie in der Parteifrage, so auch in der Gewerkschaftsfrage.

Die Ultralinken waren der Meinung, dass revolutionäre Arbeiter in reaktionären Gewerkschaften nichts mehr zu suchen hätten. Ihre Aufgabe sei, eine eigene Form des kämpferischen Zusammenschlusses zu entwickeln, die sich aus ihrer Zusammenarbeit im Betrieb zu ergeben habe. So traten sie für die Betriebsorganisation ein, die das Fundament der Räteorganisation bilden sollte.

Lenin war über diese Forderung so erbost, dass er sich in Vorwürfen und Wutausbrüchen förmlich überschrie. Alte, erfahrene und erprobte Kämpfer wurden von ihm abgekanzelt, als ob er Feldwebel und sie Rekruten auf einem deutschen Kasernenhofe wären. Natürlich glaubte er sachlich im Recht zu sein. Er war es auch, aber nur in dem Sinne, in dem die bürgerliche Ordnungspolizei der Arbeiterbewegung gegenüber recht hat, die sich polizeiwidrig verhält, indem sie eine eigene, andere Ordnung verlangt.

So laut sein Geschrei und so kräftig seine Stimme, so schwach waren seine Argumente und so unhaltbar sein eigener Standpunkt. Um die Stellung der Ultralinken als falsch und konterrevolutionär zu beweisen, konnte er immer nur wieder mit den Erfahrungen der Bolschewiken in Russland antreten. Aber die Holländer waren keine Russen und die Deutschen hatten es mit der deutschen Revolution zu tun. Darum konnten sie mit Recht die undialektische Arroganz ablehnen, die spezifische Erfahrungen einer bestimmten Epoche in einem bestimmten Land und unter bestimmten Umständen als alleinseligmachende und universell gültige Weisheit dem ganzen Weltall diktatorisch vorschreiben wollte. Und sie konnten sich mit Lächeln über einen Dünkel hinwegsetzen, der die geistige Autarkie so weit trieb, dass er nur dem historischen und revolutionären Wert zuerkannte, was auf seinem Mist gewachsen, in seinem Backtrog geknetet und in seinem Backofen gebacken war.

Dass Gewerkschaften am Anfang der Arbeiterbewegung meist eine große Bedeutung für den Klassenkampf haben und zu starken Stützpunkten der proletarischen Emanzipation werden können, gehört zum ABC der sozialistischen Erfahrung. Darum brauchte es nicht erst von Lenin der aufhorchenden Welt als neueste Entdeckung mitgeteilt zu werden. Außerdem war das nur eine halbe Weisheit. Wer sich nicht bloß mit den Erfahrungen der bolschewistischen Sekte und des rückständigen Russland begnügte, wusste noch einiges mehr. Nämlich, dass die Gewerkschaften, die am Beginn ihrer Laufbahn Vehikel des Fortschritts und Motore der Entwicklung sind, zum Schluss meist zu Bremsen der Entwicklung und Agenturen der Reaktion zu werden pflegen. Hatte nicht Lenin selbst auf die „unbestreitbare Tatsache“ hingewiesen, dass sich im Laufe der Zeit eine Schicht „einer nur gewerkschaftlichen, bornierten, eitlen, verknöcherten, egoistischen, kleinbürgerlichen, imperialistisch gestimmten und vom Imperialismus bestochenen, demoralisierten Arbeiteraristokratien“ herausgebildet habe? Nun also! Gerade diese Korruptionsgilde, dieses Gangsterführertum aber beherrscht die Gewerkschaftsbewegung. Sie trieb besonders während der deutschen Revolution auf Kosten der Massen ihre moderne Piraterie. Von ihr ist die Rede,’ wenn die Ultralinken forderten, dass die Arbeiter keine Gemeinschaft mehr mit ihnen haben sollten.

Lenin wollte absolut nicht begreifen, um was es ging. Er setzte den alten Gewerkschaften mit ihren Lastern die jungen Gewerkschaften Russlands mit ihren Tugenden entgegen. Dort sei vieles schlecht bestellt – meinte er –, hier aber alles gut. Also müsse man sich an das Gute halten. Das heißt: um keusch zu bleiben, darf man die Jungfrauschaft nicht verlieren. Ein ausgezeichnetes Rezept! Ist das nur noch Mangel an dialektischem Denken, oder beginnt da schon die Taschenspielerei?

An das Gute halten war für Lenin gleichbedeutend mit dem Verbleiben in den Gewerkschaften. Denn man muss – nach Lenin – dort arbeiten, wo die Massen sind. Wo aber sind die Massen? In den Gewerkschaftsbüros? In den Zirkeln der Bonzen? In den Geheimsitzungen des Generalrats mit den Kapitalisten hinter verschlossenen Türen? In den Banken, wo die Leader ihre Schecks für geleistete Dienste empfangen? Oder auch nur in den gewöhnlichen Mitgliederversammlungen? Nirgendwo, an keinem dieser Plätze sind die Massen.

Sie sind einzig und allein, vollzählig und ausnahmslos zu finden in ihren Betrieben, ihren Produktionsstätten, ihren Belegschaften, ihren Büros und auf ihren Arbeitsplätzen.

Dort ist in Wirklichkeit der Platz, wo man zu arbeiten hat. Der Kampf ist keine Angelegenheit außerhalb der Fabrik, des Arbeitsverhältnisses, keine Feierabendpflicht und kein Sonntagssport, sondern eine Sache, die mit der Lohnarbeit, dem Arbeitsverhältnis, dem sozialen Schicksal des Arbeiters identisch ist. Arbeitssklave sein und Klassenkampf führen sind in der Idee eins und sollen auch in der Praxis zur Einheit werden.

Wo also ist die Magna Charta der proletarischen Forderungen auszuspielen? Keineswegs in Gewerkschaftsbüros mit Kampfmanifesten, auf Biersälen mit Protestresolutionen, in Straßen und Parks mit Meetings, vor den Toren der Fabriken mit Streiks. Wohl aber in den Betrieben selbst mit der Betriebsorganisation, die auf der Basis des Rätesystems aufgebaut ist. Aufgebaut durch den Kapitalisten selbst, dessen Arbeitsorganisation in den Händen der Arbeiter und nach ihrem bewussten Willen automatisch zur Kampforganisation wird.

In dieser Betriebsorganisation gibt es kein Berufsführertum, keine Scheidung. Von Führer und Masse, keine Rangordnung zwischen Intelligenz und Arbeit, Kopf und Hand, keinen Boden für Egoismus, Parasitentum, Demoralisation und Korruption, Überlegenheitsdünkel, Verknöcherung und Verspießerung. Hier ist jeder, weil Arbeitskollege, zugleich Kampfkollege des anderen, immer im gegenseitigen Kontakt, im wechselseitigen Antrieb des Kampfeifers, unter allgemeiner Kontrolle und im stets lebendigen Bewusstsein der Verantwortung.

Hier haben die Arbeiter ihr Schicksal wirklich in ihrer eigenen Hand.

Aber Lenin wollte von dieser Lösung der Gewerkschaftsfrage nichts wissen. Seine Lösung bestand einzig darin, dass er die Gewerkschaften von innen reformieren oder revolutionieren wollte. Und wie sollte das geschehen? Einfach dadurch, dass sich an die Stelle der sozialdemokratischen Bonzen künftig bolschewistische Bonzen setzen sollten. Das Ei des Kolumbus!

Lenin blieb seinem naiven Glauben, dass es eine schlechte und eine gute Bürokratie gebe, unter allen Umständen treu. Die schlechte wächst auf sozialdemokratischem Boden, die gute auf dem Boden des Bolschewismus. Das ist ein Naturgesetz, beinahe eine metaphysische Prädestination.

Eine zwanzigjährige Erfahrung mit der bolschewistischen Gewerkschaftspolitik hat inzwischen die Torheit und Lächerlichkeit dieses Glaubens praktisch enthüllt. Entsprechend der Direktive Lenins haben die Kommunisten alles darangesetzt, die Revolutionierung der Gewerkschaften durchzuführen. Mit welchem Erfolg? Die Revolutionierung der Gewerkschaften ist völlig misslungen. Der Versuch einer eigenen Gewerkschaftsgründung war ein einziges Fiasko. Denn der revolutionäre Wetteifer zwischen sozialdemokratischen und bolschewistischen Führern entpuppte sich in der Praxis nur als Wetteifer der Korruption.

So wurden die wertvollen Kampfenergien der Arbeiterschaft, anstatt sie gegen den Imperialismus und Faschismus zu werfen, zwanzig Jahre lang in sinn- und aussichtslosen Experimenten verzettelt. So wurde das Vertrauen der Massen in ihr eigenes Können systematisch von der Erprobung zurückgehalten, in seiner Betätigung irregeführt, durch Fehlleistungen entmutigt, um seine Erfolge betrogen.

Schon im Jahre 1918 hat Rosa Luxemburg bitter beklagt, dass „der größte moralische Fonds, den die Arbeiterklasse je gesammelt hat“, von den Bolschewiki „unnütz und nie wiederbringlich geopfert“ wurde. Heute ist diese Klage um das Tausendfache berechtigter.

Doch nicht nur dies. Der Bolschewismus hat durch seine Methoden auch dem Faschismus direkt in die Hände gearbeitet. Jeden Schritt der Massen diktieren, lenken, kontrollieren, korrigieren, jedes Erwachen der Selbständigkeit verhindern und sabotieren, jede Regung des Selbstvertrauens durch künstlich herbeigeführte Misserfolge enttäuschen, schwächen und von weiteren Versuchen abschrecken – das ist der gerade Weg, der in die schließlich widerstandslose Unterwerfung unter die Macht des Faschismus führte.

Der Sieg des Faschismus konnte so leicht sein, weil ihm die Arbeiterführer in Gewerkschaften und Parteien das Menschenmaterial schon so gedrillt, so korrumpiert und so entmannt hatten, dass es eine willige Beute der Unterjochung wurde, durch deren Schule es jahrzehntelang gegangen war.

Unter den Schuldigen muss Lenin als einer der Schuldigsten genannt werden.

Parlamentarismus

In der Frage des Parlamentarismus wiederholt sich klischeehaft die Rolle Lenins als Verteidigers und Erhalters einer überlebten politischen Institution, die zum Hemmschuh der politischen Entwicklung, zur Gefahr für die revolutionäre Emanzipation der proletarischen Massen geworden ist.

Und er wird immer wieder in diese Rolle gedrängt durch den Umstand, dass er eine andere Revolution meint als seine Diskussionspartner und dass er partout nicht einsehen will, dass für die bürgerliche Revolution andere Gesetze gelten als für die proletarische.

Während daher die Ultralinken die Absage an den Parlamentarismus in jeder Form, die Verweigerung der Beteiligung an parlamentarischen Wahlen und die Anerkennung parlamentarischer Beschlüsse vertraten, setzte sich Lenin mit streitbarem Eifer für die Teilnahme am Parlamentarismus, an Wahlen und parlamentarischen Aktionen ein.

Die Ultralinken erklärten den Parlamentarismus für historisch überholt. Er habe seinen Wert als Agitationstribüne längst verloren, bilde einen gefährlichen Korruptionsherd für Führer und Massen, schläfere im besten Falle das politische und revolutionäre Bewusstsein durch die Illusion legaler Reformen ein, bilde in schlimmeren Fällen das Zentrum und Hauptorgan der Gegenrevolution. Deshalb müsse er zerstört, sofern dies aber noch nicht möglich sei, sabotiert und negiert werden, um ihm im Bewusstsein der Massen seine traditionelle Bedeutung zu nehmen, die eine Hinterlassenschaft aus besserer bürgerlicher Vergangenheit sei.

Demgegenüber rettete sich Lenin, um eine Stütze für seine entgegengesetzte Meinung zu finden, in den Kniff, einen Unterschied zu machen zwischen historischem und politischem Überholtsein.

Der Parlamentarismus, so argumentierte er, hat sich historisch überholt, darum ist er prinzipiell abzulehnen. Aber er hat sich noch nicht politisch überholt, darum muss man praktisch mit ihm rechnen, indem man sich an ihm beteiligt, also wählt, ins Parlament geht, parlamentarische Aktionen anerkennt. Welch ein genialer Dreh, der so ziemlich jeder Frage das Doppelgesicht listiger Zwiespältigkeit gestattet.

Da ist der Kapitalismus, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Also machen wir ein Kompromiss mit ihm! Treiben wir Opportunismus! Ihn revolutionär zu bekämpfen, etwa gar ihn abschaffen zu wollen, wäre sinnlos und verkehrt, solange er noch nicht politisch überholt ist.

Da ist die Monarchie, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Solange dies der Fall ist, hat das Proletariat kein Recht, sie abzudanken. Es kann mit ihr diskutieren, über ihr Existenzrecht abstimmen, Mehrheitsbeschlüsse fassen, theoretisch die Republik fordern. Aber nicht mehr! Vielleicht kann es sogar mit der Monarchie paktieren und ihr vor der Republik den Vorzug geben. Lenin würde damit einverstanden sein.

Da ist die Kirche, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Denn die Massen – und das ist für Lenin ein wichtiges Kriterium – gehören ihr noch in großer Mehrheit an. Also ist es revolutionäre Pflicht, sie gewähren zu lassen und mitzumachen. Mögen Freidenker und Atheisten sie bekämpfen, sie handeln töricht und unrevolutionär. Der echte Revolutionär nimmt sein Gebetbuch unter den Arm und geht zur Messe, solange die Kirche noch nicht politisch überholt ist.

Währenddessen kann der Kapitalismus die Knechtung der Massen mit Unterstützung von Monarchie und Kirche so steigern, dass ihnen der revolutionäre Atem ausgeht, alle republikanischen und atheistischen Gelüste schwinden. Das Proletariat hat nur zu warten, bis Kapitalismus, Monarchie und Kirche politisch überholt sind. Worin diese politische Überholung besteht und wie sie erfolgt, ist das Geheimnis von Lenin.

Die Ultralinken meinen, dass man der Schlange den Kopf abschlagen muss, wo immer man ihr begegnet. Lenin aber gebietet, sie leben zu lassen, mit ihr zu politisieren und Parlament zu spielen, bis sie soviel Kraft und Mut gewonnen hat, dass ihr giftiger Biss den Tod ihres einfältigen Feindes herbeiführt.

Immer wieder stoßen wir auf die peinliche Beobachtung, dass Lenin unfähig ist, bürgerliche und proletarische Revolution als zwei historisch völlig verschiedene Kategorien auseinanderzuhalten. Er beruft sich auf die „Erfahrungen einer ganzen Reihe, wenn nicht aller Revolutionen“, die ihm beweisen, „dass es in revolutionären Zeiten besonders nützlich ist, die Massenaktionen außerhalb des reaktionären Parlaments mit der Tätigkeit einer für die Revolution sympathisierenden (oder noch besser: die Revolution direkt unterstützenden) Opposition innerhalb dieses Parlaments zu verbinden“. Aber was für Revolutionen sind das, die Lenin seinen Beweis liefern? Durchweg bürgerliche Revolutionen. Bei diesen ist es selbstverständlich, dass die oppositionellen Gruppen oder Fraktionen die Aktionen der Straße unterstützen oder zu den ihren machen. Denn Parlament und Parteien – siehe England und Frankreich als klassische Beispiele! – sind die Aktionszentren und Hauptinstrumente dieser Revolution. Ganz anders jedoch in der proletarischen Revolution, auf die sich die Forderung der Ultralinken bezieht. Hier ist das Parlament kein Schauplatz, keine Kampfarena, kein Aktionszentrum mehr. Es ist nur noch altes, morsches Gerumpel, das ins Feuer geworfen werden muss.

Lenin kann sich nicht von dem Aberglauben befreien, dass es in revolutionären Epochen auch darum geht, bei Parlamentswahlen große Siege zu erringen und dann im Parlament starke und lungenkräftige Fraktionen zu bilden. Er sieht noch immer einen Erfolg darin, bei Abstimmungen mit allen Tricks und Manövern eine Mehrheit hinter einen Antrag gebracht zu haben. Welch kleinbürgerliche Anschauung und Genügsamkeit!

Die bürgerliche Klasse hat trotz aller Wahlsiege, Fraktionsstärke und Abstimmungserfolge der Linken noch immer Mittel und Wege genug, um den Willen der Reaktion außerhalb des Parlaments ohne oratorische Tiraden und theatralischen Kulissenzauber, ohne Befragung der Deputierten und ohne Rücksicht auf die Abstimmungsresultate zur Geltung zu bringen. In revolutionären Zeiten hat jeder Parlamentssieg aufgehört, ein Sieg, ja auch nur eine Aktion zu sein. Immerhin aber genügt die Tatsache der Existenz des Parlaments auch in revolutionären Situationen einer großen Mehrheit der Bevölkerung als Symbol dafür, dass die Rolle der Bourgeoisie noch nicht ausgespielt, ihre Sache noch nicht ganz verloren ist. Dieser Stimulus ist entscheidend für die Massenpsyche, für die seelische Reaktion der Öffentlichkeit. Denn letzten Endes weiß so ziemlich jedermann, dass hinter dem Parlament als stärkere Waffen für alle Fälle die Kanonen stehen. Nur Lenin scheint das vergessen zu haben.

Er lebt sogar noch in einer Vorstellungswelt, die ihm die Illusion ermöglicht, im Parlament eine Schule der Führer zu sehen, die diese bildet, erprobt und zu revolutionärer Arbeit erzieht. Ihm schwebt dabei immer nur das Parlament der bürgerlichen Frühzeit und die revolutionäre Tätigkeit der bürgerlichen Parlamentsmitglieder vor. Das Parlament der bürgerlichen Verfallsepoche aber ist ein Korruptionssumpf, ein Pestherd, aus dem ununterbrochen der Brodem der Verbürgerlichung, Entartung, Demoralisation, Revolutionsunlust und Revolutionsfeindschaft aufsteigt. Und die Infektion, die von ihm ausgeht, ist eine große Gefahr, wenn nicht direkt für die Massen, so indirekt auf dem Wege über die bestochenen, korrumpierten, eingeschüchterten, um ihre Pfründen besorgten Führer. Es gab z. B. in Deutschland eine Zeit, wo die Reaktion im Reichstag jeden Beschluss durchsetzen konnte durch die Drohung, dass im Weigerungsfalle die Auflösung des Parlaments erfolgen werde. Vor dieser Auflösung und dem damit verbundenen Verlust der Diäten zitterten die Kommunisten in der gleichen schlotternden Angst wie die Sozialdemokraten, so dass sie hemmungslos zu allem Ja und Amen sagten. Hier wäre der Sturm auf die Parlamentsbastille der Anfang einer wahren Befreiung der Massen von dem System einer ständigen moralischen Vergiftung gewesen. Und nur die völlige Beseitigung dieser Kloake hätte noch Rettung bringen können. Aber dies wäre gegen das Revolutions-Reglement Lenins gewesen.

Lenin kam es nicht auf die Erlösung der Menschen aus der Sklaverei ihres Intellekts, der Vergiftung ihres Willens, der Verworrenheit ihres Bewusstseins an. Ihm war nicht die geistige und seelische Umformung des Menschen, seine Befreiung aus der Welt der Selbstentfremdung und den Abgründen seines Unmenschseins die eigentliche, wahre und tiefe Aufgabe der Revolution. Er rechnete wie ein Bürger mit Viel und Weniger, Soll und Haben, Profit und Verlust. Und er stellte sich bei all diesen geschäftsmäßigen Rechenoperationen immer äußere, konkrete Dinge vor: Mitgliedsziffern, Wählerstimmen, Parlamentssessel, Abstimmungserfolge, Siegestrophäen. Der rechnende Bürger als politischer Geschäftsmann, als revolutionärer Spekulant.

Dieser Zug seines Wesens tritt besonders klar in die Erscheinung, wenn man seine Stellung zur Frage des Parlamentarismus in Russland untersucht.

In Deutschland war das Parlament – nach Lenins Meinung – noch nicht politisch überholt. Wie aber stand es damit in Russland? War es dort für die Massen, die erst im Vorhof der kapitalistisch-bürgerlichen Epoche standen, schon überholt? Nein, sagt Lenin, „wir haben uns im September-November 1917 an den Wahlen zum bürgerlichen Parlament, zur Konstituante beteiligt“. Das ist richtig, ja noch mehr: die Bolschewiken haben auch die Einberufung der Konstitutionsversammlung stürmisch gefordert und sogar ein eigenes Wahlrecht ausgearbeitet. Also in jeder Hinsicht ein Bekenntnis zum Parlamentarismus. Als aber die Konstituante tatsächlich gewählt war – was geschah? Sie wurde von denselben Bolschewiken auseinandergetrieben. Und warum? Weil sich inzwischen eine Linksschwenkung der Massen vollzogen hatte, so dass ihre Zusammensetzung der neuen Sachlage nicht mehr entsprach. Die Bolschewiken hatten also mit ihrer Wahlbeteiligung schlecht spekuliert. Das Experiment war schiefgegangen. So schlugen sie, um ihre Position zu retten, das Parlament kaputt. Sie taten genau das, was die Ultralinken auch in Deutschland wollten.

In Deutschland war – nach Lenin – das Parlament politisch noch nicht überholt. Also musste es auch für die Revolutionäre noch beibehalten bleiben. In Russland dagegen war es in einer Nacht, von gestern zu heute, für die Abschaffung reif geworden. Was bei einer politisch hoch entwickelten und geschulten, in der Mehrheit industriellen Arbeiterschaft eine Dummheit, ein Irrtum und ein Verbrechen war, das war bei den zu 80% analphabetischen, feudalistisch verkümmerten und politisch ahnungslosen Bauern und Landproleten eine historisch richtige und revolutionär glorreiche Tat. Welch ein Wunder!

Wenn die Konstituante in ihrer Struktur nicht mehr übereinstimmt mit der politischen Struktur der Bevölkerung, so hätte es nahegelegen neue Wahlen auszuschreiben und eine neue Konstituante wählen zu lassen. Wenigstens wäre dies logisch im Sinne der Leninschen Auffassung von der historischen Existenzberechtigung des Parlamentarismus gewesen. Aber nichts davon! Die Konstituante wurde sofort und ganz und ein für allemal abgeschafft. Denn ein Sowjetstaat brauchte – nach Lenin – keinen Parlamentarismus mehr.

Aber war denn Russland im November 1917 ein Sowjetstaat? Er hatte bestenfalls die Absicht, ein solcher zu werden. Wie sich herausstellte, war diese Absicht einer kühnen, um nicht zu sagen tollkühnen Überspanntheit einer kleinen Führerclique entsprungen, die, um zur Macht zu kommen, mit Glück auf Sowjets spekuliert hatte. In Wirklichkeit trat das Sowjetsystem nie in Erscheinung, es sei denn als Fiasko, als politischer Fehlschlag. So wurde der gewollte Sowjetstaat zum tatsächlichen Parteistaat, zum Bürokratenstaat. Zu einem Staat, der seinem im Grunde bürgerlichen Wesen nach notwendig eines Parlaments bedurfte.

Die russischen Machthaber hätten, als sich das Sowjetsystem als unanwendbar erwies, zum parlamentarischen System übergehen müssen. Dann wären sie dem organischen Bedürfnis der historischen Entwicklung gerecht geworden. Gewiss wäre dies eine Konzession an das bürgerliche Prinzip gewesen. Aber war nicht auch der Weg der ökonomischen und sozialen Entwicklung in Russland mit unzähligen Konzessionen an die Bürgerlichkeit gepflastert? Und wäre das offene Bekenntnis zum Parlamentarismus nicht ehrlicher und anständiger gewesen als die Lüge des Sowjetstaats? Nein – war die Antwort aus Russland. Wir sind für Beibehaltung des Parlamentarismus in Deutschland, obwohl er für die Abschaffung reif ist, und für eine Abschaffung in Russland, obwohl er historisch und praktisch notwendig ist. Wir sind für die Errichtung des Rätesystems in Russland, obwohl ihm hier alle Existenzvoraussetzungen und Funktionsmöglichkeiten fehlen, und für seine Verhinderung in Deutschland, obwohl dort das Parteien- und Parlamentssystem am Ende seiner Epoche angelangt war und auf Ablösung drängte. Welch ein Gestrüpp von Konfusionen und Widersprüchen!

Das viele Gerede Lenins über Dialektik war nur die Kompensation seines tiefsten Mangels. Er war – auch in der Frage des Parlamentarismus – durchaus unfähig zu dialektischem Denken und Handeln. Parlament war ihm Parlament. Im luftleeren Räume, ein abstrakter Begriff, sich immer gleich bei allen Völkern, in allen Zonen, zu allen Zeiten. Wohl weiß er, dass der Parlamentarismus viele Stadien der Entwicklung durchmacht. In seiner Schrift weist er selbst auf die Variabilität des Begriffs Parlament und die Vielfalt seiner konkreten Erscheinungsformen hin. Aber Wissen ist nicht Können. Darum macht er in seiner revolutionären Strategie und Taktik von der Dialektik keinerlei Gebrauch. Und in der Polemik stellt er immer das junge Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Aufschwungs dem alten Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Verfalls gegenüber. Darum ist bei ihm das Parlament ein progressiver Faktor der Revolution, während es in den alten Kapitalländern – und damit in der Politik der Ultralinken – ein retardierendes Element ist, das die proletarische Revolution so rasch als möglich zu beseitigen, oder doch zu negieren und zu sabotieren hat. Statt eine Schule und ein Exerzierplatz für revolutionäre Führer zu sein – wie Lenin meint –, ist es mit seiner vorherrschenden Sozialpolitik ein Nest des Opportunismus und Reformismus, eine Dunkelkammer der Entartung und Korruption. In allen Parteien und Gewerkschaften, allen Revolutionen geht die Welle der Kampferlahmung, der Kompromisse, des Renegatentums und Verrats von den Parlamentariern, Mandatsinhabern, Pfründenbesitzern,: Würdenträgern, Parvenüs und Parasiten der Arbeiterbewegung aus.

Lenin wollte, dass ehrgeizige und auf Erfolg gedrillte Führer auch noch im Sumpf, in den Pestgebieten revolutionäre Eroberungen machen sollten, ungeachtet der Opfer, mit denen diese bezahlt werden müssen.

Die Ultralinken hingegen wollten, dass die Sümpfe rechtzeitig trockengelegt werden, damit die Menschen gesund, befreit von allem Grind und Aussatz der Vergangenheit, als neue Menschen in eine neue Zeit eingehen können.

Kompromisspolitik

Die deutschen Sozialdemokraten hatten im Weltkrieg die Sache der Arbeiterbewegung schändlich verraten. Dann waren sie – wider Willen – zu Erben der deutschen Revolution geworden. Aber sie verstanden weder den Sinn dieser Revolution, noch billigten sie ihre Ziele. Ihr tief bürgerliches Wesen, das sich in entscheidenden Stunden von seinen demagogischen Verhüllungen befreit hatte, drängte sie wieder auf den opportunistischen Weg. Das war der Weg des Burgfriedens, der Verständigung von Klasse zu Klasse, der Volksfront mit Demokraten und Klerikalen. Die Scheidelinie zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde in die bürgerliche Klasse selbst, zwischen Klein- und Großbürgertum verlegt. Das Proletariat hatte keine eigentliche Vertretung mehr. Der Klassenkampf wurde nur noch in Scheingefechten geführt, war praktisch liquidiert. Gegen diesen neuen, offenen Verrat protestierten die Ultralinken mit der Forderung: Keine Kompromisse mit der Konterrevolution! Zurück zur klaren Linie des Klassenkampfes!

Es handelte sich also um einen ganz konkreten Fall, um eine politische Stellungnahme zu einer bestimmten Frage in einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Verhältnissen, die in Deutschland zur Entscheidung drängten. Nicht um ein Programm für die Ewigkeit, für das Universum, für die Geschichte aller zukünftigen Revolutionen. Nein, einfach um die Haltung der revolutionären Vorhut der deutschen Arbeiterklasse im Jahre 1919 gegenüber der sozialdemokratischen Kompromisspolitik. Die Angelegenheit war geradezu ein dialektischer Schulfall.

Aber Lenin, unfähig, sie als solchen zu erkennen, erhob die nur dialektisch zu beantwortende Frage zu einer Generalfrage und machte aus der nur dialektisch zu behandelnden Forderung eine abstrakte Kardinalforderung.

Seiner alten polemischen Methode treu bleibend, stellte er dem Problem der proletarischen Revolution in Deutschland als Korrektiv die Erfahrungen der bürgerlichen Revolution in Russland gegenüber.

So schrieb er: „Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben bis zum Sturze des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d.h. sie haben mit ihnen eine Menge praktischer Kompromisse abgeschlossen… gleichzeitig es aber verstanden, einen unaufhörlichen, rücksichtslosen ideologischen und politischen Kampf gegen den bürgerlichen Liberalismus und gegen die geringsten Äußerungen seines Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung zu fuhren. Die Bolschewik! sind stets dieser Politik treu geblieben.“

Also: im Kampfe gegen den Zarismus gingen Sozialisten und Liberale mehr oder weniger Hand in Hand. Denn beide wollten den Sturz des Zarismus. Das ist eine taktische Selbstverständlichkeit. Was aber hat das mit der Forderung der Ultralinken in Deutschland zu tun? Wollten etwa die Demokraten und Klerikalen auch den Sturz des Kapitalismus? Nicht einmal die Sozialdemokratie wollte ihn. Und da sollten die Ultralinken, die im Gegensatz zu ihnen den Sturz des Kapitalismus wollten, das Kompromiss der drei konterrevolutionären Parteien billigen und unterstützen? Nur deshalb, weil für die Bolschewiken unter ganz anderen Bedingungen und in ganz anderen Situationen gelegentliche Kompromisse mit Liberalen möglich waren? Diese Zumutung ist wirklich zu dumm, als dass sie noch eines Wortes der Widerlegung wert wäre.

Nicht besser ist es um die anderen Argumente Lenins bestellt. „Nach der ersten sozialistischen Revolution des Proletariats“, schreibt er, „nach dem Sturz der Bourgeoisie in einem Lande, bleibt das Proletariat dieses Landes lange Zeit schwächer als die Bourgeoisie, schon allein wegen der ungeheuren internationalen Verbindungen der Bourgeoisie, dann aber auch wegen der elementar und ständig vor sich gehenden Wiederherstellung, Wiederbelebung des Kapitalismus und der Bourgeoisie durch die kleinen Warenerzeuger des Landes, das die Bourgeoisie gestürzt hat. Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt, aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten Riss zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen, modernen Sozialismus überhaupt begriffen.

Lenin bespricht hier die Kompromiss-Taktik nach dem Siege der Revolution. Er hat dabei eine siegreiche Partei vor Augen, die die Revolution wollte, für sie kämpfte und alles daransetzte, um den Sieg zu erringen. So mochte das in Russland gewesen sein. Aber in Deutschland war es ganz anders.

In Deutschland war die Sozialdemokratie von Anfang an Gegner der Revolution. Sie widersetzte sich ihr mit allen Mitteln, bremste sie ab, wo sie konnte, warf die bürgerliche Soldateska gegen sie und erstickte sie in Blut. Die Sozialdemokratie war in jeder Minute Verbündete, Helfershelferin und Spießgesellin der Konterrevolution. Und sie krönte ihre revolutionsfeindliche Haltung durch ein Bündnis mit bürgerlichen Reaktionsparteien, um gemeinsam mit ihnen zu Nutz und Frommen der Konterrevolution zu regieren.

Wer auch nur einen Deut von Marxismus versteht, wird begreifen, dass die Billigung eines solchen Kompromisses die Billigung des sozialdemokratischen Verrats in sich schließt. Und dass jede Befürwortung eines solchen Kompromisses auf die Unterstützung der Konterrevolution hinausläuft. Diese Konsequenz und Wirkung hätte die Kompromissformel Lenins damals in Deutschland gehabt. Darum lehnten die Ultralinken sie ab. Darum riefen sie den Unabhängigen, den Kommunisten, den revolutionären Massen zu: Hände weg von Kompromissen! Es gibt in Deutschland keine Parteien, die im Sinne der Revolution für euch bündnisfähig wären! Ihre Losung war die einzige, die dem Gebot der Revolution in dieser Situation gerecht wurde.

So löst sich die Polemik Lenins in eitel Dunst auf. Seine Schimpferei und Polterei hat keinerlei Bezug zur Wirklichkeit. Er rennt gegen politische Gegner an, die nur in seinen Halluzinationen existieren. Er macht sich lächerlich durch einen Kampf gegen Windmühlen.

Soweit Kompromisse nötig sind, um die Revolution vorwärtszutreiben, haben auch die Ultralinken nichts gegen sie einzuwenden. Aber sie bekämpfen Kompromisse mit Konterrevolutionären, die geschlossen werden, um die Revolution zu verhindern, zu bekämpfen oder um ihren Sieg zu prellen. So war die Sachlage in Deutschland 1919. Sie standen mit beiden Füßen auf dem Boden der Revolution. Lenin aber stand jenseits der Barrikade.

Liest man heute das Kapitel der Schrift Lenins über die Kompromisse noch einmal durch und zieht man Vergleiche zwischen den polemischen Ergüssen Lenins und den späteren Resultaten der leninistischen Kompromisspolitik Stalins, so findet man keine Todsünde der bolschewistischen Strategie, die unter Stalin nicht bolschewistische Praxis geworden wäre.

Da ist der Vertrag von Versailles, für dessen Unterzeichnung die Ultralinken nach Lenins Meinung hätten eintreten müssen – während später Stalins Vasallen laut und kämpferisch an der Seite der Hitlergarden gegen die Unterzeichnung protestierten.

Da ist der Nationalbolschewismus Laufenbergs und Wolffheims, nach Lenin eine „himmelschreiende Absurdität“ – während später Radek unter Stalins Segen den Nazispion Schlageter als Nationalhelden feierte und der Nationalbolschewismus in der russischen Politik wahre Orgien aufführte.

Da ist der Völkerbund, nach Lenin eine räuberische Gesellschaft von Ausbeutern und Banditen, mit der das Proletariat keine Gemeinschaft haben dürfe – während später Stalin gemäß der Kompromisstaktik Lenins um Sitz und Stimme in dieser honetten Gesellschaft bat, und sich bis zu seinem Ausschluss wohl darin fühlte.

Da ist die Kategorie Volk, nach Lenin eine sträfliche Konzession an die konterrevolutionäre Ideologie des Bürgertums – während später ein Dimitroff auf Stalins Befehl eine waschechte Kompromisspolitik in Gestalt der Volksfront-Bewegung aufzog.

Da ist – doch wozu noch weitere Beispiele und Gegenbeispiele dafür, zu welchen Verwirrungen und Verirrungen, Widersprüchen und Unbegreiflichkeiten, reaktionären Konsequenzen und Niederlagen die unselige Kompromisspolitik Lenins geführt hat. Ihr Ende war überall: Fiasko, Blamage, Verlust des revolutionären Prestiges, Fahnenflucht der Massen, volle politische Katastrophe.

Nicht nur die russische, sondern auch die deutsche Geschichte hat den Ultralinken im vollen Umfange recht gegeben. Dort mit Stalin, hier mit Hitler. Und die Geschichte hat aus der zeitbedingten Zweckforderung der Ultralinken von damals eine politische Standardforderung für die Revolutionäre von heute gemacht. Jeder Kompromiss zwischen Revolutionären und Konterrevolutionären schwächt nach allen historischen Erfahrungen im Zuge der proletarischen Revolution nicht die Konterrevolutionäre, sondern die Revolutionäre.

Jede Schwächung der Revolution durch ein Kompromiss endet aber zwangsläufig im vorzeitigen Zusammenbruch oder im schließlichen Bankrott der revolutionären Bewegung.

Jede Kompromisspolitik in der proletarischen Revolution führt daher in die unabwendbare Niederlage.

Was die deutsche Sozialdemokratie als Kompromiss begann, endete beim Faschismus. Was Lenin mit seiner Kompromisstheorie begann, endete praktisch beim Stalinismus.

Da wie dort Konterrevolution. Kompromiss und Konterrevolution sind heute Anfang und Ende eines politischen Synonyms.

Lenin schoss mit großen Kanonen gegen die Ultralinken.

Heute treffen sie die deutsche Sozialdemokratie, den Stalinismus, die bolschewistische Partei in der ganzen Welt.

Und ihr letzter Schuss trifft Lenin selbst.

Bolschewistische Außenpolitik

Nichts könnte diese für den Bolschewismus vernichtende Tatsache mit stärkerer Beweiskraft illustrieren als die nachrevolutionäre russische Außenpolitik, deren Weg von Anfang bis Ende mit Kompromissen gepflastert ist.

Wie bei den Bolschewiken meist, so war auch hier der theoretische Ausgangspunkt richtig, die Praxis jedoch die Verneinung der Theorie.

Im ersten Weltkrieg formulierte Lenin das Antikriegs- und Revolutionsprogramm der Bolschewiken mit folgenden Hauptgesichtspunkten: Der Weltkrieg ist ein imperialistischer Krieg. Er kann nur durch die antiimperialistische Revolution in allen Ländern beendet werden. In Russland ist der Zarismus durch eine radikal-bürgerliche Revolution der Arbeiter und Bauern zu stürzen. Diese Revolution kann die Weltrevolution auslösen. Dazu ist nötig, dass in Europa das Proletariat zur sozialen Revolution, die Bauernmasse in Asien zu einer national-bürgerlichen Revolution kommt. Das Industrieproletariat der Welt muss mit den unterdrückten Nationen im Kampf um die Befreiung zusammenwirken.

Seinen ersten praktischen Niederschlag fand dieses Programm 1917 im Kampfe gegen Kerenski in folgenden Forderungen: Kein Separatfriede mit Deutschland, revolutionäre Beendigung des Kriegs an allen Fronten, Bekämpfung aller Annektionen, Selbstbestimmungsrecht aller Völker bis zur Loslösung von Russland.

Zur Macht gelangt, erhoben die Bolschewiki dieses Programm durch Dekret vom 8. November 1917 zum Friedensprogramm, um mit allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen zu einem „gerechten und demokratischen Frieden“ und zum „Hebelpunkt der Weltrevolution“ zu gelangen.

Doch schon dieser erste Akt der bolschewistischen Außenpolitik führte zu einer Niederlage. Erstens kam es nicht zu einer revolutionären Waffenstreikbewegung an allen Fronten. Zweitens musste Russland selbst mit Deutschland einen Separatfrieden schließen, der härter war als der spätere Vertrag von Versailles für Deutschland. Drittens führte die Abtrennung der Randstaaten von Russland zur Niederschlagung der revolutionären Bewegung in diesen Staaten. Viertens wurde dadurch das Aufmarschgelände für die konterrevolutionäre Invasion der imperialistischen Mächte und den Bürgerkrieg in Russland geschaffen. Fünftens erfüllten sich die Hoffnungen auf eine Weltrevolution nicht. Also ein außenpolitisches Fiasko auf der ganzen Linie. Ein zweites folgte bald.

Die bolschewistische Regierung hatte sofort alle zaristischen Verträge annulliert und die Erfüllung aller daraus entstandenen Verpflichtungen verweigert. Folgerichtig lehnte sie daher auch die Rückzahlung der zaristischen und kerenskischen Kriegsschulden an die Westmächte ab. Da sie sich aber mit ihrer Weigerung auf keine sichere Macht stützen konnte, erklärte sie sich im Oktober 1918 und im Januar 1919 zu Verhandlungen über die Schuldenfrage, im Februar 1919 zu Gegenleistungen in Form von Konzessionen an die Gläubigermächte bereit.

Im März 1919 erfolgte die Gründung der III. Internationale. Darin sahen die reaktionären Weltmächte eine Provokation, die sie zu neuer feindlicher Aktion anspornte. Die Bolschewiki antworteten mit verdoppelter Revolutionspropaganda, flüchteten aber praktisch in den Opportunismus, den sie bereits vorbereitet hatten, indem sie z. B. in Deutschland die revolutionären Massen wieder in die alten Parteien, Gewerkschaften und Parlamente zurücktrieben. Im Zusammenhang damit verwandelte sich die Politik der Komintern, die als eine Politik des revolutionären Antriebs gedacht war, in eine Politik des Zauderns, des Aufschubs und schließlich des Verzichts. Von hier an ist der konterrevolutionäre Charakter der russischen Außenpolitik, die sich nunmehr ganz auf der Linie von Kompromissen und Rückzügen bewegt, offen sichtbar.

Im Innern war diese Schwenkung begleitet von dem Massaker in Kronstadt, wo die Avantgarde der Revolution gegen die Beseitigung der Räte und den Terror der bolschewistischen Machthaber rebellierte, den blutigen Metzeleien gegen die Machnowbewegung, die den Bauern zur Erfüllung der ihnen gemachten Versprechungen verhelfen wollte, und dem völligen Zusammenbruch des Kriegskommunismus, der als ehrlicher Versuch zu einer sozialistischen Wirtschaft ins Werk gesetzt worden war. Dafür tauschte die Außenpolitik nationale Erfolge ein: die Sowjetregierung, die eben aufhörte, eine solche zu sein, wurde von Estland, Lettland, Litauen und Finnland anerkannt. Lenin proklamierte das „direkte Bündnis mit den kleinen Staaten“ und stellte befriedigt fest, dass „die Bolschewiki die schwankende Bourgeoisie fortgeschrittener Länder für sich gewonnen“ hätte – eine schöne Selbsttäuschung, die er dringend brauchte. Denn der revolutionäre Kampf versackte immer mehr in dem System der Verständigung, des Kompromisses, der willigen Einschaltung in den diplomatischen Schacher der Bourgeoismächte. Die Revolution verblasste zur ideologischen Tradition. Die Praxis ging resolut auf eine Politik der Bündnisse zu, um zu einem Frieden mit „den Todfeinden des Proletariats“ zu gelangen. Der Verzicht auf unmittelbare revolutionäre Weltpolitik wurde nicht mehr verschleiert.

Indem seit dem zweiten Kongress der III. Internationale die Sache Sowjetrusslands zur Sache der Internationale erhoben war, wurde die Komintern zum offiziellen Organ der bolschewistischen Außenpolitik. Damit wurde die Zerstörung des revolutionären Impulses durch die Moskauer Führung aus einer Sache Russlands zu einer Sache der ganzen Welt. Von jetzt an ist das Bestreben der Komintern unverkennbar darauf gerichtet, unter keinen Umständen in irgendwelchem Lande der Welt eine revolutionäre Bewegung aufkommen und siegreich werden zu lassen.

In den nächsten Jahren hatte Russland die nun üblichen diplomatischen Erfolge: Neutralitäts- und Nichtangriffspakte mit Persien, Afghanistan und der Türkei, Protektorat über die Mongolei, Handelsabkommen mit England, Deutschland, Norwegen, Österreich, Italien und der Tschechoslowakei, dazu die entsprechenden staatlichen Anerkennungen. Russland, das eben erst die gewaltsame Annektion von Georgien mit seiner revolutionären Pflicht zur Bolschewisierung des Landes entschuldigt hatte, versprach in allen diesen Fällen feierlich, „sich jeder gegen die Regierung, die staatlichen oder anderen öffentlichen Einrichtungen oder gegen das soziale System des ändern Vertragsteiles gerichteten Propaganda zu enthalten und sich an politischen und sozialen Streitigkeiten, die in diesem Staate entstehen könnten, nicht zu beteiligen“. England verlangte und erhielt noch das besondere Versprechen, „weder mit Geldmitteln noch sonstiger Form Personen, Körperschaften oder Agenturen zu unterstützen, deren Ziel es ist, in irgendeinem Teil des britischen Empire, eingeschlossen alle Protektorate, protektorierten Staaten und Territorien mit britischem Mandat, Unzufriedenheit zu verbreiten oder Aufstände anzustiften, und allen ihren Offizieren und Beamten die vollständige und dauernde Beobachtung dieser Bedingungen einzuprägen“. So wurde die revolutionäre Tätigkeit abgeschworen zugunsten diplomatischer Beziehungen, bürgerlicher Honorigkeit und politischer Reputation.

Unter dem Rechtskurs dieser Außenpolitik ging die politische Entwicklung im gesamten westeuropäischen Proletariat geraden Wegs auf einen Opportunismus zu, der sich von der Haltung der Sozialdemokratie nicht mehr unterschied. Vor einem deutschen Gericht erklärte um diese Zeit der des Hochverrats angeklagte kommunistische Parteichef Brandler, dass er die Diktatur des Proletariats auf der Grundlage der Verfassung von Weimar verwirklichen wolle.

Die Preisgabe der revolutionären Prinzipien bewährte sich: sie verschaffte den Sowjetpolitikern endlich den erstrebten Zugang zu den Zirkeln der internationalen Großmachtspolitik mit ihren Wirtschaftskonferenzen, Aufbauplänen, Kapitalinvestitionen, Weltwirtschaftszielen. Russland wurde zugelassen, man nahm keinen Anstoß mehr an dem Ludergeruch seiner Vergangenheit. Und sofort suchte es die kapitalistischen Unternehmungen für seinen Aufbau zu gewinnen. Es erklärte sich bereit, „freiwillig seine Grenzen für internationale Transitwege zu öffnen, Millionen Hektar fruchtbarster Erde der Kultur zur Verfügung zu stellen, Wald-, Steinkohlen- und Erzkonzessionen zu vergeben, für die Zusammenarbeit zwischen Europas Industrie und Landwirtschaft und derjenigen Sibiriens zu sorgen und den ausländischen Unternehmern jede Art Garantie und eventuell Schadensersatz zu leisten.“ Als es mit diesem Angebot nicht den gewünschten Erfolg hatte, überraschte es auf der Konferenz in Genua die Welt durch einen Sonderpakt mit Deutschland, den Rapallo-Vertrag, mit dem es in das Anti-Versailles-Bündnis eintrat und dem deutschen Kapital die Tür nach Russland öffnete. Damit, machte es sich zum heimlichen Verbündeten der deutschen Aufrüstungspolitik gegen Frankreich, der deutschen Revanchebewegung, der faschistischen Befreiungs-Kampagne. Nicht nur, dass in Russland geheim Giftgase und Flugzeuge für die deutsche Armee hergestellt wurden, es wurde auch ein Militärbündnis zwischen der Reichswehr und der Roten Armee ernstlich in Erwägung gezogen. Russland war Partner und Helfershelfer des deutschen Imperialismus geworden.

Die kommunistischen Parteien in Deutschland und Frankreich warfen nun auf Befehl von Moskau alle Masken ab. Deutschland wurde als „national unterdrücktes Land“ erklärt, das deutsche Proletariat hatte sich auf einen „nationalen Befreiungskrieg“ vorzubereiten, gegen den Vertrag von Versailles wurde gemeinsam mit den nationalen Verbänden kräftig vom Leder gezogen, gegen die Ruhrbesetzung durch Frankreich wurde eine „nationale Abwehr“ organisiert, Radek pries den Nazispitzel Schlageter als „nationalen Helden“, Sozialdemokratie und Kommunisten fanden sich in der „Einheitsfront“ und in Koalitionsregierungen, der Nationalbolschewismus feierte Orgien. Wenn die Bedingungen für eine Verbrüderung zwischen Hitler und Stalin damals noch nicht gegeben waren, so lag dies nicht an Stalin, der damals noch Lenin hieß.

Als die Befreiungs- und Putschabsichten dieses kuriosen Nationalismus scheiterten, zog sich Russland auf einen Pazifismus zurück, der künftig weder durch kriegerische noch durch revolutionäre Aktionen gestört sein wollte. Es kam die Ära der Nichtangriffspakte, die „demokratisch-pazifistische Phase“, die Politik des „.wahren Friedens“, der systematischen Niederhaltung jeder revolutionären Bewegung. Die englischen Bergarbeiter, durch das anglo-russische Komitee um die Hilfe eines Generalstreiks gebracht, verbluteten nach neunmonatigem Kampfe als Opfer dieses verräterischen Defätismus. Und die chinesische Revolution ging nach furchtbaren Niederlagen, die die Komintern provoziert hatte, in den Massenabschlachtungen Tschiang-Kai-Tscheks, der heute Freund und Bruder Stalins ist, nach dem Beispiel der Pariser Kommune grausam zugrunde.

Der Verrat lohnte sich. Es gelang Russland endlich, Zugang zu jenen Veranstaltungen zu finden, bei denen die Taschenspieler, Akrobaten und Jongleure der bürgerlichen Politik ihre volksbetrügerischen Künste spielen lassen. So wurde es zu den diversen Abrüstungskonferenzen in Genf zugelassen, wo es eine höchst zweideutige Rolle spielte. Um so eindeutiger trat in der Folgezeit sein Bestreben, um jeden Preis mit in das imperialistisch-diplomatische Geschäft zu kommen, zutage. Erfolge stellten sich ein. Handelsverträge mit England und Italien, Teilnahme an Agrar- und Exportkonferenzen, Erweiterung des deutschen Russengeschäfts waren die Hauptbeute, die man heimbrachte. Die bürgerliche Welt begann zu begreifen, dass auch für die roten Revolutionäre Gesinnung und Geschäft zwei verschiedene Dinge waren, die nichts miteinander zu tun hatten – wie man sagte. In Wirklichkeit freilich ging die Gesinnung im Geschäft auf. Das zeigte sich besonders deutlich, als die an Deutschland erteilten großen Aufträge die bankrotte Kapitalswirtschaft in der Weltkrise noch einmal auf die Beine brachte und im letzten Moment vor dem Zusammenbruch rettete. Erst das Geschäft und dann -noch lange nicht – die Revolution!

Wirtschaftspakte, Neutralitätspakte, Nichtangriffspakte, Verständigungspakte, Gemeinschaftspakte, Gegenseitigkeitspakte, Zusammenarbeitspakte – das war von nun an der ausschließliche Inhalt des außenpolitischen Programms. Der Faschismus tobte und wetterte gegen den Bolschewismus. Die Kerker füllten sich von kommunistischen Hochverrätern und Verbrechens. Hitler drohte, dass er dereinst „Köpfe rollen lassen“ werde. Unterdessen saßen die Vertreter Russlands mit den halb- oder ganzfaschistischen Vertretern Deutschlands am Verhandlungstisch, feierten Bankette und tauschten Verbrüderungstelegramme aus.

Ihre Krönung fand diese Friedensdiplomatie und Politik der Aussöhnung mit dem Kapitalismus in dem großen Wirtschaftspakt, der ein paar Tage nach Hitlers Machtantritt mit Deutschland abgeschlossen wurde, und dem Beitritt Russlands zum Völkerbund. Damit war der definitive und offizielle Eintritt in das Allerheiligste der kapitalistischen Welt erfolgt.

Auch dem Faschismus war die Bruderhand entgegengestreckt. Damit Hitler seine Kriegsaufrüstung durchführen konnte, lieferte ihm Russland in wachsenden Mengen das für die Kriegsstahlproduktion erforderliche Manganerz. Die Schimpfkanonaden Hitlers in Nürnberg gegen die „rote Banditenregierung“ waren nur Ablenkungsmanöver, während sich hinter den Kulissen die Auguren lächelnd begegneten. Zur vollen Harmonie zwischen Berlin und Moskau fehlte nur noch ein Militär- und Kriegsbündnis gegen die sozialistische Revolution.

Der Tag sollte kommen, an dem auch dieses zur historischen Wahrheit werden sollte.

[…]

[Ausblick]

[Die Konsequenzen lassen] sich durch folgende Leitsätze skizzieren:

Der Erste Weltkrieg versetzte dem Privatkapitalismus im Prinzip den Todesstoß. Aber weder Sieger noch Besiegte wurden sich dieser Tatsache bewusst. Darum versäumte die Bourgeoisie die Schaffung eines internationalen Föderativ-Kollektivismus auf monopolkapitalistischer Grundlage, und die Sozialisten versäumten die Nationalisierung oder Sozialisierung des Privateigentums und die entsprechende Umformung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Die Weltkrise enthüllte die Fehler dieser Versäumnisse und stellte den Kapitalismus als System vor die Entscheidung: Sein oder Nichtsein.

Wieder war das Proletariat infolge der ideologischen, organisatorischen, strategischen und taktischen Rückständigkeit seines Klassenkampfes nicht imstande, die Krise durch eine Revolution zu lösen.

Da sprang der Faschismus in die Bresche, um eine Ersatzlösung mit modifizierten kapitalistischen Mitteln zugunsten der Bourgeoisie zu versuchen.

Er setzte an die Stelle der unrentabel gewordenen Produktion für den Konsumbedarf die Produktion für Rüstungs- und Kriegsbedarf und machte anstelle der zivilen, in ihrer Kaufkraft geschwächten Konsumentenmassen den Staat mit seiner omnipotenten Kaufkraft und Zahlungsfähigkeit zum einzigen Konsumenten. Die Folge war eine staatlich im größten Stil subventionierte Konjunktur, die weiterhin den Staat zum Auftraggeber, Rohstofflieferanten, Investitionskapitalisten, Wirtschaftsleiter und Disponenten über den Kapitalprofit machte. Diese Entwicklung trieb automatisch zur Großraumwirtschaft, zur Quoten- und Zonenpolitik, zur Standardisierung und Planwirtschaft, zur schrankenlosen Ausbeutung der Produzenten- wie Konsumentenschaft, zum Ultraimperialismus und schließlich zum Krieg.

Träger dieser Umformung und Umschichtung wurde der Faschismus mit der unbeschränkten Verfügungsgewalt über den Staat, also mit Gleichschaltung, Terror, Diktatur, totalitärer Dynamik, Militarismus und ideologischer Staatsvergottung. Die Bürokratie regiert. Alles wird Befehl, Gebot, Leitung, Vorschrift, Kontrolle, Überwachung, Disziplin. Die Arbeitslosigkeit ist verschwunden. Die Krise scheint gelöst. Das Ich der alten Gesellschaft weicht mehr und mehr der Zwangsgemeinschaft. Das Privatleben schrumpft ein. Der Mensch wird ein öffentliches Herden- und Maschinenwesen. Die ganze Gesellschaft ist technisiert, rationalisiert, mechanisiert, standardisiert, normiert. Auch das Denken, die Mentalität, der Wille, die Phantasie, die Sexualität, die Beziehungen zu Kunst, Sport und Natur, die Vergnügungen und Wunschziele erliegen dem Gesetz der Vermassung, die von oben dirigiert und von unten als unabwendbares Schicksal erlebt wird.

Aber die Lösung der Krise ist nur scheinbar. Sie bedarf, um wirklich zu sein, der permanenten Rüstungs- und Kriegsindustrie, ja des Krieges selbst. Der Krieg jedoch sprengt das faschistische System, enthüllt seine falsche Mechanik, erhebt die Massen zu Trägern und Vollstreckern der Gewalt, zeigt der Bourgeoisie ihre längst vollzogene Expropriierung auf, vereint alle Opfer des Systems zur Mehrheit der Gegner des Systems. Der Krieg ist das Ende des Faschismus und damit das Ende der kapitalistischen Epoche. Daher bei ständiger Rüstung zum Krieg zugleich das ständige Ausweichen vor dem Krieg. Gelingt das Ausweichen oder kommt eine Verständigung, ein Frieden mit den Gegnern zustande, so hört die Rüstungs- und Kriegsindustrie auf. Das aber bedeutet, dass sofort die Konjunktur zu Ende und die Krise wieder da ist. Es offenbart sich die Scheinlösung der Krise, der Schwindel des Faschismus, sein Bankrott als Retter des Kapitalismus. Der Monopolismus steht vor seinem Zusammenbruch, ist zum Untergang verurteilt.

Aber auch die Demokraten als Gegner des Faschismus sind mit ihrem System zu Ende. Denn auch ihr Privatkapitalismus ist bankrott. Auch ihnen bleibt als einzige Möglichkeit der Weiterentwicklung nur der Staatskapitalismus. Und dieser kann sich nur in der Macht halten mit den Methoden des Faschismus. Diese Methoden aber sind von der Geschichte bereits ad absurdum geführt.

Während in Deutschland sich diese Entwicklung abspielte und ganz Europa in das Chaos zu stürzen im Begriff ist, schuf in Russland der Bolschewismus ohne Privateigentum und Privatkapitalismus durch ein großzügiges Experiment eine Staatswirtschaft, die als Sozialismus gedacht war, aber als Staatskapitalismus endete. In Russland war die bürgerliche Revolution mit der sozialen Revolution zusammengefallen, ein Umstand, der die Bolschewiken zu der trügerischen Hoffnung verleitete, den Sozialismus schaffen zu können. Da aber im bolschewistischen Parteisystem kein Raum und in der russischen Wirklichkeit keine Möglichkeit zur Anwendung des Rätesystems ist, das Rätesystem aber das einzige Instrument zum Aufbau des Sozialismus bildet, gingen alle Errungenschaften der sozialen Revolution wieder verloren. Es blieb nur der tragische und verhängnisvolle Irrtum, dass die Bolschewiken nach wie vor ihre Revolution für eine soziale Revolution hielten und aus ihr die Gesetze für die soziale Revolution in aller Welt abzuleiten suchten. Das wurde zu einer Quelle für tausenderlei Irrtümer, Missverständnisse, Fehlschläge, Konflikte, Katastrophen, zuletzt zur Quelle des Stalinismus, des Verrats am Sozialismus, des Paktes mit dem Faschismus, des russischen Imperialismus und des schließlichen Untergangs der bolschewistischen Diktaturherrschaft, der als Folge des Zweiten Weltkriegs noch bevorsteht. Der Bolschewismus, ein Staatskapitalismus und eine Bürokratendiktatur wie der Faschismus, wird und muss das gleiche Schicksal haben wie dieser.

Auch die demokratischen Mächte werden im Bankrott enden, wenn sie versuchen, ihren etwaigen Sieg im Zweiten Weltkrieg dazu zu benutzen, das alte liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem für weitere Dauer zu retten und zu verewigen. Die Entscheidung fällt im Zweiten Weltkrieg, entweder zugunsten eines verspäteten Föderativ-Kollektivismus auf staatskapitalistischer Basis, also einer Faschisierung der gesamten Kapitalswelt, oder zugunsten einer sozialen Revolution, die den Weg zum Sozialismus freimacht.

Solange freilich die Arbeiterbewegung an ihren alten Organisationsformen, parlamentarischen und pseudoklassenkämpferischen Methoden, taktischen und strategischen Überholtheiten festhält, wird ihr der Sieg in der Revolution versagt sein.

Erst wenn sie dazu übergeht, den Gesamteinsatz ihrer großen Zahl, ihre entscheidende Rolle im Produktionsprozess, die Emanzipation von einer verbürgerlichten Führerschaft und die Freiheit ihrer eigenen Initiative und Selbstbestimmung durch das Mittel des Rätesystems in die Waagschale zu werfen, wird sie zu einem Sozialismus gelangen, „wo die Freiheit eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

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