Das Narrenschiff, von Ted Kaczynski

Ein paar Bemerkungen zu diesem Text, von der Soligruppe für Gefangene. Dieser Text erschien 1999 auf Englisch unter dem Titel Ship of Fools. Die deutsche Übersetzung erschien im Mai 2013 auf der anarchistischen Publikation Alles Geht Weiter, Zweiter Teil.

Dieser Text von Ted Kaczynski erscheint uns mal wieder sehr zutreffend, als eine ironische Hommage unserer Zeit. Nicht das es vor 21 Jahren viel anders gewesen wäre, zumindest nicht für die meisten Menschen der Welt, also alle die nicht in der Metropole leben, aber es trifft den Kern einer sich immer wiederholenden Situation. Den (wenn man es so nennen will) dialektischen Moment, oder wie Bonanno es sagen würde – die Spannung – , zwischen Theorie und Praxis. Darausfolgend auch zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Realität und Idealismus, Entfremdung und Befreiung, etc.Ein Beispiel der Reibung zwischen dem was ich will, wie ich es will und wie ich es erreiche. Eine historische und sich immer wiederholende Frage. In der jetzigen Zeit offenbaren sich, zumindest in der Metropole – und wir sind noch am Anfang – schon viele dieser dialektischen Momente, oder Spannungen, als fatal. Sie offenbare dass sie auf Sand gebaut waren, wie ein Kartenhaus, der nur zusammenbrechen kann. Deswegen mögen wir diese Kurzgeschichte so sehr.

Zu Ted Kaczynski wollen wir nichts sagen, wir denken dass es selber schon alles gesagt was seine Person betrifft. Es ist auch keine Frage der Positionierung.

Viel Spaß beim Lesen und beim Schauen des Filmes

 

Das Narrenschiff

Es war ein Mal vor langer Zeit, da wurden ein Kapitän und seine Bootsbesatzung ihr Leben als Seemänner so satt, sie wurden so anmassend und so von sich selbst beeindruckt, dass sie verrückt wurden. Sie lenkten das Schiff nordwärts und segelten, bis sie auf Eisberge und gefährliche Eisschollen trafen und sie segelten weiter Richtung Norden in immer gefährlichere Gewässer, und das nur, damit sie Gelegenheit erhielten, immer brillantere Seemanns-Kunststücke zu vollführen.

Als das Schiff höhere und höhere Breitengrade erreichte, wurde es den Passagieren und der Besatzung immer unangenehmer. Sie begannen, sich untereinander zu streiten und sich über die Verhältnisse, in denen sie lebten, zu beschweren.
«Soll mich der Teufel holen», sagte ein fähiger Seemann, «sollte dies nicht die schlimmste Reise sein, auf der ich jemals war. Das Deck ist rutschig vor lauter Eis; wenn ich auf dem Ausguck bin, schneidet der Wind durch meine Jacke wie ein Messer; jedes Mal, wenn ich das Focksegel reffe, laufe ich Gefahr, mir die Finger ab zu frieren; und alles, was ich dafür kriege, sind erbärmliche fünf Schilling im Monat!»
«Und Sie glauben, Sie haben’s schlecht!», sagte eine Passagierin. «Ich kann nachts vor Kälte nicht schlafen. Frauen bekommen auf diesem Schiff nicht so viele Decken wie Männer. Das ist nicht fair!»

Ein mexikanischer Matrose ergriff das Wort: «¡Chingado! Ich bekomme nur die Hälfte des Lohns eines weissen Seemanns. Wir brauchen eine Menge an Essen, um uns warm zu halten in diesem Klima und ich bekomme meinen Anteil nicht; die Weissen bekommen mehr. Und das Schlimmste ist, dass die Steuermänner mir Befehle immer auf englisch erteilen statt auf spanisch.»
«Ich habe mehr Gründe als irgendjemand, mich zu beschweren», sagte ein amerikanisch-indianischer Matrose. «Hätten die Bleichgesichter mich nicht der Länder meiner Ahnen beraubt, wäre ich nicht einmal auf diesem Schiff, hier inmitten von Eisbergen und arktischen Winden. Ich würde auf einem netten, gemütlichen See in einem Kanu paddeln. Ich verdiene Entschädigung. Zumindest sollte der Kapitän mich Craps machen lassen, damit ich etwas Geld verdienen kann.»

Der Bootsmann sprach lauter: «Gestern nannte mich der erste Offizier ‹Schwuchtel›, nur weil ich Schwänze lutsche. Ich habe das Recht, Schwänze zu lutschen, ohne dafür beschimpft zu werden!»
«Es sind nicht nur die Menschen, die auf diesem Schiff misshandelt werden», unterbrach eine Tierliebhaberin unter den Passagieren, ihre Stimme bebend vor Empörung. «Denn letzte Woche sah ich den zweiten Offizier, wie er den Schiffshund zwei Mal mit dem Fuss trat!»
Einer der Passagieren war ein Universitätsprofessor. Seine Hände wringend erklärte er: «Dies alles ist entsetzlich! Es ist unmoralisch! Es ist Rassismus, Sexismus, Speziesismus, Homophobie und Ausbeutung der Arbeiterklasse! Es ist Diskriminierung! Wir brauchen soziale Gerechtigkeit: gleicher Lohn für die mexikanischen Matrosen, höhere Löhne für alle Matrosen, Kompensation für den Indianer, gleich viele Decken für die Damen, das garantierte Recht, Schwänze zu lutschen und keine Tritte mehr für den Hund!»
«Ja, ja!», jubelten die Passagiere. «Aye-aye!», jubelte die Besatzung. «Das ist Diskriminierung! Wir müssen unsere Rechte einfordern!»

Der Schiffsjunge räusperte sich.
«Ähm. Ihr alle habt gute Gründe, euch zu beschweren. Doch mir scheint es so, als müssten wir dringend dafür sorgen, dass das Schiff abdreht und wieder nach Süden fährt, denn wenn wir weiter nordwärts fahren, werden wir früher oder später sicher zerschellen und dann werden euch eure Löhne, eure Decken und euer Recht, Schwänze zu lutschen nichts mehr bringen, denn dann werden wir alle ertrinken.»

Doch niemand beachtete ihn, denn er war nur der Schiffsjunge.

Der Kapitän und die Steuermänner hatten von ihrer Stellung auf dem Puppdeck zugesehen und gelauscht.

Jetzt lächelten sie und blinzelten einander zu und auf eine Handbewegung des Kapitäns hin, kam der dritte Offizier vom Puppdeck herunter, schlenderte dorthin, wo die Passagiere und die Besatzung sich versammelt hatten und setzte sich in ihre Mitte ab. Er setzte eine sehr ernste Miene auf und so sagte er: «Wir Offiziere müssen uns eingestehen, dass ein paar unverzeihliche Dinge auf diesem Schiff passiert sind. Wir haben nicht realisiert, wie schlimm die Lage ist, bis wir eure Beschwerden vernahmen. Wir sind Männer mit einem guten Willen und wollen euch Recht tun. Doch – na ja – der Kapitän ist eher konservativ und in seinem Vorgehen schon gesetzt. Er muss vielleicht ein wenig angestupst werden, bevor er irgendeinen beträchtlichen Wandel erbringen wird. Meine persönliche Meinung ist, dass ihr, wenn ihr energisch protestiert – aber immer friedlich und ohne irgendeine Regel des Schiffs zu brechen – den Kapitän aus seiner Trägheit aufrütteln und ihn so dazu zwingen könntet, eure Probleme anzugehen, über die ihr euch mit Recht so beschwert.»

Nachdem er dies gesagt hatte, ging der dritte Offizier wieder Richtung Puppdeck. Als er ging, riefen die Passagiere und die Besatzung ihm hinterher, «Gemässigter! Reformist! Liberales Arschloch! Captain’s Liebling!» Doch nichtsdestotrotz taten sie, was er gesagt hatte. Sie versammelten sich in einer Masse vor dem Puppdeck, riefen den Offizieren Beleidigungen zu und forderten ihre Rechte: «Ich will höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen!», schrie der fähige Seemann. «Gleich viele Decken für Frauen!», schrie die Passagierin. «Ich will meine Befehle auf spanisch erhalten!», schrie der mexikanische Matrose. «Ich will das Recht, Craps zu machen!», schrie der indianische Matrose. «Ich will nicht Schwuchtel genannt werden!», schrie der Bootsmann. «Keine Tritte mehr für den Hund!», schrie die Tierliebhaberin. «Revolution jetzt!», schrie der Professor.

Der Kapitän und die Steuermänner steckten die Köpfe zusammen und berieten sich für mehrere Minuten, einander stets anblinzelnd, zunickend und anlächelnd. Dann trat der Kapitän an die Front des Puppdecks und gab mit gross gezeigter Gutmütigkeit bekannt, dass der Lohn des fähigen Seemanns auf sechs Schilling im Monat erhöht werde, dass der Lohn des mexikanischen Matrosen auf zwei Drittel des Lohns weisser Matrosen erhöht werde und dass der Befehl, das Focksegel zu raffen, auf spanisch erteilt werde, dass Passagierinnen eine zusätzliche Decke erhielten, dass der indianische Matrose Erlaubnis erhalte, an Samstagabenden Craps zu machen, dass der Bootsmann nicht mehr Schwuchtel genannt werde, so lange er sein Schwanzlutschen strikt privat hielte und dass der Hund nicht mehr getreten werde, ausser wenn er etwas sehr ungezogenes tue, wie beispielsweise Essen aus der Kombüse stehlen.

Die Passagiere und die Besatzung feierten diese Zugeständnisse als grossen Sieg, doch am nächsten Morgen fühlten sie sich wieder unzufrieden.
«Sechs Schilling im Monat ist ein Hungerlohn und ich friere mir immer noch die Finger ab, wenn ich das Focksegel reffe.», brummte der fähige Seemann. «Ich kriege immer noch nicht den selben Lohn, wie die Weissen oder genug zu essen für dieses Klima.», sagte der mexikanische Matrose. «Wir Frauen haben immer noch nicht genug Decken, um uns warm zu halten.», sagte die Passagierin. Die anderen Besatzungsmitglieder und Passagiere brachten ähnliche Beschwerden zum Ausdruck und der Professor trieb sie dabei an.

Als sie fertig waren, sprach der Bootsjunge lauter – noch lauter dieses Mal, damit die anderen ihn nicht so einfach ignorieren konnten: «Es ist wirklich fürchterlich, dass der Hund dafür getreten wird, ein Stück Brot aus der Kombüse zu stehlen, und dass Frauen nicht gleich viele Decken haben, und dass der fähige Seemann seine Finger abfriert und ich sehe keinen Grund, warum der Bootsmann nicht Schwänze lutschen soll, wenn er das möchte. Doch seht wie dick die Eisberge jetzt schon sind und wie der Wind stärker und stärker bläst! Wir müssen dieses Schiff wieder nach Süden abdrehen, denn wenn wir weiter nordwärts fahren, werden wir zerschellen und ertrinken.»
«Oh ja», sagte der Bootsmann, «es ist einfach grauenhaft, dass wir immer weiter nach Norden segeln. Doch wieso sollte ich weiterhin im Kleiderschrank Schwänze lutschen? Wieso sollte ich Schwuchtel genannt werden? Bin ich nicht genau so gut wie alle anderen auch?»
«Nach Norden segeln ist schrecklich.», sagte die Passagierin. «Doch verstehst du nicht, das ist genau weshalb Frauen mehr Decken brauchen, um sich warm zu halten. Ich fordere gleich viele Decken für Frauen und zwar jetzt!»
«Es ist durchaus wahr», sagte der Professor, «dass Nordwärtssegeln uns harte Umstände auferlegt. Doch den Kurs nach Süden zu ändern, wäre unrealistisch. Mensch kann die Uhr nicht zurückdrehen. Wir müssen eine reife Art finden, mit der Situation umzugehen.»
«Seht», sagte der Bootsjunge, «wenn wir diesen vier Verrückten auf dem Puppdeck ihren Willen lassen, werden wir alle ertrinken. Falls wir das Schiff je ausser Gefahr bringen, können wir uns um Arbeitsverhältnisse, Decken für Frauen und das Recht, Schwänze zu lutschen, sorgen. Doch zuerst müssen wir dieses Schiff zum Umkehren bringen. Wenn ein paar von uns sich verbünden würden, einen Plan schmieden würden und etwas Mut zeigten, könnten wir uns retten. Es würde nicht viele von uns dazu brauchen – sechs oder acht wären genug. Wir könnten das Puppdeck einnehmen, diese Verrückten über Bord werfen und das Schiff nach Süden wenden.»

Der Professor hob seine Nase und sagte streng: «Ich glaube nicht an Gewalt. Sie ist unmoralisch.»
«Es ist unrecht, jemals Gewalt zu benutzen.», sagte der Bootsmann.
«Mir graut vor Gewalt.», sagte die Passagierin.

Der Kapitän und die Steuermänner hatten die ganze Zeit zugesehen und gelauscht. Auf ein Signal des Kapitäns, trat der dritte Offizier auf das Hauptdeck herunter. Er ging unter die Passagiere und die Besatzung und erzählte ihnen, dass es immer noch viele Probleme auf dem Schiff gebe. «Wir haben viele Fortschritte gemacht», sagte er, «doch es gibt immer noch viel zu tun. Die Arbeitsverhältnisse für den fähigen Seemann sind immer noch hart, der Mexikaner bekommt immer noch nicht den selben Lohn wie die Weissen, die Frauen haben immer noch nicht so viele Decken wie die Männer, die samstagabendlichen Craps-Spiele vom Indianer sind eine dürftige Kompensation für sein geraubtes Land, es ist unfair für den Bootsmann, dass er sein Schwanzlutschen auf den Kleiderschrank beschränken muss und der Hund wird manchmal immer noch getreten. Ich denke, der Kapitän muss noch einmal angestupst werden. Es wäre hilfreich, wenn ihr alle noch einmal protestieren würdet – so lange der Protest friedlich bleibt.»
Als der dritte Offizier wieder zurück auf den Steven lief, riefen die Passagiere und die Besatzung ihm Flüche nach, doch sie taten nichtsdestotrotz, was er ihnen gesagt hatte und versammelten sich vor dem Puppdeck für einen weiteren Protest. Sie schimpften und schwärmten und schwangen ihre Fäuste, und sie warfen sogar ein faules Ei nach dem Kapitän (welchem er gekonnt auswich).

Nachdem sie ihre Beschwerden gehört hatten, steckten der Kapitän und die Steuermänner ihre Köpfe für eine Besprechung zusammen, während welcher sie einander zuzwinkerten und breit angrinsten. Dann trat der Kapitän an die Front des Puppdecks und verkündete, dass der fähige Seemann Handschuhe bekommen solle, damit seine Finger warm blieben, dass der Mexikaner einen Lohn erhielte, der Drei-Vierteln des Lohns eines weissen Matrosen entspreche, dass die Frauen noch eine weitere Decke erhielten, dass der indianische Matrose Craps am Samstag- und am Sonntagabend machen könne, dass der Bootsmann Erlaubnis erhielte, nach Einfall der Dunkelheit öffentlich Schwänze zu lutschen und dass niemand den Hund treten könne ohne besondere Erlaubnis des Kapitäns.

Die Passagiere und die Besatzung waren verzückt über diesen grossen revolutionären Sieg, doch am nächsten Morgen fühlten sie sich wieder unzufrieden und begannen über die selbe alte Mühsal zu brummen.

Der Bootsjunge wurde dieses Mal wütend.
«Ihr verdammten Narren!», schrie er. «Seht ihr nicht, was der Kapitän und die Steuermänner tun? Sie halten euch beschäftigt mit euren trivialen Klagen über Decken und Löhne und dass der Hund getreten wird, damit ihr euch keine Gedanken darüber macht, was wirklich falsch läuft auf diesem Schiff – dass es weiter und weiter nach Norden gerät und wir alle ertrinken werden. Wenn nur wenige von euch zu Sinnen kommen würden, sich zusammenreissen würden und das Puppdeck angriffen, könnten wir dieses Schiff umkehren und uns retten. Doch alles, was ihr macht, ist über belanglose kleine Probleme wie Arbeitsbedingungen und Craps und das Recht, Schwänze zu lutschen, zu jammern.

Die Passagiere und die Besatzung waren erzürnt.
«Belanglos?!», schrie der Mexikaner. «Finden Sie es vernünftig, dass ich nur drei Viertel des Lohns eines weissen Matrosen bekomme? Ist das belanglos?»
«Wie können Sie meinen Missstand trivial nennen?», schrie der Bootsmann. «Wissen Sie denn nicht, wie erniedrigend es ist, Schwuchtel genannt zu werden?»
«Den Hund zu treten ist nicht ein ‹belangloses kleines Problem›!», schrie die Tierliebhaberin. «Das ist herzlos, grausam und brutal!»
«In Ordnung», antwortete der Bootsjunge. «Diese Probleme sind nicht belanglos und trivial. Den Hund zu treten ist grausam und brutal und es ist erniedrigend, Schwuchtel genannt zu werden. Doch im Vergleich zu unserem wahren Problem – im Vergleich zur Tatsache, dass dieses Schiff immer noch nordwärts fährt – sind eure Klagen belanglos und trivial, denn wenn wir dieses Schiff nicht bald zur Umkehr bringen, werden wir alle ertrinken.»
«Faschist!», sagte der Professor.
«Reaktionär!», sagte die Passagierin. Und alle der Passagiere stimmten ein, einer nach dem anderen nannten sie ihn einen Faschisten oder Reaktionären. Sie stiessen ihn weg und kehrten dazu zurück, über ihre Löhne und über Decken für Frauen und über das Recht, Schwänze zu lutschen und wie der Hund behandelt wurde, zu brummen. Das Schiff indes segelte weiter nach Norden und nach einer Weile wurde es zwischen zwei Eisbergen zermalmt und alle ertranken.

Video (Englisch):

This entry was posted in Großer Vorsitzender Ted Kaczynski, Kritik am Reformismus, Texte, Videos. Bookmark the permalink.