Zusammen mit einigen anderen Anarchist*innen wurde ich vor ein belgisches Staatsgericht geladen, das mich hauptsächlich beschuldigte, Teil dessen zu sein, was zu Beginn der langen Untersuchung als „terroristische Organisation“ bezeichnet aber schließlich als „kriminelle Vereinigung“ neu eingestuft wurde. Ich schreibe diese Zeilen nicht um einen indirekten Dialog mit staatlichen Institutionen einzuleiten oder meine Lebensgeschichte zu erzählen, sondern einfach um den Schleier des Schweigens aufzubrechen, den der Staat möglicherweise auf Überzeugungen werfen möchte.
Die Revolte gegen die Macht, der Kampf um die Freiheit, hat die Menschheitsgeschichte immer begleitet. Um es besser auszudrücken, der etablierten Macht zu trotzen, ist meiner Meinung nach das Herzstück der Menschheitsgeschichte auf der Erde und angesichts der gegenwärtigen titanischen Gesellschaft, die in Blut, Leid, Verzweiflung und unsäglichen Tragödien versinkt, ist es ziemlich paradox. Es gibt eine schöne griechische Tragödie, die das Problem der Revolte, die Unvereinbarkeit zwischen Staat und Gewissen, zwischen Zwang und Freiheit, zwischen Recht und Ethik beleuchtet.
Es ist die Geschichte von Antigone, der Tochter des Königs Ödipus. Antigone wurde von ihrem Onkel Kreon zum Tode verurteilt, da sie sich weigerte zu gehorchen und sich nicht der Macht unterwerfen wollte. Antigone, die die Verlobte des Sohnes Kreons war, beging daraufhin Selbstmord. Dies wiederum führte zum Suizid Kreons Sohn und darauf folgend seiner Frau. Sie weigerte sich, sich den Gesetzen dieser Welt, den Gesetzen der Menschen zu beugen und wollte nur den „göttlichen Vorschriften“ folgen.
Es ist offensichtlich, dass die Götter nur im menschlichen Gehirn existieren, so wie die göttlichen Gesetze; das wahre Wesen dieser Tragödie ist die Revolte gegen die etablierte Macht. Letztendlich sind die „göttlichen Vorschriften“, nach denen Antigone ihr Leben führen wollte, einfach die Echos des Gewissens und die ethischen Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben. Auf das Gewissen zu verzichten um der Macht zu gehorchen bedeutet, nicht mehr als Individuum zu existieren. Wie kann es sein, dass das Gewissen nicht sofort mit dem menschlichen Gesetzen in Konfliktgerät?
Gesetze werden erlassen, um die Macht an Ort und Stelle zu halten, als die Ordnung der Dinge. Die Mächtigen, die Richter, die Reichen (aber leider auch einige ihrer Untertanen) werden sagen, dass Gesetze zum Wohle aller existieren. Dass sie Ausdruck – wahrscheinlich unvollständiger – sozialer Gerechtigkeit sind und dass sie in all ihrer Unvollkommenheit notwendig bleiben, um den „Krieg aller gegen alle“ zu verhindern. Antigone wusste, dass all dies nur Klatsch und Tratsch war, um die Ungläubigen einzuschläfern und das Prinzip der Macht, der Autorität zu legitimieren.
Diese Gesetze, diese Ausdrücke – im „besten Fall“ – der bestehenden sozialen Beziehungen, sind Konstruktionen, die auf einem riesigen Meer aus Blut errichtet wurden, welches sich Tag für Tag weiter füllt. Millionen von Menschenleben wurden im Namen des Gesetzes ausgelöscht. Millionen weitere werden im Namen des Gesetzes zur Sklaverei verurteilt. Wir haben getötet, massakriert, verstümmelt, eingekerkert, verbrannt, im Namen des Gesetzes bombardiert; wir töten, wir massakrieren, wir knasten ein, wir verbrennen, wir bombardieren im Namen des Gesetzes.
Wenn sich das individuelle Bewusstsein nicht gegen die Gesetze der Menschen erhebt, wenn die Stimme des Bewusstseins zum Schweigen gebracht wird und der Körper und Geist sich dem Gehorsam ergeben, wenn die individuelle Ethik nicht zu einem Stein in der menschlichen Flut wird, können wir nur Aufgeben und wir können die Schrecken dieser Rechtswelt beobachten, von Konzentrationslagern bis hin zu Isolationsstrafen, von schmutzigen Kriegen bis hin zu humanitären Kriegen, von verräterischer Ausbeutung bis hin zur bitteren Dummheit des Menschen durch die technologischen Prothesen, von Abschiebelagern bis hin zu den massiven Ertränkungen im Mittelmeer.
Der Mythos der Antigone ist eine Tragödie. Die Revolte ihres Gewissens gegen die vom König verkündeten Gesetze, beruhte nicht auf Zwang oder der Auferlegung eines anderen Modells- auf Machthunger- sie beruhte nur auf ihrer individuellen Überzeugung, der Ethik, die für ihr Wesen konstitutiv war.
Heute werden Anarchist*innen vor die Gerichte des belgischen Staates gezerrt, weil sie eindeutig jene Gesetze nicht einhalten wollen. Anarchist*innen sind gegen die Gesetze, das ist offensichtlich. Nicht gegen dieses oder jenes mehr oder weniger unfaire Gesetz, sondern gegen den Grundsatz des Gesetzes. Für Anarchist*innen konzipiert sich das Zusammenleben nur über das individuelle Bewusstsein jedes Einzelnen und nicht von der Nötigung, der Auferlegung und Autorität, die der Staat und der Kapitalismus heute verkörpern.
Aber es gibt etwas noch Schlimmeres an Anarchist*innen. Sie brechen nicht nur die Gesetze, sondern richten sich nur nach ihrer eigenen Überzeugung und Ethik und nicht nach dem Strafgesetzbuch, nein. Sie gehen weiter: Sie brechen die Gesetze nicht, weil sie wie die Reichen leben wollen, weil sie Macht über andere haben wollen, weil sie die Staatsmacht ergreifen wollen. Nein, sie brechen sie, weil sie gegen alle Gesetze, alle Auflagen, alle Staaten, ob demokratisch, religiös, sozialistisch, faschistisch, diktatorisch oder republikanisch sind. Außerdem besitzen sie noch die Arroganz zu glauben, dass sie das Recht dazu haben.
Das ist ihr Verbrechen, das kein Staat ihnen je verzeihen kann: Anarchist*innen wollen die Zerstörung des Staates, eines jeden Staates und das Ende der Ausbeutung. Was spielt es also für eine Rolle, die juristischen Labyrinthe des Staates ausgenommen, ob Anarchist*innen dieses oder jenes angegriffen haben? Sie sind sowieso schuldig. Schuldig, der Stimme ihres eigenen Gewissens und nicht dem Gesetz zu folgen. Schuldig, gegen den Staat und den Zustand der Dinge zu rebellieren. Schuldig, den Ausgebeuteten und Unterdrückten Vorschläge zu unterbreiten und selbst den Weg der sozialen Revolution einzuschlagen, um die bestehenden sozialen Beziehungen radikal zu verändern. Schuldig, dass sie über die Kühnheit, Mut und Intelligenz verfügen,um die Herrschaft zu untergraben und mit allen Mitteln anzugreifen, die sie für ihre Zwecke für angemessen halten, auch wenn sie allein oder in kleiner Zahl sind und wenn alles und jeder sie abschrecken will.
Anarchismus ist der Gedanke und das Handeln, das auf die Zerstörung des Staates, die Zerstörung aller Institutionen, die Zerstörung des Kapitalismus, sowie seiner Güter und seiner Lohnarbeit, die Zerstörung von allem, was wenigen Personen erlaubt, alle anderen auszubeuten, drängt. In der Geschichte der Feindseligkeiten zwischen Anarchist*innen und Staaten gibt es nichts Klassischeres als den Vorwurf der „kriminellen Vereinigung“. Es ist ein sehr formbarer Rechtsbegriff, der allen Kontexten angepasst ist. Eine repressive Folge des Staatsprinzips, das von den italienischen Faschisten gut zusammengefasst wurde: „Alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.“Denn die einzige vom Staat zugelassene Organisation ist die eigene Organisation, die ihrer Macht mit ihrer Verwaltung, ihren Kasernen, ihren Polizisten, ihren Wachen, ihren Kontrolleuren, ihren Managern.
Alles andere, alles was potentiell außerhalb des Staates liegt, wird entweder toleriert weil es nicht schädlich ist (wie es bei vielen sozialen oder kulturellen Vereinigungen der Fall) oder gefördert, weil es integrierbar ist (wie es bei Bürgerausschüssen, Parteien oder Gewerkschaften der Fall). Alles andere wird, früher oder später, als „kriminell“ eingestuft. Tausende von Anarchist*innen wurden in den letzten 150 Jahren als „Kriminelle“ angeklagt und verurteilt. Je nach den aktuellen Bedürfnissen der Strafverfolgungsbehörden kann diese Anschuldigung leicht auf sämtliche Menschen angepasst werden.
Nach dem Aufruhr, der die Pariser Bourgeoisie Ende des 19. Jahrhunderts erschütterte, reichte es aus ein anarchistisches Flugblatt zu besitzen um als Mitglied einer „kriminellen Vereinigung“ verurteilt zu werden und so Gefahr zu laufen, ins Gefängnis von Guyana verbannt zu werden. Im Grunde genommen hat sich heute nichts geändert: Anarchist*innen stören, so wenige sie auch sein mögen und werden deshalb vor die Gerichte gezerrt, als die Verbrecher, die sie sind.
Außerdem ist es kein großes Geheimnis: Die Anarchist*innen widmen sich auf die eine oder andere Weise der Zerstörung einer Welt der Unterdrückung und Ausbeutung. Indem sie Alltägliches und Vorurteile zerstören, indem sie den Glauben an Autorität zerstören, indem sie die Strukturen zerstören, in denen Macht verwirklicht wird, indem sie auch Menschen kritisieren, die für die Gräueltaten verantwortlich sind, die die Wurzel dieser Welt darstellen. Alle Anarchist*innen, entsprechend ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Aber ja, am Ende sind sie alle schuldig die Autorität zerstören zu wollen!
In diesem Zusammenhang und wie jemand am Vorabend der Verkündung der Schurkengesetze in Frankreich sagte- die darauf abzielten die Verbreitung anarchistischer Ideen in einer Zeit einzudämmen, in der das Schwarzpulver der Rache und sozialen Gerechtigkeit überall war:
„Die Bücherstandbesitzer entlang der Seine in Paris, als sie neulich Morgens ihre Auslagen aufbauten, sagten sich mit ihrem gesunden Menschenverstand: Es besteht kein Zweifel, wir wollen die Fundamente unserer jahrhundertealten Denkmäler untergraben, wir stehen vor einer neuen Handlung. – Kommt schon, kommt schon, mutige Ladenbesitzer! Ihr wandert durch die Ebenen des Absurden. Denken Sie ein wenig an die Tatsache, dass die Verschwörung, von der Sie sprechen, nicht neu ist; wenn es darum geht, die von Würmern gefressenen Gebäude der Gesellschaft die wir hassen, niederzuwerfen, dann ist dies nicht neu. Das ist unsere langjährige Verschwörung!” Zo d’AXA, Détruire passionnément!
Vor den Gerichten um Gnade oder Mitleid zu bitten würde daher bedeuten, das Verbrechen zu leugnen, für das ich vorgeladen wurde. Die Tatsache, unbestreitbar und ordnungsgemäß bewiesen durch die Überwachung von Polizei- und Geheimdienstbluthunden, dass ich wirklich das bin was sie beweisen wollten, dass ich ein Anarchist bin – ein erklärter Staatsfeind, ein Liebhaber der Freiheit.
Was soll ich im Übrigen über die Jahre des Kampfes sagen, die ich mit anderen Rebellen und Anarchist*innen teilen konnte? Ganz wichtige Mittel der Überwachung wurden eingesetzt, um diejenigen Anarchist*innen zu identifizieren, aufzuzeichnen, aufzuspüren und – möglicherweise – zu fangen, die sich der Macht widersetzten. Sie widersetzten sich, indem sie ihre Kritik verbreiteten, sich an sozialen Kämpfen und Konflikten beteiligten und die Notwendigkeit von Revolten und direkten Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Gefangenschaft und Sklaverei verteidigten. Die Polizei schlich sich in die Häuser der Gefährten, um dort versteckte Kameras und Mikrofone zu installieren, verfolgte sie, schickte Undercover-Leute zu ihren Initiativen, analysierte die Worte die sie in ihre Agitationsblätter schrieben, las ihre Post und hörten ihre Telefongespräche ab. Die Polizei hat sich mit ihren Kollegen über Staatsgrenzen hinweg koordiniert, sie haben mit der Staatssicherheit und dem militärischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Und vor allem haben sie, und wie ich mir vorstelle ziemlich hilflos, kontinuierlich eine lange Reihe Sabotagen und vielfältige Angriffe durch die Bemühungen anonymer Rebellen erlebt. Direkte Aktionen, welche auf Ziele ausgerichtet waren und sind, von denen auch ich glaube, dass sie jeglicher Freiheit schaden und für Ausbeutung und Unterdrückung verantwortlich sind.
Vielleicht hatten sie es irgendwann satt und anstatt die unbekannten Täter dieser Sabotage und Angriffe, die sich in alle Richtungen weiter vervielfachten, weiter zu jagen, blickten sie auf die Berge von Papieren, Berichten, Abhörgeräten, gesammelten Abhörmaßnahmen…. ohne zu wissen, was sie in der Gerichtssprache sagen sollen. So kam den Polizisten der anti – anarchistischen Zelle und den Richtern der Bundesanwaltschaft das gute alte Rezept zu Hilfe: Anstatt Beweise für ihre mögliche Beteiligung an diesen Anschlägen zu sammeln, sollten wir uns darauf beschränken, sie der Zugehörigkeit zu einer „Organisation“ zu beschuldigen. Zuerst Terrorist, um die Sauce zu würzen; heute Kriminelle um leichter eine Verurteilung zu erreichen.
Eine Organisation ohne Namen, ohne Strukturen und ohne Mitgliedsausweise. Aber es gibt dennoch eine Organisation, so heißt es, denn es gibt eine anarchistische Bibliothek im Stadtzentrum von Brüssel und anarchistische Publikationen, von denen Tausende von Exemplaren auf der Straße verteilt werden. Es gibt Kontakte zwischen Anarchist*innen und anderen ‚feuerfesten‘ Menschen, sowohl auf der Straße als auch hinter Gittern. Debatteninitiativen, Kundgebungen, kleine Demonstrationen, die unbestreitbar die Beteiligung von Anarchist*innen aufwiesen.
Dieser Fall – als das Ergebnis sechsjähriger Ermittlungen – ist auf juristischer Ebene so schwach, dass er nur als erbärmlicher Versuch angesehen werden kann, eine Handvoll Anarchist*innen anzugreifen. Und dies, indem man sie über die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie die absurde Anschuldigung hinaus verfolgt, ein Anarchist, ein Autoritätsfeind, ein Anführer zu sein, um sie dann für geringfügige Straftaten, die kein starkes Rechtsargument erfordern, wie Beispielsweise Straßenkämpfe und wilde Demonstrationen zu verurteilen.
Natürlich auch um andere abzuschrecken, einige offene Rechnungen zu begleichen und wiedereinmal ein einfaches Rechtsinstrument (kriminelle Vereinigung) zu nutzen, um jede subversive Absicht zu unterdrücken.
Auch aus diesem Grund weise ich alle gegen mich erhobenen Anschuldigungen zurück, weigere mich, mich für unschuldig oder schuldig zu erklären und ich habe beschlossen, nicht einmal an diesem Prozess teilzunehmen. Wenn sie Anarchist*innen verurteilen wollen, weil es ihre Aufgabe ist, weil sie am Ende mit mehr oder weniger Erfolg, aber immer ihren Vorgesetzten und dem Grundsatz des Staates- der ihre Religion darstellt- zu gehorchen, dann sollen sie es tun: Sie haben meinen Namen tausendfach auf die Berge von Papieren in ihren Aktenordnern geschrieben.
Aber im Gegensatz zur Tragödie von Antigone, die- von ihrem eigenen Onkel ins Gefängnis geworfen – Selbstmord beging und anstatt sich zu verbeugen und zu verzichten, kann ich auf meine mögliche Verurteilung nur mit einem Versprechen voller Lebenskraft antworten: Ich werde mich nicht heute oder morgen den Gesetzen der Menschen beugen und ich werde weiterhin, in Übereinstimmung mit meinem Gewissen und meiner Sensibilität, meinen eigenen Weg des Kampfes für die Anarchie beschreiten.
Laurent
[1/05/2019]