Der „Renegat“ Kautsky und sein Schüler Lenin (Jean Barrot, aka Gilles Dauvé)

Aus dem Englischen, Französischen und Spanischen von uns übersetzt. Irgendwo vor langer Zeit gefunden.


Der „Renegat“ Kautsky und sein Schüler Lenin (Jean Barrot, aka Gilles Dauvé)

Einleitung von Wildcat

Wir drucken den folgenden Text von Barrot als einen Beitrag zur Entmystifizierung der russischen Revolution ab. Obwohl die Revolution erst vor siebzig Jahren stattfand, scheint sie von mehr Mythen umgeben zu sein als der Olymp. Dies gilt insbesondere für die Rolle von Lenin und den Bolschewiki. Wir hoffen, dass sich diese Broschüre als nützlich erweisen wird, um Diskussionen anzuregen, die uns helfen werden, die Geschichte unserer Klasse in ihrem Kampf gegen das Kapital zu verstehen. Das Pamphlet wurde ursprünglich von Spartacus in französischer Sprache zusammen mit Kautskys „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ veröffentlicht. Wir haben ein paar kleinere Änderungen vorgenommen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es allein veröffentlicht wird, und haben ein paar Fußnoten hinzugefügt, wo wir dachten, dass sie bestimmte Punkte im Text verdeutlichen.

Der „Renegat“ Kautsky und sein Schüler Lenin (Jean Barrot, aka Gilles Dauvé)

„Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“ ist von offensichtlichem historischem Interesse. Kautsky war unbestreitbar der Meister des Denkens der Zweiten Internationale und ihrer mächtigsten Partei: der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Als Hüter der Orthodoxie galt Kautsky fast universell (A.d.Ü., überall) als der beste Kenner der Werke von Marx und Engels und als ihr privilegierter Interpret. Kautskys Positionen zeugen somit von einer ganzen Epoche der Arbeiterbewegung und verdienen es, auch nur in dieser Eigenschaft bekannt zu sein. Dieser Vortrag befasst sich genau mit einer zentralen Frage für die proletarische Bewegung: dem Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und der revolutionären Theorie. Die Antwort Kautskys auf diese Frage bildet die theoretische Grundlage für die Praxis und die Organisation aller Parteien, die die Zweite Internationale bildeten, und somit auch für die Russische Sozialdemokratische Partei und ihre bolschewistische Fraktion, die bis 1914, d.h. bis zu ihrem Zusammenbruch angesichts des Ersten Weltkriegs, das „orthodoxe“ Mitglied der Zweiten Internationale war.

Die von Kautsky in diesem Pamphlet entwickelten Thesen sind jedoch nicht gleichzeitig mit der Zweiten Internationale „zusammengebrochen“. Im Gegenteil, sie haben überlebt und bildeten auch die Grundlage der Dritten Internationale durch den „Leninismus“ und seine stalinistischen und trotzkistischen Avatare.

Der Leninismus, das russische Nebenprodukt des Kautskyismus! Das ist es, was diejenigen erschrecken wird, die nichts über Kautsky wissen, außer den Anathemen, die der Bolschewismus gegen ihn vorbringt, und insbesondere Lenins Pamphlet: Der Zusammenbruch der II. Internationale und Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, und die nichts über Lenin wissen, außer dem, was man in den verschiedenen Kirchen, Kapellen oder Sakristeien, die sie besuchen, gut über ihn wissen kann.

Doch schon der Titel des Pamphlets von Lenin definiert sehr genau sein Verhältnis zu Kautsky. Wenn Lenin Kautsky als Renegaten behandelt, dann sicher deshalb, weil er ihn für einen ehemaligen Anhänger des wahren Glaubens hält, als dessen einziger qualifizierter Verteidiger er sich nun sieht. Weit davon entfernt, den „Kautskyismus“ zu kritisieren, mit dem er sich nicht identifizieren kann, begnügt sich Lenin vielmehr damit, seinem ehemaligen Meister des Denkens den Verrat an seiner eigenen Lehre vorzuwerfen. Unter allen Gesichtspunkten war Lenins Bruch sowohl spät als auch oberflächlich. Spät, weil Lenin die größten Illusionen über die deutsche Sozialdemokratie hegte und erst nach dem vollzogenen Verrat erkannte. Oberflächlich, weil Lenin sich darauf beschränkt, auf die Probleme des Imperialismus und des Krieges einzugehen, ohne auf die tieferen Ursachen des sozialdemokratischen Verrats vom August 1914 einzugehen, die mit dem Wesen dieser Parteien und ihren Beziehungen sowohl zur kapitalistischen Gesellschaft als auch zum Proletariat zusammenhängen. Diese Beziehungen müssen ihrerseits auf die eigentliche Bewegung des Kapitals und der Arbeiterklasse zurückgeführt und als eine Phase der Entwicklung des Proletariats verstanden werden, und nicht als etwas, das durch den Willen einer Minderheit, nicht einmal einer revolutionären Führung, so bewusst sie auch sein mag, verändert werden kann1.

Daraus ergibt sich die aktuelle Bedeutung der Thesen, die Kautsky in dieser Broschüre in besonders kohärenter Weise entwickelt und die den Kern seines Denkens zeitlebens ausmachen und die Lenin ab 1900 in Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung und dann in Was tun? von 1902 aufgreift und weiterentwickelt, wo er im Übrigen Kautsky ausführlich und lobend zitiert. Im Jahr 1913 wird Lenin diese Konzepte in Die historische Leistung von Karl Marx wieder aufgreifen, wo er dieselben Themen weiterentwickelt und Kautskys Text manchmal wortwörtlich wiederholt.

Diese Thesen, die auf einer oberflächlichen und zusammenfassenden historischen Analyse der Beziehungen von Marx und Engels sowohl zur intellektuellen Bewegung ihrer Zeit als auch zur Arbeiterbewegung beruhen, lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen, und ein paar Zitate werden genügen, um ihren Inhalt zu verdeutlichen:

„Eine spontane, theorielose Arbeiterbewegung, die sich in den Arbeiterklassen gegen den wachsenden Kapitalismus stellt, ist nicht in der Lage, … revolutionäre Arbeit zu leisten.“

Deshalb ist es notwendig, das zu verwirklichen, was Kautsky die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus nennt.

Nun denn: „Sozialistisches Bewusstsein kann heute (!?) nur auf der Grundlage tiefgreifender wissenschaftlicher Erkenntnisse entstehen….. Nun ist der Träger der Wissenschaft nicht das Proletariat, sondern die bürgerlichen Intellektuellen; …das sozialistische Bewusstsein ist also ein von außen in den Klassenkampf des Proletariats importiertes Element und nicht etwas, das spontan entsteht“. Diese Worte Kautskys sind, so Lenin, „zutiefst gerecht“.

Es ist klar, dass diese ersehnte Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus unter deutschen und russischen Bedingungen nicht in gleicher Weise realisiert werden konnte. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass die tiefgreifenden Unterschiede des Bolschewismus im organisatorischen Bereich nicht auf unterschiedliche Konzepte zurückzuführen sind, sondern lediglich auf die Anwendung der gleichen Prinzipien in unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Situationen.

Tatsächlich wird die Sozialdemokratie keineswegs zu einer immer stärkeren Vereinigung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus führen, sondern nur zu einer immer stärkeren Vereinigung mit dem Kapital und der Bourgeoisie. Was den Bolschewismus betrifft, so wird er, nachdem er in der russischen Revolution wie ein Fisch im Wasser war („Revolutionäre sind in der Revolution wie Wasser im Wasser“) und aufgrund des Scheiterns der Revolution, in einer fast vollständigen Verschmelzung mit dem Staatskapital enden, das von einer totalitären Bürokratie verwaltet wird.

Dennoch spukt der „Leninismus“ weiterhin im Bewusstsein vieler Revolutionäre mehr oder weniger guten Willens herum, auf der Suche nach einem Erfolgsrezept. In der Überzeugung, dass sie „Avantgarde“ sind, weil sie „Bewusstsein“ haben, während sie nichts als eine falsche Theorie besitzen, kämpfen sie dafür (A.d.Ü., im Sinne der Militanz)2, diese beiden metaphysischen Ungeheuer zu vereinen, nämlich „eine spontane Arbeiterbewegung, die aller Theorie entkleidet ist“ und ein körperloses sozialistisches Bewusstsein.

Diese Haltung ist schlichtweg voluntaristisch. Wenn nun, wie Lenin sagte, „Ironie und Geduld die wichtigsten Eigenschaften des Revolutionärs sind“, so ist „Ungeduld die Hauptquelle des Opportunismus“ (Trotzki). Der Intellektuelle, der revolutionäre Theoretiker muss sich nicht darum kümmern, sich mit den Massen zu verbinden, denn wenn seine Theorie revolutionär ist, ist er bereits mit den Massen verbunden. Er muss sich nicht „für das Lager des Proletariats entscheiden“ (nicht Sartre, sondern Lenin verwendet diesen Begriff), denn eigentlich kann er nicht wählen. Die theoretische und praktische Kritik, deren Träger er ist, wird durch das Verhältnis bestimmt, das er zur Gesellschaft unterhält. Er kann sich von dieser Leidenschaft nur befreien, indem er sich ihr unterwirft (Marx). Wenn er „auswählen“ kann, dann ist er kein Revolutionär mehr, und seine theoretische Kritik ist bereits überholt. Das Problem des Eindringens revolutionärer Ideen, das er mit der Arbeiterklasse teilt, wird so völlig umgewandelt: Wenn die historischen Bedingungen, das Kräfteverhältnis zwischen den kämpfenden Klassen, das hauptsächlich durch die autonome Bewegung des Kapitals bestimmt wird3, jedes revolutionäre Eindringen des Proletariats auf die Bühne der Geschichte verbieten, tut der Intellektuelle, was der Arbeiter tut: was er kann. Er studiert, er schreibt, er macht seine Arbeit bekannt, so gut er kann, im Allgemeinen eher schlecht. Als er im Britischen Museum studierte, war Marx, ein Produkt der historischen Bewegung des Proletariats, wenn schon nicht mit den Arbeitern, so doch zumindest mit der historischen Bewegung des Proletariats verbunden4. Er war genauso wenig von den Arbeitern isoliert, wie jeder Arbeiter von den anderen isoliert ist, insofern die Bedingungen des Augenblicks seine Beziehungen auf die beschränken, die der Kapitalismus zulässt.

Andererseits, wenn das Proletariat sich als Klasse konstituiert und dem Kapital auf die eine oder andere Weise den Kampf ansagt (und dazu braucht es kein WISSEN, denn da es in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen selbst nicht mehr ist als variables Kapital, genügt es, dass es seinen Zustand auch nur ein wenig ändern will, um ganz im Zentrum des Problems zu stehen, das der Intellektuelle nur schwer verstehen kann), ist der Revolutionär weder mehr noch weniger mit dem Proletariat verbunden, als er es ohnehin schon war. Aber die theoretische Kritik verschmilzt dann mit der praktischen Kritik, nicht weil sie von außen herangetragen wird, sondern weil sie ein und dasselbe ist.

Wenn der Intellektuelle in der vorangegangenen Epoche die Schwäche hatte, zu glauben, das Proletariat bleibe passiv, weil es ihm an „Bewusstsein“ fehle, und wenn er sich selbst für die „Avantgarde“ gehalten hat, so dass er das Proletariat führen will, dann behält er sich bittere Enttäuschungen vor.

Dies ist jedoch die Auffassung, die das Wesen des Leninismus ausmacht, und dies zeigt die zweideutige Geschichte des Bolschewismus. Diese Vorstellungen konnten letztlich nur aufrechterhalten werden, weil die russische Revolution gescheitert ist, d.h. weil das Kräfteverhältnis im internationalen Maßstab zwischen Kapital und Proletariat es letzterem nicht erlaubte, seine praktische und theoretische Kritik zu üben.

Wir werden versuchen, dies zu zeigen, indem wir kurz analysieren, was in Russland geschah und welche Rolle der Bolschewismus wirklich spielte.

Lenin glaubte, in den russischen revolutionären Kreisen die Frucht der „Vereinigung der Arbeiterbewegung und des Sozialismus“ zu sehen, und irrte sich dabei gewaltig. Die in den sozialdemokratischen Gruppen organisierten Revolutionäre haben dem Proletariat kein „Bewusstsein“ gebracht. Eine theoretische Darstellung oder ein Artikel über den Marxismus, der richtig verstanden wurde, war für die Arbeiter sehr nützlich: Er diente nicht dazu, ihnen ein Bewusstsein, ein Wissen über den Klassenkampf zu vermitteln, sondern nur dazu, die Dinge zu präzisieren, sie zum Nachdenken anzuregen. Lenin hat diese Realität nicht verstanden. Er wollte der Arbeiterklasse nicht nur das Wissen um die Notwendigkeit des Sozialismus im Allgemeinen vermitteln, sondern ihr auch zwingende Losungen an die Hand geben, die ausdrücken, was sie in einem bestimmten Moment tun muss. Das ist normal, denn die Partei von Lenin, der Hort des Klassenbewusstseins, ist 1. die einzige, die das allgemeine Interesse der Arbeiterklasse über alle ihre Spaltungen in verschiedene Schichten hinweg erkennen kann, und 2. die einzige, die in der Lage ist, die Situation ständig zu analysieren und entsprechende Parolen zu formulieren. Die Revolution von 1905 sollte nun die praktische Unfähigkeit der bolschewistischen Partei zeigen, die Arbeiterklasse zu führen, und die Rückständigkeit der Avantgardepartei offenbaren. Alle Historiker, auch die, die den Bolschewiki wohlgesonnen sind, erkennen an, dass die bolschewistische Partei 1905 nichts von den Sowjets verstand. Das Auftauchen neuer Organisationsformen weckte das Misstrauen der Bolschewiki: Lenin behauptete, die Sowjets seien „weder ein Arbeiterparlament noch ein Organ der proletarischen Selbstverwaltung“. Es ist wichtig zu sehen, dass die russischen Arbeiter nicht wussten, dass sie die Sowjets bilden sollten. Eine sehr kleine Minderheit unter ihnen kannte die Erfahrungen der Pariser Kommune, und dennoch schufen sie einen Arbeiterstaat im Keim, obwohl sie niemand aufgeklärt/erzogen hatte. Die kautskyanisch-leninistische These spricht der Arbeiterklasse in der Tat jede ursprüngliche Gestaltungsmacht ab, sobald sie sich nicht von der Partei-Verschmelzung-aus-Arbeiterbewegung-und-Sozialismus geführt wird. Es zeigt sich nun, dass 1905, um den Satz aus den „Thesen über Feuerbach“ aufzugreifen, „der Erzieher selbst erzogen werden muss“.

Im Gegensatz zu Kautsky leistete Lenin jedoch revolutionäre Arbeit (u. a. mit seiner Position zum Krieg). Aber in Wirklichkeit war Lenin nur gegen seine Theorie des Klassenbewusstseins revolutionär. Nehmen wir den Fall seiner Aktion zwischen Februar und Oktober 1917. Lenin hatte mehr als 15 Jahre lang (seit 1900) an der Schaffung einer Avantgardeorganisation gearbeitet, die die Einheit von „Sozialismus“ und „Arbeiterbewegung“ verwirklichen und die „politischen Anführer“, die „Vertreter der Avantgarde, die fähig sind, die Bewegung zu organisieren und zu führen“, zusammenbringen sollte. Doch 1917, wie auch 1905, blieb diese politische Führung, vertreten durch das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei, hinter den aktuellen Aufgaben und der revolutionären Aktivität des Proletariats zurück. Alle Historiker, auch die stalinistischen und trotzkistischen Historiker, zeigen, dass Lenin einen langen und schwierigen Kampf gegen die Führung seiner eigenen Organisation führen musste, um seine Thesen durchzusetzen. Und er konnte nur erfolgreich sein, wenn er sich auf die Arbeiter der Partei stützte, auf die wirkliche Avantgarde, die in den Betrieben innerhalb oder im Umfeld der sozialdemokratischen Kreise organisiert war. Man wird sagen, dass all dies ohne die jahrelange Tätigkeit der Bolschewiki sowohl in den täglichen Kämpfen der Arbeiter als auch in der Verteidigung und Propagierung der revolutionären Ideen unmöglich gewesen wäre. In der Tat hat die große Mehrheit der Bolschewiki, allen voran Lenin, durch ihre unablässige Propaganda und Agitation zum Aufstand vom Oktober 1917 beigetragen. Als revolutionäre Militante spielten sie eine wirksame Rolle, aber als „Führung der Klasse“, „bewusste Avantgarde“, blieben sie hinter dem Proletariat zurück. Die russische Revolution hat sich gegen die Vorstellungen von „Was tun?“ entwickelt. Und in dem Maße, wie diese Ideen umgesetzt wurden (Schaffung eines Organs, das die Arbeiterklasse anführt, aber von ihr getrennt ist), haben sie sich als Bremse und Hindernis für die Revolution erwiesen. Im Jahr 1905 ist Lenin unzeitgemäß, weil er an den Thesen „Was tun?“ festhält. 1917 nimmt Lenin an der realen Bewegung der russischen Massen teil und lehnt dabei die in „Was tun?“ entwickelte Konzeption praktisch ab.

Wenn wir auf Kautsky und Lenin die umgekehrte Behandlung von Marx anwenden, wenn wir ihre Konzepte mit dem Klassenkampf verbinden, anstatt sie davon zu trennen, erscheint der Kautskyismus-Leninismus als Merkmal einer ganzen Epoche in der Geschichte der Arbeiterbewegung, die vor allem von der Zweiten Internationale beherrscht wurde. Nachdem sich das Proletariat eher schlecht als recht entwickelt und organisiert hat, befindet es sich seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer widersprüchlichen Situation. Es hat verschiedene Organisationen, deren Ziel es ist, die Revolution zu machen, und gleichzeitig ist es nicht in der Lage, dies zu tun, weil die Bedingungen noch nicht reif sind. Der Kautskyismus-Leninismus ist der Ausdruck und die Lösung dieses Widerspruchs. Indem sie postuliert, dass das Proletariat den Umweg über die wissenschaftliche Erkenntnis gehen muss, um revolutionär zu sein, weiht sie die Existenz von Organisationen ein, die das Proletariat einrahmen, führen und kontrollieren, und rechtfertigt sie.

Wie wir bereits dargelegt haben, ist der Fall Lenins komplexer als der von Kautsky, da Lenin einen Teil seines Lebens ein Revolutionär gegen den Kautskyismus-Leninismus war. Im Übrigen war die Situation in Russland völlig anders als in Deutschland, wo es fast ein Regime der bourgeoisen Demokratie gab und wo eine stark entwickelte und in das System integrierte Arbeiterbewegung existierte. In Russland hingegen musste alles aufgebaut werden, und es ging nicht darum, sich an bourgeois-parlamentarischen und reformistischen Gewerkschafts- Syndikatsaktivitäten zu beteiligen, die es nicht gab. Unter diesen Bedingungen war Lenin in der Lage, trotz seiner kautskyanischen Ideen eine revolutionäre Position einzunehmen. Es ist jedoch anzumerken, dass er die deutsche Sozialdemokratie bis zum Weltkrieg als Vorbild betrachtete.

In ihrer überarbeiteten und korrigierten Geschichte des Leninismus zeigen uns die Stalinisten und Trotzkisten einen luziden Lenin, der den „Verrat“ der Sozialdemokratie und der Internationale vor 1914 gut versteht und anprangert. Dies ist eine reine Legende, und es würde ein gutes Studium der realen Geschichte der Zweiten Internationale erfordern, um zu zeigen, dass Lenin sie nicht nur nicht anprangerte, sondern dass er vor dem Krieg nichts über das Phänomen der sozialdemokratischen Degeneration verstanden hatte. Vor 1914 lobt Lenin sogar die deutsche sozialdemokratische Partei dafür, dass es ihr gelungen ist, die „Arbeiterbewegung“ und den „Sozialismus“ zu vereinen (siehe „Was tun?“). Wir zitieren nur diese Zeilen aus dem Nachruf „August Bebel“ (der übrigens mehrere Detail- und Inhaltsfehler über das Leben dieses „Führers“, dieses „vorbildlichen Arbeiterführers“ und über die Geschichte der Zweiten Internationale enthält).

„Die Grundlage der parlamentarischen Taktik der deutschen (und internationalen) Sozialdemokratie, die den Gegnern keinen Millimeter nachgibt, die nicht die geringste Möglichkeit auslässt, auch nur die kleinste Verbesserung für die Arbeiter zu erreichen, die zugleich auf der Ebene der Prinzipien kompromisslos ist und sich immer an der Verwirklichung des Endziels orientiert, die Grundlage dieser Taktik wurde von Bebel….“ gelegt.

Dieses Lob richtete Lenin im August 1913 an „die parlamentarische Taktik der deutschen (und internationalen) Sozialdemokratie, die kompromisslos auf der Ebene des Prinzips“ (!) ist. Als er ein Jahr später glaubte, die Ausgabe des Vorwärts (Zeitung der SPD), in der die Abstimmung der sozialdemokratischen Abgeordneten über die Kriegskredite angekündigt wurde, sei eine Fälschung des deutschen Generalstabs, offenbarte dies nur die Illusionen, die er seit langem, nämlich seit 1900-1902, seit „Was tun?“, über die Internationale im Allgemeinen und die deutsche Sozialdemokratie im Besonderen hegte (auf die Haltung anderer Revolutionäre zu diesen Fragen, z.B. Rosa Luxemburg, wird hier nicht eingegangen. Dieses Problem wäre in der Tat eine eingehende Untersuchung wert).

Wir haben gesehen, wie Lenin die Thesen von „Was tun?“ 1917 in der Praxis aufgegeben hatte. Aber die Unreife des Klassenkampfes im Weltmaßstab und vor allem das Ausbleiben der Revolution in Europa führen zur Niederlage der russischen Revolution. Die Bolschewiki sehen sich an der Macht mit der Aufgabe, „Russland zu verwalten“ (Lenin), die Aufgaben der bourgeoisen Revolution zu erfüllen, die nicht erfüllt werden konnten, d.h. in der Tat, die Entwicklung der russischen Ökonomie sicherzustellen, wobei diese Entwicklung nur kapitalistisch ist. Die Arbeiterklasse – und die Oppositionen innerhalb der Partei – in die Knie zu zwingen, wird zu einem wesentlichen Ziel. Lenin, der 1917 „Was tun?“ nicht ausdrücklich abgelehnt hatte, griff sofort die „leninistischen“ Vorstellungen auf, die als einzige die „notwendige“ Einrahmung der Arbeiter erlaubten. Die Zentralisten-Demokraten, die Arbeiteropposition und die Arbeitergruppe wurden zerschlagen, weil sie „die führende Rolle der Partei“ negiert hatten. Die leninistische Theorie der Partei wurde auch der Internationale aufgezwungen. Nach Lenins Tod mussten Sinowjew, Stalin und viele andere sie weiterentwickeln, indem sie mehr und mehr auf „eiserne Disziplin“, „die Einheit des Denkens und Einheit der Aktion“ pochten: Während das Prinzip, auf dem die stalinisierte Internationale beruhte, dasselbe war, auf dem die reformistischen sozialistischen Parteien gegründet wurden (die von den Arbeitern getrennte Partei, die ihnen das Selbstbewusstsein bringt), fiel jeder, der die leninistisch-stalinistische Theorie ablehnte, in einen „opportunistischen, sozialdemokratischen, menschewistischen Marasmus5. ..“. Die Trotzkisten ihrerseits hielten an Lenins Gedanken fest und rezitierten „Was tun?“. Die Krise der Menschheit ist nichts anderes als „die Krise der Führung“, sagte Trotzki: Es sei daher notwendig, um jeden Preis eine Führung zu schaffen. Oberster Idealismus, die Geschichte der Welt wurde durch die Krise des Bewusstseins erklärt.

Kurz gesagt, der Stalinismus sollte nur in den Ländern triumphieren, in denen die Entwicklung des Kapitalismus von der Bourgeoisie nicht gesichert werden konnte, ohne dass die Bedingungen für die Zerstörung des Kapitalismus durch die Arbeiterbewegung gegeben waren. In Osteuropa, in China, in Kuba hat sich eine neue Führungsgruppe herausgebildet, die sich aus Kadern der bürokratisierten Arbeiterbewegung, aus ehemaligen bourgeoisen Spezialisten oder Technikern, manchmal auch aus Armeekadern oder ehemaligen Studenten zusammensetzt, die wie in China in die neue Gesellschaftsordnung integriert wurden. Letztlich (A.d.Ü., in Form einer Analyse) war ein solcher Prozess nur aufgrund der Schwäche der Arbeiterbewegung möglich. In China beispielsweise war die treibende soziale Schicht der Revolution die Bauernschaft, die nicht in der Lage war, sich selbst zu lenken, sondern nur von „der Partei“ gelenkt werden konnte. Vor der Machtergreifung führt diese in „der Partei“ organisierte Gruppe die Massen und die „befreiten Regionen“, sofern es solche gibt. Danach nimmt sie das gesamte soziale Leben des Landes in die Hand. Überall waren die Thesen von Lenin ein mächtiger bürokratischer Faktor. Für Lenin war die Führungsfunktion der Arbeiterbewegung eine spezifische Funktion, die von „Bossen“ gewährleistet wird, die getrennt von der Bewegung organisiert sind und deren einzige Rolle darin besteht. Der Leninismus diente insofern als ideologische Rechtfertigung für die Bildung getrennter Führungen der Arbeiter, als er für eine getrennte Körperschaft von „Berufsrevolutionären“ an der Spitze der Massen eintrat. In diesem Stadium ist der Leninismus, der aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurde, nur noch eine Technik zur Einrahmung der Massen und eine Ideologie, die die Bürokratie rechtfertigt und den Kapitalismus aufrechterhält: Seine Rekuperation war eine historische Notwendigkeit für die Entwicklung dieser neuen gesellschaftlichen Formationen, die ihrerseits eine historische Notwendigkeit für die Entwicklung des Kapitals darstellen. In dem Maße, wie sich der Kapitalismus ausbreitet und den gesamten Planeten beherrscht, reifen die Bedingungen für eine mögliche Revolution. Die leninistische Ideologie beginnt in jeder Hinsicht unbrauchbar zu werden.

Es ist unmöglich, das Problem der Partei zu untersuchen, ohne es mit den historischen Bedingungen zu verknüpfen, unter denen diese Debatte entstanden ist: In allen Fällen, wenn auch in unterschiedlicher Form, ist die Entwicklung der leninistischen Ideologie auf die Unmöglichkeit der proletarischen Revolution zurückzuführen. Wenn die Geschichte dem Kautskyismus-Leninismus Recht gegeben hat, wenn seine Gegner nie in der Lage waren, sich dauerhaft zu organisieren oder auch nur eine kohärente Kritik an ihm zu üben, dann ist das kein Zufall: Der Erfolg des Kautskyismus-Leninismus ist ein Produkt unserer Epoche und die ersten ernsthaften – praktischen – Angriffe auf ihn markieren das Ende einer ganzen historischen Epoche. Dazu war es notwendig, dass sich die kapitalistische Produktionsweise im Weltmaßstab umfassend entwickelt. Die ungarische Revolution von 1956 hat eine ganze Epoche der Konterrevolution, aber auch der revolutionären Reifung eingeläutet. Niemand weiß, wann diese Epoche endgültig überwunden sein wird, aber es ist sicher, dass die Kritik der Thesen Kautskys und Lenins, Produkte dieser Epoche, seitdem möglich und notwendig geworden ist. Aus diesem Grund haben wir uns bemüht, „Die drei Quellen des Marxismus, Marx‘ historische Werke“ neu zu veröffentlichen, um besser bekannt zu machen und zu verstehen, was die vorherrschende Ideologie einer ganzen Epoche war und immer noch ist. Wir wollen die Ideen, die wir verurteilen und bekämpfen, nicht verbergen, sondern im Gegenteil weit verbreiten, um sowohl ihre historische Notwendigkeit als auch ihre historischen Grenzen aufzuzeigen.

Die Bedingungen, die die Entwicklung und den Glanz von Organisationen sozialdemokratischen oder bolschewistischen Typs ermöglichten, sind heute überwunden. Was die leninistische Ideologie betrifft, so kann sie, abgesehen von ihrer Verwendung durch die herrschenden Bürokraten, in den revolutionären Gruppierungen, die den Anspruch erheben, die Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung zu sein, nur noch dazu dienen, die Vereinigung von mittelmäßigen (A.d.Ü., auch verstanden als zweitklassige) Intellektuellen und mittelmäßigen (A.d.Ü., wie in der Bemerkung davor) revolutionären Arbeitern provisorisch zu bestätigen.


1Anm. von Wildcat: Wir sind der Meinung, dass dieser Satz eine allzu deterministische Sicht der fehlenden Möglichkeiten für eine Revolution nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs darstellt. Diese Haltung des „was sein würde, wäre“ wird von Barrot selbst in seinem Buch „Le Gauche Communiste en Allemagne“ (Die kommunistische Linke in Deutschland) ausführlicher dargestellt: -“…angesichts aller Elemente, die das revolutionäre Drama beherrschen, hat die Revolution verloren und musste verlieren. Man kann es bedauern, und das tun wir auch, aber es hat keinen Sinn, eine bolschewistische Partei oder irgendeinen anderen deus ex machina nach der Mode der unwirklichen Vergangenheit zu beschwören. Es wäre jedoch genauso falsch (eine falsche Darstellung der Epoche), wenn man die Auswirkungen des abstrakten Fehlens der „Partei“ oder irgendetwas anderem durch die falsche „vollständige Erklärung“ des „Nur so konnte es geschehen“ ersetzt und dabei übersieht, dass eine Revolution bei mehreren Gelegenheiten möglich war. Natürlich wäre es noch falscher, alles als eine Funktion einer notwendigen Niederlage darzustellen. Es ist auch anzumerken, dass er zwar die Fähigkeit einer „bewussten“ „revolutionären Führung“ verunglimpft, die Beziehungen zwischen den sozialdemokratischen Parteien und der kapitalistischen Gesellschaft zu verändern, aber nicht die Bedeutung von Minderheiten der Proletarier leugnet, die sich selbst organisieren, um aktiv zu werden, ohne „auf die Massen zu warten“… (Diese letztere Haltung war vielleicht eine der größten Schwächen von Rosa Luxemburg).

2Anm. von Wildcat: „Die militante Haltung ist in der Tat konterrevolutionär, insofern sie das Individuum in zwei Teile spaltet, indem sie seine Bedürfnisse – seine wirklichen individuellen und sozialen Bedürfnisse, die Gründe, warum er die gegenwärtige Welt nicht erträgt – von seiner Aktion, seinem Versuch, die Welt zu verändern, trennt. Der Militante weigert sich zuzugeben, dass er in Wirklichkeit revolutionär ist, weil er sein eigenes Leben und die Gesellschaft im Allgemeinen verändern muss. Sie unterdrücken die Impulse, die sie dazu gebracht haben, sich gegen die Gesellschaft zu wenden. Sie unterwerfen sich der revolutionären Aktion, als ob sie ihnen fremd wäre: Der moralische Charakter dieser Haltung ist leicht zu erkennen. Das war schon in der Vergangenheit falsch und konservativ; heute wird es immer reaktionärer.“ [Barrot in Eclipse and Re-emergence of the Communist Movement – Black £ Red]
Im Gegensatz dazu sagt er in demselben Buch: – „Kommunisten sind nicht vom Proletariat isoliert. Ihre Aktion ist nie ein Versuch, andere zu organisieren; sie ist immer ein Versuch, ihre eigene subversive Antwort auf die Welt auszudrücken. Letztendlich müssen alle revolutionären Initiativen koordiniert werden. Aber die revolutionäre Aufgabe ist nicht in erster Linie eine der Organisation; die Aufgabe besteht darin, (in einem Text oder einer Aktion) ein subversives Verhältnis zur Welt auszudrücken. Wie groß oder klein sie auch sein mag, ein solcher Akt ist ein Angriff gegen die alte Welt.“

3Anm. von Wildcat: Die Beziehung zwischen Klassenkampf, Wertgesetz und Kapitalakkumulation wird in Eclipse and Re-emergence of the Communist Movement gründlicher untersucht. Hier sind jedoch einige Kostproben: – „Die wirkliche kommunistische Theorie, wie sie von Marx formuliert und später von den meisten Marxisten, einschließlich vieler echter Revolutionäre, vergessen wurde, trennt nicht zwischen „Ökonomie“ und „Klassenkampf“. Das Kapital von Marx zerstört spezialisierte Wissensgebiete. Es ist sinnlos, sich zu fragen, ob ökonomische Krisen proletarische Aktionen hervorbringen oder ob die Kampfbereitschaft der Arbeiter ökonomische Schwierigkeiten schafft. Das Proletariat ist eine Ware, die dazu neigt, sich als solche zu zerstören, sowohl weil das System sie angreift als auch weil ihre Lebensbedingungen unerträglich werden. Das Kapital versucht, die Löhne zu senken und einen Teil der Arbeiterklasse aus der Produktion zu verdrängen: Beide Tendenzen sind Folgen der Wertakkumulation. Das Proletariat ist ein Wert, der als solcher nicht mehr existieren kann“: „Die Arbeitskraft ist eine Ware. Anstatt die Menschheit in die Lage zu versetzen, sich die Welt auf materieller, intellektueller und emotionaler Ebene anzueignen, ist die Arbeit nur noch ein Mittel zur Produktion von Gegenständen, um den Wert zu steigern. Die Subversion ist seit der Zeit des Luddismus ein Versuch, den Wert als soziales Verhältnis abzuschaffen. Das muss man bedenken, wenn man inoffizielle Streiks, Unruhen usw. betrachtet, auch wenn diese Aktionen keine kommunistische Perspektive einnehmen und zum Ausdruck bringen.““Krisen können nicht losgelöst vom Kommunismus untersucht werden und umgekehrt. Das bedeutet nicht, dass alle Depressionen kommunistisches Potenzial haben. Der Zusammenbruch von 1929 war eine Krise innerhalb der bestehenden Ökonomie und Gesellschaft. Er fand zu einem Zeitpunkt statt, als die aktive gesellschaftliche Kraft – das Proletariat – bereits besiegt war. Das ist heute nicht mehr der Fall. Ein Bürgerkrieg ist von nun an möglich, auch wenn die gegenwärtigen Kämpfe keine positive kommunistische Aktivität zeigen. Eine kommunistische Bewegung, die extrem und gewalttätig ist, ist aus den begrenzten Situationen, die stattgefunden haben, noch nicht erwachsen.“

4Anm. von Wildcat: Barrot sagt, dass Marx nicht vom Klassenkampf getrennt war, als er das Kapital schrieb. Das stimmt teilweise, denn was er tat, war von großem Nutzen für das Verständnis des Kriegszustands zwischen der Arbeiterklasse und den Kapitalisten. Wäre Marx jedoch mehr ein Klassenkämpfer und weniger ein Bücherwurm gewesen, wäre sein Werk vielleicht eine wertvollere Waffe für uns gewesen und hätte vielleicht weniger Angriffsfläche für die Konterrevolution geboten. In diesem Fall hätte er sein Werk vielleicht an die Klasse gerichtet, deren Situation er so wortgewandt beschrieben hat, statt an den Geschmack der bourgeoisen Akademiker.

5A.d.Ü., fortschreitender Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte (durch Alter oder Krankheit).

This entry was posted in Gilles Dauvé (Jean Barrot), Kritik am Leninismus, Kritik am Reformismus, Texte. Bookmark the permalink.