(Antipolitika) SYSTEMISCHE TRIEBKRÄFTE FÜR DEN KRIEG(E) UND EINE AUTONOME, ANTIKAPITALISTISCHE ANTIKRIEGSPOSITION

Gefunden auf antipolitika, dieser Text wurde unter anderem auch für die Diskussionen auf dem antimilitaristischen Treffen Action Week in Prag geschrieben. Die Übersetzung ist von uns.


Veröffentlicht am 25.05.2024

SYSTEMISCHE TRIEBKRÄFTE FÜR DEN KRIEG(E) UND EINE AUTONOME, ANTIKAPITALISTISCHE ANTIKRIEGSPOSITION

1. VORBEMERKUNGEN

1. Die Angriffe der Houthis auf Frachtschiffe, die Schläge der USA und Großbritanniens gegen den Jemen, die im Roten Meer stationierte Marineflotte der USA und der EU, der Angriff von ISIS auf die Crocus City Hall1 (A.d.Ü., Anschlag in Krasnogorsk) und die Raketenangriffe des Irans und Israels2 sind neue Ausdrucksformen der sich abzeichnenden globalen Realität: Konkurrierende Gruppen/Blöcke von Kapitalisten haben den Weg des Krieges gewählt, um sich in den Hierarchien einer globalisierten Ökonomie, die sich in der Stagnation befindet und auch mit der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen zu kämpfen hat, besser zu positionieren. Diese neue multipolare Welt wurde nach der russischen Invasion in der Ukraine deutlich, aber die Anzeichen dafür gab es schon seit der Annexion der Krim durch die Russische Föderation (Februar 2014), dem Stellvertreterkrieg in Syrien (September 2015 – …) und dem neuen Kampf um Afrika (Kriege im Sudan, in der Zentralafrikanischen Republik und in Mali).

2. Während die Ökonomie weltweit immer tiefer in die Krise gerät, wird der Krieg zur letzten Lösung des Kapitalismus, um den Weg für Wachstum freizumachen. Wenn wir daher die Gräueltaten der IDF im Gazastreifen als bloße Fortsetzung der 75-jährigen Besatzung und die Angriffe der Hamas als bloße Fortsetzung des palästinensischen Widerstands verstehen, werden wir ihren Zusammenhang mit der aktuellen Abwärtsspirale des globalen Kapitalismus in Richtung Krieg nicht erkennen.

3. In den ersten Wochen der Militärkampagne in Gaza protestierten die Menschen massiv auf den Straßen und forderten einen Waffenstillstand, vor allem als die Brutalität der IDF-Angriffe bekannt wurde. Empathie ist wichtig, spontaner Widerstand gegen Krieg und militaristisches Grauen ist entscheidend. Aber wenn die Menschen diese Todespolitik nicht mit den Bedingungen des Kapitalismus als globales System in Verbindung bringen (und nur über das „kolonialistische und mörderische Israel“ sprechen), können sie die Notwendigkeit nicht verstehen, gegen kapitalistische Kriege in ihrem eigenen Interesse zu kämpfen. Die romantisierte Darstellung des palästinensischen Kampfes und die Entmenschlichung der Palästinenser/innen im Mainstream sind zwei Seiten derselben Medaille. Und solange die Reaktionen auf Sentimentalität beruhen, können sie zu einer massenhaften Banalisierung des Todes führen: Wenn die Menschen der Gewalt und dem ständigen Gemetzel zu sehr ausgesetzt sind, gewöhnen sie sich daran, ohne sich jemals über die Ursachen und die Funktion des Krieges klar zu werden. Sie sehen auch nicht die Notwendigkeit, den Krieg und nicht die Kriege zu bekämpfen.

4. Wer auch immer hier oder dort gewinnt oder verliert, Krieg ist für den Kapitalismus als globales System notwendig. Neben den Profiten für die Rüstungsindustrie setzt er Gewinne frei und ermöglicht die Schaffung von Mehrwert durch Zerstörung, er diszipliniert die Gesellschaften in den kapitalistischen Zentren und verwaltet überschüssige Bevölkerungen, die vom Kapital nicht profitabel ausgebeutet werden können.

5. Krieg ist die endgültige Lösung für die Widersprüche des Kapitalismus als globales System. Aber aus diesem Bündel von Widersprüchen wird keine neue Gesellschaft entstehen. Das kann nur die antikapitalistische soziale Bewegung erreichen. Solange wir passiv bleiben oder Positionen zugunsten der einen oder anderen kriegführenden Seite einnehmen, schaufeln wir unser Grab mit unseren eigenen Händen.

6. Deshalb ist es dringender denn je, klare Positionen zu beziehen und sich gemeinsam für die Schaffung einer globalen sozialen Bewegung gegen die kapitalistische Maschine des Todes und der Verzweiflung einzusetzen.

2. WARUM GESCHEHEN ALL DIESE DINGE?

Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. (Rosa Luxemburg, Das Junius-Pamphlet, 1915)

Wir müssen nicht auf romantisierte und naturalisierende Vorstellungen von Geschichte und kulturellen Unterschieden zurückgreifen. Die Geschichte des Kapitalismus ist mit Blut und Feuer geschrieben. Krieg, Krisen, Zerstörung, Enteignung, Plünderung und Kolonialismus waren schon immer das (nicht so) verborgene Gesicht des kapitalistischen Fortschritts und der Entwicklung nach dem Zeitalter der Entdeckungen. Neben dem Wettbewerb um Ressourcen und Einflusszonen als Triebfedern für bewaffnete Auseinandersetzungen kann Krieg die Proletarier disziplinieren, die Akkumulation durch Enteignung beschleunigen, die überschüssige Bevölkerung verwalten und das kapitalistische System als Ganzes wiederbeleben: Wenn die Profitabilität blockiert ist, können Krieg und Zerstörung die (Nachkriegs-)Chance für neue Wertschöpfungs- und Wachstumsrunden eröffnen. Konkurrierende kapitalistische Blöcke kämpfen gegeneinander um die Vorherrschaft im Handel, im Finanzwesen und im Militär. In diesem Wettbewerb sind es die Menschen, die Proletarier, wenn du so willst, die garantiert verlieren werden. Einige Kapitalisten werden viel gewinnen, andere werden etwas verlieren, und manche werden sogar alles verlieren. Aber Geld kennt keinen Meister – das kapitalistische System als Ganzes wird garantiert gewinnen. Vor allem in einer globalisierten Ökonomie kann das Schlafen mit dem Feind (Handel zwischen Gegnern in Kriegszeiten) zur Norm und nicht zur Ausnahme werden und die Profitabilität für die herrschenden Eliten aller kriegführenden Seiten erhöhen. Auch wenn die ökonomische Logik eines bestimmten Krieges nicht sofort ersichtlich ist oder in diesem Moment gar nicht existiert, tragen Kriege immer zu Formen der Macht bei, wie z. B. Nationalstaaten oder bestimmte Anführer und Regime, die letztlich dem Kapitalismus insgesamt zugute kommen. Was diejenigen angeht, die glauben, dass eine multipolare Welt günstiger für soziale Gerechtigkeit sein wird: Wie könnte ein neues Machtgleichgewicht, das auf Kosten der Gesellschaften geschaffen wird (da die soziale Bewegung unter dem Gewicht der Geopolitik begraben oder auf einen Unterstützer autoritärer Regime und/oder staatlicher Politik reduziert wird), irgendjemandem nützen?

Die Machtzentren des Kapitalismus als Weltsystem haben sich in der Vergangenheit viele Male verändert. Diese Veränderungen haben noch nie dazu geführt, dass der Kapitalismus (oder die Ausbeutung) weniger brutal geworden ist. Damit diese für den Kapitalismus so nützlichen Kriege stattfinden können, gibt es zwei Voraussetzungen: (a) Waffen, die produziert werden müssen, und (b) Köpfe, die für denselben Zweck geformt werden müssen. Die Rüstungsindustrie ist immer bereit, die Mittel für die Zerstörung zu liefern. Die Rüstungsindustrie ist schließlich eine Industrie wie alle anderen auch, eine Industrie, die mehr Produkte verkaufen, die „Kauffrequenz“ erhöhen, für Produkte werben muss, indem sie sie potenziellen Kunden unter realen Bedingungen und in vivo vorführt, neue Produkte entwickeln, Lagerbestände abbauen, neue Märkte schaffen usw.3 Das Gleiche gilt für die Gegenseite. Die russische und die chinesische Rüstungsindustrie kämpfen seit Jahren auf dem Weltmarkt, da ihre Systeme noch nicht kampferprobt sind.4

3. DIREKTE FOLGEN DES KRIEGES/DER KRIEGE JENSEITS DES HORRORS AUF DEN SCHLACHTFELDERN

a. Die Umwelt als Kriegsopfer

Die jüngsten Kriege haben Aktionen zur Bewältigung der Klimakrise zunichte gemacht, während der Bedarf der globalen Kriegsmaschinerie an fossilen Brennstoffen ein weiterer Parameter für die zunehmenden Konfrontationen ist.

„Das Ziel der Dekarbonisierung der Energiesysteme, das vor dem Krieg in politischen Kreisen oft genannt wurde, ist zugunsten von Energiesicherheit und Bezahlbarkeit der Energie verblasst. Der Schwerpunkt liegt jetzt auf der Energieunabhängigkeit, bei der es darum geht, genügend einheimische Energiequellen zu sichern, um nicht auf Importe angewiesen zu sein, egal wie kohlenstoffintensiv diese Quellen auch sein mögen. Dies hat dazu geführt, dass der Ausstieg aus schmutzigeren Energieformen ins Stocken geraten ist. Einige Länder haben begonnen, mehr Kohle zu verbrennen, mehr Terminals für Flüssigerdgas (LNG) zu bauen und die Gaspipelines zu erweitern. Überall auf der Welt bauen Länder im eigenen Land Kohlekraftwerke oder nehmen sie wieder in Betrieb, während sie im Ausland in die Erschließung von Öl- und Gasvorkommen investieren“5.

Während der COP28 sagten die USA gerade einmal 17,5 Millionen Dollar für den „Loss and Damage Fund“ (Fonds zur Unterstützung der Entwicklungsländer bei der Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels) zu – ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu ihren gigantischen Militärausgaben von 876,94 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Auf demselben Treffen betonten die Teilnehmer „ihr Engagement für die Bewältigung der Klimakrise und neue Investitionen in erneuerbare Energien“.

Dennoch befinden sich viele der wichtigen Mineralienvorkommen – Kobalt, Lithium6, Mangan, Graphit und Nickel -, die für erneuerbare und kohlenstoffarme Technologien wichtig sind, in Afrika. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen bedeutet also, dass wir ein neues Feld der Auseinandersetzung betreten.

Auf der anderen Seite sind fossile Brennstoffe für das Militär unverzichtbar. „Der Energieverbrauch des US-Militärs treibt den gesamten Energieverbrauch der US-Regierung an.“7 „Wären die Militärs der Welt eine einzige Nation, läge sie nach unserer Schätzung an vierter Stelle – hinter China, den USA und Indien – aber vor Russland und Japan.“8

Zwischen 2013 und 2021 gaben die reichsten Länder 9,45 Billionen US-Dollar für das Militär aus, das sind 56,3 % der gesamten weltweiten Militärausgaben (16,8 Billionen US-Dollar). Die Militärausgaben sind seit 2013 um 21,3 % gestiegen.9

b. Militarismus, Männlichkeit und geschlechtsspezifische Gewalt

Obwohl sowohl in der Ukraine als auch in Israel Massenmedien und Behörden den queeren Kampf für Krieg und nationalistische Propaganda instrumentalisieren, ist der Krieg selbst die Definition von Männlichkeit, Patriarchat und dem romantisierten Bild des Helden, der „das Mutterland beschützt“ und „das Vaterland ehrt“. Kriege und Militarismus stärken das Patriarchat und patriarchalische Gesellschaften und fördern eine Kultur, in der Gewalt gegen Frauen und LGBTQIA-Personen normalisiert wird. Neben dem patriarchalischen Charakter des Krieges tragen bewaffnete Auseinandersetzungen direkt zur Zunahme geschlechtsspezifischer Gewalt bei und führen zu finanzieller Unsicherheit, ökonomischer Not und Ernährungsunsicherheit. Die rassistische Dynamik überschneidet sich mit geschlechtsspezifischer Gewalt und macht das Leben für Frauen und LGBTQIA-Personen of Colour zur Hölle. So wurden im Jahr 2022 weltweit „fast 89.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet. Das ist die höchste jährliche Zahl, die in den letzten zwei Jahrzehnten verzeichnet wurde. Eine beträchtliche Anzahl von Femizidopfern (etwa 40 Prozent) bleibt im UN-Bericht unberücksichtigt, da sie nicht als geschlechtsspezifische Tötungen kategorisiert werden“10.

Dieses Argument gilt selbst angesichts einer „queer-freundlichen Militarisierung“, wie sie in Israel und der Ukraine zu beobachten ist. Die Inklusion von LGBTQIA in Kriegseinsätzen ist kein Zeichen von Fortschritt. Im Gegenteil: Sie deradikalisiert, entpolitisiert und neutralisiert diese Ungleichheiten, indem sie sie in die nationalistische, kapitalistische Kriegsmaschinerie integriert.

c. Der Krieg gegen Migranten

Während Kriege immer mehr Flüchtlinge und Migranten hervorbringen, haben wir in den letzten 10 Jahren eine Militarisierung der (Anti-)Migrationspolitik in einem solchen Ausmaß erlebt, dass wir den Begriff „Krieg gegen Migranten“ verwenden müssen.

– Kürzlich wurden unter dem Vorwand des Massakers in Gaza Änderungen an der (Anti-)Migrationspolitik vieler EU-Länder eingeführt.

– Der US-Kongress musste die Bewilligung von mehr Mitteln für Waffenlieferungen an die Ukraine mit dem Versprechen kompensieren, dass auch neue Mittel für den Bau der Mauer in Mexiko und die Blockade von Migranten bereitgestellt werden.

– Militarisierung und Brutalität haben ihren Höhepunkt im Mittelmeer (z. B. der Massenmord bei Pylos, wo 600 Migranten bei einem Vorfall ums Leben kamen, an dem die griechische Küstenwache beteiligt war, aber niemand zur Verantwortung gezogen wurde) und an den Grenzen zwischen Mexiko und den USA (z. B. hat Texas eine schwimmende Barriere mit Kettensägen installiert, um Migranten zu verletzen) erreicht.

d. Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer

„Während Millionen von Menschen auf der ganzen Welt in bitterer Armut leben, ohne sauberes Trinkwasser, angemessene Gesundheitsversorgung, menschenwürdige Unterkünfte oder Bildung für ihre Kinder, haben die Milliardäre der Welt ihren Reichtum allein in den letzten drei Jahren um über 3 Billionen US-Dollar gesteigert.“ „Die einkommensschwachen Länder hingegen liegen immer noch über den Armutsquoten vor der COVID und schließen die Lücke nicht, da die Armut dort zwischen 2022 und 2023 leicht zunimmt.“ „Die Milliardäre sind heute um 3,3 Billionen US-Dollar (oder 34 %) reicher als zu Beginn dieses Krisenjahrzehnts, wobei ihr Vermögen dreimal so schnell wächst wie die Inflationsrate. Die größten Unternehmen verzeichneten 2021 und 2022 einen Gewinnsprung von 89 %, während die Gewinne von 14 Öl- und Gasunternehmen 2023 um 278 % über dem Durchschnitt von 2018-21 lagen.““ „Seit 2020 haben die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen verdoppelt.“11

e. Der Krieg nährt neue Kriege – Krieg wird als Mittel zur Bewältigung aller Arten von Krisen normalisiert

– Der Krieg, den die türkische Armee gegen das kurdische Volk führt, wird immer härter, mit Beschuss durch Drohnen und Kampfflugzeuge im Oktober 2023, Januar 2024 und März 2024 (inzwischen hat der türkische Staat starke ökonomische Verbindungen mit dem israelischen, auch wenn das Erdogan-Regime die Hamas unterstützt).

– Am 17. und 18. Januar 2024 griffen der Iran und Pakistan über ihre Grenzen hinweg Zivilisten in der Region Belutschistan an. Am 17. März 2014 startete Pakistan Luftangriffe innerhalb Afghanistans „gegen pakistanische Taliban“.

– Die Zentralafrikanische Republik ist bereit, einen russischen Stützpunkt für bis zu 10.000 Soldaten aufzunehmen. (Zentralafrikanische Republik will russischen Stützpunkt beherbergen – offiziell. 16. Januar / TASS). In Burkina Faso ist der russische „Antiimperialismus“ auf dem Vormarsch, seit das Militär in zwei aufeinanderfolgenden Putschen im Jahr 2022 die Macht übernommen hat (z. B. Burkina Faso dankt Russland für das „unbezahlbare Geschenk“ von Weizen, BBC News, 27. Januar 2024).

– Am 16. März 2024 verkündete der Sprecher der nigrischen Militärregierung, dass „Niger die militärische Zusammenarbeit mit Washington aussetzen wird“ (Niger’s junta says US military presence is no longer justified (Niger´s Junta verkündet dass die militärische Präsenz der USA nicht gerechtfertigt werden kann), Associated Press News, 17. März 2024).

– Neben den oben erwähnten jüngsten Entwicklungen sind auch die laufenden Kriege im Sudan, in Somalia und Äthiopien zu beachten.

– Mögliche Gebiete für künftige bewaffnete Auseinandersetzungen sind China/Taiwan und das Gebiet Esequiba in Guyana (am 3. Dezember 2023 fand in Venezuela ein Referendum statt, bei dem es um die Frage ging, ob das Gebiet in die Landkarte Venezuelas aufgenommen werden soll).

– In Lateinamerika (Mexiko, Ecuador, Kolumbien usw.) wird der Krieg gegen die Bevölkerung durch die Narcos geführt, die genauso agieren wie die paramilitärischen Gruppen in den 70er und 80er Jahren.

– Wir haben bereits den „Krieg gegen Migranten“ erwähnt. Die Militarisierung der Reaktionen auf COVID-19 ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Krieg als Mittel zur Bewältigung aller Arten von Krisen normalisiert wird.

Parenthese: Notizen von den Fronten des Krieges

Russland/Ukraine

Gefährten und Gefährtinnen aus der Region informieren uns darüber: Menschen aus Zentralasien werden zur russischen Armee geschickt, wofür ihnen die russische Staatsbürgerschaft versprochen wird; wenn sie in ihre Länder zurückkehren, werden sie verhaftet, weil es verboten ist, der Armee eines anderen Landes beizutreten. Die russische Ökonomie wird durch den Krieg schwer geschädigt, aber sie macht auch Gewinne durch den Krieg. Die Stimmung in der Ukraine ändert sich. Viele Arbeiter verstecken sich. Wenn sie erwischt werden, werden sie einfach zur Armee geschickt. Es gibt immer mehr Geschichten von Verwundeten, die sich in der EU, vor allem in den baltischen Ländern, verkriechen, um dem neuen Mobilmachungsgesetz in der Ukraine zu entgehen. „Estland ist, wenn nötig, bereit, die Flüchtlinge, die der Mobilmachung unterliegen, an die Ukraine auszuliefern“, sagte Innenminister Lauri Läänemets (22. Dezember 2023). Im Moment gibt es keine Anzeichen für Initiativen, die bereit oder in der Lage sind, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Gaza Techno- Thanatospolitik

Über die Militärkampagne der IDF als Rache an der Bevölkerung des Gazastreifens für die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober und als Vorstoß in Richtung der nationalen Säuberungsträume der Netanjahu-Regierung12 ist schon viel geschrieben worden. Ein Aspekt, der nicht genug betont wurde, ist das Beispiel der Politik des Todes und der Verwaltung der überschüssigen Bevölkerung, die dieser Krieg auf eine äußerst raffinierte Art und Weise setzt, die man als Techno-Thanatospolitik bezeichnen kann: „Die israelische Armee verfügt über Dateien zu den meisten potenziellen Zielen im Gazastreifen – einschließlich Häusern -, in denen die Anzahl der Zivilisten festgelegt ist, die bei einem Angriff auf ein bestimmtes Ziel wahrscheinlich getötet werden. Diese Zahl wird im Voraus berechnet und ist den Geheimdiensten der Armee bekannt, die auch kurz vor einem Angriff wissen, wie viele Zivilisten mit Sicherheit getötet werden.“13

Es gibt keinen Ausweg aus der Situation in Gaza/Palästina/Israel, wenn es keine internationalistische und antikapitalistische Mobilisierung gibt. Wir brauchen dringend einen Ansatz, der die Wurzeln des Konflikts, die jeweiligen Interessen und vor allem die sozialen Kräfte innerhalb Israels und der palästinensischen Gesellschaft anspricht, die in der Lage und bereit sind, eine andere Lösung als den totalen Krieg und die Vernichtung zu unterstützen (die von der IDF derzeit brutal praktiziert und von verschiedenen Versionen des politischen Islams für die Zukunft angestrebt wird). Das bedeutet, dass wir die fortschrittlichen und oppositionellen Stimmen in Palästina und Israel, die sich gegen die Netanjahu-Regierung und die Hamas-Regierung wenden, erfassen, unterstützen und verbinden müssen.

f. Die Angst vor dem Krieg befeuert die Kriegspolitik: Die Angst vor der Ausbreitung des Krieges führt dazu, dass die Menschen den Krieg unterstützen

Wie kann man in einer Situation, in der der größte Teil der Gesellschaft Angst vor dem Krieg hat, eine Perspektive gegen den Krieg schaffen? Wie können wir erklären, dass Antikriegspolitik nützlicher ist als die Politik der NATO oder der eurasischen Militarisierung?

Diese sehr realen Fragen werden in den letzten zwei Jahren in allen Nachbarländern der Ukraine gestellt. Die Kriegsherren des westlichen Kapitalismus wollen sie auf ihr gesamtes Herrschaftsgebiet ausweiten: „Die EU sollte sich bis zum Ende des Jahrzehnts auf einen Krieg vorbereiten, warnt der deutsche Verteidigungsminister“ (18. Dezember 2023), „Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei. Genau wie unsere Feinde müssen wir jetzt für eine Ära der Konfrontation planen und investieren…“ (Großbritanniens Verteidigungsminister, Montag, 15. Januar 2024), „Das Militär der NATO ist bereit, aber auch die Zivilbevölkerung muss sich auf den Krieg vorbereiten“ (NATO-Militärkommandeur Admiral Rob Bauer, 18. Januar 2024). „Französische Truppen sind bereit für „die härtesten Einsätze““ (NATO-Verbündeter könnte 60.000 Mann starke Truppen in der Ukraine befehligen, Newsweek, 20. März 2024). Abgesehen davon, dass dies ein klarer Fall ist, in dem das Heilmittel die Krankheit nährt, kann es keine persönliche Antwort (außer auf ethischer Basis) auf die oben genannten Fragen geben. Die Antwort wird entweder von einer transnationalen sozialen Bewegung gegen Militarismus und Krieg oder von der grausamen Realität des Krieges selbst kommen.

g. Die Angst verschiebt das gesamte politische Spektrum nach (ganz) rechts

Die Unterstützung für mehr oder weniger offene Faschisten (Geert Wilders, Javier Milei, Giorgia Meloni, Marine Le Pen usw.) ist die Antwort der freien Welt auf die despotischen Regime der konkurrierenden kapitalistischen Blöcke.

Auch am anderen Ende des politischen Spektrums findet ein Rechtsruck statt: Während sich autoritäre und unterdrückerische Regime als Anführer einer entstehenden „multipolaren“ Welt präsentieren, treten Teile der Linken dafür ein, dass tyrannische, autoritäre und reaktionäre Kräfte und Regime einen progressiven Widerstand gegen den „westlichen Imperialismus“ darstellen.

Menschen, die noch vor einem Jahr „Frau, Leben, Freiheit“ riefen, unterstützen jetzt die sogenannte Achse des Widerstands. Wir sind entschieden dagegen, dass Menschen aufgrund ihrer Nationalität unterdrückt werden. Das ist klar. Aber wir dürfen nie vergessen, dass alle Nationalismen – auch die der derzeit unterdrückten Gruppen – ebenfalls ausgrenzend und unterdrückend sind. Das Gleiche gilt für Theokratie und religiösen Obskurantismus. Außerdem ist der politische Islam kein Konkurrent des Kapitalismus, sondern ein Werkzeug in den Händen verschiedener kapitalistischer Gruppierungen, eine Alternative zur Marke des westlichen Kapitalismus, nicht zum Kapitalismus selbst. Er wird seit vielen Jahrzehnten von globalen und regionalen kapitalistischen Mächten eingesetzt: In der Vergangenheit von den USA gegen den säkularen arabischen Nationalismus und die Sowjetunion, in jüngerer Zeit vom israelischen Staat gegen den säkularen Widerstand der Palästinenser, von der NATO gegen das Regime von Bashar al-Assad in Syrien, von den Golfmonarchien und der Islamischen Republik Iran, um ihre eigenen Interessen in der Region durchzusetzen, vom Erdogan-Regime für das neo-osmanische Narrativ der AKP, und selbst die christlich-orthodoxe Russische Föderation hat die Karte des pro-putinistischen politischen Islams in Tschetschenien gespielt, um die neue Konfrontation in Palästina anzugehen.

„Wir wissen, dass der Weg zur kollektiven Befreiung nicht in der Wahl zwischen falschen Dichotomien wie „globaler Imperialismus/Islamische Republikregierung“ oder „israelische Kolonialherrschaft/Hamas reaktionäre Kraft“ liegt. (…) Stattdessen geht es darum, diese Binaritäten und groben Vereinfachungen abzubauen. Jahrelang hat man uns weisgemacht, dass wir nur die Wahl zwischen dem „Schlechten und dem Schlimmeren“ haben. Heute sagen wir laut und deutlich „Nein“ zu den falschen Binaritäten, die uns präsentiert werden, und stellen uns gegen Unterdrückung und Repression in all ihren Formen. (Jin Jiyan Azadî wie in Freies Palästina, Text unterzeichnet von 250+ iranischen Feministinnen, November 2023)14

Selbst Solidaritätsbewegungen neigen dazu, diese Dichotomien als Erklärungsrahmen für diese Konflikte zu interpretieren. Diese Dichotomien scheinen einen einfachen Zugang zu moralisierenden politischen Bewertungen zu bieten, die politische Subjekte dazu bringen können, die eine oder andere Seite zu unterstützen oder die Situation zu vereinfachen. Da solche Dichotomien jedoch auf kapitalistischen, etatistischen Erzählungen über Weltfrieden durch Krieg oder über eine multipolare Welt beruhen, reproduzieren sie in Wirklichkeit den Effekt, den sie abschwächen sollen. In einem konfliktreichen, kapitalistischen, hyperkomplexen Stellvertreterkrieg gibt es eine endlose Vermehrung solcher Dichotomien.

Es gibt auch die visuelle Darstellung des Antiimperialismus der 1960er und 1970er Jahre, der als Avatar wiederkehrt. Obwohl es keine Staatsmacht gibt, die sich als antikapitalistisch ausgibt, phantasieren die Anhänger des Antiimperialismus rivalisierende kapitalistische Blöcke als Gegenmittel zum westlichen Kapitalismus. Es genügt, eine sowjetische Flagge auf einem russischen Panzer oder die DFLP-Flagge neben der der Hamas zu sehen, um das Gefühl zu bekommen, dass eine Ideologie wiederbelebt wird, die sich bereits in der Vergangenheit als falsch erwiesen hat, als antikolonialistische Kämpfe gezwungen waren, sich entweder mit der einen oder anderen Version des Staatskapitalismus (UdSSR oder China) zu verbünden oder durch Industrialisierung, primitive Akkumulation und den Aufbau von Nation-Staaten „ihren eigenen Weg zu finden“. Auch wenn die Revolutionäre vor Ort wohlmeinend waren und die besten Träume und Absichten hatten, waren sie, als sie sich mit den bestehenden Machtstrukturen und den aufstrebenden herrschenden Klassen in den gerade entkolonialisierten Ländern verbündeten, gestrandet und zwischen staatlicher Politik, der Außenpolitik der damaligen Supermächte und der internationalen Diplomatie gefangen. Wenn sie nicht direkt von der Militärmaschinerie des Westens überrollt wurden, reichten all die oben genannten Sackgassen und entfremdenden Kampfmittel aus, um die Menschen völlig zu entmachten und ihnen jede Perspektive und Hoffnung auf Emanzipation zu nehmen. In den 1990er Jahren setzten der konzerngesteuerte Neokolonialismus, die „Strukturanpassungsprogramme“, die „humanitären Kriege“ und schließlich der „Krieg gegen den Terror“ eine neue Art von Kolonialherrschaft durch, deren Alternative nun die Bühne betritt: der politische Islam und die „multipolare“ BRICS-“Perspektive“.

4. VERKNÜPFUNG DER LAUFENDEN SOZIALEN KÄMPFE MIT DEM WIDERSTAND GEGEN MILITARISMUS UND KRIEG

Anstatt von einer Rückkehr zu etwas zu fantasieren, das sich von Anfang an als falsch erwiesen hat, sollten wir versuchen, den Widerstand gegen die kapitalistische Todesmaschinerie mit den laufenden sozialen Kämpfen zu verbinden. Überall finden bereits Mobilisierungen zu verschiedenen Themen statt, mit Forderungen, die der Logik des Krieges schon durch ihre bloße Existenz trotzen: Feministische Kämpfe wie die riesigen Demonstrationen am 25. November 2023 in Italien gegen patriarchale Gewalt15, die Proteste in Frankreich gegen das neue und sehr rassistische Einwanderungsgesetz oder der Marsch von Migranten an die US-Grenzen16, Kämpfe gegen Privatisierungen wie der Kampf der Studenten gegen die Privatisierung der griechischen Universitäten, Kämpfe gegen Extraktivismus und kapitalistische Megaprojekte, die in vielen Teilen Lateinamerikas, aber auch in Frankreich, Serbien und anderswo in Europa stattfinden.

Obwohl Krieg von den Machthabern oft als Mittel gegen die wachsende allgemeine Unzufriedenheit eingesetzt wird, verdrängt die Stärkung des Sozialen- bzw. Klassenkriegs in einer Weise, die es dem (universellen) Proletariat ermöglicht, seine eigene neue Form der Macht zu verkörpern, indem es zur Klasse des Bewusstseins wird, verdrängt immer die Aussicht auf Krieg. Das erfordert internationalistische Organisationsinitiativen wie die Aktionswoche und den Antikriegskongress in Prag. Leider hat es in den mehr als zwei Jahren, die seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine vergangen sind, nicht so viele ähnliche Initiativen gegeben. Wir können nur die folgenden nennen:

– Der zapatistische Aufruf „zu Protesten und Mobilisierungen gegen ALLE KAPITALISTISCHEN KRIEGE“ am 13. März 2022.

– Der Aufruf der Permanent Assembly Against the War (Permanenten Vollversammlung gegen den Krieg) zum „Streik gegen den Krieg“ am 1. Mai. 2022.

– Der internationalistische, antikapitalistische und Antikriegs-Protest, der am 8. Juli 2023 in Ljubljana im Rahmen der Balkan Anarchist Bookfair stattfand.

– Die „Weltweiten Aktionstage gegen jeglichen Krieg und Militarismus“, die auf dem Internationalen Anarchistischen Treffen in Saint-Imier (Juli 2023) vorgeschlagen wurden und Ende November 2023 stattfinden sollen. Am 18. November fand in Turin eine von der Assemblea Antimilitarista organisierte antimilitaristische Demonstration „gegen die Stadt der Waffen und den NATO-Innovationsbeschleuniger in Turin anlässlich der Marktausstellung der Luft- und Raumfahrtindustrie (Aerospace and Defense Meeting)“ statt. Am 29. November fand ein Protest gegen die Berliner Sicherheitskonferenz (ein internationales Treffen von Rüstungsindustrien, NATO-Beamten und europäischen Politikern) unter dem Slogan „Keine Kriegskonferenz in unserer Stadt!“ statt, während die Gefährten und Gefährtinnen in Ljubljana Anti-Kriegs-Transparente vor den Gebäuden von 3 Rüstungsindustrien aufhängten. In denselben Tagen wurde ein Antikriegsplakat mit der Aufschrift „Überall auf der Welt, vom Balkan bis nach Palästina und Israel, Russland und der Ukraine, ist der Feind das Kapital und der Staat – über die Mauern des Nationalismus und des Krieges hinweg, Solidarität und Widerstand aufbauen!“ produziert – dieses Plakat wurde auf der Vollversammlung der 15. Balkan Anarchist Bookfair (Ljubljana, Juni 2023) beschlossen17.

Eine weitere internationale (aber nicht unbedingt internationalistische) Initiative fand am 10. November 2023 statt, als auf verschiedenen Kontinenten Demonstrationen und Streiks gegen Waffenlieferungen an die israelische Armee stattfanden. In Kent, England, wurde mit einer Blockade eine Waffenfabrik gestoppt, während Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in Oakland, Seattle, Barcelona und Sydney zur gleichen Zeit Aktionen organisierten. Im Hafen von Genua, Italien, organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter eine Blockade der Hafentore, begleitet von einer Demonstration gegen den Krieg und die Militärlogistik. Die Aktionen in Genua wurden von der CALP (Autonomes Kollektiv der Hafenarbeiterinnen und -arbeiter) organisiert. Hafenarbeiterinnen und -arbeiter in Genua hatten bereits am 31. März 2022 mit einem Transparent mit der Aufschrift“Keinen Pfennig, kein Gewehr, kein Soldat für den Krieg“ eine ähnliche Protestaktion durchgeführt.

Es gab den Vorschlag, die Proteste der Feministinnen am 8. März 2024 mit dem Widerstand gegen Krieg und Kapitalismus zu verbinden, aber das scheint vor allem in Italien geschehen zu sein. Im Gegensatz dazu fanden in Deutschland separate pro-israelische und pro-palästinensische feministische Proteste statt.

Die Notwendigkeit, Deserteure und Kriegsverweigerer in den betroffenen Gebieten zu unterstützen, wurde oft angesprochen.

– In Israel wurden Sofia Or und Tal Mitnick (Mesarvot-Netzwerk) vor Gericht gestellt und inhaftiert, weil sie sich weigerten, der Armee beizutreten.

– In der Ukraine werden sogar christliche Kriegsdienstverweigerer (wie Vitaly Alekseenko) inhaftiert, während Pazifisten, wie Yurii Sheliazhenko von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, ständig schikaniert werden.

– Es gibt gegenseitige Unterstützungsnetzwerke von ukrainischen Staatsangehörigen, die in EU-Länder geflohen sind, um nicht für den Krieg rekrutiert zu werden, aber (mit sehr wenigen Ausnahmen) fühlen sie sich nicht sicher, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen.

– Viele Menschen, die aus Russland geflohen sind, halten sich jetzt in Serbien auf, da sie für die Einreise in EU-Länder ein Visum benötigen, was bei ihrer Einreise nach Serbien nicht erforderlich war. Gleichzeitig werden sie in Serbien selbst ständig von FSB-Agenten überwacht.

– In Russland gibt es viele Gefangene, die wegen direkter Aktionen gegen den Krieg verurteilt wurden. Hier sind die Kontaktadressen von Anti-Kriegs-, Anarchistinnen und Anarchisten und antifaschistischen Gefangenen in Russland (Informationen, von Anarchist Black Cross Moskau, Update vom 20. Februar 2024):

https://wiki.avtonom.org/en/index.php/Category:Currently_imprisoned_in_Russia

Wir sollten bedenken:

a. Eine Bewegung, die sich gegen die systemischen Ursachen von Kriegen richtet, kann entstehen, bevor ein Krieg ausbricht. Wenn der Krieg ausbricht, ist es zu spät.

b. Im Westen wird der „Krieg“ immer noch in den Köpfen und Herzen der Menschen ausgetragen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Realität des Krieges und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verschiedene Phasen durchlaufen:

– Morbide Neugier und Exotik/Spektakel (Irak 1990) / Live-Übertragung eines Krieges / „Der Himmel über Bagdad wird erleuchtet“.

– Opferbereitschaft/Solidarität, während der Krieg noch „weit weg“ war (Syrien) und Gleichgültigkeit (in der Vergangenheit haben wir von einigen der tödlichsten Massaker nicht einmal etwas mitbekommen: dem Maya-Genozid in Guatemala, dem zweiten Kongo-Krieg, auch bekannt als Afrikas Weltkrieg. Zurzeit gibt es Kriege im Sudan und in Äthiopien, für die sich niemand interessiert.)

– Je näher der Krieg rückte (der Krieg in der Ukraine wurde als „erster Krieg auf europäischem Boden nach dem 2. Weltkrieg“ bezeichnet, eine Beschreibung, die die Jugoslawien-Kriege bequemerweise vergisst), desto weiter reichte das allgemeine Gefühlsspektrum von Angst bis zur Banalisierung des Todes.

– Das Übermaß an Gewalt und Tod während des andauernden Massakers in Gaza hat die Thanatospolitik auf ein neues Niveau gehoben.

Wir brauchen unsere eigene Politik des Lebens.

Wir müssen verstehen, dass die Antikriegspolitik den Aufbau von Realitäten beinhalten muss, die die Wurzeln des Krieges bekämpfen.

An verschiedenen Orten auf der Welt versuchen Bewegungen und Menschen, Alternativen zum Kapitalismus, dem Staat und seiner Kriegsmaschinerie zu schaffen: Die zapatistische Autonomie in Chiapas, der kurdische demokratische Konföderalismus in Rojava, die Selbstorganisation der Mapuche (Chile/Argentinien), der Nasa und der Misak (Kolumbien) sowie von Dutzenden von Völkern im Amazonasgebiet, die Abahlali baseMjondolo-Bewegung der Hüttenbewohner in Südafrika, die MST in Brasilien und die internationale Via Campesina Bewegung. Schauen wir uns auch die Bewegungen innerhalb der kapitalistischen Kernländer an (Hausbesetzungen, Soziale Zentren, Solidaritätsnetzwerke, selbstorganisierte Projekte und Initiativen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Lebensmittelverteilung und Gegeninformation, Initiativen der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Selbstverwaltung, landwirtschaftliche Kollektive usw.).

Wir müssen verstehen, dass die Antikriegspolitik den Aufbau anderer Realitäten beinhalten muss, Realitäten, die den Wurzeln des Krieges widerstehen. Mit anderen Worten: Wir können uns der Thanatospolitik nicht widersetzen, wenn wir nicht unsere eigene Politik des Lebens praktizieren: Die Freude am Widerstand und an der Revolution gegen den Kult des Todes und des Märtyrertums; Fürsorge und Solidarität anstelle des wachsenden Militarismus und der Intoleranz (die aus dem Elend und der Verzweiflung erwachsen); Selbstverwaltung und soziale Verantwortung anstelle der vom Kapitalismus geförderten allgemeinen Verantwortungslosigkeit; kollektive Freiheit anstelle der individualistischen Inhaltslosigkeit.

Zusammen mit klassenkämpferischen Organisationen und sozialen Bewegungen gegen Rassismus, Patriarchat, Umweltzerstörung, Militarismus und zur Verteidigung des Gemeinguts, zusammen mit Kriegsverweigerern und Deserteuren von den verschiedenen Kriegsfronten, zusammen mit Feministinnen, Migrantinnen, prekären Arbeiterinnen und Arbeitern und Umweltaktivistinnen und -aktivisten werden wir eine autonome Antikriegsbewegung gegen die kapitalistische Maschinerie des Todes und der Verzweiflung schaffen.

Wie immer kann der Krieg – wenn es kein Bürgerkrieg ist – den Prozess der sozialen Revolution nur einfrieren. In Nordvietnam bewirkt er, dass die Bauernmassen der sie ausbeutenden Bürokratie zustimmen – was diese bisher nie erreicht hatte. In Israel liquidiert er für lange Zeit jede Opposition gegen den Zionismus, während in den arabischen Ländern – momentan – die reaktionärsten Schichten verstärkt werden. Keineswegs können sich die revolutionären Strömungen darin erkennen. Ihre Aufgabe liegt am anderen Ende der gegenwärtigen Bewegung, deren absolute Negation sie sein müssen. (Mustapha Khayati, Zwei lokale Kriege, Internationale Situationniste #11, Oktober 1967; Übers. von Ken Knabb)

Antipolitika, Mai 2024.


1Wir sollten uns islamistischen Bewegungen nicht anhand der Ideen annähern, die sie artikulieren, sondern vielmehr anhand ihres sozialen Inhalts. Der Islamische Staat entstand nach dem katastrophalen Krieg im Irak und wuchs nach der Niederlage des Arabischen Frühlings im Umfeld des wachsenden Gewichts des Golfkapitals sowohl im Nahen Osten als auch im globalen Maßstab. Sie wurde durch die Internetpornografie ihrer Gewalt weltweit bekannt. Während des Stellvertreterkriegs in Syrien haben westliche Regierungen Gruppen, die mit ISIS in Verbindung stehen, mit Waffen und Geld unterstützt. Über ihre aktuelle Organisationsform wissen wir nichts. Vielerorts beanspruchen Gruppen, dazuzugehören, und es ist unklar, welche spezifischen Faktoren jede vom Islamischen Staat beanspruchte Aktion bestimmen (der ISIS-Crocus City Hall Anschlag könnte mit der unverhältnismäßigen Zwangsrekrutierung von Muslimen in die russische Armee in der Ukraine oder mit den brutalen Kriegen in Itschkeria, Inguschetien usw. zusammenhängen). In der heutigen komplexen globalen Umgebung können viele Faktoren gleichzeitig eine Rolle spielen, sogar mit widersprüchlichen langfristigen Interessen. Doch anstatt sich in Verschwörungstheorien zu ergehen, sollten wir den Islamischen Staat im Rahmen der globalen sozialen Beziehungen und Bedingungen untersuchen: Niederlage und Demütigung sind zu alltäglichen Erfahrungen geworden, und es sind keine plausiblen Alternativen für die politische und ökonomische Organisation in Sicht; das Kapital bewegt sich auf der Suche nach Profit ständig über nationale Grenzen hinweg, während Thanatospolitik den Alltag beherrscht und einen ideologischen Rahmen bietet, der ganze Gruppen von Menschen zum Untermenschen degradiert; der Islamische Staat könnte als transnationales Netzwerk verstanden werden, das das System widerspiegelt, gegen das er sich stellt.

2„Die jüdische Apartheid und die schiitische Apartheid brauchen Krieg: Die Angleichung des islamischen Regimes an die Ziele der Ausweitung des Krieges durch Netanjahu und die israelische Rechte ist genau auf die Angleichung an die Ergebnisse und Auswirkungen dieses zerstörerischen Krieges bei der Unterdrückung der zivilen und revolutionären Bewegung des Volkes im Iran zurückzuführen. In diesem Ziel sind die beiden Apartheidregime vereint und gleichgeschaltet. (…) Wir rufen alle freiheitsliebenden und nach Gleichheit strebenden Kräfte, alle gewissenhaften und besorgten Individuen dazu auf, die Friedensbewegung von ganzem Herzen zu verjüngen; alle ihre Ressourcen zu nutzen, um die Bemühungen der Kriegstreiber von allen Seiten zu entlarven. O.R.W.I. – Organisation der Revolutionären Arbeiterinnen und Arbeiter des Iran (Rahe Kargar).“ Voices of Dissent: Iranische Linksparteien verurteilen Militarismus und Imperialismus – https://firenexttime.net/voices-of-dissent-iranian-leftist-parties-condemn-militarism-and-imperialism/

3Siehe zum Beispiel: Sophia Goodfriend, „Gaza war offers the ultimate marketing tool for Israeli arms companies“, +972 Magazine, 17. Januar 2024.

4Siehe z. B. Matthew Loh, „Russlands Kinzhals frustrieren chinesische Analysten, die herausfinden wollen, wie sich Pekings Hyperschallraketen gegen die US-Abwehr behaupten können“, Businesss Insider, 16. Januar 2024.

5Brown O., Froggatt A., Gozak N., et al. The impact of Russia’s war against Ukraine on climate security and climate action. OSZE; 2023.

6Es gibt auch große Lithiumvorkommen in den USA, in Mittel- und Westeuropa und kleine in Serbien. Rate mal, wo in Europa die Unternehmen zuerst graben wollen? In Serbien, denn der Abbau ist furchtbar umweltschädlich! Es ist nicht immer nur so, dass bestimmte Reserven nicht verfügbar sind, aber es ist einfacher, Gewalt gegen die Bevölkerung in einem afrikanischen Land oder in Serbien zu delegieren als in einem westeuropäischen Land.

7„Das Verteidigungsministerium ist der größte Einzelverbraucher von Energie in den USA und sogar der größte institutionelle Verbraucher von Erdöl weltweit. … wäre das US-Militär eine Nation, würde es zu den 50 größten Treibhausgasemittenten der Welt gehören und damit noch vor Schweden oder Dänemark liegen“. Neta C. Crawford, Pentagon Fuel Use, Climate Change, and the Costs of War, Boston University, November 2019.

8„Unsere Schätzung hat eine ziemlich große Unsicherheit – wir haben zwischen 3,3 % und 7,0 % [der globalen Emissionen] berechnet – aber es ist auch wichtig zu wissen, dass diese Zahlen die weiteren Auswirkungen des Krieges nicht berücksichtigen. Dazu gehören: Brände in Lagern für fossile Brennstoffe und in Gebäuden, Brände und andere Schäden an Wäldern, Ernten und anderen biologischen Kohlenstoffspeichern, Flüchtlingsströme, die medizinische Versorgung der Überlebenden und der Wiederaufbau nach Konflikten. Unsere Schätzung berücksichtigt auch nicht die Klimaerwärmung durch die Auswirkungen der militärischen Flugzeugemissionen in der Stratosphäre“. Dr. Stuart Parkinson, „How big are global military carbon emissions?“ Zeitschrift Responsible Science Nr. 5; Juli 2023.

9Transnational Institut. Climate Collateral. How military spending accelerates climate breakdown. November 2022.

10UNODC – UN Women, Gender-related killings of women and girls (femicide/feminicide), November 2023.

11Oxfam-Bericht „Inequality Inc“, Januar 2024.

12Es gibt eine Diskussion darüber, wie man das, was im Gazastreifen passiert, nennen soll: Massaker, ethnische Säuberung, Genozid…? In der Tat gibt es kein „richtiges“ Wort, keine angemessene Terminologie, keine Worte, um das Grauen zu beschreiben. Aus antikapitalistischer Sicht wäre es vielleicht sinnvoll, daran zu erinnern, dass diese Art der „Bestrafung“ mit einem Verhältnis von 1:30 zu 1:100 (30-100 getötete „Untermenschen“ für jeden getöteten Europäer) seit langem und bis vor kurzem die Standardprozedur des europäischen/westlichen Kolonialismus war: Das Massaker von Sétif und Guelma (Algerien) im Jahr 1945, das Massaker von Mỹ Trạch (Vietnam) im Jahr 1947 und die Massenhinrichtungen, Folterungen, Kriegsvergewaltigungen, das Abfackeln ganzer Dörfer, kollektive Bestrafungen und andere Gräueltaten während des madagassischen Aufstandes (Madagaskar, 1947-1949) werden die Französische Republik immer stigmatisieren – massive Gräueltaten, die denen der britischen Armee in nichts nachstehen: die Kopfjagd auf Rebellen bei der Niederschlagung der Revolte in Malaya (1948-1960), die „fragwürdigen Methoden“ bei der Niederschlagung der irakischen Revolte 1920, das Massaker von Jallianwala Bagh (Indien) 1919 oder die so genannte „Strafexpedition nach Benin“ (1897). Dann gibt es noch das Massaker von Shar al-Shatt (Libyen) von 1911 durch italienische Truppen, die chemischen Waffen, die General Franco einsetzte, um den Aufstand der Berber gegen die Kolonialherrschaft in der Rif-Region (1921) niederzuschlagen, ganz zu schweigen von dem Genozid an den Herrero und Nama 1904-1908 durch das Deutsche Reich, die Millionen von Kongolesen, die in den Kautschukplantagen des von König Leopold II. von Belgien besessenen „Kongo-Freistaats“ (1885-1908) starben, oder den Aphorismus von General Sheridan „Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer“ („Indianerkriege“, 1866-1869).

13Yuval Abraham, „ A mass assassination factory: Inside Israel’s calculated bombing of Gaza“, +972 Magazine, 30. November 2023.

14Online hier: https://www.jadaliyya.com/Details/45544

15Hunderttausende Menschen haben am Samstag, den 25. November 2023 (Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen), in ganz Italien an Protesten teilgenommen, um ihre Wut und Bestürzung über den Mord an der 22-jährigen Giulia Cecchettin durch ihren Ex-Freund Filippo Turetta zum Ausdruck zu bringen. Es gab eine Debatte, weil einige jüdische Feministinnen und Mitglieder der jüdischen Gemeinde behaupteten, Non una di meno kümmere sich nicht um die von der Hamas am 7. Oktober vergewaltigten Frauen. Diese Art von Kritik wurde vom rechten Flügel benutzt, um den feministischen Kampf gegen patriarchale Gewalt zu disqualifizieren. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Krieg ein Mittel ist, um die Räume des Kampfes zu schließen und zu untergraben.

16Etwa 7.500 Menschen aus 24 verschiedenen Ländern nahmen an einem Karawanenprotest teil, der sich vom mexikanischen Bundesstaat Chiapas in Richtung der Grenzen zu den USA bewegte. Die meisten Migranten stammten aus Mittelamerika, Kuba, Venezuela und Haiti, aber einige kamen auch aus der Türkei, dem Iran, Syrien und Kamerun.

17Obwohl es im Internet kursierte, wurde es wahrscheinlich nur an die Wände mehrerer Städte im griechischen Staat geklebt: Chania, Patras, Larissa, Ioannina, Thessaloniki und Athen.

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