Anarchistischer Brief aus der argentinischen Diktatur, Buenos Aires 1978

Gefunden auf expandiendo la revuelta, die Übersetzung ist von uns. Das erwähnte Buch von dem die Rede sein wird, ‚Anarquismo: Insurrección armada y guerrillas‘ überlegen wir ernsthaft zu übersetzen, mehr dazu in kommender Zeit. Darüber hinaus lag das Interesse der Übersetzung dieses historischen Dokuments daran, wie die Texte britischer anarchistischer Publikationen während des Falklandkrieges, daran historische Positionen wieder ans Licht kommen zu lassen, die heute vielen für fremd und sogar unbekannt vorkommen könnten.


Anarchistischer Brief aus der argentinischen Diktatur, Buenos Aires 1978

Der folgende Brief wurde aus dem Buch „Anarquismo: Insurrección armada y guerrillas – Anarchismus: Bewaffnete Insurrektion und Guerilla“ (2021) entnommen, in dem wir die verschiedenen Debatten und Positionierungen rund um den bewaffneten Kampf und den politisch-sozialen Kontext der 60er und 70er Jahre in Buenos Aires untersuchen.

Dieser Brief wurde von anarchistischen Gefährt*innen nach der Fußballweltmeisterschaft 1978 geschrieben, als die populistischen Paraphernalia der Diktatur auf dem Höhepunkt waren und die Welle der Repression ihren Höhepunkt erreichte. Er wurde geschrieben und ins Ausland verschickt, um inmitten der Verhaftungen von Gefährt*innen, die später verschwanden und von denen die meisten bis heute verschwunden sind, ein Zeugnis abzulegen.

Anstatt zu versuchen, die „Einmischung“ der anarchistischen Bewegung in den 1970er Jahren zu maximieren, glauben wir, dass dieses Zeugnis ein kleines Fenster zur Realität der Diktatur öffnet und uns gleichzeitig eine klare Sicht auf die verschiedenen Widersprüche, Schwierigkeiten und Positionen dieser Zeit gibt.

Ohne viel mehr hinzuzufügen, bekräftigen wir noch einmal, dass unser Gedächtnis nicht danach strebt, ein weiteres Regal in der Vitrine der Vergangenheit zu sein, sondern ein aktives revolutionäres Gedächtnis, das sich sowohl gegen die Diktatur als auch gegen die Demokratie positioniert, da diese die verschiedenen Gesichter der Auferlegung des Kapitals darstellen und nicht eine gegensätzliche Politik. Genauso wie wir uns vor der Opferstellung und der Idealisierung der ermordeten und verschwundenen Gefährt*innen scheuen, eint uns die subversive Überzeugung, der revolutionäre Atem und Wille, ohne Zweifel, aber wir distanzieren uns auch von den politisch-militärischen Apparaten und dem unkritischen Märtyrertum, das bei so vielen Gelegenheiten betrieben wurde.

Tod dem Staat

Lang lebe die Insurrektion

Ohne Anführer oder Leitern


AN DIE GEFÄHRTEN:

Anarchistische Gruppen in Argentinien. 1978.

Am 31. Mai 1978, zu Beginn der großen sportlichen Dummheit, die die Fußballweltmeisterschaft darstellte, begannen die argentinischen Streitkräfte mit einer der vielen Operationen, die sie täglich ohne Pause und ohne Abscheu durchführen. Es war, wie fast immer, die faule Frucht eines mit klassischen Foltermethoden erpressten Geständnisses, die die Repression auf die Werft lenkte, wo Pablo Daniel Tello und Rafael Arnaldo Tello zwei Jahre lang gearbeitet hatten. Sie wurden verhaftet und in eine der zahllosen anonymen Militäreinrichtungen gebracht, in denen die sadistischsten Foltermethoden angewandt werden, und waren ihrerseits Bestandteil einer weiteren Serie von „Razzien“, die mit der Verhaftung von Oscar Elichabe Urriol, Raul Olivera, Fernando Díaz, Hernán Ramírez, Oscar Cantero, Elsa Martínez und anderen Staatsbürgern endete, die zu diesem Zeitpunkt etwa zwanzig Personen ausmachten, von denen keine genauen Einzelheiten bekannt sind.

Der Aufenthaltsort, der Ort der Inhaftierung, das Verbrechen, dessen sie beschuldigt werden, und sogar, ob sie noch am Leben sind, sind unbekannt, denn zum Schrecken der argentinischen Militärdiktatur gehört die Angst, „nichts über die Inhaftierten zu wissen“, als psychologische Waffe, die den Seelenfrieden der Familie untergräbt und den Fleck des Terrors, der Argentinien bedeckt, vergrößert.

Natürlich wurden die eingereichten „Habeas-Corpus“-Einsprüche von der Justiz zurückgewiesen, weil die Justiz nicht funktioniert und nur eine Quelle des militärischen Mechanismus ist. Bei den verschiedenen Überfällen der Repressionskräfte wurden alle Arten von körperlichen Übergriffen begangen, ebenso wie Diebstahl, Plünderungen, Einbrüche und Ausschreitungen, die ein ständiges Merkmal der Übergriffe sind, die die Nachrichtendienste der drei Armeen und ihre „Untereinheiten“ wie die Gendarmerie, die Marinepräfektur, die Militärpolizei sowie die föderale Koordinierung, die heute Superintendentur genannt wird, täglich unter dem Vorwand des Antisubversionskampfes durchführen.

Alle diese Dienststellen praktizieren – wie die Besatzungsarmeen – die Technik der „Kriegsbeute“, die auch Teil der psychologischen Wirkung ist, und in jedem Verfahren krönt der Diebstahl (schlicht und einfach) den Vandalismus.

In diesem Fall haben die Soldaten in jedem Haus, das sie auf der Suche nach Waffen und Sprengstoff besucht haben (das ist der Vorwand), alle Wertsachen in den durchsuchten Häusern mitgenommen, ebenso wie jedes Geld, das sie gefunden haben, egal wie gering die Summe war. Ein konkretes Beispiel für eine militärische Plünderung fand im Haus eines Klempners statt, den sie verhaften wollten. Als sie ihn nicht fanden, nahmen sie nach Drohungen an seine Verwandten alle Werkzeuge seines Vaters mit und ließen ihn ohne die wichtigsten Elemente für seinen Lebensunterhalt zurück. Dasselbe geschah in den Häusern der Gebrüder Tello, die alles verloren, was sie an Wert besaßen. Alle diese Verhafteten sind militante Anarchisten1, sie sind zumeist Arbeiter, sie stehen weder mit der ERP noch mit den Montoneros in Verbindung, noch wurden bei ihnen Waffen, Munition oder Sprengstoff gefunden, was die unfehlbare Voraussetzung für die Repression ist, die angesichts des wiederholten entscheidenden Triumphs über die Subversion, dessen sie sich rühmt, Komplotte erfindet, imaginäre terroristische Organisationen entdeckt oder hypothetische Waffenlager findet, all dies, um das repressive faschistische Regime aufrechtzuerhalten, das heute in Argentinien herrscht, wo die Meinung verboten ist, abweichende Meinungen mit dem Tode bestraft werden, die Presse eine gut bezahlte Kurtisane ist und die Massenmedien der Milikratie (A.d.Ü., Militärherrschaft) unterstehen, die jetzt versucht, sich dem Populismus zu öffnen, nach dem „Rausch“, den die Fußballweltmeisterschaft ’78 ausgelöst hat, angeführt von Experten für Massenpsychologie, die für die Streitkräfte und ihre Geheimdienste arbeiten. Eine der offensichtlichsten Manifestationen dieser populistischen Politik war die letzte Sitzung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf, an der eine dreigliedrige Vertretung (Staat, Unternehmen, Gewerkschaften) teilnahm, in deren Verfassung, die weithin bekannt gemacht wurde, eine beschönigende Vereinbarung getroffen wurde, zwischen den Militärs und der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Bürokratie (ein Krebsgeschwür, unter dem die argentinische Arbeiterbewegung nach wie vor leidet), obwohl sich diese Elemente hinter mehr oder weniger geometrischen Bezeichnungen wie vertikalistisch, schräg, stehend, sitzend, horizontalistisch und sogar unabhängig (? ), während sie in Wirklichkeit alle auf den Knien liegen und die Diktatur mit ihrer Neigung zum Feilschen und Entgegenkommen wie in den besten Tagen des Peronismus bestätigen.

Aber um auf unsere Gefangenen zurückzukommen, sei gesagt, dass diese neue Methode, Subversive zu erfinden, den Plänen der Streitkräfte entspricht, die versuchen, das populäre Unwohlsein einzudämmen und zu verhindern, dass der wachsende Protest kanalisiert wird. Die Verschärfung der ökonomischen Krise, die permanente Inflationsspirale mit ihrer Folge der Rezession, die unaufhaltsame Geldemission, die die Kaufkraft unserer Währung Tag für Tag entwertet, das Fehlen von Informationen oder die Verzerrung der Nachrichten durch die offiziellen Agenturen, der erste Teil der Aufhebung des Mietgesetzes, die am 30. Juni stattfand, und ihre Folge von mehr als 44.000 Zwangsräumungen, die sich in den Gerichten zusammenbrauen, die Halbstreiks in einigen Schlüsselindustrien (Textil-, Automobil-, Metallindustrie usw.) schaffen eine angespannte Situation in der Bevölkerung, die einen Monat lang durch die Entwicklung der Fußballweltmeisterschaft ’78 betäubt war, bis hin zu dem chauvinistischen Paroxysmus, das Land mit einem Ball zu verwechseln.

Die Militärjunta beabsichtigt nun, dieses Ereignis als Sprungbrett zu nutzen, um eine kriegerische „Heldentat“ zu begehen, die vielleicht die Besetzung kurzerhand (manu militari) der drei südlichen Inseln sein könnte, deren Souveränität mit Chile umstritten ist. Die Psychologen der Diktatur sind der Meinung, dass die Aufregung der Weltmeisterschaft ’78 weitergehen kann, wenn Pinochet der dreifache Elfmeter „geschossen“ wird, und sie erwarten, dass das Volk auf die Straße geht, um diesen „Sieg“ zu feiern, wie es das am 25. Juni getan hat. Das ist die Annahme der Milicos (A.d.Ü., Militärs), und wir schließen nicht aus, dass, wenn dieser „Blitzkrieg“ gestartet wird, viele Schwachköpfe auf die Straßen von Buenos Aires gehen werden, um zu „schwören, mit Ruhm zu sterben“, wobei sie immer daran denken, dass sie einen Monat lang die toten, inhaftierten und verschwundenen Opfer der Diktatur vergessen haben, deren Zahl in die Tausende geht, und um sich selbst mit Tausenden von Dezibel zu betäuben, als ob sie eine Katharsis des Lärms bräuchten, um die Spannungen abzubauen, die durch die Angst oder den psychischen Druck entstehen, der durch die Ohnmacht entsteht. Das überlassen wir den Analytikern und Psychologen.

Wir stehen mit unserer Hypothese nicht allein da, denn das Manöver ist absehbar, und die Massenmedien setzen alles daran, den einfachen Menschen davon zu überzeugen, dass wir uns auf der Startrampe befinden, die uns zu nationaler Größe führen wird. Vielleicht wisst ihr das besser als wir, denn die ausländische Presse übersetzt getreu, was in diesem Land geschieht.

Der Stachel, den diese Informationen bei der Militärjunta hinterlassen, spiegelt sich in hysterischen Anfragen von Phantomorganisationen oder in der Haltung einer Wirtschaftskammer wider, die Direktoren des internationalen Journalismus einlädt, „das wahre Bild Argentiniens zu sehen“, was natürlich, wenn die Einladung angenommen wird, nicht über ein offizielles Pressetreffen, den Besuch einer gut vorbereiteten Strafvollzugsanstalt oder einen gelegentlichen Besuch hinausgeht, vielleicht ein Interview mit Videla und das unvermeidliche Mittagessen mit einflussreichen Persönlichkeiten aus dem diktatorischen Umfeld, bei dem weder die Zahl der durch die Diktatur verursachten Todesfälle ans Licht kommen wird, die in die Tausende geht, noch die Zahl der Verschwundenen, die schrecklich ist, noch die Identität der Gefangenen, von denen man nur weiß, dass sie „von Elementen in Zivilkleidung entführt wurden, die Waffen zeigten“, eine sehr verwirrende Erklärung, die sich an die Nachrichten hält, die von Zeit zu Zeit in der Presse erscheinen. In den meisten Fällen spielt die Verschwörung des Schweigens eine komplizenhafte Rolle in den kriminellen Verfahren der drei Waffengattungen und ihrer Untereinheiten, die – so scheint es – getrennt, aber immer mit größter Straffreiheit und strengster Geheimhaltung handeln.

Es ist bekannt, dass es Konzentrationslager gibt, aber nicht, wo: es wird geschätzt, dass es versteckte Gefängnisse gibt, aber ihr Standort ist unbekannt; die Escuela de Mecánica de la Armada, Campo de Mayo, die Escuela Penitenciaria, die Escuadrón Güemes der Gendarmería, sind Orte der Inquisition, aber es gibt keine gesicherten Zeugnisse; es gibt Zwangsarbeitsfarmen, aber es ist nicht bekannt, wo sie sich befinden. Wenn überhaupt, wird nur wenig durchsickern. Dies beweist die Effizienz der Methode, die aus den blutigen Erfahrungen der OAS in Algerien, der vietnamesischen Ausrottung durch die USA und ihre Spezialdienste, den raffinierten Techniken des sowjetischen KGB oder den dämonischen Vernichtungsmodulen des Nationalsozialismus gelernt wurde.

Der Imperialismus brachte und bringt eine ganze Reihe von Einschüchterungsmaßnahmen mit sich, die von der Verhaftung bis zum Tod reichen und den tragischen Weg von der Hilflosigkeit bis zur Angst gehen. Jede Waffe ist für diesen Zweck geeignet, und wir können sagen, dass jede Person, die von denen, die diese Techniken anwenden, verhaftet wird, vom Moment ihrer Verhaftung an ein Mysterium ist. Es ist nicht bekannt, wer ihn festnimmt, wo er festgehalten wird und was ihm vorgeworfen wird. Aber was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass man sich nirgendwo hinwenden kann, weil die Polizei nicht alles „weiß“, die Justiz blind, taub und stumm ist, die Anwälte durch den Terror gelähmt sind und das Land sich langsam in ein Haus ohne Türen und Fenster verwandelt, weil die repressive und permanente Propaganda die Menschen im Allgemeinen zu flüchtigen und ängstlichen Tieren gemacht hat, die in ihrer eigenen Angst eingesperrt sind und dabei oft den menschlichen Gehalt der Solidarität vergessen.

Deshalb schicken wir diesen Bericht ins Ausland, damit die Gefährten die Forderung für diese Opfer des argentinischen Faschismus, alle würdigen Arbeiter, alle tapferen Militante für die Freiheit, alle Anarchisten, in ihre eigenen Hände nehmen.

Anarchistische Gruppen in Argentinien.

1978


1A.d.Ü., son de militancia anarquista kann man so nicht ins Deutsche übersetzten, denn es würde bedeuten, alle Verhafteten sind anarchistischer Militanz. Dies zu erklären würde zu lange dauern und es geht hier nur um sprachliche Differenzen.

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