Jederzeit – Einige Überlegungen zu den letzten Monaten der Mobilisierung in Italien

Per Mail erhalten, ein Text aus Italien der die allgemeine Lage/Situation um den Hungerstreik von Alfredo Cospito analysiert.


Jederzeit

Einige Überlegungen zu den letzten Monaten der Mobilisierung in Italien

Ich glaube fest, wenn sonst nichts, wird die Noth es uns lehren. Ihr seht die ganze Stadt voll Unmuth und voll Haß gegen uns: die Bürger halten fortwährend Ratssitzungen ab, die Signorie unterhandelt beständig mit den Magistraten. Glaubt mir, es werden für uns Fesseln geschmiedet, neue Streitkräfte gegen unsere Häupter aufgeboten. Deshalb müssen wir nach zweierlei streben und bei unseren Berathungen doppelten Zweck haben: einmal, daß uns für die Vorgänge der jüngsten Tage keine Strafe treffe; sodann, daß wir in Zukunft in größerer Freiheit und Zufriedenheit als bisher leben können.“

Niccoló Macchiavelli, Geschichte von Florenz

Wir schreiben diese Überlegungen fast neunzig Tage nach Beginn des Hungerstreiks von Alfredo. Es sind Tage des Kampfes, aber auch der Wut. Wir glauben, dass es wichtig ist, zu schreiben und sich während der laufenden Mobilisierung gegenseitig zu konfrontieren, um mit mehr Klarheit und Bestimmung weiter kämpfen zu können. Aus diesem Grund werden wir mit Interesse alles lesen, was zur Debatte beigetragen wird.

Wir beziehen uns hauptsächlich auf das anarchistische Milieu und glauben, dass wenn die Debatte (und der Kampf) eine größere Vielfalt hätte, es einfach, einfach besser wäre. Unsere Argumentation analysiert sowohl die Mobilisierung der Solidarität mit dem Kampf von Alfredo als auch den Kampf von diejenigen, die mit Herz und Verstand viel Kraft darin investiert haben.

Der Staat ist in Schwierigkeiten, aber nicht, weil er die Anarchisten wegen ihrer Gewalt fürchtet, die sie jetzt wissen auszudrücken. Sondern vielmehr wegen der Kraft, die sie auslösen oder verstärken können. Die Anarchisten sind Heute keine Gefahr für den Staat, genauso wenig wie die Anschläge der letzten fünf oder sechs Jahre eine Gefahr an sich waren. Was wir glauben, das eine Gefahr für den Staat darstellt, derer wir uns durchaus bewusst sind, sind nicht so sehr die Anarchisten, sondern das, was sie perspektivisch darstellen und darauf müssen wir unseren Blick richten.

In den letzten Jahren war das anarchistische Milieu das einzige – oder eines der wenigen -, das den Angriff als legitime Praxis anerkannte, genauso wie es den Staat als einen alltäglichen Feind erkannte, mit dem man keine Kompromisse eingeht. Es war auch das einzige Milieu das eine revolutionäre Kritik als ständigen Bruch mit dem Bestehenden vorschlug. Wie sehr diese Entscheidungen im Detail mehr oder weniger strategisch gewesen sein mögen, mehr oder weniger vertretbar waren, bedeuten, angesichts der vergangen Monaten, durch der Bewahrung einer revolutionären Integrität und einem konfliktreichen Gedächtnis, eine gewisse Stärke. Die ständige Gymnastik dieser Stärke, ausgedrückt durch die konfliktgeladenen Praktiken, kann sicherlich an der numerischen Vermehrung, an dem Grad der Verschleierung vor Aussenstehenden und an dem Repressionslevel gemessen werden.

Andererseits ist genau das geschehen und hatte zur Folge, das eben weil der soziale Konflikt zunehmend geringer wurde, viele GefährtInnen es bevorzugten ihre eigenen revolutionäre Identität zu verwässern. Dadurch traten zunehmend die eigenen konfliktgeladenen Taktiken in Vergessenheit. Andererseits glauben wir, dass es die Möglichkeit gibt einen Bezug zu einer Gesellschaft in Aufruhr, voller Wut und Frustration herzustellen. Auch wenn die Stärke, die manche beschlossen haben zu bewahren, keine wirkliche Bedrohung darstellt, könnte sie der Funke sein, der eine Revolte gegen die Macht und ihre Ungerechtigkeiten auslöst. Dies ist der erste Punkt: bis heute fürchtet und bekämpft der Staat diese Möglichkeit, die nicht nur durch die Anarchisten dargestellt wird, wobei sie aber als exemplarische Vogelscheuchen dienen sollen. Wenn es stimmt, dass in jüngster Zeit eine bestimmte Art von repressiven Angriffen gegen Anarchisten gerichtet waren, ist es auch wahr, dass sie sich auch an ein breiteres Publikum richten, d. h. an alle, die sich im Zorn organisieren und eine Rebellion anzetteln.

Diese Möglichkeit wird also durch eine Komponente repräsentiert, die einerseits über das anarchistische Milieu hinaus geht; andererseits gibt es all die täglichen Frustrationen, die die Gesellschaft hervorbringt und die diese Stärke beeinflusst.

Wir glauben, dass es mindestens zwei Elemente der Gesellschaft gibt, mit denen der Staat nicht will, dass Anarchisten und Revolutionäre im Allgemeinen in Kontakt kommen: der erste Aspekt ist die jugendliche Wiederbelebung durch konfliktträchtigen Praktiken, die in den letzten Jahren zu beobachten war, wenn auch in niedriger Intensität. Ein zweiter Aspekt sind mögliche soziale Unruhen aufgrund von Frustration die durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen entstehen.

Ausgehend vom ersten Aspekt ist es hier interessant, einige Entwicklungen zu beobachten, die in den letzten fünf Jahren auftraten. Diese jugendliche Wiederbelebung manifestierte sich zum ersten Mal schon vor dem ersten Lockdown, als die Straßen von großen Mengen an StudentInnen gefüllt waren, wie schon lange nicht mehr war. Die Themen, für die sich diese sehr junge studentische Komponente engagiert hat, waren insbesondere der Ökologismus und der Transfeminismus. Im Laufe der Zeit hat sich das Phänomen weiterentwickelt, angesichts der einschneidenden Auszeit durch Quarantäne mit ihren sozialen Auswirkungen. Die Folge war ein Rückgang der Zahl der Mobilisierungen, aber auch eine Radikalisierung bestimmter Praktiken des Kampfes. Die Gymnasien der Stadt Rom im Jahr 2021 waren durch die „la lupa“-Bewegung Protagonisten von Besetzungen in vielen Gymnasien und Instituten der Hauptstadt. Etwas Ähnliches hat sich in ganz Italien abgespielt: von den Demonstrationen nach dem Tod von Lorenzo, einem Schüler, der an einer schulbegleitende Berufsorientierung (PTCO) teilnahm, bishin zu den Auschreitungen vor der Confindustria (Sitz der größten italienischen Arbeiterorgnisation) in Turin und den Haftstrafen für einige von den, die dabei teilgenommen hatten. Keine starke politische Identität, geschweige denn eine revolutionäre, hat es geschafft, diese Pulsierungen zu vertreten. Vielleicht die einzigen, die es geschafft haben, einige dieser „Instanzen“ zu absorbieren, sind die Aktivisten von „Die letzte Generation“ (mit ihren Weiterentwicklungen), die weiterhin widerständig sind, die existieren und an ihren Praktiken festhalten.

Wenn wir dies als eine realistische Darstellung der letzten fünf Jahre betrachten, müssen wir auch berücksichtigen, dass all das von zwei Jahren sozialer Unruhen begleitet wurde, wenn auch von geringerer Intensität als im Vergleich zu den massiveren Mobilisierungen der Vergangenheit. Hinzu kommen, die Knastrevolten (noch nie haben so viele Gefängnisse gleichzeitig mit solcher Intensität rebelliert), die erste Wut auf den Straßen gegen den Lockdown, die bereits erwähnten Studentenproteste des letzten Jahres und die vorhergehenden Proteste gegen den Greenpass (wir denken übrigens, dass es, ob zu Recht oder zu Unrecht, praktisch nur die libertäre Bewegung in diesen Momenten ein Konfliktpotenzial sah. Wir sind der Meinung, dass es sich hierbei nicht um ein irrelevantes Element in der repressiven Gestaltung handelt).

Und genau in diesem sozialen Kontext, als wir dachten, wir hätten einen „Ausweg“ aus der Pandemie gefunden, stand ein Krieg vor der Toren Europas. Wenn die Auswirkungen der Pandemie sich bereits teilweise manifestiert haben, werden jetzt erst die Folgen des Krieges spürbar.

Wir glauben, das sich die Chance in dem aktuellen Kontext ergeben könnte, diese Zusammenkunft zu ermöglichen, die der Staat niemals zulassen wollte. Dahinter steht der konsolidierende Versuch, die soziale Wut zu bändigen, nicht etwa indem man die Gründe der Frustration verringert, sondern vielmehr indem man diejenigen angreift und ausschließt, die sehr wohl wissen, wohin sie ihre Wut lenken wollen. Was der Staat, in Gestalt der Staatsanwaltschaft, in der letzten Zeit versucht hat, ist der Versuch, die Partie mit den Anarchisten, ihren Slogans und ihren Praktiken zu beenden. Natürlich bevor diese beiden Möglichkeiten entstehen können: eine jugendliche Konfliktualität die zu einer revolutionärer wird und der sozialen Wut, die von materiellen Bedürfnissen angetrieben wird.

Aber der Spielzug des Staates ist ein Doppelter und Synchroner. Und hier kommen wir zum zweiten wichtigen Aspekt dieses Textes, aber vor allem zu dieser Mobilisierung. Der Versuch, der völligen Ausgrenzung und exemplarischen Bestrafung der verbliebenen revolutionären Minderheit, wurde mit dem Versuch gepaart ein Ausnahmeinstruments zu normieren: die Anwendung des 41bis-Regimes. Es wurde ursprünglich für den Notfall bei mafiösen Schwerstdelikten wie Massenmorde eingeführt, wird aber nun bei einen Anarchisten angewendet, angesichts eines neuen möglichen Notfalls (der aber dieses Mal einen gesellschaftlichen Ursprung hat). Das Verständnis dieses doppelten Schachzugs verleiht Alfredos Kampf zusätzliche Bedeutung. Alfredo entgeht diesem Versuch, indem er sich dieser besagten Normierung entzieht: “Nein Staat, du übst keine Macht auf unser Leben aus!“. Dies bedeutet nicht, dass die Staatsanwaltschaft es nicht noch einmal versuchen wird, aber dieser erste Versuch ist wegweisend. Alfredo hat darauf reagiert, indem er zwei Eigenschaften zu Tage gelegt hat, die schon immer die Anarchisten ausgezeichnet hat: die Beharrlichkeit und die Unversöhnlichkeit der GefährtInnen.

Was daraus enstand ist eine Mobilisierung, die, unserer Ansicht nach, nicht mit den Anarchisten an vorderster Front und dem reformistischen Teil in zweiter Reihe zu betrachten ist, vor allem wenn wir eine qualitative Analyse vollziehen wollen. Bislang ist die Nähe zwischen den verschiedenen Akteuren, aus denen diese Wiederbelebung besteht, eher als eine unfreiwillige dialektische Nähe zu betrachten.

Lasst uns eine kleine, überflüssige, aber klärende Prämisse aufstellen: Wir glauben, dass die Unterscheidung zwischen Anarchisten und Reformisten zu kurz greift. Nicht nur, weil die Minderheit, die sich mobilisiert hat, nicht allein dem anarchistischen Milieu zugeschrieben werden kann, sondern vor allem, weil wir eine ganze Reihe von Seelen übersehen, die nicht in erster Linie rein reformistisch sind: Anwälte, um nur ein Beispiel zu nennen, sind vielleicht keine Anarchisten, aber wer sagt, dass sie Reformisten sind?

Auch wenn es unbestritten scheint, dass anarchistische GefährtInnen zu den ersten gehörten, die sich mit Alfredo solidarisch zeigten, bei einem genaueren Blick, glauben wir feststellen zu können, dass sie weder die einzigen, noch als entscheidend dafür waren. Vielmehr sehen wir sie als einen Teil des Ganzen, eines Ganzen, das auch aus einer Misere und Miserablen besteht. In diesem Sinne war der von etwa zwanzig Anwälten in einigen italienischen Städten verfasste Appell ein wichtiger, vielleicht sogar entscheidender Beitrag zur gesamten Mobilisierung. Wir sagen dies nicht als Verdienst, sondern weil es für uns diesen Wert hatte und in gewisser Hinsicht hat die betreffende Klage als Wegbereiter gedient. Sogar einige „Intellektuelle“ meldeten sich sofort zu Wort, unabhängig davon, ob uns das was sie sagen nun gefällt oder nicht, unabhängig davon, ob uns ihre zweifelhafte Würde, die sie repräsentieren, mögen oder nicht.

Nach dieser Klarstellung definieren wir die Nähe zwischen den verschiedenen Beteiligten als dialektisch und unfreiwillig. Der erste Brief der Anwälte initiierte die Fragestellung, indem er eine gewisse Legitimität schuf, die Aktionen auf der Straße gaben einen politischen Sinn, der die Möglichkeit des Kampfes nicht auf die bloße Meinung reduzierte, die Worte eines Manconi1 oder eines Cacciari2 gaben den Aktionen einen Sinn, der sich von der Kriminalisierung durch den Mainstream unterschied, und so weiter (die Initiativen in der Sapienza-Universität, die Transparente von den Kränen, die GefährtInnen auf den Dächern). Als man versuchte, die Verantwortlichen für eine zerbrochene Schaufensterscheibe als „Vandalen gegen 41bis“ zu betiteln, hatte dieser Ausdruck eine andere Bedeutung als sonst: ein Anarchist, der keine Bluttat begangen hat, wird wie ein Mafiaboss behandelt. Bedeutet dies, dass diese Handlungen nun legitimiert oder akzeptiert wurden? Weder noch, aber sie haben eine andere Bedeutung bekommen. Vor diesem Hintergrund ist eine Prioritätensetzung schwierig, vielleicht möglich, aber auch unnötig. Was wir für wichtig halten, ist: a) die Bedeutung von Alfredos Kampf; b) die Notwendigkeit jeglicher Beiträge eines jeden Teils dieses Ganzen. Wir möchten betonen, dass nicht alle Beiträge zu diesem Kampf die für uns angemessene Perspektive, die revolutionäre, eingenommen haben, aber wir sind auch der Meinung, dass sie aufgrund ihres tatsächlichen Wertes und der Rolle, die sie gespielt haben, berücksichtigt werden sollten.

Im Laufe der Jahre wurden wir Zeugen des traurigen Schauspiels seitenlanger „sehr guter“ Gründe, die die eigene Untätigkeit rechtfertigten. Glücklicherweise hat dieses Mal vielleicht die Bescheidenheit oder sogar die Intelligenz gesiegt, obwohl bei dieser Gelegenheit an der Türschwelle verweilten und eine Art von Solidarität zum Ausdruck brachten, die manchmal eher nach Beileid stank.

Die Ungewohnheit der letzten 6 oder 7 Jahre, zu kämpfen, eine Konfrontation zu führen, sich gegen die Stigmatisierung zu wehren, trägt sicherlich ihren Teil dazu bei, dass die Beteiligung schwierig ist. Demgegenüber steht Cospito, der in der von der demokratisch-liberalen Rhetorik propagierten Unterscheidung zwischen „Guten und Bösen“ als der „Bösewicht“ schlechthin dargestellt wird. Hier ist unsere Rolle und es bedarf der Intelligenz, als GefährtInnen, wiederholt zu sagen das diese Unterscheidung nicht existiert, aufzuzeigen das es eine Strategie der Staatsanwaltschaft ist, um den sozialen Konflikt zu brechen. Wir wiederholen es für die Gehörlosen: Unterdrückte und Unterdrücker, das ist der einzige Unterschied, den wir kennen. Und während Alfredo für viele aufrichtige Demokraten ein Schurke bleibt… mögen sie ihre aufrichtigen Gründe behalten, für uns bleibt Alfredo ein Gefährte, der kämpft.

Die bisweilige Tatsache ist, dass sich daraus eine Mobilisierung entwickelt hat; ein – wenn auch kleiner – Riss zieht sich durch die Gesellschaft.

Wie alle Mobilisierungen nährt und reproduziert sich auch diese in ihrer Pluralität (von der wir hoffen, dass sie sich weiter vervielfältigen wird). Ein weiterer Aspekt, der die Mobilisierung vorangetrieben hat, ist sicherlich die Kraft der Beweggründe. Die Tatsache, dass Alfredo Cospito zu Unrecht im 41bis-Regime ist, ist eine Tatsache, die von allen geteilt wird, es gibt keinen Interpretationskonflikt. Niemand, oder fast niemand, verteidigt seine Einstufung in das 41bis-Regime, außer das Antwortschreiben des Überwachungsgerichts. Die moralische Korrektheit des Falles ist sehr klar, seine Entschlossenheit in der Praxis entrüstend und die Ungeheuerlichkeit des Staatsapparates erscheint ebenso klar. Sowohl für die Anwendung der Maßnahme selbst, als auch für den Mechanismus, der sie in Gang gesetzt hat: zynisch, unberechenbar, nicht zu stoppen. Was Hannah Arendt die Banalität des Bösen nannte, ist für alle sichtbar geworden. Die Mobilisierung vollzieht sich in einem Konflikt zwischen Staatsräson3 und einem Zustand der eigenen Beweggründe, der für alle außer dem grausamen Staatsapparat klar ist. Ausgehend von dieser Bedingung der absoluten (oder fast absoluten) Vernunft hängt es von der Intelligenz ab, die wir zur Geltung bringen können, wie viel Boden wir gewinnen oder wie viel politische Legitimität wir erlangen können.

Auf der einen Seite versucht der Staat, die Partie mit den Anarchisten zu beenden. Das 41bis bei Alfredo und die Haftstrafe von 28 Jahren für Juan sind vielleicht der beste Ausdruck dafür. Unserer Meinung nach geschieht dies aus zwei Hauptgründen. Der erste ist sicherlich das, was wir zu Beginn des Textes auszudrücken versucht haben: Es ist die Angst vor dem möglichen exponentiellen Wachstum der Anarchisten, die Angst vor all den einzelnen Tropfen, die in einer Situation sozialer Gärung einen Sturm entfachen könnten, verbunden mit der Bewahrung des konfliktbezogenen Gedächtnisses. Ihnen soll eine einschüchternde Nachricht zugesandt werden oder sie sollen durch Zwang von den Kämpfen ausgeschlossen werden. Der zweite Grund ist die Schwäche der revolutionären Bewegung in Italien: Wenn du am ertrinken bist, wird der Staat dir sicher nicht die Hand reichen, um dich herauszuziehen. Er wird die Gelegenheit nutzen und versuchen dich endgültig zu beseitigen; ein Problem weniger. Das Leid der Einsamkeit und der damit einhergehenden Distanz zum Rest der Gesellschaft ist vielleicht das Hauptelement dieser Schwäche, das die letzten Jahre kennzeichnete und das in den letzten Monaten, wenn auch in geringem Maße, durchbrochen wurde.

Andererseits waren die Versuche, auf die Straße zu gehen, mehr oder weniger unbeholfen, aber alle notwendig, sie waren alle Teil des Ganzen. Wir glauben, dass die kollektive Intelligenz, die Konfliktfähigkeit, nicht etwas ist, das man für den „günstigen Moment“ aufbewahrt (Attentisten!4), nicht etwas, das man einfrieren und nach Belieben wieder auftauen kann. Es handelt sich um Fähigkeiten, die kultiviert und ständig trainiert werden müssen, um nicht das Vertrauen oder das Gedächtnis zu verlieren. A priori sollte sich der Gegenpart damit abfinden, dass nichts in ein paar Tagen vorbei sein wird. Die Unentschlossenen hingegen sollten den Zaun überklettern. Jeder so, wie er glaubt, jeder so, wie er kann, solange er unmissverständlich ist. Es ist notwendig, dass die Frustration der Hoffnung weicht und die Hoffnung in Ungeduld umschlägt.

Hier kommen wir zu einer möglichen abschließenden Reflexion über die Perspektiven dieser Mobilisierung. Wenn Alfredo stirbt, haben wir dann verloren? Heißt gewinnen, sein Leben zu retten? Liegt die Niederlage im Tod und im Scheitern des Kampfes gegen das 41bis-Regime und lebenslange Haft? Wir könnten diese Frage mit einem netten „Vielleicht“ beantworten, aber auch hier besteht die Gefahr, dass eine solche dichotome Sichtweise zu kurz greift. Der Tod ist ein Aspekt des Lebens, mit dem sich ein Revolutionär auseinandersetzen sollte. Wir wissen nicht, ob wir das getan haben, aber es scheint, dass Alfredo das getan hat, und das sollte man begreifen und respektieren. Wir sehen zwei Kämpfe, die gleichzeitig stattfinden: der erste ist der von Alfredo gegen den Staat, der zweite ist unser Kampf gegen die Macht. Jenseits der Rhetorik wird Ersterer gerade von Alfredo gewonnen. Wenn wir keine christliche Vision des Lebens als etwas Heiliges haben, steht der Staat politisch in ausdrücklichem Widerspruch, niemand kann für ihn eintreten. Der Staat wollte und will einen Gefangenen beugen, um das Ausnahmeinstrument des 41bis noch mehr zu legitimieren und Cospito lässt es nicht zu, er entzieht sich ihm. Lieber gibt Alfredo sein Leben, diesmal sein ganzes, um diese beiden repressiven Abscheulichkeiten dieses Landes in der Welt bekannt zu machen und so einen Riss zu öffnen. Das ist der Punkt, an dem wir stehen müssen, im angespannten Kampf mit der revolutionären Möglichkeit im Hinterkopf. Es geht nicht nur darum, Alfredo zu retten, sondern dem Kampf, für den er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, einen Sinn und eine Kontinuität zu geben, dort weiterzuwirken, wo es bereits einen Riss gibt. Wenn Gewinnen bedeutet, die beiden repressiven Gräuel abzuschaffen, dann bedeutet diese Gelegenheit zu nutzen, um auf dem revolutionären Weg voranzukommen, nicht zu verlieren. Der Kampf ist als gangbarer Weg zu verstehen und als anerkannte Möglichkeit zur Veränderung der Verhältnisse wichtig, ebenso wie die Etablierung und Verbreitung revolutionärer Minderheiten in der Gesellschaft. Nach Jahren der Unterdrückung ist der Staat in Schwierigkeiten, er verliert an Boden und wir haben die Chance, voranzukommen.

Für die Abschaffung vom 41bis und lebenslanger Haft,

für Alfredos Freiheit.

Einige Gefährten und einige Gefährtinnen

Rom, Januar 2023


1Luigi Manconi, auch bekannt unter dem Pseudonym Simone Dessì (Sassari, 21. Februar 1948), ist ein italienischer Politiker, Soziologe und Musikkritiker. Zwischen 1969 und 1975 wer er ein Militanter von Lotta Continua (eine außerparlamentarische Gruppe der Linken in Italien. Sie entstand im Zusammenhang mit der Studentenbewegung im Herbst 1969). Mittlerweile ist er fest verankert in der intellektuellen Elite Italiens. In einem Interview kommentiert er den Justizialismus, der die italienische Debatte zu prägen scheint und kritisiert, dass eine parlamentarische Befragung bezüglich des 41bis, immer noch ein Tabu darstelle. Laut seiner Aussage besteht die Gefahr, dass diese Debatte nur in linken Kreisen, insbesondere den Radikalen, geführt wird, die bereits eh gegen das 41bis kämpft und stattdessen andere Segmente der Bürgerschaft nicht erreicht. Er hat den „Appell für das Leben von Cospito“ an den Justizminister initiiert und mitverfasst. Er berichtet regelmäßig in seiner Kolumne in der „La Repubblica“ (eine der wichtigsten italienischen Tageszeitungen) über den Zustand von Alfredo Cospito.

2Massimo Cacciari (* 5. Juni 1944 in Venedig) ist ein italienischer Philosoph und Politiker. Er war von 1993 bis 2000 und von 2005 bis 2010 Bürgermeister von Venedig. In jungen Jahren hing Cacciari der linksradikalen „Potere operaio“ (Arbeitermacht) an, schrieb auch für deren Zeitschrift Classe Operaia (bis 1968) trat dann der Kommunistischen Partei Italiens bei. Auch er hat den „Appell für das Leben von Cospito“ unterschrieben. Mittlerweile ist er ein bekannter Meinungsschaffer und Vertreter der moderaten bürgerlichen Linken und ist somit wichtiger Bestandteil der intellektullen Elite in der italienischen Oberschicht.

3Der Begriff der Staatsräson bedeutet das Streben nach Sicherheit und Selbstbehauptung des Staates mit beliebigen Mitteln

4Attentismus (lateinisch attendere, „achtgeben, abwarten, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten“) bezeichnet ein untätiges, abwartendes Verhalten. Dabei werden Handlungsentscheidungen aufgeschoben in der Erwartung, dass die Situation sich klärt. Das Gegenteil von Attentismus ist Aktivismus.

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