Anarchie oder Ersatz? (1947)

Hier ein weiterer Text von André Prudhommeaux, die Übersetzung ist von uns.


Anarchie oder Ersatz? (1947)

Gibt es einen Grund, auf das berüchtigte Wort Anarchie zu verzichten und es durch eine „beruhigendere“, „explizitere“, „konstruktivere“, „synthetischere“ usw. Formel zu ersetzen, indem man den Wörtern Sozialismus, Kommunismus, Syndikalismus, Föderalismus oder jedem anderen das Epitheton libertär hinzufügt?

Wie oft wurde uns diese Art der Ersetzung vorgeschlagen! Wie oft haben wohlmeinende Elemente unserer Bewegung geglaubt, in der Furcht vor dem Wort Anarchie das Haupthindernis für die anarchistische Tat, für die Errichtung einer regierungslosen Gesellschaft, zu sehen. Und wie oft hat das freie Experimentieren, das in unseren Kreisen die Regel ist, in diesem Punkt zu negativen Ergebnissen geführt, die objektiv diskutiert werden können?

Ohne auf die Geschichte dieser terminologischen „Dissidenten“ einzugehen, beschränken wir uns auf zwei allgemeine Feststellungen: Erste Feststellung: Unsere „dissidentischen“ Gefährten, die nach eigenem Ermessen unter weniger dunklen Bannern als den unseren hofften, haben nicht die von ihnen erwarteten Erfolge erzielt. Ihre Abspaltungen sind nach einigen vielversprechenden Anfängen in eine völlige Flaute geraten.

Zweite Feststellung: Viele der Vordenker der Revision, die vom Weg abkamen und sich in harmlose Teilanwendungen verirrten, verloren bald das eigentliche Prinzip ihrer Aktion aus den Augen.

Aber, so wird man sagen, vielleicht hatten diese „Anarchisten ohne es zu sagen“ in der Sache Recht? Sie behaupteten, dass es der Name der Anarchie ist, vor dem die Menschen von heute Angst haben, und nicht die Sache selbst. Die gleiche heilsame Medizin würde in leichter Verkleidung auch von den empfindlichsten Mägen freudig angenommen werden. „Es handelte sich schließlich um nichts, was die moralische und materielle Sicherheit der Interessenten gefährden könnte – ganz im Gegenteil – und es gab daher keinen Grund, den Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit oder von der Polizeiordnung zur natürlichen Ordnung im sozialen Bereich in einem katastrophalen Licht darzustellen.“

Der vorliegende Artikel soll die Gründe darlegen, warum wir diese Sichtweise keineswegs teilen können, die wir seit vielen Jahren als illusorisch für uns selbst und irreführend gegenüber einer Öffentlichkeit betrachten, der wir, wie auch uns selbst, die volle Wahrheit schulden.

Es gibt tausend Möglichkeiten, „Anarchist“ zu werden, aber es gibt nur drei Möglichkeiten, es zu bleiben: die eine, ganz vorläufige, besteht darin, a priori nach der „theoretischen Reinheit“ zu argumentieren, ohne die Tatsachen zu verfälschen … oder sie zu verzerren, um sie intellektuell leichter handhabbar zu machen. (Dies gilt bis zu dem Moment, wo die Trennung (A.d.Ü., im Sinne einer Scheidung, ‚divorce‘) zwischen Theorie und Praxis, die durch einen „außergewöhnlichen Umstand“ ans Licht kommt, dich zwingt, zwischen der Realität und dem Dogma zu wählen, und den sektiererischen Anarchisten plötzlich zu einem Opportunisten ohne Prinzipien macht).

Eine zweite faule Art, Anarchist zu bleiben, besteht darin, von Tag zu Tag und für die Bedürfnisse der täglichen Aktion zu theoretisieren, ohne den großen Problemen auf den Grund zu gehen, deren Lösung gerade die Universalität und die Dauerhaftigkeit unseres Denkens und unserer Haltung begründet. (Diese Vorgehensweise, die einigen Praktikern, die sich mit Realismus brüsten, vertraut ist, stellt uns periodisch als eine „Revision“ des Anarchismus dar, was in Wirklichkeit nichts anderes als seine politische Liquidierung ist).

Schließlich gibt es eine dritte Art, Anarchist zu sein, die uns als die richtige erscheint, die aber Gehirnarbeit und Mut vor der Realität erfordert.

Nur um den Preis einer ständigen Anstrengung, die aus einer gewissenhaften Interpretation und intellektueller Schöpfung besteht, ist es möglich, in einer immer breiteren und immer reicheren anarchistischen Theorie die lebendige Substanz der Tatsachen zu integrieren… ohne eine davon abzulehnen. (Diese Haltung, die allein den Militanten vor Enttäuschungen und Abweichungen schützen kann, erfordert unter anderem, niemals die Größe und die Schwierigkeit eines Problems zu unterschätzen. Das ist diejenige, die wir hier zu bewahren versuchen).

Wir glauben unsererseits, dass die Anarchie deshalb erschreckt, weil sie als aktuelle Lösung für Geister, die auf geistige Trägheit und Unterwürfigkeit abgerichtet sind, wirklich erschreckend ist. Solange sie sich als Utopie präsentiert, als freies Spiel des Geistes, der eine Hypothese schmiedet, behält unsere Doktrin lächelnde, manchmal etwas besorgte Sympathien; aber wenn die Stunde der praktischen Umsetzung schlägt, verblassen die fanatischsten Verteidiger der Idee in Worten angesichts ihrer Verwirklichung.

Die Aussicht, ohne Führer, ohne Gott, ohne Chef und ohne Richter zu leben, in der vollen Verantwortung emanzipierter Erwachsener, weit entfernt von der väterlichen Autorität der Gesetze, weit entfernt vom väterlichen Bild eines zu befolgenden Beispiels – genau hier, und nicht anderswo, muss man suchen, was all die Ablehnung verursacht, die der Anarchie anhaftet. Und es ist zweifellos die geistige Infantilität der Völker, die das Wort „Anarchie“ – mit einer so wenig aggressiven etymologischen Bedeutung (Nicht-Regierung) – zum universellen Symbol des blutigen Chaos, der Unordnung der Sitten und der Verneinung jeder Gesellschaft gemacht hat.

Das Problem liegt nicht in den Worten, sondern in den Dingen: um Freiheit durch Freiheit zu erreichen, muss man einen Weg finden, das Volk dazu zu bringen, die Idee der Freiheit, die „verantwortungsvolle“ Situation des Erwachsenenalters mit all ihren Konsequenzen zu akzeptieren.

Das Wort Freiheit und das Adjektiv libertär (A.d.Ü., im Original ist die Verbindung deutlicher, liberté und libertaire) als Formulierungen finden mehr Anklang. Das liegt daran, dass sie Raum für eine „unschuldige“ oder kindliche Interpretation lassen: die der Befreiung von Herren oder Gesetzen, die des Genießens der gewährten Freiheiten. Die beruhigende Idee der Erlaubnis, des Zugeständnisses oder der Erlaubnis ist Balsam für ein schwaches Herz.

Willst du einen leichten Propagandaerfolg erzielen?

Biete den Sicherheitssuchenden (der natürlichen Mehrheit aller Zuhörer) das Modell einer fertigen Gesellschaft an, das wie ein schöner neuer Käfig aussieht; dann lass sie bewundern, wie geräumig und freiheitlich der Käfig ist: zeige die Kanne, die Badewanne, das gemütliche Nest, nicht zu vergessen den Spiegel, den Körnerspalter und … die Schaukel. Du kannst mit viel Applaus rechnen und mit einigen begeisterten Girlitzern, die einen Mietvertrag abschließen werden, um in dem schönen Käfig der Zukunft untergebracht zu werden.

Aber wenn du jeden der Anwesenden dazu aufforderst, sich die Mühe zu machen, sein eigenes Leben zu organisieren, indem er – und sei es nur in Gedanken – von jeder bevormundenden Autorität absieht; wenn du dann deinem Publikum als Programm die solidarische und gemeinsame Verteidigung der Autonomie jedes Einzelnen vorschlägst; und wenn du schließlich darauf bestehst, diese Umsetzung sofort in Angriff zu nehmen, wirst du bald sehen, dass sich viele Gesichter verfinstern werden.

Täusche dich nicht; hier wird die wahre Freiheit noch nicht um ihrer selbst willen geliebt.

Das Problem ist also nicht, die Freiheiten lieben zu lassen (jeder hat lieber samstags frei und ist glücklich, wenn er in den Urlaub fahren kann), sondern die Freiheit lieben zu lassen (z. B. die liebevolle Arbeit an ihrem Gegenstand, die man selbst organisiert, ohne Zwang und ohne den Zweck der Ware).

Das Problem besteht darin, die volle Freiheit zu lieben und alle Belastungen und Risiken zu akzeptieren, die zu verbergen sinnlos wäre. Das Problem ist, die Anarchie zu akzeptieren – einschließlich des vorübergehenden Chaos und der Anstrengungen, die nötig sind, um aus diesem Chaos herauszukommen. Das Problem besteht darin, eine „gott- und herrenlose“ Lebensweise als etwas zu akzeptieren, das der „gegenwärtigen Ordnung“ vorzuziehen ist.

Um dies zu erreichen, nützt es nichts, sich selbst und anderen die Pille zu versüßen. Denn gegenüber den Sicherheitsliebhabern, die von den zufälligen Anfängen der Freiheit enttäuscht sein könnten und das Volk wieder in das gute alte Geschirr und an den guten alten Futtertrog zurückbringen wollen, wird die Anarchie nicht über Hitlers Knüppel oder Stalins Knüppel verfügen. Sie wird niemanden davon abhalten können, zurückzukehren, und muss daher ihre Anhänger so weit wie möglich dazu bringen, sie trotzdem und in voller Kenntnis der Sachlage zu bevorzugen. Andernfalls würden unsere zarten Anhänger, die „Libertären für einen Tag“, bald dem nächstbesten Typen zujubeln, weil sie von der Anstrengung abgeschreckt werden oder von uns eine Rolle der Vorsehung erwarten, die wir nicht spielen können.


Aus Un anarchisme hors norme (Sammlung von Texten von André Prudhommeaux, veröffentlicht von Tumult https://tumult.noblogs.org/un-anarchisme-hors-norme-andre-prudhommeaux/).

This entry was posted in André und Dori Prudhommeaux, Kritik an der Ideologie, Texte. Bookmark the permalink.