Gefunden auf Panfletos Subversivos, von uns übersetzt
Freitag, 28. August 2020
[Chile] FRAU SEIN BEVOR BULLE SEIN?
Proletarixs en revuelta
23. August
Der Frauenmord an einer Bullenfrau, der von einem ihrer Kollegen verübt wurde, eröffnet Diskussionen im virtuellen Raum, auf den wir als letzter Raum der Sozialisierung eingesperrt sind. Der Feminismus hat ein unendliches Spektrum an Möglichkeiten der Kritik gefördert und sich dank des Einsatzes von Gefährt*innen transversal im öffentlichen Raum ausgebreitet und sogar die Medien beeinflusst. Heute sehen wir jedoch, wie dieses Potenzial als Teilanalyse des Ganzen die Grenzen seiner Beiträge aufzeigt.
Der Tod von Norma Vásquez Soto ist ein Femizid, das ist eine unbestreitbare Tatsache. In diesem Sinne ist es klar, dass wir diese Art von Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch und Mord weder beanspruchen, noch uns darüber freuen, noch Folter und wahllose Gewalt als Methode des Kampfes beanspruchen. Ebenso wenig löst der Strafvollzug, die Inhaftierung oder Auslöschung von Menschen ein grundlegendes Problem, das in den destruktiven sozialen Beziehungen unserer Zeit verankert ist. All dies bedeutet nicht, dass Norma die Unterstützung derjenigen von uns verdient, die in ihrem eigenen Fleisch und Blut gelebt haben, was das Gewaltmonopol des Staates impliziert, noch dass Frau sein gleichbedeutend mit Unschuld und Güte ist.
Es ist alarmierend, dass selbst nach mehr als dreißig Morden in repressiven Kontexten während der Monate der Revolte ein Teil der Bevölkerung weiterhin Mitgefühl mit dem Tod eines Bullens fordert. Dies ist jedoch eine Möglichkeit, die sich aus dem Verständnis des Feminismus als eine voreingenommene Bewegung ergibt, die sich auf die gleichberechtigte Integration von Frauen in kapitalistische Dynamiken konzentriert. Der Feminismus könnte für die Hälfte der Menschheit ein Mittel sein, die Realität zu lesen und auf die menschliche Emanzipation zu setzen – verstanden als die Befreiung unserer Tätigkeit aus den Fängen der privaten Aneignung, des Geldes und des Staates und natürlich der patriarchalischen Herrschaft -, solange sie die Grenzen des Identitätsessentialismus überschreitet. Andernfalls ließe sich aus einer abstrakten Lesart heraus vermeiden, dass vier Jahre nach der Ermordung von Macarena Valdés, wenn die kämpferische Gemeinschaft zu ihrem Gedenken auf die Straße gegangen ist, dieselben Bullen unsere Gefährt*innen unterdrücken, und das ist die materielle Realität, aus der wir jeden Anspruch erheben müssen.
Selbst der so genannte Klassenfeminismus, der die „intersektionale“ Perspektive einnimmt, greift in diesem Sinne zu kurz auf. Die Klasse ist nicht ein weiterer Indikator unter anderen für irgendeine Art von Unterdrückung, es ist etwas viel tiefer liegendes, es ist der Antagonismus, der die uns aufgezwungene Realität bewegt, zwischen denen, die über die Produktionsmittel verfügen, und denen, die nicht mehr als ihre Arbeitskraft zum Überleben besitzen. Proletarier zu sein ist weder ein subjektiver Glaube, noch ist es etwas, das man für sich beanspruchen kann, es ist eine materielle Realität, die es zu überwinden gilt.
Daher kann der Feminismus als eigenständige Ideologie, selbst in seinen klassenbewussten1 Aspekten, die Realität, in der wir leben, nicht vollständig aus sich selbst heraus lesen.
Seit dem 18. Oktober und genährt durch die Enthüllung der Veruntreuung von zugesagten Geldern stehen die Carabineros de Chile mehr denn je im Rampenlicht, als das, was sie sind: eine ruchlose Institution. In diesem Sinne muss klar sein: Alle Polizeikräfte der Welt sind es, ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung, wozu auch die Unterdrückung und Unterwerfung derjenigen gehört, die sich im Kampf erheben. Carabineros de Chile ist keine reformierbare Institution.
Mit Stand vom 20. August dieser Pandemie 2020 gibt es 23 vollzogene Femizide und 74 frustrierte. Es ist symptomatisch für die verwirrenden Wege der progressiven „Kritik“, die von den Abstraktionen der Gleichberechtigung der Bürger und dem gesunden Menschenverstand der herrschenden Klasse mitgeschleift wird, dass es uns so viele Debatten kostet, zu erkennen, welche gerechtfertigt und welche nicht gerechtfertigt sind. Wie wäre es angesichts dessen, diese Ansätze auf den Grund zu gehen: Wir sind nicht alle, es fehlt Norma? Blendender Schuss auf diejenigen, die sich in den Kampf für die Veränderung unserer Existenzbedingungen begeben.
Für die Emanzipation des Menschen!
Vamos hacia la vida!
1A.d.Ü., im Originaltext wird der Begriff clasista verwendet, was auf vielen verschiedenen Arten verstanden werden kann. Sei es positiv als Klassenbewusstsein, oder auch negativ im Sinne der ökonomischen Reduktion der Klasse als solche, wie es z.B., Lenin tat. Für uns war es an dieser Stelle nicht unbedingt ersichtlich was genau gemeint war.