Anarchismus, nationale Kämpfe und Klassenkämpfe (1956), André Prudhommeaux

Gefunden auf Kates Sharpley Library, die Übersetzung ist von uns. Hier ein weiterer Text für die Reihe Textreihe Kritik an den Nationalismus/Vaterland/Nation/Patriotismus. Bei diesem Text handelt es sich um einen, wir geben es zu, der definitiv diskutiert werden kann und sollte, nicht nur um seine Aktualität zu prüfen, sondern um überhaupt seine historische Richtigkeit zu prüfen. Es ist die Frage also, ob dieser Text überhaupt richtig ist und auch richtig war als dieser veröffentlicht wurde. Wir teilen die Grundaussage von André Prudhommeaux, was seine Kritik an der Nation und an den Staat angeht. Wir sind aber nicht damit einverstanden, die Klassenzugehörigkeit, die Klassenfrage im selben Sack zu stecken. Wir sind keine Proletarier weil wir welche sein wollen, denn wir wollen durch die Zerstörung der Klassengesellschaft alle Klassen, somit auch die proletarische, abschaffen. Der kapitalistische Staat und die Konstituierung der Nation, alles moderne Phänomene, sind die Folge einer Gesellschaft die in Klassen aufgeteilt ist, wo der Staat und die Nation der herrschenden Klasse dienen um mit Gewalt die ausgebeutete Klasse zu beherrschen. Die Zerstörung des Kapitalismus und des Staates kann nur in der Errichtung einer freien menschlichen Gesellschaft verstanden werden, in der es keine Klassen gibt.


Anarchismus, nationale Kämpfe und Klassenkämpfe (1956), André Prudhommeaux

Der Anarchismus strebt die Befreiung aller Menschen an, unabhängig davon, welcher Klasse oder Nation sie angehören; eine solche Befreiung wäre weder auf der Grundlage einer Klasse noch einer Nation möglich.

Jede Nation, die sich als Staat konstituiert, schließt aus ihren Reihen aus und hat die Tendenz, Gäste der Nation – als „Kanaken“ (meteques), Außenseiter oder Staatenlose – und – als Verräter, Asoziale, Rebellen, Abtrünnige, Emigranten usw. – zu unterdrücken. – diejenigen ihrer eigenen Mitglieder, die sich der politischen oder ideologischen Häresie schuldig gemacht haben.

Jede Klasse, die sich als Partei oder Autorität organisiert (und sich dadurch mit einer Disziplin, einer Hierarchie und einer Reihe von Sonderprivilegien ausstattet und ihren Platz in der Gemeinschaft der anderen etablierten Klassen einnimmt), schließt ihrerseits einen sozialen Rest aus, der sich aus déclassés, Ausgestoßenen, Parias, Verwerflichen, Unorganisierten usw. zusammensetzt, und beutet diese notwendigerweise aus, und treibt diejenigen ihrer eigenen Mitglieder, die sich nicht an ihre maßgeblichen Regeln halten wollen, in die Reihen dieses sozialen Rests.

Wie der Krieg zwischen den Nationen spaltet auch der Klassenkrieg die Menschheit in Gewinner und Verlierer, wobei sich die einen über ihren Sieg freuen und die anderen versuchen, sich zu revanchieren. Darüber hinaus opfert jede Klasse oder Nation im Namen ihres heiligen Egoismus, ihrer kollektiven Interessen und der Erfordernisse des politischen und sozialen Kampfes auf ewig die Individualität, die Interessen und das Leben ihrer eigenen menschlichen Komponenten sowie derjenigen, die sich ihrer Pflicht gegenüber der Gruppe unterwerfen, und derjenigen, die sie ablehnen oder nach Möglichkeiten suchen, sich aus ihr herauszuwinden.

Auf der Ebene der Massenkollektive und ihrer politisch-sozialen Organisation bringt der Wettbewerb zwischen den Gruppen also einfach eine zweischneidige Unterdrückung hervor, die nach außen und nach innen gerichtet ist. Jeder Einzelne wird doppelt bedroht oder unterdrückt: von der feindlichen Gruppe und von der Gruppe, der er/sie angehört (unabhängig davon, ob man sich mit ihr identifiziert oder ihr gegenüber eine ablehnende oder verwerfliche Haltung einnimmt). Und innerhalb jeder Gruppe entsteht eine unsichtbare Spaltung zwischen denjenigen, die wirklich die kollektive Macht ausüben und sich selbst als Apparat aufgestellt haben, und den überspannten, aufgeregten Massen, die durch ihren eigenen Infantilismus auf einen ewigen Status als Minderjährige reduziert werden.

Daraus folgt, dass sich der Anarchismus mit keiner nationalen oder klassenmäßigen Sache identifizieren kann, mit keinem Gruppenmessianismus, mit keiner der Religionen, in denen die gesellschaftliche Macht im Unterschied zu den Individuen wie eine übermenschliche und kurz überindividuelle Entität verehrt wird, die in jedem einzelnen Staatsbürger-Wähler verkörpert oder in der Person eines Anführers verkörpert ist. Die methodische Kritik an dieser Entfremdung stellt das eigentliche Wesen des Anarchismus dar, qua direkter Ausübung der individuellen Macht und ihrer freien Vereinigung außerhalb jeglichen kollektiven Geschwätzes. Er zielt darauf ab, den Menschen aus Fleisch und Blut aus der theoretischen und praktischen Enge seiner Klassenverhältnisse zu befreien und ihn dazu zu bringen, diese Verhältnisse und die anderer Menschen objektiv zu betrachten, frei von allen emotionalen Verzerrungen, die durch Angst oder Ressentiments entstehen. Der Anarchismus will ein Wegbereiter sein – nicht durch die Schaffung einer einheitlichen Gesellschaft, in der eine Vielfalt von Kulturen, Sprachen, Berufen oder Gewerben in einer allgemeinen Angleichung verschmelzen würde, sondern durch eine grenzenlose Welt, in der jedes Individuum und jede inter-individuelle Eigenschaft frei und reibungslos in einem Kontext von Toleranz und weitverbreiteter Nachahmung agieren könnte. Auch wenn sie nicht in der Lage sind, diesen Traum in seiner Gesamtheit universell Realität werden zu lassen, so sind Anarchisten doch zumindest in der Lage, ihm durch ihr eigenes überlegtes Verhalten und die systematische Bestätigung von Verhaltensweisen, die mit den ihren übereinstimmen und spontan in jedem Land und Kontext auftauchen, eine Art von gegenwärtiger Konsistenz zu verleihen.

Dies entbindet sie natürlich nicht davon, nationale Phänomene und Klassenphänomene mit aller gebotenen Strenge zu untersuchen, ohne jedoch den grundlegenden Antagonismus zu übersehen, der seit den Anfängen der Menschheit das Mitglied gegen die Gruppe, die Einheit gegen das Kollektiv, das differenzierte Individuum gegen die Masse, die Person gegen die Herde ausspielt. Auf diese Weise wird der Anarchismus dazu veranlasst, die Schlacken der garibaldinisch-mazzinischen und der marxistischen Tradition (d.h. einerseits das Nationalitätsprinzip und andererseits die Klassendialektik) zu beseitigen und sie durch das Individualitätsprinzip zu ersetzen, das im Widerspruch zu jeder Nation und jeder Klasse steht, die dazu neigen, es zu unterdrücken, insofern sie versuchen, den Menschen auf den Franzosen oder den Deutschen, auf den Kapitalisten, den Proletarier oder eine andere soziologische Abstraktion zu reduzieren.

Durch die „Uniformen“ – nationale, soziale, ideologische und religiöse -, die von der Herdenmentalität auferlegt werden (oder deren Ableger, der Geist der freiwilligen Sklavenhaltung angesichts der Verkörperungen des Kollektivs), spricht der anarchistische Ansatz den Menschen im Hinblick auf seine geistige Autonomie und Einzigartigkeit an. Er misst ihn an dem, was er tut, und nicht an den rationalen oder emotionalen Motiven, die er diesen Taten zuschreibt; und er achtet eher auf die Originalität und Kreativität dieser Taten als auf das nachahmende Element und darauf, wie sie in ein gegebenes soziales Umfeld passen. Anstatt sich der einfachen Möglichkeit hinzugeben, jeden Menschen ein für alle Mal zu definieren, zu klassifizieren und zu erklären, indem man ihn einem Staat, einer Kirche, einer Klasse, einer Partei usw. zuordnet, versucht das anarchistische Denken, die intimen Verbindungen zu verstehen, die den Menschen mit seinen Umständen verbinden, und diejenigen, die ihn von ihnen zu lösen drohen. Würde die Gesellschaft so „funktionieren“, wie es die ideologischen, juristischen, ökonomischen und politischen Schemata und die von der Theorie aufgestellten Statistiken vorgeben, wäre die Menschheit als solche schon lange ausgestorben. Was die tatsächliche Aktivität von der reinen Funktionalität bei allen Lebewesen und beim Menschen im Besonderen trennt, ist genau „die Rolle der Anarchie in der Welt“, und dies sollte von bewussten Anarchisten anerkannt und täglich verteidigt und erweitert und bekräftigt werden.

Gezeichnet: A. Prudhommeaux, Le Monde libertaire, Nr. 21, Oktober 1956 (Paris)


Von Un anarchisme hors norme (eine Sammlung von Texten von André Prudhommeaux, welches von Editions Tumult https://tumult.noblogs.org/post/2020/02/15/un-anarchisme-hors-norme-andre-prudhommeaux/ veröffentlicht wurde) (Seiten 91-96)

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