Gegen die Partei des Aufstands: Ein Blick auf den Appellismus in den U.S.A.

Gefunden auf scene noblogs, auch auf the anarchist library aufrufbar, die Übersetzung ist von uns. Hier eine weitere Kritik an den sogenannten ‚Appellismus‘ (Unsichtbares Komitee, Tiqqun, usw.), die wenn auch an vielen Stellen eine richtige Kritik formuliert, an anderen Stellen das verteidigen was der ‚Appellismus‘ selbst vorschlägt. Nicht desto trotz ein weiterer wichtiger Beitrag von anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten, dieses Mal aus den Vereinigten Staaten, der die Konterrevolution aufs Korn nimmt.


Gegen die Partei des Aufstands: Ein Blick auf den Appellismus in den U.S.A.

Der Appellismus ist eine informelle Form des autoritären Kommunismus, die in den letzten zehn Jahren auf dem amerikanischen Kontinent an Bedeutung gewonnen hat. Diese Strömung, die sowohl Elemente der revolutionären Parteistruktur als auch des aufständischen Anarchismus aufgreift, stellt den autoritären Kommunismus als etwas dar, das wie informelle Netzwerke aussieht, aber wie eine Partei handelt.

Appellistinnen und Appellisten geben sich in der Regel nicht als Appellistinnen und Appellisten zu erkennen. Der Begriff „Appellist“ bezieht sich auf den Aufruf (L’Appel im französischen Original) des Unsichtbaren Komitees, der von einigen der gleichen Autoren wie die Zeitschrift Tiqqun 1999 verfasst wurde. Deshalb werden „Appellistinnen und Appellisten“ manchmal auch „Tiqqunisten“ genannt. Beides sind Begriffe, die von Anarchistinnen und Anarchisten verwendet werden, um der Behauptung der Appellistinnen und Appellisten entgegenzuwirken, sie hätten keine Ideologie und kein etabliertes politisches Netzwerk.

Die appellistische Verlogenheit in diesem Bereich ist Teil einer größeren Strategie, die darauf abzielt, nicht mehr als eigenständige Gruppe oder Milieu sichtbar zu sein (was sie als „Opazität“1 bezeichnen). Sie versuchen dann, unsichtbar verschiedene Aspekte des täglichen Lebens zu koordinieren, um eine Form des Kommunismus zu schaffen, wobei der Schwerpunkt auf dem Aufbau und der Kontrolle der Infrastruktur liegt. Gleichzeitig drängen sie darauf, in Momenten sozialer Konflikte entscheidend einzugreifen, damit diese Situationen eskalieren, die Kämpfe an Boden gewinnen und die Menschen in ihre Infrastruktur gezogen werden. Appellistinnen und Appellisten bezeichnen sich in der Regel als Partisanen, Autonome oder Kommunisten, obwohl es in Nordamerika häufiger vorkommt, dass sie sich auch als Anarchistinnen und Anarchisten bezeichnen.

Die bekanntesten Ausdrucksformen des Appellismus kommen aus Frankreich und sind das Werk des Unsichtbaren Komitees, insbesondere Der kommende Aufstand (2007) und An unsere Freunde (2014).

In den Vereinigten Staaten sind die wichtigsten Verfechter des Appellismus der Verlag Ill Will Editions, das Inhabit program und Social Media Accounts wie Vitalist International. Diese Projekte vertreten nicht nur ihre amerikanische Version des Appellismus, sondern übersetzen und veröffentlichen auch Analysen von Lundi Matin, der wichtigsten Appellistinnen und Appellisten-Plattform in Frankreich.

Aus der Ferne kann die „Partei des Aufstands “2 den Ideen und Aktivitäten vieler Anarchistinnen und Anarchisten zum Verwechseln ähnlich sehen, denn sie übernehmen bestimmte Schlüsselkonzepte des aufständischen Anarchismus, wie Autonomie und informelle Organisierung. Unterscheidungen treten typischerweise dann auf, wenn wir versuchen, bestimmte Prinzipien anzusprechen, oder wenn ihre Perspektiven auf die gesellschaftliche Position und die Praktiken rund um Macht und Avantgarde im Laufe der Kämpfe vor Ort bedeutsam werden. Appellistinnen und Appellisten kultivieren diese Art von Verwirrung, weil es ihrer Strategie nicht förderlich ist, ehrlich über ihre Ideen zu sprechen, die sie dazu zwingen, ihre Perspektiven und Prinzipien zu ändern, je nachdem, mit wem sie sprechen. Klare Positionen erschweren die Rekrutierung, da sie weniger Menschen ansprechen.

Die Ziele und Methoden der Appellistinnen und Appellisten sind mit den Zielen der Anarchistinnen und Anarchisten unvereinbar und untergraben die nicht-hierarchische Selbstorganisation, anstatt dass sie eine ähnliche Vision mit einem anderen Kampfweg verfolgen. Deshalb versuchen wir in diesem Artikel, die Methoden zu identifizieren, die dem antiautoritären Kampf schaden, und eine Kultur der Ehrlichkeit und der internen Kritik zu fördern, die uns helfen kann, besser zu verstehen, wofür wir alle kämpfen, mit wem und wie wir kämpfen wollen.

Im größten Teil dieses Textes werden wir unsere Ideen über den Appellismus in Bezug auf die appellistische Theorie formulieren, um zu zeigen, wie unsere Beobachtungen über das Milieu durch die Ideologie selbst untermauert werden und ihr inhärent sind. In Wirklichkeit sind die meisten Menschen im appellistischen Milieu jedoch keine Theoretiker, und sich auf die Theorie zu stützen, um auszudrücken, was am Appellismus falsch ist, wird der Hässlichkeit des appellistischen Verhaltens, das wir im wirklichen Leben erlebt haben, nicht wirklich gerecht. Viele unserer größten Probleme mit dieser Tendenz stammen aus persönlichen Erfahrungen und sind nur insofern überprüfbar, als sie Teil der gesammelten Erfahrungen einer Vielzahl von Anarchistinnen und Anarchisten sind, die im Laufe der Jahre auf diesem Kontinent mit Appellistinnen und Appellisten zu tun hatten.

Zusätzlich zu den spezifishen Projekten, die wir mit dieser Tendenz in Verbindung bringen können, gibt es in den USA eine Reihe von Menschen, die sich von appellistischen Strategien inspirieren lassen und versuchen, sie in ihren Netzwerken umzusetzen. Da sich keine dieser Individuen als Appellistinnen und Appellisten bezeichnen und oft abstreiten, dass es eine solche Tendenz überhaupt gibt, ist es unübersichtlich, von „Appellistinnen und Appellisten“ zu sprechen, zumindest in der gleichen Weise, wie wir von „Anarchistinnen und Anarchisten“ sprechen würden, da sich Anarchistinnen und Anarchisten selbst als solche bezeichnen. Auch wegen dieser Unklarheit halten wir es für sinnvoller, sich darauf zu konzentrieren, die Dynamik und die Methoden des Appellismus zu verstehen und die Projekte zu kritisieren, die sich der Förderung appellistischer Strategien widmen, als zu versuchen, abschließend zu bestimmen, wer ein Appellist oder eine Appellistin ist und wer nicht. Es gibt viele Menschen, die sich in der Welt der Appellistinnen und Appellisten bewegen, weil sie sich in denselben größeren Kämpfen engagieren oder aufgrund ihrer sozialen Nähe und nicht aufgrund ihres ideologischen Engagements für den Appellismus. Unsere Diskussion über den Appellismus in diesem Text soll diese Menschen nicht entfremden, sondern ihnen einen Kontext und einen Rahmen bieten, der ihnen hilft, ihre eigenen fundierten Entscheidungen zu treffen und sich nicht manipulieren zu lassen.

Viele der Probleme, die wir in diesem Text erörtern werden, sind keineswegs nur auf den Appellismus beschränkt. Informelle Hierarchien, miserable Analysen, abgrundtiefe Rassenpolitik, Frauenfeindlichkeit, Missbrauch, Alibifunktion und die Instrumentalisierung der Kämpfe anderer kommen auch in den meisten anarchistischen Szenen in den USA vor; wir haben sie alle schon erlebt. Was den Appellismus auszeichnet und was wir im Laufe dieses Artikels zu zeigen hoffen, ist, dass die Probleme, die wir hervorheben werden, durch die Ideen selbst gefördert und gerechtfertigt werden, anstatt im Widerspruch zu ihnen zu stehen – sie sind seit langem und durchgängig in appellistischen Schriften und Organisationen zu finden. Die Auseinandersetzung mit diesen Ideen und ihren Befürwortern muss nicht auf Kosten der Auseinandersetzung mit hierarchischen Verhaltensweisen und Einflüssen aus anderen Richtungen gehen, sondern sollte unsere Fähigkeit zur Kritik im Allgemeinen schärfen und uns helfen, uns tiefer in unseren gemeinsamen Prinzipien zu verwurzeln.

DAS PROGRAMM: TERRITORIUM & MACHT

Das „kleine orangefarbene Buch“ von Inhabit ist die prägnanteste Darstellung der Strategie der Appellistinnen und Appellisten in den USA, also fangen wir dort an. Inhabit bietet ein Programm an, das aus ein paar einfachen Schritten besteht, beginnend mit den folgenden: 1) „einander finden“ und 2) autonome Infrastrukturen oder „Hubs“ erschaffen (in der Regel ländliche Landprojekte oder andere Orte, an denen sie „die Kommune aufbauen“). In diesem Prozess des massenhaften „Ausstiegs“ und der allmählichen „Subtraktion des Territoriums von der Ökonomie“ erreichen wir schließlich die Schritte 8 und 9, in denen die Infrastruktur „zerstört“ wird und wir „unregierbar“ werden, weil wir genug Autonomie aufgebaut haben, um die Regierung und die Ökonomie überflüssig zu machen. Wenn diese schließlich verschwinden, werden die von Appellistinnen und Appellisten errichteten Kommunen und Infrastrukturen an ihre Stelle getreten sein: „Die Macht ergreifen, ohne zu regieren“.

Die Erschaffung einer autonomen Infrastruktur war für viele radikale Bewegungen auf der ganzen Welt und im Laufe der Geschichte von entscheidender Bedeutung, von konfliktreichen Hausbesetzungen über selbstorganisierte soziale Zentren in Europa bis hin zu befreitem Land in Lateinamerika. Die Vorschläge, die Inhabit für die Autonomie unterbreitet, haben jedoch mehrere erhebliche Probleme:

– Es ist nicht näher definiert, wen wir finden, wenn wir uns finden. Das lässt alle möglichen Bündnisse zu, auch problematische, wie zum Beispiel mit Politikern oder Menschen, die dem rechten Libertarismus zuneigen. Trotz der detaillierten Darstellung von Kämpfen und Vorschlägen für die Zukunft in Inhabit ist es auch sehr schwierig, klar zu verstehen, gegen wen und was das „Wir“ von Inhabit eigentlich ist.

– Wenn Siedlerinnen und Siedler in den USA oder Kanada Land kaufen und ein Landprojekt starten oder Geschäfte in gentrifizierenden Vierteln eröffnen, ist das in der Regel kein Befreiungsprojekt, sondern ein wesentlicher Aspekt der Funktionsweise unserer Feinde – der kolonialen Siedlerstaaten wie den USA und Kanada. Inhabit überspringt dieses Problem komplett und diskutiert den Siedlerkolonialismus nicht.

– Von Indigenen angeführte Kämpfe werden als inspirierende Beispiele angeführt, aber weder Rasse oder Gender noch Kolonisierung werden als ethische oder gar strategische Anliegen auf dem Weg ins Elend erwähnt. Das Thema Rasse in einem Kampf, der in den USA – oder überhaupt irgendwo – geführt wird, völlig auszublenden, kommt einer Variante des farbenblinden Rassismus gleich. Die Tatsache, dass die Diskussion über die Geschlechterrollen in der „Kommune“ einfach übergangen wird, ist ein weiterer Grund dafür, dass Inhabit so unnachgiebig das Gemeinsame betont. Die „Kommune“ wird zu einem mythischen, übergeordneten Gebilde, in dem die Individuen mit all ihren chaotischen Unterschieden und unterschiedlichen Erfahrungen mit systemischer Unterdrückung für das Gemeinwohl verschmelzen sollen.

– Das Konzept der „Destitution“3, das darauf hinausläuft, dass die Parteimitglieder die Ökonomie „aushungern lassen“, indem sie nicht an ihr teilnehmen, geht davon aus, dass der Kapitalismus und die dahinter stehende Staatsmacht verkümmern, wenn sich genügend Menschen ihrem Zugriff entziehen. Diese Vorstellung ist historisch einfach hoffnungslos unzutreffend und scheint unsere Kämpfe zu ermutigen, weniger konfliktreich zu sein, während in Wirklichkeit Konflikte ein wesentlicher Bestandteil jedes Kampfes gegen den Staat sind.

Die Einfachheit dieses Programms ist eine Marketingstrategie, die darauf abzielt, so viele Menschen wie möglich anzusprechen, und genau aus diesem Ansatz ergeben sich viele Probleme. Mit wem wir uns organisieren und zusammenleben, mit wem wir uns verbünden, unsere Komplizenschaft mit dem Kapitalismus und anderen Formen der Unterdrückung, die Notwendigkeit von Risikobereitschaft und Gewalt, das Verhältnis zwischen unseren persönlichen Wünschen und unserer Verantwortung für andere – all das sind komplexe Fragen, die wir auf unserem Weg zur Anarchie ständig navigieren. Kein kleines oranges Pamphlet, das für ein nett klingendes „gemeinsames Leben“ wirbt und die harten Realitäten von Rassismus, Gender und Siedlerkolonialismus beschönigt, kann die Antworten liefern.

Wir haben oft beobachtet, dass Appellistinnen und Appellisten falsche Gleichsetzungen zwischen ihren Landprojekten und den Versuchen der Indigenen, ihr angestammtes Territorium und ihre traditionellen Lebensweisen zu verteidigen bzw. zurückzugewinnen, herstellen. Das ist für den Erfolg letzterer konterproduktiv. Wie die Autorinnen und Autoren von „Another Word for Settle“ schreiben, bereitet diese Art von „‚Zurück aufs Land‘-Politik […] bereitet schlimmstenfalls die Bühne für die Entwicklung verdrehter Siedleransprüche auf indigenes Land“, Ansprüche, die „die Beziehungen, die wir mit antikolonialen indigenen Verbündeten anstreben sollten, erschüttern und reaktionäre Tendenzen der Siedler, die wir bekämpfen sollten, stärken “4.

Die Anweisung, Eigentum zu akkumulieren, taucht in dem ebenso programmatischen anonymen Text „How to Start a Fire“ (Wie man ein Feuer entfacht) wieder auf, der den Leser und die Leserin zwar nicht zur Brandstiftung anleitet, aber den lächerlich unbedarften Ratschlag gibt, „so bald wie möglich den Kauf von Wohnraum zu organisieren“ und „Raum zu mieten“. Oder noch besser, Gebäude zu kaufen und Eigentum zu erwerben“. Vieles von dem, was sie beschreiben, wie man etwas Gemeinsames aufbaut, ohne sich „über die Moral oder die ‚interne Dynamik‘ solcher Unternehmungen Gedanken zu machen“, könnte leicht jede Art von Kollektiv beschreiben – zum Beispiel eine Assoziation von Hausbesitzern. Die Momente, in denen sie beschreiben, wie ihre Vision von territorialer Autonomie tatsächlich aussehen könnte – zum Beispiel, wenn sie sich auf die Gründung von Unternehmen als Teil ihres revolutionären Projekts konzentrieren – zeigen, dass ihre Utopie schmerzhaft fade, sorgfältig verwaltet und (nach unserer Erfahrung) sehr wahrscheinlich mit Familienvermögen aufgebaut ist.5

DIE PERSPEKTIVEN: DIE ZUSAMMENSETZUNG DER PARTEI

Der Appellismus ist nicht die einzige radikale Strömung, die autoritäre Kampfansätze vorschlägt, sondernr nur eine, die für Anarchistinnen und Anarchisten unter Umständen weniger bemerkbar ist. Der Appellismus knüpft in erheblichem Maße an bestimmte kommunistische und andere linke6 Traditionen an, kleidet aber alte Ideen in eine heiße neue Sprache und Ästhetik, damit sie topaktuell erscheinen und sich unbemerkt einschleusen können.

Anarchistinnen und Anarchisten im Ausland haben behauptet, dass der Appellismus ein Nachkomme des Blanquismus ist. Bei dieser Ideologie handelt es sich um eine autoritäre kommunistische Variante des Aufstands, die auf der Idee von Louis Auguste Blanqui basiert, dass die Revolution von einer relativ kleinen Avantgarde hoch organisierter Verschwörer in einer geheimen Parteistruktur durchgeführt werden sollte, die die Aufständischen durch eine einheitliche Strategie anführt.

Die Autoren von „Blanqui oder die staatliche Insurrektion“ schreiben: „[Blanquis] Konzeption der Insurrektion als Resultat eines strategischen Zuges, und nicht als soziales Ereignis, brachte ihn zur Schlussfolgerung, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Für ihn zählte nicht die Art und Weise, sondern das Resultat, mit anderen Worten, die effektive Eroberung der politischen Macht.“

Und weiter: „Wenn die Insurrektion trotz des Mutes und des Enthusiasmus derjenigen, die sich an ihr beteiligen, niedergeschlagen wird, dann liegt das daran, dass es ‚an Organisation mangelt. Ohne Organisation, keine Chance auf Erfolg.‘ Das wird auch stimmen, aber wie erlangt man diese Organisation, diese Koordination, diese Abmachung unter den Aufständischen? Durch die horizontale, im Voraus stattfindende und möglichst weite Verbreitung eines Bewusstseins, einer Aufmerksamkeit, einer Intelligenz gegenüber den Erfordernissen des Moments (libertäre Hypothese), oder durch die vertikale Einrichtung eines einheitlichen Kommandos, welches die Gehorsamkeit von allen verlangt, jenen allen, die bis anhin in Unwissenheit gehalten wurden (autoritäre Hypothese)?“. Diese autoritäre Theorie des Aufstands wird durch den Einfluss der italienischen Kommunisten der Autonomia in den 70er Jahren mit ihrer Betonung des lyrischen Stils und der Bildung von Netzwerken autonomer Räume sowie durch die Situationisten mit ihrer selbsternannten Position der intellektuellen Avantgarde erweitert.

Der Appellismus greift auch die traditionellere kommunistische Idee auf, dass die internationale Arbeiterklasse die Hauptfigur des antikapitalistischen Kampfes ist, verpackt diese Idee aber als „Imaginäre Partei“ der Aufständischen gegen das Kapital neu. In dieser informellen Form brauchen Individuen auf der ganzen Welt keinen Mitgliedsausweis, um in der Partei zu sein, und tatsächlich stimmen sie nur selten zu (oder werden darum gebeten), Teil der appellistische Strategie einbezogen zu sein. Dies unterscheidet sich stark von einem anarchistischen Rahmen des Internationalismus, da es verschiedene Kämpfe zusammenfasst und den Eindruck erweckt, dass jeder zu einem großen Plan beiträgt, der bereits von anderen in Gang gesetzt wurde, anstatt diese Kämpfe auf ihre eigene Art und Weise anzuerkennen.

Wie andere Spielarten des autoritären Kommunismus und die Linke im Allgemeinen fordert uns der Appellismus auf, uns unter einem (imaginären oder anderen) Fahne zu vereinen, unter dem individuelle Meinungsverschiedenheiten oder interne Konflikte als spalterisch oder kontraproduktiv für das vage formulierte gemeinsame Ziel angesehen werden. Im appellistischen Diskurs manifestiert sich dies vor allem in der Idee der „Zusammensetzung“ und den vagen gemeinsamen Zielen einer internationalen „Imaginären Partei“. Das heißt, ihre Politik stützt sich auf eine neu aufgelegte Version der Up-Down-Neuausrichtung (A.d.Ü., von oben nach unten), bei der Links-Rechts-Unterschiede innerhalb des Proletariats weniger wichtig sind als unser gemeinsamer Kampf gegen die „Elite“. Composition7 ist ihre Theorie darüber, wie diese verschiedenen Interessen, von den guten Bürgern bis zu jenen, welche sie als „schwarze Proletarier“ betrachten, sich als „historische Kraft“ vereinen können.

Composition versucht, verschiedene Sektoren eines Kampfes oder einer Bewegung in dieselbe Richtung zu lenken (in Richtung der appellistischen Vision des Sieges), indem sie einen Konsens über Ziele und Mittel herstellt (und durchsetzt) und widersprüchliche oder abweichende Stimmen unterdrückt. Composition wird oft als Rahmen für die Einbeziehung verschiedener Ansätze bei gleichzeitigem Kampf für ein gemeinsames Ziel dargestellt und zielt darauf ab, unterschiedliche Elemente in eine einheitliche Strategie einzubinden und grundlegende Meinungsverschiedenheiten zu verbergen, „die so entscheidend sind wie das Verhältnis zur Legalität und zu Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Medien usw.), die Anwendung von Gewalt und die offene Tür für Verhandlungen “8.

Der Text „The Strategy of Composition“, der Anfang 2023 von Ill Will veröffentlicht wurde, schafft ein falsches Dilemma, indem er Autonomie und Dezentralisierung als „Nicht-Beziehung (tolerante Trennung)“ darstellt, während Composition, „wenn wir einen Horizont des Sieges wiederherstellen wollen, […] unweigerlich bedeutet, Kompromisse zu akzeptieren“. Composition legt den Grundstein für eine einfache autoritäre Macht. Wenn die Autonomie einer Gruppe den Kompromissen der dominanten Gruppe in die Quere kommt, müssen die widerspenstigen Akteure auf Linie gebracht werden, sonst droht die „Zersetzung“ der Bewegung. Dieser Rahmen dient dazu, unkontrollierbare Situationen zu beruhigen und die klassische „gemeinsame Front“9 zu stärken, damit Konflikte und Widersprüche verschwinden, ohne dass man sich dabei auf „die Massen“ berufen muss – ein Begriff, der aus der Mode gekommen ist.

Es ist sinnvoll, zwischen der Imaginären Partei, die sie durch die Composition zu schaffen versuchen, und den Appellistinnen und Appellisten zu unterscheiden, die tatsächlich Bescheid wissen und die Strategien entwickeln, die sie breiteren Bewegungen aufzwingen wollen. Composition betont die abgehobene Vogelperspektive des Experten (des Compositionisten, wenn man so will), der den Überblick darüber hat, wo jeder hingehört, und so in der Lage ist, Gruppen und Individuen, die aus eigenen Gründen und auf eigene Weise kämpfen, ihre Strategie aufzuzwingen. Anarchistinnen und Anarchisten hingegen setzen nicht auf tolerante Trennung, sondern auf Koordination und freie Assoziation zwischen selbstorganisierten autonomen Netzwerken, die unterschiedliche Strategien und Taktiken haben können.

Appellistische Autorinnen und Autoren konstruieren ihre Argumente oft um ein „Wir“ herum, das sich nicht nur auf sie selbst bezieht, sondern sich auch anmaßt, für die Gefühle und Erfahrungen eines breiteren „Wir“ zu sprechen, zu dem auch die Leserinnen und Leser gehören. Sie sagen uns, wie „wir“ uns fühlen, und der Leser wird in die Schlussfolgerungen des Autors hineingezogen, von denen er glauben soll, dass er sie aus eigener Kraft erreicht hat. Wenn der Leser oder die Leserin Widerstand spürt oder zögert, ist er oder sie gezwungen, sich völlig zurückzuziehen und eine Position außerhalb dieser romantischen Gemeinschaft, außerhalb dieser „historischen Kraft“ einzunehmen, was gar nicht so einfach ist. Dadurch wird man als Leser oder Leserin in ihre Partei (oder Kraft, Kommune usw.) hineingezogen.

Die Theorie der „Undurchsichtigkeit“, die besagt, dass ihre Partei und ihre Netzwerke nach außen hin nicht sichtbar sein sollen, wird benutzt, um den Widerwillen der Appellistinnen und Appellisten zu rechtfertigen, die Existenz des Appellismus außerhalb ihrer inneren Kreise anzuerkennen. Dies ist eine Verzerrung der anarchistischen Vorstellungen von Informalität und Sicherheitskultur, um es zu erschweren, hierarchische Strukturen und autoritäre Bestrebungen zu erkennen und herauszufordern.

PERSPEKTIVEN AUF RASSE UND SOZIALE POSITION: EXTRAKTION UND AUSLÖSCHUNG

Der Titel von Der kommende Aufstand ist eine Hommage an Die kommende Gemeinschaft (1990), ein einflussreiches Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der mit den Herausgebern von Tiqqun verbunden war. In diesem Buch vertritt Agamben die Ansicht, dass die größte Bedrohung für den Staat eine Gemeinschaft ist, die sich aus Individuen gebildet hat, die mit den besonderen Identitäten, die uns aufgezwungen werden, gebrochen haben, eine Gemeinschaft, die einfach ihr Zusammensein ohne „Prädikate“ oder Bedingungen der Zugehörigkeit genießt.10

Agamben und Tiqqun argumentieren (zu Recht), dass uns Identitäten wie Rasse, Gender und Nationalität zum Zweck der sozialen Kontrolle auferlegt werden. Es ist wichtig, dagegen anzukämpfen, dass der Staat uns dazu zwingt, uns mit sozial konstruierten Identitäten zu identifizieren, als wären sie ein wesentlicher Teil unserer individuellen Persönlichkeit. Die Autoren nehmen eine falsche Wendung, wenn dies dazu führt, dass sie „jegliche Identität ablehnen“ (Die kommende Gemeinschaft). Auch wenn wir danach streben, sozial konstruierte Identitäten zu beenden, ist dies nicht möglich, wenn die institutionellen Kräfte, die sie geschaffen und aufrechterhalten haben, noch intakt sind. Wenn wir uns weigern, darüber nachzudenken, wie unsere jeweilige gesellschaftliche Position dazu führen könnte, dass wir unbeabsichtigt oder auf andere Weise Aspekte der strukturellen Herrschaft, die wir angeblich bekämpfen, wiederholen, hilft uns das nicht dabei, sie zu überwinden.

Die Einstellungen der Appellistinnen und Appellisten zu Identitäten wie Rasse und Gender sind sehr unterschiedlich. Viele Appellistinnen und Appellisten und ihnen nahestehende Theoretiker ignorieren das Thema Rasse keineswegs und äußern sich sogar sehr lautstark zu seiner Bedeutung – allerdings auf eine Art und Weise, die die rassifizierten Bevölkerungsgruppen, über die sie sprechen, für ihre eigenen Zwecke benutzt.11 Es gibt auch den Fall von Inhabit, der es vermeidet, Rasse und Gender in Betracht zu ziehen, sondern auf einem klassenbasierten Rahmen besteht, wie wir später in diesem Abschnitt noch näher erläutern werden.

Ill Will Editions, die in den USA ansässige Website und eine Reihe von Social-Media-Accounts, veröffentlicht Essays von einer Vielzahl von Autoren, die diese vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Standpunkte zu Rasse und sozialer Posiiton beleuchten. Ein roter Faden, der sich durch viele dieser Aufsätze und die Posts von Ill Will in den sozialen Medien zieht, ist die Tendenz, die Kämpfe anderer Menschen zu romantisieren und ihre eigenen politischen Vorstellungen auf sie zu projizieren. Oft scheint auch der Wunsch zu bestehen, die Rasse im Sinne von Agambens Ansatz (siehe oben) zu überwinden, obwohl sie in den Vereinigten Staaten nach wie vor eine wichtige prägende Kraft ist.

Diese Romantisierung und Projektion zeigt sich auch in Kommentaren zu den Aktivitäten von Subkulturen, denen der Autor eindeutig nicht angehört (z. B. in dem von Ill Will veröffentlichten Essay über Sideshows). Darin werden die Teilnehmer oft wie heroische Innovatoren behandelt, die die neuesten Taktiken für den kommenden Aufstand entwickeln. Diese Kommentare sind anmaßend und fühlen sich sehr wie anthropologische Studien an. Während die Appellistinnen und Appellisten eine Identität (die des Partisanen12) auf anonyme Gesetzesbrecher projizieren, können Anarchistinnen und Anarchisten von anderen Rebellinnen und Rebellen lernen, ohne sie etikettieren zu müssen, oder ihre Aktionen im Rahmen unserer eigenen Strategie lesbar machen.

Der Wunsch, die Bedeutung rassischer Unterschiede in den verschiedenen Kämpfen zu minimieren, zeigt sich in der Tendenz einiger appellistischer Autorinnen und Autoren, die Rasse unter die Klasse zu subsumieren, um für die Einheit zu werben. Dies wird in Inhabits „Kenosha, I Do Mind Dying“ deutlich, das 2021 bei Ill Will veröffentlicht wurde. Der Autor versucht während des gesamten Textes, die Krawalle 2020 für Black Lives auf den Klassenkampf zurückzuführen, er ordnet die Bedeutung von Rasse jener von Klasse immer wieder unter, doch den Kern davon erreichen wir mit der Diskussion über Kyle Rittenhouse und dem Begriff von „Brudermord“ des Autors.

„In uns allen schlummert eine erschreckende Wut, eine Fähigkeit zur Gewalt, die sowohl durch ‚legitime‘ Kanäle wie Bullen und Militär als auch durch illegale wie Gangs und Milizen zum Ausdruck kommt. Es ist kein Zufall, dass die andere Seite dieser Fähigkeit zur Gewalt das brüderliche Prinzip ist, auf ihm basieren all diese Organisationen. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft ist im Kern der wahre Treiber dieser Gewalt: Leute sind bereit, zu töten, um sich zugehörig zu fühlen […] Kyle Rittenhouse repräsentiert den Ausdruck dieser Verzweiflung der Vorstädte durch die widerwärtige Fiktion des Kulturkampfes.

Die Überhöhung kultureller Unterschiede als politisch – oder gar ethnisch – ist vorteilhaft für die Eliten, denn, sollte Amerika mit dem durch sie ausgelösten Verderben zurechtkommen, könnten diese Hunderte von Millionen Schusswaffen womöglich neue Ziele finden. Sie würden es bevorzugen, dass wir einen Brudermord begehen, denn ein Bürgerkrieg zwischen links und rechts ist viel einfacher zu verwalten als die Möglichkeit, dass wir unter Umständen ihre Zivilisation im Endstadium verlassen könnten und unsere Arbeit gleich mitnehmen würden.“

Hier ignoriert der Autor bestimmte wichtige strukturelle Dynamiken, scheinbar um für eine Art Einigkeit mit Menschen auf der Rechten zu argumentieren, die aus einer ähnlichen Klassenposition kommen. Im ersten Absatz spricht der Autor über die Hinrichtungen von Schwarzen durch die Polizei und die Ermordung von BLM-Demonstranten durch Rittenhouse, als wären sie dasselbe wie die Gewalt von Gangs unter den ärmsten und rassistisch unterdrückten Bevölkerungsgruppen des Landes. All diese Beispiele von Gewalt, so unterstellt der Autor, sind einfach durch den Wunsch nach „Zugehörigkeit und Gemeinschaft“ motiviert. Dazu muss man die völlig anderen Umstände ignorieren, zum Beispiel, dass die Polizei (und die Polizeigewalt) existiert, um die Kontrolle des Staates über seine Bevölkerung zu schützen und, wie bei den Rittenhouse-Morden, ein Regime der rassischen und ökonomischen Unterordnung aufrechtzuerhalten.

Letztendlich sind wir alle Geschwister und sollten den Bürgerkrieg zwischen links und rechts überwinden, damit wir den Kapitalismus gemeinsam zu Fall bringen können. In diesem Essay wird eine Vision der Links-Rechts-Einheit formuliert, die in den appellistischen Medien oft aufgegriffen wird. So trug eine Person der Vitalist International in einem sehr merkwürdigen Solidaritätsvideo, das an die Kämpfenden in Hongkong gerichtet war, lässig eine Gadsden-Flagge. VI twitterte auch das Folgende über einen Protest, der von Patriot Prayer am Oregon State Capitol in den Wochen vor dem 6. Januar 2021 organisiert wurde: „Da sich die Demonstranten mit der Polizei prügeln, um eine autonome Zone am Capitol zu errichten, könnte sich die Polarisierung von links-rechts nach oben-unten verschieben […] Können ‚Patrioten‘ der Identitätspolitik entkommen und eine gemeinsame Sache mit anderen ausgebeuteten Menschen machen?“

Es ist interessant, dass hier der Begriff „Identitätspolitik“ verwendet wird. Das könnte auch ein Zitat des Anführers von Patriot Prayer, Joey Gibson, sein, der 2018 auf die Frage nach seinem Verhältnis zu den weißen Nationalisten sagte: „Ich würde ihnen dasselbe sagen, was ich jeder schwarzen oder mexikanischen nationalistischen Gruppe sagen würde: Wir müssen die Identitätspolitik aufgeben und uns auf das konzentrieren, was im Inneren ist.“ Behauptet VI, wie Gibson, dass der weiße Nationalismus einfach eine andere Variante der Identitätspolitik ist? Anarchistinnen und Anarchisten üben natürlich scharfe Kritik an der Auseinandersetzung der Linken mit Identitätsfragen, aber wenn man den Unterschied zwischen weißem Nationalismus und linker Identitätspolitik nicht erkennt, verpasst man einige wichtige Details darüber, wie Rasse und Macht in Amerika funktionieren.

Vielleicht ist VI wirklich aufgrund von Gibsons Behauptung verwirrt, Patriot Prayer sei lediglich eine Gruppe, die sich für „Frieden und Liebe“, „Freiheit“ und Jesus einsetzt, aber die Verbindungen zwischen Patriot Prayer und explizit faschistischen Gruppen sind kaum ein Geheimnis. Schon lange vor der Kundgebung 2020 im Oregon State Capitol haben Antifaschistinnen und Antifaschisten ausführlich dokumentiert, wie Patriot Prayer weiße Rassisten und Neonazis in seinen Reihen willkommen heißt. Darüber hinaus führt das offensichtliche Bestreben der Appellistinnen und Appellisten, jedem sozialen Konflikt ihre eigenen Ideen aufzudrücken (z.B. die Ausschreitung im Oregon State Capitol als „autonome Zone am Kapitol“ zu bezeichnen) zu einer beunruhigenden Verkennung der tatsächlichen Dynamik vor Ort. Gibson und seine Patriot Prayer Group sind weit davon entfernt, staatsfeindliche Rebellen zu sein, sondern sie arbeiten häufig mit der örtlichen Polizei zusammen. Sie sind dafür bekannt, dass sie Informationen über Antifaschistinnen und Antifaschisten an die Polizei in Portland weitergeben und Antifaschistinnen und Antifaschisten bei Patriot Prayer-Kundgebungen physisch an die Bullen ausliefern. Dass die „Patrioten“ und die Bullen auch schon mehrfach aneinandergeraten sind, ändert nichts daran, dass es ihnen nur darum geht, eine andere (faschistischere) Vision des Staates zu verteidigen und nicht darum, die Staatsmacht herauszufordern. In der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts haben faschistische Gruppen die Polizei oft auf der Straße bekämpft. Das hat sie noch nie zu unseren Freundinnen und Freunden gemacht.

An anderer Stelle haben Appellistinnen und Appellisten an Gefühle appelliert, die, wenn nicht rechtsextrem sind, so doch zumindest Kennzeichen des amerikanischen Patriotismus sind. In Ill Wills „The Next Eclipse“ heißt es, dass „Amerika – obwohl fehlerhaft und unvollständig verwirklicht – untrennbar mit einer inspirierenden Vision des menschlichen Fortschritts verbunden war.“ 2012 fanden es die Mitglieder des Woodbine-Kollektivs angemessen, amerikanische Flaggen zu einer Demonstration nach dem Mord an Trayvon Martin mitzubringen. Mit ihrem Text „Nomos of the Earth“ (2014), in dem sie sich vorbehaltlos auf die Theorien des Nazi-Juristen Carl Schmitt berufen, hat sich Woodbine auch auf die dritte Position13 gestürzt.

Der Kapitalismus profitiert zwar von der rassischen und kulturellen Spaltung der ökonomisch unterdrückten Klassen, aber die Vorstellung, dass Rassismus nur als Werkzeug des Kapitalismus existiert, ist heutzutage meist veraltet und beleidigend. Um auf „Kenosha, I Do Mind Dying“ zurückzukommen: Der Autor dieses Artikels vermeidet es, im Stil des traditionellen Kommunismus von Klasse zu sprechen und verwendet stattdessen den Ausdruck „die Eliten“. Die Weigerung derjenigen unter uns, die gegen jegliche Unterdrückung und für die totale Befreiung kämpfen, Menschen wie Rittenhouse als „Brüder“ zu betrachten, ist nicht nur ein historischer Fehler, der die Chancen einer potenziell vereinten Arbeiterklasse beeinträchtigt hat. Wir sollten aus Prinzip nicht mit Rassisten sympathisieren, aber selbst wenn wir nur strategisch denken, waren rassistische Bürgerwehren schon immer ein wesentlicher Bestandteil für die Aufrechterhaltung des Landes, das wir zu zerstören versuchen.

Der Appellismus hat sehr starke populistische Unterströmungen/Untertöne; wie wir gesehen haben, führt seine Besessenheit, mit „normalen“ Menschen zu sprechen, dazu, dass er oft die Sprache des Liberalismus, des Patriotismus oder der reaktionären Rechten annimmt. Inzwischen kann fast alles und jeder Teil der Imaginären Partei sein. Das führt dazu, dass eine Reihe von populistischen Bewegungen unkritisch unterstützt wird, während ihre reaktionären Elemente beschönigt werden.

Nehmen wir zum Beispiel einen anderen Text von Woodbine, in dem es um die Maidan-Bewegung in der Ukraine im Jahr 2014 geht:

„In seiner sonderlichen tarngrau und eisblau gefärbten Tonalität ist der Maidan bloß die jüngste Ausführung dessen, was wir in den letzten Jahre gesehen und wovon wir Teil waren, es manifestiert sich in verschiedenen Sprachen, an verschiedenen Orten […] Angesichts dieser unglaublichen Abfolge von Aufständen ist die Frage „Wer sind die Aufständischen?“ – „Sind es die Arbeiterinnen und Arbeiter, nein, es ist die Mittelschicht, die Armen, Moment, wo sind die Armen? Die Weißen, die Schwarzen, nein, warte, wo sind die schwarzen Menschen? Wo sind die Frauen?“ – geht völlig am Thema vorbei, wenn man eine Situation als zu beurteilendes Objekt betrachtet und Lebewesen als eine Masse von Subjekten behandelt.[…]

Was sich heute auf der ganzen Welt abspielt – was du in den Augen des jungen Mannes siehst, der gerade vom Maidan zurück ist, in dem Grinsen durch das Gas, das Nacht für Nacht den Taksim füllt, in den Fußballvereinen, die Kairo verteidigen, in dir oder mir, die wir um 4 Uhr morgens in Zuccotti sind, in dem Jungen, den wir auf dem Weg zur Verteidigung des Parks getroffen haben, der es auf Reddit gesehen hat und einfach gehen musste, in diesen Frauen, die der Cocktailparty eine neue Bedeutung geben – das ist absolut einzigartig. Und daher historisch. Und daher alltäglich.“ – 1882 Woodbine, „The Anthropocene“, Short Circuit: A Counterlogistics Reader, 2015.

Sowohl der Maidan als auch Occupy waren komplizierte und oft widersprüchliche Momente des gesellschaftlichen Umbruchs. Beide Bewegungen enthielten in mehr oder weniger starkem Maße sowohl befreiende als auch reaktionäre Interventionen und Einflüsse. Wir können uns von dem erbitterten Widerstand der Maidan-Demonstranten gegen die massive staatliche Gewalt inspirieren lassen oder von den neuen Möglichkeiten der Selbstorganisation und des Angriffs, die in einigen Ecken der US-amerikanischen Occupy-Bewegung entwickelt wurden, aber es wäre unverantwortlich, nicht auch die reaktionären Elemente in beiden Bewegungen zu untersuchen. Die Beteiligung von Neonazis an der Maidan-Bewegung oder die Tendenz der nebulösen anti-elitären Rhetorik von Occupy, reaktionäre und rechtsextreme Elemente anzuziehen, sollten uns nicht nur beunruhigen, sondern auch dazu motivieren, anarchistische Visionen von Freiheit zu artikulieren und umzusetzen, die keinen Platz für diese Feinde haben.

Leider scheinen Appellistinnen und Appellisten nur selten an dieser Art der kritischen Beteiligung an sozialen Kämpfen interessiert zu sein. Für sie ist das „völlig am Thema vorbei“. Derselbe populistische Impuls, alles und jeden unter ihre Gemeinschaft, ihre wie auch immer geartete Einzigartigkeit oder ihre Partei zu subsumieren, führt nicht nur zu einer Auslöschung der sozialen Position, sondern auch zu einer Missachtung sinnvoller politischer Unterschiede. Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen denjenigen von uns, die den rassischen Kapitalismus und die Klassengesellschaft in ihrer Gesamtheit zerstören wollen, und den Faschisten, die uns lieber tot sehen würden.

Ein weiteres Beispiel für die unbefriedigende Art und Weise, wie Appellistinnen und Appellisten und viele ihrer kommunistischen Assoziierten mit der sozialen Lage in den USA umgehen, ist die Vorstellung von „der Partei von George Floyd – der Zusammensetzung, die sich im Aufstand von 2020 angekündigt hat“, die die Organisation Spirit of May 28 kürzlich zu popularisieren versuchte. Die Organisation, die sich inzwischen aufgelöst hat, benutzte den Namen eines Schwarzen, der von der Polizei ermordet wurde, als Markenzeichen ihrer Partei und brandmarkte den darauf folgenden Aufstand als Beispiel für ihren eigenen, bereits bestehenden politischen Rahmen, anstatt zu versuchen, die Bewegung für schwarzes Leben und gegen die Polizei auf ihre eigene Art zu verstehen. Die Schriften der Organisation legen nahe, dass ihre Mitglieder von der armen und schwarzen Bevölkerung eine neue „revolutionäre Öffnung“ in den Vereinigten Staaten erwarten – eine Erwartung, die zu noch mehr rassistisch aufgeladenen Ressentiments und Enttäuschungen führen wird.14

DIE PRAXIS: ZWISCHEN REKUPERATION UND AUTORITARISMUS

Appellistinnen und Appellisten engagieren sich oft in denselben Kämpfen oder Szenen wie Anarchistinnen und Anarchisten, aber ihre Praktiken sind mit dem Anarchismus unvereinbar. Unser Ziel ist es nicht, jeden, der sich von ihren Ideen beeinflussen lässt, als Appellistin und Appellisten abzustempeln, sondern vielmehr diejenigen zu kritisieren, die wie verdeckte Politiker handeln und nach der uralten autoritären Logik handeln, dass der Zweck die Mittel heiligt. Wir beziehen uns hier auf diejenigen, die dir sagen, was sie denken, dass du hören willst, und dann weitergehen oder sehr vage werden, wenn die Diskussion zu sehr auf anarchistische Ideen zusteuert, so dass ihre Abkehr von anarchistischen Prinzipien für viele Menschen zunächst schwer zu erkennen ist. Unserer Erfahrung nach verachten Appellistinnen und Appellisten hinter verschlossenen Türen Anarchistinnen und Anarchisten als naiv15 und bezeichnen die Zusammenarbeit mit ihnen als eine ihrer vielen „unheiligen Allianzen“.

Der Anarchismus ist ein zentraler Bestandteil des appellistischen Mythos. Der Appellismus stellt sich selbst als logische Weiterentwicklung des Anarchismus dar, den sie als jugendliches Sprungbrett für ihre reiferen strategischen Schlussfolgerungen darstellen. Die Geschichte geht in etwa so: Wir haben den Anarchismus ausprobiert, bis klar wurde, dass er nicht „funktioniert“, d.h. uns nicht zu der Version des Sieges führt, die die Appellistinnen und Appellisten anstreben. Dieses Narrativ zieht Menschen an, oft mit akademischem und aktivistischem Hintergrund, die bereit sind, Kompromisse einzugehen, um Ergebnisse zu erzielen. In „How to Start a Fire“ stellen die Autoren fest, dass sie nach vier Jahren gemeinsamer „Kraftanstrengung“ gelernt haben, dass „die politischen Identitäten, die uns angeboten wurden – Anarchistinnen und Anarchisten, Umweltschützerinnen und Umweltschützer, Marxistinnen und Marxisten, Sozialistinnen und Sozialisten – für einen historischen Moment konstruiert wurden, der vorbei ist. Sie haben sich seit Jahrzehnten nicht mit den Mitteln ausgestattet, um tatsächlich zu kämpfen. Wir lassen das Gepäck zurück, das uns schwach und belastet hat, halten aber immer noch an dem fest, was uns Kraft gegeben hat.“

Appellistinnen und Appellisten reduzieren den Anarchismus oft – manchmal explizit, manchmal subtiler – auf eine weitere belastende „Identität“, die nur zu „Ohnmacht“16 und ‘Purismus“ führen kann, einem Hindernis für eine effektive Strategie. Diese theoretischen Spielereien sind notwendig, um die Ethik zu beseitigen, die für anarchistische Perspektiven grundlegend ist. Ohne den „Ballast“ einer „Identität“ können sie mit den Massenmedien sprechen, als Protestmarschalls auftreten (Atlanta), die Gentrifizierung von Ridgewood, New York, mit einem Yuppie-Café anführen,17 kämpferische Kämpfe in Verhandlungen mit dem Staat münden lassen, sich hierarchisch organisieren oder für den Stadtrat kandidieren wie der Ill Will-Autor Nicholas Smaligo. Auch Anarchistinnen und Anarchisten sind dafür bekannt, einige dieser Dinge zu tun. Deshalb geht es in diesem Text nicht nur um Appellismus, sondern auch darum, ehrlichere und kohärentere Praktiken als Anarchistinnen und Anarchisten zu entwickeln. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Festhalten an den Bedingungen der Möglichkeit zur Autonomie und dem Schwenken des Anarchismus als „Flagge der Identität auf dem Markt der revolutionären Prozesse “18.

In Wirklichkeit sind die einzigen wertvollen Einsichten, die in den appellistischen Schriften verstreut sind, aus der anarchistischen Tradition vampirisiert worden: informelle Organisation, Autonomie, Betonung der Logistik und der Infrastrukturen der Herrschaft usw. Im ersten Abschnitt haben wir erörtert, wie der appellistische Fokus auf den Aufbau von Infrastruktur, der auf den ersten Blick unseren eigenen Zielen ähnelt, in Wirklichkeit dazu führt, dass bestehende rassische und koloniale Beziehungen zu Land und Ort, die für das weitere Funktionieren des Staates grundlegend sind, verstärkt werden. Außerdem weicht der appellistische Ansatz tendenziell von der Horizontalität anarchistischer Praktiken wie der gegenseitigen Hilfe ab. Während Projekte der gegenseitigen Hilfe darauf abzielen, Ressourcen als Teil des Aufbaus vertrauensvoller Beziehungen im Zuge eines gemeinsamen Kampfes zu teilen, neigen die Appellistinnen und Appellisten dazu, materielle Ressourcen und den Zugang zu ihnen in den Händen eines einzelnen Individuums oder einer Gruppe zu konzentrieren. Dadurch werden sie zu Torwächtern der materiellen Ressourcen, um ihre eigene Vormachtstellung in Schlüsselmomenten sozialer Kämpfe zu sichern.

Appellistinnen und Appellisten streben auch nach Macht und Kontrolle, indem sie Anführer und Machthaber in liberalen gemeinnützigen und legalistischen Organisationen ausfindig machen und sich unsichtbar mit ihnen, d.h. unter Anführern, organisieren (eine Methode, die durch die Theorie der Zusammensetzung gerechtfertigt ist). Indem sie diese Verbindungen auf Räume beschränken, in denen sie soziale, politische und entscheidungsrelevante Macht haben, nutzen appellistische Organisationen diese Räume der scheinbar horizontalen Begegnung, um ihr Programm zu bestätigen und ihre Macht zu stärken, während sie alle Entscheidungsräume, in denen sie keine Macht haben, delegitimieren.

Das Streben nach Macht bedeutet auch, dass viele ihrer Praktiken von optischer Symbolik angetrieben werden, einem Bedürfnis, den Kampf den Medien und „der Öffentlichkeit“ als legitim und/oder spektakulär zu präsentieren. Das liegt zum Teil daran, dass die Strategie der Composition die Rekrutierung einer großen Zahl von Menschen beinhaltet, aber es deutet für uns auch darauf hin, dass ihr Streben nach Macht sie dazu bringt, bei bestimmten Grundsätzen übermäßig viele Kompromisse einzugehen. Dieses Interesse an optischer Symbolik und öffentlicher Legitimität führt häufig dazu, dass sie sich weit vom Projekt des Aufbaus von Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Herrschaftsinstrumenten (wozu die Medien und die Spektakularisierung von Kämpfen gehören) entfernen.

In Frankreich spitzte sich die Unvereinbarkeit zwischen dem Streben der Anarchistinnen und Anarchisten nach Autonomie und dem Wunsch der Appellistinnen und Appellisten nach Macht und Legitimität in einem kritischen Moment zu, als es um die Verteidigung des Territoriums ging, das als ZAD von Notre-Dame-des-Landes („zu verteidigende Zone“) bekannt ist. In diesem Fall fielen die Appellistinnen und Appellisten anderen ZAD-Landverteidigerinnen und -verteidigern in den Rücken, drängten auf einen Deal mit dem Staat, um das Land legal zu erwerben, und nahmen den Bullen die Arbeit ab, indem sie die Verteidigungsanlagen der Zone selbst abbauten, um den Weg für Verhandlungen zu ebnen (und gleichzeitig den Bullen den Weg für eine Razzia frei zu machen, die sie in den folgenden Tagen durchführte). Wie sieht es nun in den USA aus, wo appellistische Gruppen, die das Ergebnis der ZAD als „Sieg“19 bezeichnen, in einigen wichtigen Volkskämpfen auftauchen?

Wie wir in diesem Abschnitt erörtert haben, werden appellistische Ideen durch eine Vielzahl autoritärer Verhaltensweisen und verdeckter hierarchischer sozialer Vereinbarungen umgesetzt, die sie vor Kritik abschirmen und die ideologische Grundlage, auf der sie operieren, verschleiern.20 Die Idee der „Undurchsichtigkeit“ äußert sich typischerweise in einer Fetischisierung von Normativität und Respektabilität, was dazu führt, dass soziale Normen wie Frauenfeindlichkeit und Missbrauch ungehindert fortbestehen können. Diese Verhaltensweisen sind nicht nur bei appellistischen Autoren anzutreffen, sondern werden von Manipulatoren und Managern aller Couleur reproduziert. Die besondere Art des appellistischen Autoritarismus, der nach außen hin subtil, aber explizit ausgeprägt ist, macht sie jedoch besonders effektiv darin, diese Verhaltensweisen und Regelungen in antiautoritäre Räume einzuschleusen.

Der relative Mangel an (jüngeren) anarchistischen Analysen in den USA hat ein Vakuum hinterlassen, in das sich die Appellistinnen und Appellisten gestürzt haben, um es zu füllen. Wir halten es für wichtig, appellistische Schriften nicht zu veröffentlichen oder zu verbreiten (es sei denn, wir wollen sie kritisch analysieren) oder zu ihren Projekten beizutragen, um ihnen keine weitere Legitimität zu verschaffen und es ihnen zu ermöglichen, weiterhin aus anarchistischen Räumen zu rekrutieren. Oft scheinen die Menschen, mit denen wir gesprochen haben und die appellistische Texte verbreiten oder lesen, die Theorie zu schätzen, aber nicht unbedingt die Praktiken zu unterstützen, die sich aus ihr ergeben. Wir möchten die Menschen dazu ermutigen, die Schlussfolgerungen, die die Autorinnen und Autoren aus ihren Analysen der aktuellen Situationen ziehen, und die praktischen Auswirkungen dieser Schlussfolgerungen genau zu prüfen. Man braucht keine schicke Website, um Schriften zu veröffentlichen, und Anarchistinnen und Anarchisten müssen ihre eigene Infrastruktur für Druck und Vertrieb entwickeln.

STATTDESSEN…

Anarchistische Ideen lassen sich nicht durch ein einfaches Programm in die Praxis umsetzen, aber genau das ist ein wichtiger Teil der Anarchie. Anarchie ist eher eine Reihe von Fragen, die wir in unserem Alltag und in unserem Kampf gegen Autorität und Unterdrückung stellen – dies wird oft als „Projektualität“ bezeichnet, im Gegensatz zu „Strategie“, denn Strategie ist ein Begriff, der oft verwendet wird, um auf die Notwendigkeit hinzuweisen, die Mittel dem Zweck zu opfern und die Aktionen anderer Menschen zu manipulieren.

„Der wesentliche Unterschied zwischen einer Einfluss nehmenden, aufständischen Minderheit und einer Avantgarde- oder populistischen Gruppe ist, dass die erstere ihre Prinzipien und horizontalen Beziehungen zur Gesellschaft wertschätzt und versucht, ihre Prinzipien und Modelle zu verbreiten, ohne sie als Besitzstand zu wahren. Eine Avantgarde hingegen versucht, diese zu kontrollieren – sei es durch Zwang, Charisma oder das Verbergen ihrer wahren Ziele. Eine populistische Gruppe bietet einfache Lösungen und nährt aus Angst vor Isolation die Vorurteile der Massen.[…]

Die Einfluss nehmende Minderheit wirkt durch Resonanz, nicht durch Kontrollen. Sie nimmt Risiken auf sich, um inspirierende Modelle und neue Möglichkeiten zu schaffen und um bequeme Lügen zu kritisieren. Sie genießt keine wesenhafte Überlegenheit, und auf die Annahme einer solchen zurückzufallen, würde zu ihrer Isolation und Irrelevanz führen. Wenn ihre Schöpfungen oder Kritiken niemand inspirieren, wird sie keinen Einfluss haben. Ihr Zweck ist nicht, Anhänger zu gewinnen, sondern soziale Gaben zu schaffen, die andere Menschen frei nutzen können.“ – Die Feuerrose ist zurückgekehrt! Der Kampf um die Straßen von Barcelona, 2012

Es ist viel schwieriger, unsere Projekte durch diese Brille zu betrachten, aber es gibt uns die Möglichkeit, kritisch zu denken und selbst zu handeln. Individuen und Kollektive, die sich auf diese Weise selbst ermächtigen, sind entscheidend für den letztendlichen Erfolg des anarchistischen Projekts, das von der Fähigkeit der Menschen abhängt, differenziert und kritisch zu denken. Dies ermöglicht eine genauere Einschätzung der Welt um uns herum und dessen, was wir in ihr tun. Das ist effektiver, als bestimmte Realitäten zu beschönigen, um die Welt weniger verwirrend zu machen und bequemere Wege für Aktionen zu finden.

Einige Fragen, die wir uns stellen könnten, ohne dabei unsere Ablehnung jeglicher Form von Autorität aus den Augen zu verlieren, sind:

– Wie stellen wir uns die möglichen Auswirkungen unserer Projekte vor? Wie bewegt sich dieses bestimmte Projekt, das ich durchführe, in Richtung Anarchie, Aufstand und kollektive Befreiung?

– Wie können wir Praktiken der Fürsorge, Beziehungen und Kollektive entwickeln, die in unseren Unterschieden Stärke finden, anstatt durch falsche Homogenität nach Gemeinsamkeiten zu streben?
– Welche Projekte und Beziehungen können wir aufbauen, die die rassischen und subkulturellen Gräben zwischen verschiedenen aufständischen Gruppen untergraben und gleichzeitig die rassischen und anderen unterdrückerischen Dynamiken bedenken, die immer noch existieren?

– Wie sieht es aus, wenn wir über die Momente des Aufstands hinausgehen, wenn es nicht mehr darum geht, die Barrikaden zu verteidigen, sondern sie zu versorgen? Wie beeinflusst die Vorbereitung auf diesen Wandel unseren Ansatz in der Gegenwart?

Die „Imaginäre Partei“-Struktur der appellistischen Bewegung bedeutet, dass diejenigen, die die Anführer in ihrem Handeln unterstützen, nicht mit der gesamten Strategie betraut sind. Die Anführer mögen zwar ein Charisma und einen Sinn für Organisation ausstrahlen, der ihnen Respekt einflößt, aber viele in ihrem Umfeld werden auch mit denselben Frustrationen konfrontiert, die in traditionellen linken Organisationsräumen anzutreffen sind: Hierarchie, fehlende Handlungsmöglichkeiten, entfremdende Normalität, sexuelle Gewalt und andere Unterdrückungen. So wie Anarchistinnen und Anarchisten oft versuchen, in die Rekrutierungsbemühungen der Linken zu intervenieren, indem sie Kritik an der Basis üben und mit ihren eigenen Projekten eine Alternative aufzeigen, können wir das Gleiche im Hinblick auf diejenigen tun, die in die Imaginäre Partei aufgenommen werden. Während wir dazu ermutigen, autoritäre Praktiken und die Schießwütigen des appellistischen Milieus abzulehnen, überlassen wir es den Leserinnen und Lesern, wie sie sich zum Rest ihrer Netzwerke verhalten wollen.

Indem wir die grundlegenden Prinzipien einer anarchistischen Ethik herausarbeiten und auf dieser Basis mit anderen zusammenarbeiten, können wir unsere Kämpfe für diejenigen mit autoritären Ambitionen unwirtlich machen, egal ob es sich um appellistische, tankie- oder DSA-Liberale handelt.


WEITERE LEKTÜRE (auf Englisch)

Another Word for Settle: A Response to ‘Rattachements’ and ‘Inhabit,’” mtlcounterinfo.org, 2021 (zur Frage, wie die appellistische Strategie eine Erweiterung des Siedlerkolonialismus ist)

Decisions, Compositions, Negotiations,” trans. Ungrateful Hyenas, in Decomposition: For Insurrection Without Vanguards, 2023 (für einen genaueren Blick auf die Logik und Praxis der Komposition)

Breaking Ranks: Subverting the Hierarchy and Manipulation Behind Earth Uprisings, 2023 (für eine weitere Diskussion über manipulative und avantgardistische Praktiken, die Spektakularisierung des Kampfes und den Einsatz von Radikalen als Stoßtrupps)

“Blanqui or the Statist Insurrection,” trans. Ungrateful Hyenas, in Decomposition: For Insurrection Without Vanguards, 2023 (um die Perspektive des autoritären Aufstandsalismus zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen)


(und auf Deutsch)

Blanqui oder die staatliche Insurrektion“, 2011 (zur Zurückführung der Perspektive des autoritären Insurrektionalismus auf ihren Ursprung).

Anarchismus und Identität(en), ein falsches Verhältnis. Von uns auf unseren Bog veröffentlicht, mit Kritiken von Non Fides und Finimondo.


1A.d.Ü., Lichtundurchlässigkeit.

2Der Ausdruck „Partei des Aufstands“ wird in Proposition 14 von Comité d’occupation de la Sorbonne en exil (2006), Les mouvements sont faits pour mourir (2007), „The Kazakh Aufstand“ (Ill Will Editions, 2022), „Civil War, Dialectics, and the Possibility of Revolution“ (Spirit of May 28, 2023) und „On Destituent Power“ (Tronti, Ill Will Editions, 2022) verwendet.

3A.d.Ü., Entbehrung.

4„Wenn man territoriale Autonomie als Strategie zur Zerstörung des Kapitalismus und des Staates ansieht, bedeutet das auch, dass man langfristig Zonen entwickeln muss, in die die Bullen nicht vordringen können, in denen die Mittel zur Erhaltung und Reproduktion der dort lebenden Menschen vorhanden sind und in denen eine große Gruppe engagierter und vernetzter Menschen jeden Alters die Mittel und das Bedürfnis hat, dieses Gebiet über Generationen hinweg zu verteidigen. Wir können uns an Beispielen orientieren, wo diese Arbeit bereits seit Hunderten von Jahren geleistet wird: Wet’suwet’en-Gebiet, Elsipogtog, Barriere Lake, Six Nations, Tyendinaga, Kahnawá:ke und Kanehsatà:ke. Diese Arbeit ist im Großen und Ganzen seit Hunderten von Jahren nicht mehr von nicht-indigenen Gemeinschaften geleistet worden – wir fangen bei Null an, und selbst wenn es uns ethisch sinnvoll erscheinen würde, unsere eigene territoriale Autonomie in den Vordergrund zu stellen, wäre es wahrscheinlich nicht strategisch, denn Siedlergemeinschaften in einer Siedlergesellschaft haben viel weniger strukturelle Konflikte mit dem kolonialen System. Es macht uns nicht schwächer, wenn wir dem Kampf für die territoriale Autonomie von Gemeinschaften, denen wir nicht angehören, Priorität einräumen. Es macht uns stärker, wenn wir dadurch Beziehungen aufbauen, die zu revolutionären Kontexten beitragen, in denen die Ziele der revolutionären Netzwerke der Siedler mit denen der antikolonialen indigenen Gruppen zusammenlaufen“ (“Another Word for Settle: A Response to ‚Rapprochements‘ and ‚Inhabit’“, 2021).

5Aus Der kommende Aufstand (2007): „Sogar in den endlosen Subventionen, die viele Eltern ihrem proletarisierten Nachwuchs zu zahlen gezwungen sind, gibt es nichts, was nicht zu einer Art Mäzenentum für die soziale Subversion werden könnte.“ Aus „The Next Eclipse“ (2018): „Eine Craft-Brauerei oder ein Eiscreme-Unternehmen, das sein eigenes lokales Produktionsnetzwerk aufbaut, kann ein Projekt der Partisanen sein“. Aus „How to Start a Fire“ (2017): „Eigentum erwerben. Piratensender betreiben. Baue Öfen. Lerne zu kochen. Lerne Sprachen. Besorge dir Waffen. Öffne Straßenkarren und Geschäfte. Besetze Gebäude. Eröffne Cafés. Diners. Restaurants. Pizzaläden. Buchläden. (…) Das Haus am See der Familie wird umfunktioniert, um hundert Personen für ein sommerliches Strategietreffen unterzubringen. Langsam wächst etwas.“

6 Der Begriff „links“ stammt aus der parlamentarischen Unterteilung (in europäischen und anderen Ländern) zwischen rechts und links unter den gewählten politischen Vertretern. In den USA ist die Linke in ähnlicher Weise in die Mechanismen und Perspektiven eines radikalen Flügels einer politischen Strömung eingebettet, der solche Vertreterinnen und Vertreter angehören. Daher beinhaltet die Linke oft Organisationsansätze mit großen Zelten und die Tendenz, Kämpfe zu steuern und zu kontrollieren, was in der Regel mit den eher befreienden Prinzipien des Anarchismus in Konflikt gerät. Wir lehnen es ab, den Anarchismus in die Linke einzubeziehen, um uns klar von diesen kompromittierenden und managementorientierten Tendenzen abzugrenzen.

7A.d.Ü., Zusammensetzung, da aber auch der Begriff als Titel für einige Texte und Kritiken von großer Bedeutung ist, haben wir ausnahmsweise den engischen Begriff Composition so gelassen, das Kursive ist von uns.

8“Decisions, Compositions, Negotiations” (trans. Ungrateful Hyenas, 2023).

9A.d.Ü., oder auch Einheitsfront.

10„Was der Staat auf keinen Fall dulden kann … ist, dass die Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität zu bejahen, dass die Menschen zusammengehören, ohne eine repräsentierbare Bedingung der Zugehörigkeit zu haben“ (The Coming Community, 86).

11Siehe zum Beispiel die Arbeit von Shemon Salam, die in Fußnote 9 besprochen wird.

12Partisan: „von oder zu einer Partei oder Fraktion gehörend“.

13A.d.Ü., Third Position ist eine Reihe von neofaschistischen politischen Ideologien, die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa beschrieben wurden. Sie entwickelte sich im Kontext des Kalten Krieges und erhielt ihren Namen durch die Behauptung, sie stelle eine dritte Position zwischen dem Kapitalismus des Westblocks und dem Kommunismus des Ostblocks dar.

14Mitbegründer Shemon Salam hat kürzlich einen öffentlichen Wutanfall qua Essay „Lost in the American Wasteland“ veröffentlicht, der von der staatsfeindlichen kommunistischen Zeitschrift Endnotes herausgegeben wurde und in dem er die radikale Tradition der Schwarzen verleugnete, weil sie die Revolution für ihn noch nicht vollbracht habe. Siehe auch den SM28-Beitrag (von Shemon und anderen) „Akron, Jayland Walker, and the Class War“, in dem die Autoren Akron besichtigen, nachdem ein Schwarzer erschossen wurde, und sich dann darüber beschweren, warum nicht mehr Menschen danach Ausschreitungen gemacht haben.

15Ein Interviewpartner von SM28 sagte: „Ich denke, dass der Anarchismus heute völlig aus den Fugen geraten ist und aufgegeben werden sollte. (…) Der Anarchismus ist unverbesserlich liberal.“

16Ein Zitat aus „‚Against‘ Anarchism: A Contribution to the Debate on Identities“ (2018), veröffentlicht auf Lundi Matin, der wichtigsten appellistischen Plattform in Frankreich, deren Inhalte Ill Will regelmäßig übersetzt und wiederveröffentlicht. Er stellt die These auf: „Diesen Aspekt auf den Tisch zu bringen, erscheint uns grundlegend. Sich selbst als Anarchist*in (oder eine andere „revolutionäre Identität“) zu bezeichnen, trägt überhaupt nichts bei oder erleichtert nichts, es stärkt weder unsere revolutionäre Kraft noch hilft es uns, uns besser zu organisieren. Stattdessen isoliert sie uns und macht uns zu einem leichten Ziel für Repressionen. Ideologische Identitäten sind ein Pfeiler, auf dem der Feind ruht, also liegt es an uns, ihnen abzuschwören.“

17Das sind nur einige der abscheulichen Dinge, die die Autoren in Nordamerika von appellistischen Menschen gesehen haben.

18„„Gegen“ den Anarchismus. Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten“.

19„The Strategy of Composition“ (Hugh Farrell, 2023). Wir wollen nicht dazu beitragen, dass sich die appellistisch aufgeblasenen Ideen über den Einfluss ihrer Theorien auf Kämpfe wie Stop Cop City, deren Dynamik vor Ort die der Kompositionsintelligenz übersteigt und sich ihrer Erfassung entzieht, in den Vordergrund drängen. Wir wollen auch nicht nur das zitieren, was sie über sich selbst sagen, denn das vermittelt ein übertriebenes Bild von dem, was sie tun. Der Geist des 28. Mai ist zum Beispiel größenwahnsinnig über den Aufstand von George Floyd: „Keine andere politische Tendenz war in der Lage, in diesem Kampf Fuß zu fassen, oder hatte viel Interessantes dazu zu sagen. In der Vergangenheit war es unser Ziel, Räume der Begegnung zwischen verschiedenen Tendenzen zu schaffen. Aber heute ist klar, dass unsere Partei allein dasteht„ (“Among Friends: Reflections After the George Floyd Uprising”, 2021).

20Einige dieser Verhaltensweisen werden in einem Interview mit dem Titel „Conflict in Movement“ auf The Final Straw Radio sehr gut auf den Punkt gebracht.

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