Hier ein Text von Roi Ferreiro, ein Mitglied der aufgelösten Gruppe CICA, eine weitere Kritik und Auseinandersetzung mit der Demokratie. Der Text blickt auf die Thematik auf eine andere Art, ist auch sehr historisch, setzt sich aber auch sehr mit etymologische Entwicklungen auseinander und macht ihn daher lesenswert und diskussionswert, wenn auch wir einige Vorschläge die er macht klar ablehnen, ansonsten ein weiterer Beitrag für diese Debatte.
Roi Ferreiro, Jenseits der Demokratie
Geschrieben zwischen dem 18. März und dem 23. Mai 2009.
Einleitung
Die Moderne hat auf das klassische Griechenland und Rom als primitive Referenzen für ihre politische Kultur zurückgeblickt. Diese waren die ersten Klassengesellschaften im modernen Sinne, die sich durch die Entstehung von Staat und Handel auszeichneten – zum Nachteil der vorpolitischen Formen, die noch auf der Religion beruhten und in denen politische und priesterliche Macht eng miteinander verbunden waren. Aus diesen beiden grundlegenden Merkmalen lässt sich die Entstehung und Entwicklung der demokratischen politischen Formen des athenischen Griechenlands und der römischen Republik erklären.
Wenn die Befürworter der modernen Demokratie aus diesen beiden Quellen geschöpft haben, so taten sie dies, ohne ihre sozio-historischen Wurzeln kritisch zu betrachten, obwohl diese seit der Antike bekannt sind. Wie wir weiter unten sehen werden, ist der Grund dafür im Grunde offensichtlich. Ohne ein Verständnis dieser sozio-historischen Wurzeln ist es nicht möglich, die Grenzen genau zu erfassen, die demokratischen Formen immanent sind und die in abstrakter Form grundsätzlich zur modernen Formulierung des Konzepts der Anarchie als Auflösung oder Unterdrückung der politischen Macht geführt haben.
In Anlehnung an den Historiker Arthur Rosenberg können wir sagen, dass es die Demokratie „an sich“, als abstrakte Form, nicht gibt. Sie ist immer eine bestimmte sozio-politische Bewegung mit ihrer entsprechenden Klassenzusammensetzung. Aber auch das ist nicht ganz richtig. Meiner Meinung nach gibt es nämlich eine generische (A.d.Ü., allgemeine) Beziehung zwischen der demokratischen politischen Form „an sich“ und der Klassenzusammensetzung der Gesellschaft, und zwar jenseits von Schwankungen in der politischen Zusammensetzung aufgrund von Klassenkämpfen und der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und sogar jenseits von Schwankungen in den Produktionsformen. Das liegt vor allem daran, dass die soziale Grundlage und der Prototyp der demokratischen Formen der Warenaustausch ist, der sich historisch durch verschiedene Produktionsformen entwickelt hat. Das bedeutet nicht, dass wir die großen Unterschiede zwischen den politischen Regimen oder, anders gesagt, die großen Unterschiede im Grad der effektiven Demokratie, die auf der Grundlage bestimmter Produktionsformen möglich ist, ignorieren.
Die Idee der politischen Gleichheit, die die funktionale Grundlage der Demokratie ist, ist also historisch aus der Praxis der zivilen Gleichheit entstanden. Allerdings von einer zivilen Gleichheit innerhalb von Klassengesellschaften, in denen eine solche Gleichheit nur empirisch auf der Grundlage von Eigentum existiert. Und Eigentum ist der Ursprung des Rechts und insbesondere der Bedingung der Staatsbürgerschaft. Gleiche Freiheit, auch wenn sie nur als formale Realität existiert, entwickelt sich also auf der Grundlage einer Gesellschaft von Eigentümern, die ihre ökonomische Tätigkeit frei entfalten und deren Ergebnisse sie auf der Basis von Werten austauschen. In politischen Regimen kommen diese gesellschaftliche Zusammensetzung und ihr Entwicklungsgrad in der Machtverteilung zum Ausdruck. Eine Verteilung proportional zum ökonomischen Reichtum repräsentiert das Interesse der Großgrundbesitzer. Eine Gleichverteilung vertritt das allgemeine Interesse der kleinen Eigentümer und Kaufleute und bis zu einem gewissen Grad auch das des Proletariats.
Griechenland und die Degeneration der Demokratie
Die militärische Niederlage Athens gegen Sparta im Peloponnesischen Krieg brachte das athenische Regime der Demokratie in Verruf und die spartanische Oligarchie ins Rampenlicht. Für Platon kam erschwerend hinzu, dass es dieses Regime war, das seinen Lehrer Sokrates zum Tode verurteilt hatte. Daher nahmen zunächst Platon und dann in geringerem Maße auch sein Schüler Aristoteles eine kritische Haltung gegenüber der Demokratie ein und sprachen sich für eine aristokratische Regierungsform bzw. eine restriktivere Demokratie aus, die das Problem der Demagogie überwinden würde.
Für Platon war die Demokratie eine Entartung der Republik. Für Aristoteles war die Demokratie eine gute Regierungsform, aber sie musste durch aristokratische Formeln vor Demagogie geschützt werden. Der römische Historiker Polybius nannte diese entartete Form der Demokratie Ochlokratie.
„(…) denn in den Demokratien, wo es nach dem Gesetze zugeht, entstehen keine Volksführer, sondern die Besten aus der Bürgerschaft haben da den Vorsitz; wo dagegen nicht die Gesetze die Herrschaft haben, da finden sich die Volksführer ein und da wird das Volk der Alleinherrscher, indem aus den Vielen sich Einer bildet; denn die Vielen sind nicht als Einzelne die Herren, sondern nur alle zusammen. Wenn Homer die Vielherrschaft tadelt, so ist es zweifelhaft, ob er darunter diese versteht, oder nicht vielmehr die, wo von Mehreren jeder Einzelne ein Herrscher ist. Ein solches Volk nun sucht, indem es als Monarch auftritt, auch allein zu herrschen, weil es von den Gesetzen nicht beherrscht wird. Es wird damit despotisch und die Schmeichler kommen zu Ehren. Dieser Zustand entspricht der Tyrannis bei den monarchischen Staaten. Deshalb ist auch der Charakter beider derselbe; beide herrschen despotisch über die besseren Bürger und was dort die Befehle sind, sind hier die Volksbeschlüsse; die Volksführer und die Schmeichler sind bei beiden dieselben und einander entsprechend; beide haben grossen Einfluss, die Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksführer bei einem solchen Volke; sie sind die Ursache, dass die Volksbeschlüsse und nicht die Gesetze entscheiden, indem sie Alles an das Volk bringen und sie werden selbst hochmüthig, weil das Volk Herr über Alles ist und sie die Herren über die Beschlüsse des Volkes sind, da es ihnen folgt. Auch wenn sie die Beamten anklagen, verlangen sie, dass das Volk entscheiden solle, und dieses nimmt gern diese Berufung an, so dass alle Staatsämter sich dadurch auflösen. Mit Recht könnte man einer solchen Demokratie den Vorwurf machen, dass sie gar keine Verfassung habe; denn wo die Gesetze nicht herrschen, da giebt es auch keine Verfassung. Das Gesetz muss über Alle herrschen und über das Einzelne müssen die Beamten und die Verfassung entscheiden. Wenn also auch die Demokratie an sich zu den Verfassungen gehört, so ist doch ein solcher Zustand, wo Alles nur durch Volksbeschlüsse abgemacht wird, keine Demokratie im eigentlichen Sinne; denn der Volksbeschluss ist nicht allgemeiner Natur. Die Arten der Demokratie mögen auf diese Weise unterschieden sein.“ (Aristoteles, Politik, Buch VI, Kapitel IV)
Geschichtsschreiber und Denker wie Platon und Aristoteles bestanden darauf, zentralisierte politische Formen mit dezentralisierten Formen zu vergleichen, in denen die Machtverteilung egalitärer ist. Das gilt sogar für die Demokratie, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht. Denn, wie wir weiter unten sehen werden, hatte die Demokratie ursprünglich eine sehr begrenzte Bedeutung, die in der Moderne in den Hintergrund getreten ist.
Meiner Meinung nach spiegeln solche Positionen die Entwicklung einer ideologischen Mystifizierung wider, die mit dem historischen Prozess der Autonomisierung der politischen Macht von der sozialen Masse zusammenhängt, der mit der wachsenden und konzentrierten Akkumulation des merkantilen Reichtums stattfand. Was ein Klassenregime als Entartung betrachtet, ist logischerweise das, was seine eigene Verfassung zerstört. So sprechen auch Platon, Aristoteles oder Polybius von Entartung im umgekehrten Sinne. Das heißt, nicht in Bezug auf einen relativen Rückgang der Zentralisierung der politischen Macht zugunsten der Masse, sondern in Bezug auf ein Übermaß an Zentralisierung oder eine willkürliche Verschiebung der Machtverteilung in der herrschenden Klasse, die zu einer Machtverteilung führen kann, die nicht der Verteilung des Reichtums entspricht (die Entartung der Monarchie zur Tyrannei oder der Aristokratie zur Oligarchie).
Es scheint klar zu sein, dass diese ideologischen Ansichten der Antike die moderne Demokratie stark geprägt haben. So entstand das moderne Modell der repräsentativen Demokratie in Anlehnung an die begrenzten Formen, deren Theoretisierung auf Aristoteles zurückgeht und deren Beispiel viel mehr mit der römischen Republik als mit der athenischen Demokratie zu tun hat. Eine Ausnahme, die sich erhalten hat, ist die Französische Revolution, die sich eher am athenischen Ideal orientierte. In der Praxis nahm sie jedoch eine repräsentative Form an, die im Widerspruch zu diesem Ideal stand und später die konterrevolutionäre Wende des Thermidor begünstigte. So war die Französische Revolution die groß angelegte praktische Manifestation des grundlegenden Widerspruchs der modernen Demokratie zwischen der Souveränität der Staatsbürger und dem repräsentativen System. Aber wie beim Kapital ist dieser Widerspruch dem modernen demokratischen System inhärent und funktional, er ist seine Quelle der Vitalität und kann es nicht überwinden, solange es sich innerhalb seiner Kategorien bewegt.
Der politische Meilenstein der Französischen Revolution besteht darin, dass sie trotz allem die athenische Demokratie zu einem idealen Modell erhob und sie als die kohärenteste Formulierung des demokratischen Systems hervorhob. Nachdem die Entwicklung des Kapitalismus und seine Regulierung durch einen institutionell moderierten Klassenkampf eine relativ stabile und kohärente sozioökonomische und kulturelle Basis geschaffen hatten, die die repräsentative Form als unvermeidliche Notwendigkeit ansah, war es kein Problem, das athenische Beispiel zur Legitimierung und Perfektionierung moderner Demokratien römischen Stils zu nutzen. Die moderne Demokratie wurde so zu einer Regierungsform, die sich besonders gut für den zeitgenössischen Klassenkampf eignete, während ihre sehr wirksame Grundlage – die Freiheit des Eigentums und des Austauschs – durch die historische Entwicklung der Konzentration und Zentralisierung des Kapitals nach und nach unterdrückt wurde.
Demokratie und Ochlokratie in Griechenland
Wir beginnen nun, die Bedeutung der antiken Polemik zu vertiefen, wofür wir zunächst die Etymologie von Demokratie und Ochlokratie untersuchen müssen.
Die berühmte Vorsilbe „demo“ im Wort Demokratie1 bedeutete ursprünglich und damit auch in der Praxis der griechischen Demokratie nicht „Volk“, wie es heute meist interpretiert wird. Die „Demo“ war eine kleine, umschreibende politische Form, ähnlich wie die Gemeinden. Es handelte sich zwar um eine Vollversammlung (Agora), an der die Staatsbürger direkt beteiligt waren, aber durch das Bürgerrecht war die Mehrheit der Bevölkerung praktisch ausgeschlossen – Frauen, Sklaven, Meteken (ansässige Ausländer), Schuldner der Stadt, deren Rechte ausgesetzt waren, und natürlich Kinder. Das mag anekdotisch erscheinen, wenn man die griechische Demokratie unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Ähnlichkeiten zur modernen Demokratie betrachtet, um ihre funktionalen Tugenden hervorzuheben.
Aus historisch-materialistischer Sicht müssen wir jedoch bedenken, dass die charakteristische ökonomische Grundlage der hellenischen und später der römischen Größe Sklaverei und Krieg waren. Die athenische Demokratie hatte in dieser Grundlage ihre Bedingung der Beständigkeit. Aus diesem Grund scheint es mir kein Zufall zu sein, dass sich die direkte Staatsbürgerdemokratie in Verbindung mit dem Sklavenexpansionismus entwickelte. Ich denke, dass sie als eine Form der Klassenzusammenarbeit interpretiert werden kann, mit dem erwähnten Expansionismus als zusätzliche Quelle des Reichtums, die offensichtlich die Reibungen zwischen den verschiedenen Schichten oder Klassen der athenischen Sttatsbürgerschaft verringern musste. Dies erlaubt uns auch, eine weitere Parallele zur modernen Demokratie zu ziehen.
Aus formaler Sicht ist es bemerkenswert, dass das Individuum nur politisch als Staatsbürger anerkannt wird. So wird seine Beteiligung in Übereinstimmung mit den vorherrschenden Interessen in der Polis vermittelt. Durch die Kategorie der Staatsbürgerschaft war das Individuum einem institutionellen System und einer Verfassung unterworfen, die für eine bestimmte Verteilung des Wohlstands funktional waren. Das Individuum als solches war nur unter diesen Bedingungen ein politisches Subjekt, wie es auch in den heutigen Demokratien der Fall ist. Einwanderer zum Beispiel hatten nicht den Status von Staatsbürgern und waren daher keine politischen Subjekte.
Damit ist klar, dass die Demokratie in ihren Ursprüngen nichts mit dem vulgarisierten Begriff der „Volkssouveränität“ zu tun hatte:
„Die meisten, die sich mit der Methode der Politik befassen, ordnen drei Regierungsarten zu: die königliche, die aristokratische und die demokratische. (….) Sie sind auch nicht die einzigen: Wir sehen bestimmte monarchische und tyrannische Regierungen, die sich sehr von der königlichen unterscheiden, auch wenn sie mit ihr eine gewisse Ähnlichkeit haben, unter der alle Monarchen und Tyrannen so viel wie möglich versuchen, den Namen der Könige zu beschönigen und zu färben. Es gibt auch viele Staaten, die von einer kleinen Zahl regiert werden, die zwar eine gewisse Übereinstimmung mit der Aristokratie zu haben scheinen, sich aber unendlich voneinander unterscheiden. Das Gleiche gilt für die Demokratie. Zur Überzeugung dessen, was ich sage, sei angemerkt, dass nicht jede Monarchie ein Königreich ist, sondern nur die, die aus freiwilligen Vasallen besteht und mehr durch Vernunft als durch Furcht und Gewalt regiert wird; auch ist nicht jede Oligarchie eine Aristokratie, sondern die, in der die gerechtesten und klügsten Personen zur Herrschaft gewählt werden. Ebenso ist es keine Demokratie, wenn der Pöbel tut, was er will und was ihm gefällt, sondern wenn die patriotischen Sitten der Götterverehrung, des Respekts vor den Eltern, der Ehrfurcht vor den Älteren und des Gehorsams gegenüber den Gesetzen vorherrschen; in solchen Gesellschaften kann man nur dann von einer Demokratie sprechen, wenn die vorherrschende Meinung die der größten Zahl ist.
Wir gehen also davon aus, dass es sechs Arten von Regierungen gibt, drei, die der ganzen Welt bekannt sind und die wir gerade vorgeschlagen haben, und drei, die mit den Vorgängern in Verbindung stehen, nämlich die Regierung eines Einzelnen, die Regierung einiger weniger und die Regierung des Pöbels. Die Regierung eines Einzelnen oder die monarchische Regierung wurde ohne Kunst, nur durch den Impuls der Natur errichtet: Daraus leitet sich die königliche Regierung ab und hat ihren Ursprung, wenn Kunst und Korrektur hinzugefügt werden. Wenn die königliche Regierung in die ihr angeborenen Laster ausartet, endet sie in der Tyrannei, und aus den Trümmern der ersteren und letzteren entsteht die Aristokratie. Aus dieser, die von Natur aus zur Regierung einiger weniger neigt, entsteht, wenn das Volk gereizt wird und die Ungerechtigkeiten der Führer rächt, die Demokratie, und wenn es unverschämt wird und die Gesetze missachtet, die Ochlokratie oder die Regierung des Pöbels. Dass das, was ich sage, wahr ist, kann jeder leicht erkennen, wenn er über die natürlichen Prinzipien, den Ursprung und die Veränderungen jeder Art von Regierung nachdenkt. Nur wer die natürliche Beschaffenheit eines jeden Staates kennt, wird in der Lage sein, seine Entwicklung, seinen Aufstieg, seine Veränderung, seinen Untergang, wann und wie er eintritt und in welcher Form er verändert wird, genau zu erkennen.“ (Polybius, Universalgeschichte unter der römischen Republik, Band II, Kapitel III).
Ochlokratie2 kommt von „ochlos“, was so viel wie Menge oder Pöbel bedeutet. Das heißt, es bedeutet, wie bei Polybius ersichtlich, die Übernahme der Macht durch die Masse als Ganzes oder die Umwandlung der unorganisierten Masse in effektive politische Macht. So mystifizierten die Intellektuellen der herrschenden Klasse die Ochlokratie, erklärten sie als Ergebnis demagogischer Einflüsse auf die Massen und ächteten sie politisch, indem sie argumentierten, dass der Druck der Massen die wahre oder ideale Demokratie verzerrte, so dass der „allgemeine Wille“ durch den von unten aufgezwungenen Partikularwillen zerstört wurde.
Die Assoziation mit Demagogie und Manipulation im Sinne des Populismus kann nur ein historischer Sonderfall sein, der eigentlich dem Konzept der Ochlokratie selbst widerspricht. Wenn die Massen tatsächlich souverän sind, gibt es keinen Platz mehr für Demagogie. Das Konzept der Ochlokratie in der klassischen Literatur weist also zwei Widersprüche auf:
1) Eine Masse ohne die Fähigkeit zur Selbstorganisation und folglich ohne die Fähigkeit, ein politisches Subjekt zu werden, kann keine Macht ausüben;
2) Eine manipulierte Masse, die ihre Macht zum Vorteil einer Minderheit ausübt, hat selbst keine Macht.
Im ersten Fall handelt es sich um eine Projektion der herrschenden Klasse. Die „unorganisierte Masse“, der Pöbel (oder in Rom die Plebs) im abwertenden Sinne, der für die herrschenden Klassen charakteristisch ist, ist nur „unorganisiert“ in Bezug auf die herrschenden Organisationsmuster oder die geltenden Rechtsnormen. Gestern wie heute wird vorausgesetzt, dass es keine spontane Selbstorganisation gibt oder geben sollte; daher ist jede Aktion der „unorganisierten Masse“ selbst eine Gefahr und nicht in der Lage, zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen oder auch nur ein klares Bewusstsein für ihre Ziele zu entwickeln und mit ihnen im Einklang zu bleiben.3
„Denn wenn eine Republik, nachdem sie sich von großen und furchtbaren Schwankungen befreit hat, ihre höchste Erhebung erreicht und eine unvergleichbare Macht erlangt hat, besteht kein Zweifel daran, dass sich, da der Überfluss lange Zeit seinen Sitz in ihr haben wird, Luxus in die Gewohnheiten einnisten wird und unmäßiger Ehrgeiz und andere ungeordnete Begierden von ihren Individuen Besitz ergreifen werden. Mit dem Fortschritt, den diese Unordnungen tagtäglich machen werden, wird die Leidenschaft zu befehlen und die Art der Bedrohung, die mit dem Gehorchen verbunden ist, die Unordnung der Regierung beginnen; Pracht und Stolz werden das, was begonnen wurde, weiterführen; und das Volk wird, wenn der Geiz der einen sich beleidigt und der Ehrgeiz der anderen geschmeichelt und befriedigt sieht, die letzte Hand geben. Dann werden sie sich nicht mehr nur weigern, den Magistraten zu gehorchen und die Macht gleichmäßig mit ihnen zu teilen, sondern sie werden sich wünschen, über alles oder den größten Teil davon zu verfügen. Dann nimmt die Regierung den schönsten Namen an, nämlich den eines freien und volkstümlichen Staates; in Wirklichkeit aber ist sie nur die Herrschaft eines Pöbels, des schlimmsten aller Staaten.“ (Polybius, Universal History under the Roman Republic, Bd. II, Kap. XVII)
Im zweiten Fall handelt es sich um eine verdeckte Form der Tyrannei. Für die praktizierenden Demokraten, die die Klassengesellschaft repräsentieren, sind die Tyrannei der „ungebildeten“ Mehrheit und die Tyrannei einer gebildeten Minderheit jedoch dasselbe, denn beide unterdrücken die Verteilung der politischen Macht. Aus demokratischer Sicht im engeren Sinne und wenn wir angemessen sprechen wollen, stellen also alle massenrevolutionären Prozesse in ihrer politischen Dimension eine Form der Ochlokratie dar. Wenn uns dieser Begriff heute so ungewohnt oder fremd vorkommt, sollte uns das nicht dazu veranlassen, seine Verwendung abzulehnen, sondern zu entdecken, inwieweit wir selbst noch völlig von der Klassen- und insbesondere der bourgeoisen Kultur umhüllt sind.
Rom: Macht und Tugend
Das römische politische System weist auch etymologische Parallelen zum griechischen Fall auf. Die Plebs (plebis) wurde vom Volk (populus) unterschieden, auch in Bezug auf das Staatsbürgerrecht/ Recht der Staatsbürger. Der Begriff vulgo (vulgus), der die gemeine Leute bedeutet, wurde auch für die Plebs verwendet. Plebs hatte also die gleiche Bedeutung wie das griechische „ochlos“: die Masse im Allgemeinen, die unorganisierte, entrechtete Menge oder außerhalb des Systems der herrschenden Hierarchie.
Der Kontext des Kampfes zwischen Plebejern und Patriziern in Rom ist auch der einer expandierenden Sklavengesellschaft. Die Plebejer waren eine heterogene Klasse, denn obwohl sie sich anfangs durch ihre Fremdheit gegenüber den Patriziern definierten, gehörten zu ihnen sowohl die Besitzer (adsidui) als auch die Enteigneten (proletarii), zu denen auch die Freigelassenen gehörten. Ihr Kampf um gleiche Rechte ist also eine Mischung aus Interessen und sie lassen sich nicht als eine soziale Klasse definieren, die durch Eigentum oder Nicht-Eigentum bestimmt wird, sondern durch ein überholtes politisches Recht, das mit der neuen merkantilistischen ökonomischen Basis in Konflikt steht. Die Patrizier definierten sich, wie ihr Name schon sagt, durch die Zugehörigkeit zu großen Familienverbänden um einen „pater familiae“, der anfangs enorme Macht hatte. Diese Familienverbände basierten auf einem gemeinsamen, nicht übertragbaren Grundbesitz (pater terra, also Land des Vaters) und Sklaven. Sie bildeten somit eine konzentrierte ökonomische und politische Macht, die durch ihre Vertreter die gesamte Gesellschaft regierte.
Zunächst waren die Plebejer vom Militärdienst und von der Besteuerung befreit. Das änderte sich jedoch mit der territorialen Ausdehnung Roms, die sie dazu zwang, sich den Plebejern zuzuwenden. Die Plebejer begannen für ihre Rechte zu kämpfen und bedrohten damit die Fähigkeit der Republik, sich zu verteidigen. Infolgedessen erlangten sie nach und nach erst die zivile und dann die politische Gleichberechtigung. Das bedeutete, dass das römische Recht, das bis dahin auf patrizische Bräuche und Auslegungen beschränkt war, neu formuliert und das Tribunat als eine Form der gleichberechtigten Vertretung der Plebs offiziell eingeführt wurde. Mit der Beteiligung wohlhabender Plebejer an der Militärvollversammlung begünstigte all dies schließlich die Bildung einer patrizisch-plebejischen Aristokratie (nobilitas) im Gegensatz zum städtischen Proletariat, da die Besetzung von Machtpositionen nicht mit einer Vergütung einherging. So blieb die politische Vorherrschaft auch in Zeiten der Instabilität in den Händen der wohlhabenden Klasse.
Die Römische Republik war weder eine direkte noch eine repräsentative Demokratie, so dass das Problem der Demagogie als Ursache für ein Abdriften in die Ochlokratie weniger präsent war. Aber das hatte auch seine Kehrseite: Wenn die populäre Rebellion durch eine konsequent autonomere Machtstruktur eingeschränkt wurde, musste gleichzeitig ihre Autonomisierung von der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst eingedämmt werden. Die Gründe dafür hat Polybius im letzten Zitat oben gut ausgedrückt, wenn er sagt, dass:
„Denn wenn eine Republik, nachdem sie sich von großen und furchtbaren Schwankungen befreit hat, ihre höchste Erhebung erreicht und eine unvergleichbare Macht erlangt hat, besteht kein Zweifel daran, dass sich, da der Überfluss lange Zeit seinen Sitz in ihr haben wird, Luxus in die Gewohnheiten einnisten wird und unmäßiger Ehrgeiz und andere ungeordnete Begierden von ihren Individuen Besitz ergreifen werden. Mit dem Fortschritt, den diese Unordnungen tagtäglich machen werden, wird die Leidenschaft zu befehlen und die Art der Bedrohung, die mit dem Gehorchen verbunden ist, die Unordnung der Regierung beginnen…“.
Doch bevor wir mit dem Problem der politischen Formen fortfahren, ist es notwendig, auf eine andere etymologische Untersuchung einzugehen.
Laut Mariano Grondona4 gibt es zwei griechische Begriffe für Macht. Der erste ist arkhein, was „beginnen“ und „befehlen“ bedeutet – davon leiten sich arkhé (Ursprung) und arkhos (Chef) ab. Die ursprüngliche Macht ist also die des Chefs, weshalb Grondona eine despotische Entstehung der Macht feststellt. Andererseits leitet sich das heutige Wort Macht vom indogermanischen poti (Häuptling) ab, von dem die griechischen posis (Mann) und despotes (Herr) abgeleitet wurden. Laut Grondona hat sich die Bedeutung des Wortes Macht von dieser ursprünglichen Bedeutung auf „die allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ ausgeweitet.
Dieser etymologische Ursprung in arkhein deutet also auf archaische Gesellschaftsformen hin, in denen die Macht nach einem überlieferten Brauch oder einer Tradition von Häuptling zu Häuptling weitergegeben wird. Diese Eigenschaft und nicht der vermeintliche Charakter eines „despotischen Befehls“, wie Grondona argumentiert, erklärt meiner Meinung nach, warum in Begriffen wie „Monarchie“ (Macht eines Individuums) oder „Oligarchie“ (Macht einiger Weniger) die Form arkhos (Häuptling) erhalten geblieben ist, während sie in anderen durch kratos ersetzt wurde, das den Sinn einer freiwillig eingerichteten Macht hat – weshalb es auch mit „Regierung“ übersetzt wird.
Das bringt uns zu dem anderen Teil des Wortes Demokratie. Dieser sollte daher wörtlich mit „Regierung des Demos“ oder allgemeiner mit „Regierung der Staatsbürgerschaft“ übersetzt werden. Aber das Wichtigste ist, dass sich die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie, wie wir gesehen haben, auf eine Art von politischem System bezieht, in dem die Macht von den traditionellen Verbindungen mit dem Brauchtum, der Religion und so weiter getrennt ist. Das Konzept der Demokratie hat also ursprünglich nichts mit dem Konzept der „Souveränität“ zu tun – einer Macht, die „über allen“ anderen steht.
Das Konzept der Souveränität als solches taucht erst später in der klassischen Ära auf. Laut George Jellinek entstand er im Mittelalter als Ergebnis des Kampfes zwischen der Kirche, der kaiserlichen Macht und den großen Herren und Korporationen:
„die Kirche, die den Staat in ihren Dienst stellen wollte; das Römische Reich, das den einzelnen Staaten keinen höheren Wert als den von Provinzen zugestehen wollte; und die großen Herren und Korporationen, die sich als unabhängige Mächte des Staates und vor ihm fühlten“. (Allgemeine Theorie des Staates, 1900)
Die Idee der Souveränität entsteht also, um „den Gegensatz der Staatsmacht zu anderen Mächten“ zu formulieren, und erreicht ihre Reife mit dem Prozess der Zentralisierung der politischen Macht, der zur Moderne führt.5 Nicht zufällig wird ein solcher Prozess durch die primitive Kapitalakkumulation angetrieben, die Marx so sehr untersucht hat. Aus diesem Grund bezieht sich die bourgeoise Vorstellung von Souveränität auf den Staat und setzt die Staatsbürgerschaft nur durch den Staat als souverän voraus. Das „Volk“ ist nur insofern souverän, als es den Staat konstituiert und durch ihn souverän ist, auch wenn theoretisch das erstere die Quelle der politischen Macht ist und andererseits die instituierte Macht ihre Emanation oder die Entfremdung der immanenten Macht des „Volkes“ (Rousseau) ist. Die bourgeoisen politischen Theorien rechtfertigten somit die Unterordnung der zentralisierten Staatsmacht, die sich unter dem Ancien Régime herausgebildet hatte, unter die neue aufstrebende Klasse, die Bourgeoisie, die auch die Unterstützung der populären Massen brauchte, um an die Macht zu kommen (daher Demokratie). Souveränität als effektive Macht des Volkes ist ein anderes Konzept, das einen klaren Bezug zu den Kämpfen gegen die bourgeoise Staatsmacht hat. Aber wie wir gesehen haben, ist die Verwendung des Begriffs Souveränität zur Bezeichnung der Macht der Massen im Allgemeinen unzureichend, da er immer noch in die Grenzen der Demokratie eingeschrieben ist.
Fahren wir nun mit der etymologischen Untersuchung fort.
Laut Grondona begann die Entwicklung zur Demokratie in Athen mit der Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und den Gesetzen der Stadt (nomos). Das bedeutete, dass die Macht nicht mehr nur befahl, sondern auch legislierte (A.d.Ü., Gesetze erließ). Es bedeutete, dass die Regierung auf Regeln basierte, die freiwillig geändert werden konnten und gleichzeitig in einen bestimmten Rahmen eingeschrieben waren: die Politeia. Dies eröffnete die Möglichkeit, dass auch der Gegenstand des politischen Willens freiwillig bestimmt werden konnte. Dies schuf den geeigneten Rahmen für die Bildung der Deme oder des Demos, jener Wahlkreise, in denen die Menschen lebten, die so zu Polites (Politikern) wurden.
Außerdem kann ich Grondonas Interpretation der Entwicklung des Begriffs „Macht“ als „die allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ nicht zustimmen.
Aus dem oben Gesagten folgt, dass traditionelle Macht (arkhos) und institutionelle Macht (kratos) ganz bestimmte Bedeutungen haben. Der Begriff poti, von dem sich das lateinische potere ableitet, hat die Bedeutung von Besitz, die im griechischen posis hervorgehoben wird, und gleichzeitig auch die Bedeutung von Befehl in despotes, die dem griechischen kratos ähnelt. Aber alle diese Begriffe beziehen sich auf soziale oder kollektive Formen der Macht, so dass sie Macht nicht wirklich als eine generische (A.d.Ü., allgemeine) individuelle Fähigkeit definieren. Diese zugrundeliegende Dualität erklärt sich aus der Entwicklung der Entfremdung zwischen sozialer Macht und individueller Macht, zwischen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Handlungsfähigkeit des Individuums, die sich in Gruppenkämpfen manifestiert und zu den verschiedenen Formen der Regierung führt.
Dieses Problem wird durch die Untersuchung des römischen Falles noch deutlicher.
Das Wort für die Handlungsfähigkeit des Individuums war im Lateinischen virtus und im Griechischen andreia – deren Bedeutung identisch ist6. Beide stammen von einer Wurzel indogermanischen Ursprungs (vir/aner), die Mann (männlich) bedeutet und von der virile abgeleitet ist.7 Es gibt aber auch eine ähnliche indogermanische Wurzel, vis, die Stärke bedeutet. Soweit man weiß, wurden die beiden Wurzeln vir und vis in der Antike nicht unterschieden. Vis hat die Bedeutung von Lebenskraft, was auch Gewalt einschließt. Beide Wurzeln scheinen sich also zu ergänzen und bringen uns einer gemeinsamen Grundbedeutung näher: Der Mensch definiert sich durch seine immanente Kraft, die er durch seine vitale Tätigkeit in der Gesellschaft nach außen trägt. Diese gemeinsame Grundbedeutung wird auch durch die Entwicklung zu virtus, vita (Leben) oder vitium (Fehler oder Laster) belegt.
Virtus selbst ist eine Verbindung mit dem Suffix tut, das anscheinend Zustand oder Qualität bedeutet. Aber virtus bezieht sich nicht auf einen äußeren Zustand oder eine Eigenschaft, sondern auf eine innere. Damit ist seine Beziehung zum Leben oder zur Lebenskraft klar. Aber noch deutlicher wird es in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung, nämlich Mut oder Tapferkeit.
Interessant ist hier, dass der Begriff virtus eine komplexe Entwicklung durchgemacht hat, bis er heute die breite Bedeutung des Wortes Tugend (A.d.Ü., im spanischen virtud) hat. Das bedeutet, dass diese Entwicklung das Ergebnis komplexer sozio-historischer Veränderungen war (zu denen bereits in der Neuzeit die allgemeine Tendenz zur Abstraktion des Menschlichen und seine Unterordnung unter die Technik gehört, was sich sehr gut daran zeigt, dass der Begriff heute nicht mehr verwendet wird, oder dass er als Adjektiv – „tugendhaft“ – verwendet wird, um auf bestimmte technische Fähigkeiten hinzuweisen).
In der römischen Gesellschaft, in der Männlichkeit, Militarismus und Moral die grundlegenden Werte waren, war das Konzept der virtus praktisch unverzichtbar, um das Verhalten der Individuen zu bestimmen. So sagt Lucilius: „Virtus … ist die Fähigkeit, in jedem Geschäft des Lebens den richtigen Preis zu zahlen, … ist zu wissen, was gut und gewinnbringend und ehrenhaft für den Menschen ist und auch, was nutzlos und schändlich ist … zuerst an das Vaterland (A.d.Ü., Patria), dann an die Eltern und an dritter und letzter Stelle an die eigenen Interessen zu denken“ (zitiert von Balmaceda). Im Gegensatz zu den Griechen hatten die Römer eine pragmatische Mentalität, was implizit bedeutete, dass sie die virtus als praktische Eigenschaft betonten, die sich vom bloßen intellektuellen Wissen unterschied, dessen Spaltung zu der Praxis, sie als eine der Minderwertigkeiten der Griechen betrachteten. So entstand die Idee der virtutes als eine Reihe von „guten Eigenschaften“.
Virtus wurde mit einer irdischen oder göttlichen Belohnung in Verbindung gebracht, vor allem mit militärischem Ruhm, der auch als etwas Vererbbares verstanden wurde, um das man wetteifern musste, um die virtus seiner Vorgänger zu erreichen oder zu übertreffen. Dies warf jedoch das Problem des Wettbewerbs um irdischen Ruhm in Form von dignitas – politischer Macht und Reichtum – auf. Partikulare Interessen wurden gegen allgemeine Interessen gestellt, weshalb Cicero verkündete, dass Politik als Lebens- und Verhaltensform verstanden werden sollte. Gleichzeitig hatten die sozio-historischen Bedingungen virtus zu einem Ideal gemacht, das zunächst mit nobilitas verbunden war. Doch mit der expansiven Entwicklung der Republik bewirkte die ostentative Bereicherung dieser Oberschicht eine universalisierende Verschiebung des Konzepts, das sich von der Tradition der Vorfahren löste und die Sozialethik zu seiner eigentlichen Achse machte. Dadurch wurden die Fähigkeiten und das Verhalten des Individuums als die Wurzeln der virtus hervorgehoben. Diese beiden Faktoren, der politische und der ökonomische, bestimmten also die Erhebung der virtus zu einer ethischen Qualität, die zwar eine individuelle Verantwortung darstellt, aber gleichzeitig objektiv sozial ist und es erlaubt, individuelle Handlungen auf das kollektive Interesse zu beziehen. So kommen wir zu einer Definition des römischen Ideals des sozialen Individuums.
Tugend als psycho-soziale Selbstmacht
Als vorläufige Schlussfolgerung der etymologischen und historischen Studie glaube ich, dass die Universalisierung des Konzeptes der Macht als „allgemeine Fähigkeit, etwas zu tun“ durch ein Phänomen der entfremdenden Transposition erklärt wird, durch die ein Begriff sein Gegenteil annimmt. Da aber nichts, auch keine Entfremdungen, absolut ist, konnte der Begriff der Tugend (Virtus) nicht vollständig mit dem der Macht assimiliert werden.
Macht hat immer den Sinn einer instrumentellen Fähigkeit, während Tugend (Virtus) den Sinn einer vitalen, immanenten Fähigkeit hat. „Gut leben“ ist tugendhaft (virtuosus). „Etwas gut zu machen“ bezieht sich auf eine Form der technischen Tätigkeit, auf die Manipulation von Gegenständen. Selbst wenn wir sagen: „Ich kann mich bewegen“, beziehen wir uns unbewusst auf unseren Körper als Objekt, auf das unsere Willenskraft einwirkt, die in diesem Moment als eine vom Körper losgelöste Kraft oder als außerhalb seiner organischen Funktionsweise stehend gedacht wird.
Die Trennung zwischen potere und virtus, wenn auch die Entfremdung des Letzteren im Ersteren, muss daher als symbolischer Ausdruck einer gegebenen sozio-historischen Realität gesehen werden, nicht als zufälliger Gegensatz oder zufälligen Überlagerung. Unterscheidungen in der Sprache sind immer eine kognitive Darstellung praktischer Unterscheidungen, und die Beibehaltung von Begriffen, deren Bedeutung assimiliert wird, ohne identifiziert zu werden (und die zu partiellen Synonymen werden), setzt voraus, dass diese praktischen Unterscheidungen eine dauerhafte und konfliktreiche sozio-historische Grundlage haben.
Ich möchte das Problem des üblichen Sprachgebrauchs, der in der heutigen Gesellschaft eine praktische Grundlage hat, nicht ausklammern. Der Schlüssel liegt meiner Meinung nach darin, den Begriff der Tugend (Virtus) zu rekuperieren (A.d.Ü., hier im umgedrehten Sinne) und ihm seine volle Bedeutung zurückzugeben, damit er die Macht als instrumentelle Handlungsfähigkeit untermauert und ergänzt.
Im Gegensatz zur etablierten Macht ist die Tugend (Virtus) die Selbstmacht8 des Individuums und nicht die autonome Macht der Institutionen. Wenn wir also im Konzept der Ochlokratie die arkhé (Anfang oder ursprüngliche Quelle) der kollektiven Selbstmacht finden, finden wir im Konzept der virtus die arkhé der individuellen Selbstmacht. Die komplementäre und harmonische Entwicklung von Ochlokratie und Virtus würde bedeuten, dass es keine Unterschiede zwischen der Macht der Gemeinschaft und der Macht der Regierung oder zwischen dem Alltagsleben und dem politischen Leben gibt. Kurz gesagt würde dies die Verwirklichung der Anarchie bedeuten, die wir nun auf einer tieferen Ebene definieren können: Sie würde die Abschaffung von Formen der Macht bedeuten, die gegenüber den Individuen autonom sind, seien sie traditionell oder rechtlich, um an ihre Stelle eine neue Form der Macht zu setzen, die, wie der Begriff selbst sagt, „keinen Anfang“ oder „keinen Befehl“ hat, weil ihre Quelle zeitlos und den Menschen immanent ist. Diese Macht ist der direkte Ausdruck ihrer Menschlichkeit durch Kooperation. Aber Anarchie als politisches System setzt eine Menschheit voraus, die die Eigenschaft der Selbstverwaltung entwickelt hat: ihre soziale Tugend. Eine solche Eigenschaft ist für die Menschheit erst durch die Entwicklung des psychologischen und sozialen Selbstbewusstseins einerseits und durch die Entwicklung der menschlichen Zusammenarbeit zu immer komplexeren Formen andererseits zu einer konkreten Möglichkeit geworden.
Wir können Macht und Tugend auch auf der psychologischen Ebene gegenüberstellen.
Macht ist die instrumentelle Nutzung der Lebenskraft, um sie zu bewegen oder zu lenken. Sie ist die wesentliche Eigenschaft der egoischen Psychologie, denn das Ego ist das autonome Selbstkonzept gegenüber dem gesamten psychophysischen Wesen. Die Tätigkeit des Ego setzt eine instrumentelle Beziehung zu den psychischen Energien und Trieben voraus, deren Objektivierung es durch die Festlegung von Zielen bestimmt – wofür es zunächst funktionale Daten aus der sinnlichen Welt abstrahiert, daraus Repräsentationen konstruiert, mit denen es die Bedürfnisse des Seins identifiziert, und schließlich auf dieser Grundlage Hierarchie- oder Prioritätsbeziehungen zwischen den Trieben im Inneren und zwischen Handlungsformen im Äußeren herstellt, von denen ein Teil als Verhaltens- oder Denkgewohnheiten festgeschrieben ist und ein Teil gelegentlich auftritt. So bezieht sich das Ego nur in Form des instrumentellen Objekts auf die Realität als Ganzes, und somit ist das Gefühl der Macht (Aneignung, Besitz, Kontrolle) ein wesentlicher Aspekt allen egoischen Verhaltens, auch des intellektuellen Verhaltens.9
Tugend (Virtus) hingegen ist der Einsatz der Lebenskraft, um das zu tun, was unserer Natur entspricht, d.h. Selbstverwirklichung – menschliche Erfüllung, menschliches Gut und Schönheit. Sie setzt also eine psychologische und psychosomatische Integration im Allgemeinen und eine Überwindung der Ego-Autonomisierung im Besonderen voraus. In dem Maße, in dem dies erreicht wird, hört der innere Zustand auf, sich zwischen ständigen Konflikten zu bewegen, und die der Psyche innewohnende, bewusst gemachte Fähigkeit zur Selbstorganisation ermöglicht eine Selbstbestimmung ohne all die mechanischen Vermittlungen, die das Ego kennzeichnen, aber auch ohne in blindes Spontanverhalten abzudriften.
Aber wie ich schon sagte, müssen sich die historischen Bedingungen für Anarchie erst noch entwickeln. Andererseits müssen sie sich auf der Grundlage der gegenwärtigen gesellschaftlichen Totalität und im radikalen und integralen Bruch mit ihr entwickeln. Deshalb bedeuten alle oben genannten Einschätzungen nicht, dass eine sofortige Überwindung der Demokratie möglich ist, was uns zum Problem der politischen Übergangsformen bringt.
Jenseits der Demokratie
Mit den oben erwähnten Unterschieden zwischen Demokratie und Ochlokratie als politischen Organisationssystemen kann die Ochlokratie dennoch als eine Form der direkten Demokratie verstanden werden, obwohl sie in Wirklichkeit mehr als das ist. Sie ist eine „Demokratie“ in Bezug auf ihre interne Funktionsweise, aber nicht in Bezug auf ihre Verfassung:
1.) Sie setzt die Abschaffung der Staatsbürgerschaft voraus und das Individuum wird als immanente Quelle der Macht anerkannt – obwohl dies in der proletarischen Demokratie auf die besitzende Klasse beschränkt ist, d.h. sie gilt nur innerhalb der Gemeinschaft der freien und gleichen Produzenten;
2. ihre Grundeinheit ist keine „Demo“, sondern die Gemeinschaft, die in ihren lebendigen Kooperationseinheiten (die Fabrik, die Nachbarschaft, die Gemeinde…) zusammengefasst ist, d.h. die politische Form und die Lebensform sind strukturell identisch, es gibt keine Trennung zwischen ökonomischer oder materieller Macht und politischer Macht und keine Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem politischen Subjekt;
3) die auf diese Weise selbstorganisierte „Menge“ hat dauerhaft die tatsächliche Macht inne, so dass es keinen Sinn macht, von „Ochlokratie“ als einer Verzerrung des populären Willens zu sprechen: Die einzigen Verzerrungen, die möglich sind, sind unpassende Entscheidungen der populären Massen selbst. Das Problem der Demagogie wird durch das Problem der kollektiven Intelligenz beiseite geschoben.
Das Konzept der Ochlokratie ist heute von besonderem Interesse, denn auf der Suche nach neuen Konzepten für politische Formen sind Begriffe wie „Holokratie“, „Pluriarchie“, „Demarchie“ … aufgetaucht. Die Holokratie wäre eine einzige Weltregierung als Lösung für alle Probleme der heutigen Gesellschaft. Es ist unnötig zu erwähnen, dass die Holokratie in der Realität nichts an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändert und dass sie an sich auch nicht grundlegend ist, um eine solche Änderung herbeizuführen. Pluriarchie wird als ein System definiert, in dem die Entscheidungsfindung nicht binär (ja/nein) ist, sondern in dem die Parteien ohne Zwang eigenständig handeln können und der gemeinsame Wille nur durch Konsens festgelegt wird. Der erste Aspekt steht nicht unbedingt im Widerspruch zu Demokratie oder Ochlokratie. Aber der zweite ist tatsächlich ein Risiko, denn er setzt voraus, dass der Wille der Parteien nicht durch den Willen des Ganzen begrenzt werden kann, was eine Projektion des bourgeoisen Individualismus ist. Die Teile können nur als Formationen des Ganzen bestehen, auch wenn dies in der Phase der konstituierenden Entstehung von Bewegungen oder Gemeinschaften nicht der Fall ist, wenn sie von der Zerstreuung ausgehen. Dennoch sind diese Teile Ausprägungen des gesellschaftlichen Ganzen und können nur dank der relativen Homogenität des Ganzen gleichzeitig entstehen. Demarchie ist ein Zwischenbegriff zwischen Demokratie und Ochlokratie. Es bedeutet, dass das organisierte Volk die Grundlage der politischen Macht ist, dass das Volk das „Prinzip“ der politischen Macht ist, aber in diesem Sinne ist es nur eine andere Form der direkten Demokratie und behält die formalen Merkmale der Demokratie bei.
Zusammenfassend können wir sagen, dass Demokratie dort existiert, wo sich nicht die Gemeinschaft direkt selbst organisiert, sondern wo es eine formale Strukturierung gibt, die die tatsächliche Konstituierung der sozialen Gemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft vermittelt und bedingt. Dies geschieht in allen dauerhaften Organisationen, die eine Struktur, Regeln, ein Programm, Gewohnheiten usw. voraussetzen. Gleichzeitig setzen diese Organisationen innerhalb des Kapitalismus die generelle Trennung zwischen politischer Macht und Alltagsleben, Lebenseinheiten und organisatorischen Machteinheiten voraus – sie können die Gesamtstruktur der kapitalistischen Gesellschaft nicht überspringen. Die Teilnahme an ihnen und damit die Macht der Individuen, die ihre Mitglieder sind, ist an die Einhaltung dieser Muster und Trennungen gebunden. Externe Personen haben also keine direkte Macht über diese stabilen Organisationen.
Aus diesen drei Gründen sind die dauerhaften proletarischen Organisationen im Kapitalismus immer demokratisch im oben beschriebenen Sinne. Die Ochlokratie des Proletariats kann nur als politischer Ausdruck des revolutionären Prozesses entstehen, daher wäre dies die passende Bezeichnung für die uneingeschränkte Demokratie, die die radikalen Revolutionäre als Form der revolutionären Massenmacht wollten und deren Struktur in der Vergangenheit durch das Modell des Systems der Sowjets oder Räte veranschaulicht wurde. Die Akratie wäre ein weiterer Schritt, denn sie setzt das vollständige Verschwinden der politischen Macht mit der Unterdrückung der Reste der in der Klassengesellschaft entstandenen Ungleichheit und der entsprechenden Form der Subjektivität voraus.
Das Problem der Dezentralisierung
In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion über die politischen Formen auf konkretere Formen verlagert.
So wurde zum Beispiel das Konzept der „verteilten Netzwerke“ postuliert, im Gegensatz zu dem typischen Konzept von Netzwerken als dezentralisierte Einheiten, in denen jedoch in der Praxis einige Knotenpunkte dominant oder zentral sind. Jede Dezentralisierung ist immer relativ, und deshalb ist die Schlüsselfrage nie die formale Dezentralisierung, sondern die effektive Dezentralisierung. Eine echte Dezentralisierung der Macht muss bedeuten, dass die Macht gleichmäßig unter den Knotenpunkten „verteilt“ wird (die in der Cyberpunk-Bewegung die Individuen selbst sind; ein Beispiel im Internet ist die Blogger-Bewegung).
Direkte Demokratie impliziert natürlich immer eine formale Dezentralisierung, aber sie geht in der Regel nicht auf das Problem der effektiven Dezentralisierung ein. Formale Dezentralisierung ist hier gleichbedeutend mit einer Dezentralisierung der Entscheidungsfindung. Die wirksame Beteiligung des Individuums an der Vorbereitung, Entwicklung und Umsetzung des politischen Willens bleibt im Hintergrund und ist eher ein abgeleitetes als ein organisches Element. Es gibt keine wirksame Verbindung zwischen Entscheidung und Umsetzung, da die Entscheidungsinstanz nicht mit der Umsetzungsinstanz identisch ist. Das Individuum, das das Recht hat, zu entscheiden, erwirbt nicht gleichzeitig die Pflicht, zu realisieren. Kurz gesagt: Es wird davon ausgegangen, dass die direkte Demokratie bei der Entscheidungsfindung gleichbedeutend ist mit der Errichtung eines Regimes der Freiheit. Der Inhalt wird mit der Form gleichgesetzt.
Die politische Form, die wir brauchen, muss auf einer umgekehrten Argumentation beruhen. Was in der politischen Form nicht organisch sein darf, was instrumentell sein muss, ist nicht die effektive Beteiligung, sowohl in Quantität und Qualität (Raum) als auch in Kontinuität und Dauerhaftigkeit (Zeit). Was instrumental10 sein muss, ist der rein politische Moment, die Beratung und Entscheidung, mit ihren Modalitäten. Zum einen muss dieser Moment eine Form annehmen, die mit der Art der angestrebten Beteiligung kohärent ist. Das liegt auf der Hand: Mittel und Zweck müssen übereinstimmen. Aber es ist eine ganz andere Sache, zu glauben, dass die Form der Entscheidung selbst eine entsprechende Art der Beteiligung hervorbringen kann. Das ist eine rein praktische Angelegenheit: Die meisten kollektiven Aktivitäten bestehen nicht darin, Entscheidungen zu treffen, sondern darin, sie vorzubereiten oder durchzuführen, also ist es die Dynamik der Umsetzung, die die Dynamik des kollektiven Lebens bestimmt.
In diesem Sinne ist das Konzept der Demokratie selbst unzureichend, so nuanciert es auch sein mag. Andererseits ist das Konzept der Ochlokratie durchaus angemessen. Denn er verweist auf die Tatsache, dass das politische Subjekt keine formale Struktur (Demo) oder eine Gruppe von Individuen ist, die mit ihr verbunden sind: Es ist die Kollektivität als solche, in und aus sich selbst. Das heißt, die Ochlokratie impliziert eine Art der Partizipation, die nicht durch eine formale Struktur oder eine individuelle Verbindung zu ihr bestimmt – also nicht angetrieben oder begrenzt – wird, sondern durch dieselbe Subjektivität und Form der Aktivität, die die Masse auszeichnet. Mit anderen Worten: Sie ist eine Masse, die ihre individuellen Selbstmächte bewusst in eine soziale Macht umwandelt, die dauerhaft sowohl als konstituierende als auch als instituierende Macht wirkt. Ohne diese wichtige Voraussetzung ist die Ochlokratie unmöglich, aber auch das, was gemeinhin als direkte Arbeiterdemokratie bezeichnet wird, da ihr dann die Partizipation oder die Inhalte fehlen, die sie braucht, um eine lebendige Form zu sein (oder einfach, dass Partizipation und Inhalte nicht von Dauer sind). Nur die Privilegierung von Entscheidungs- und Beratungsmomenten, die mit dauerhaften Formen (Vollversammlungen usw.) ausgestattet sind, erlaubt es uns, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass die direkte Demokratie irgendeinen Wert an sich haben kann oder dass sie ohne die effektive und konkrete Beteiligung von Individuen existieren kann.
Wenden wir uns nun der konkreteren funktionalen Ebene zu. Es kommt nicht darauf an, dass Entscheidungen nach Verfahren getroffen werden, die darauf abzielen, einen ausgewogenen kollektiven Willen zu bilden, das heißt, ohne die Freiheit von Minderheiten anzugreifen oder zu missachten, aber auch ohne sie über die Mehrheiten zu stellen. Entscheidend ist, dass die Entscheidungen durch die bewusste Beteiligung aller Personen getroffen werden, die an ihrer Vorbereitung und Umsetzung beteiligt sind. Auf dieser Ebene darf die Demokratie nur als Verfahrensform existieren, nicht als starres institutionelles System. Der Fehler der traditionellen anarchistischen Sichtweise besteht darin, dass sie sich hauptsächlich auf die Verfahrensform konzentriert und das oben genannte Problem der effektiven Beteiligung aus den Augen verliert.
Es ist nicht das verfahrenstechnische Problem, das wichtig ist. Ob Entscheidungen im Konsens oder per Mehrheitsbeschluss getroffen werden. Oder ob das Individuum, der sich an der Entscheidungsfindung beteiligt, mit diesem Recht auch die Pflicht erwirbt, sich an der Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen zu beteiligen, ganz nach dem Motto der Satzung der ersten Internationale: „Keine Pflichten mehr ohne Rechte, keine Rechte mehr ohne Pflichten“.
In der Praxis ist die Unterordnung von Mehrheiten unter den Konsens mit Minderheiten nicht weniger autoritär als die Entscheidung durch die Mehrheit. Die „freie“ Unterordnung unter den Konsens überwindet den Autoritarismus nicht, sondern verinnerlicht ihn. Sie schafft eine Vergegenständlichung der kollektiven Macht in einem abstrakten und dominanten Gebilde – der Vollversammlung als politischer Gemeinschaft. Jedes Individuum oder jede Partei muss sich dieser Institution zwangsläufig unterordnen, wenn sie weiterhin an der realen Gemeinschaft teilhaben will. Folglich haben sie keine wirkliche Autonomie, sondern die Autonomie wird entfremdet und als Eigentum der Vollversammlung als einer formalen Struktur festgelegt.
Diese Art von Starrheit macht die Demokratie zu einem politischen System, auch wenn es sich um eine direkte Demokratie handelt. Deshalb müssen wir sie so weit wie möglich abbauen, wie es der aufständische Anarchismus zu Recht fordert – ein gutes Ziel, auch wenn ich seine Lösungen für unzureichend halte.
Die Lösung für das Problem des Bürokratismus besteht nicht darin, die Komitees zu untergeordneten Strukturen der Vollversammlungen zu machen. Sie besteht darin, in Anlehnung an den Ansatz von Marx und Engels die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Autonomisierung der Komitees nicht stattfinden kann,11 wofür die formale Abhaltung von Vollversammlungen unzurreichend ist – selbst wenn diese selbst einberufen werden.
Ebenso besteht die Lösung des Problems des Autoritarismus nicht darin, dass sich jemand jemandem aufdrängen kann. Sie besteht darin, jedem die Möglichkeit zu geben, wirksam gegen die Autorität zu kämpfen, die er oder sie ablehnt. Da das Problem des Autoritarismus in den direkten Beziehungen zwischen den Menschen liegt, kann es nicht durch „antiautoritäre“ Normen unterdrückt werden, die das Problem nicht an der Wurzel packen, sondern es nur beschönigen. Und wie ich bereits erklärt habe, begünstigen formale Maßnahmen allein einen mystifizierenden demokratischen Formalismus, der zu einem Hindernis für das Verständnis des Problems der Entwicklung individueller Autonomie und ihrer Unerlässlichkeit für die volle Entfaltung der kollektiven Autonomie wird.
Demokratie, die auf eine Verfahrensform reduziert ist, um eine ständige Debatte und die volle Beteiligung der Individuen zu entwickeln sowie über ihre konkreten Handlungen zu entscheiden, überwindet die formalistische Starrheit, ohne in ihr Gegenteil – eine informalistische Starrheit – zu verfallen, und konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf das Wichtigste: die Entwicklung freier und gleichberechtigter Zusammenarbeit und deren Verstärkung. Das bedeutet, dass die Demokratie als solche nicht mehr stabil ist, dass sie sich im Übergang zu einer Ochlokraite befindet. Vielleicht ist der Begriff „Demarchie“ zutreffend, um diese Übergangsform zu beschreiben, in der demokratische Formen prozedural fortbestehen, aber als instrumentelles Element dem direkten Willen selbstbewusster und selbstmotivierter Individuen untergeordnet wurden – „beginnt“ (arkhé) in ihnen und kehrt zu ihnen zurück – was die Grundlage der Ochlokratie ist.
Populismus und rechte Rhetorik
Das klassistische Verständnis der Ochlokratie schreibt ihr, wie wir gesehen haben, einen an sich perversen Charakter zu, während es die Demokratie und andere Regierungsformen als „rein“ betrachtet. Deshalb wird das Konzept auch heute noch verwendet, um z. B. populistische Regierungen in Lateinamerika zu kritisieren, vor allem wenn sie die Massenmobilisierung zu ihrem Vorteil nutzen. In einigen Fällen wird der Begriff explizit verwendet, aber meistens wird das alte Thema der Demagogie wiederholt, das gleichbedeutend ist.
Dies verstärkt die Assoziation zwischen Demagogie – und generell dem Fehlen von einer selbstbewusstem populären Aktion – und angeblich „sozialistisch“ ausgerichteten politischen Programmen: ein offensichtlich rechter Ansatz, der nichts anderes ist als die Kehrseite des links angehauchten Populismus, den er bekämpft.
Die Tragfähigkeit seiner Argumentation hängt vor allem von der Figur der populistischen Führer oder Parteien ab, die, ob sie nun explizite Lügen verwenden, um die Massen zu manipulieren oder nicht, zahlreiche Beispiele dafür haben, wie sie die beliebige Nutzung von Informationen betonen, um eine für ihre Interessen oder Programme günstige Massenreaktion zu erreichen. Dies ist ein inhärenter Merkmal jeder populistischen bourgeoisen Politik – d. h. jeder bourgeoisen Politik, die die aktive Suche nach Unterstützung durch die Massen beinhaltet – und hängt nicht davon ab, ob die Partei oder ihre Führer die Staatsmacht innehaben. In jedem Fall kann ihre politische Position ihre Neigung zur Demagogie und ihren Einfluss auf die Massen verstärken oder vermindern.
In der Regel ist es in der kapitalistischen Gesellschaft politisch nicht profitabel, die Wahrheit zu sagen. Nicht unbedingt, weil es Interessen zu verbergen gibt. Sondern weil die Massen selbst die Wahrheit nicht wissen wollen. Sie halten ihre entfremdende Existenz nur aus, indem sie sich an die Erwartungen klammern, die mit dem kapitalistischen Fortschritt verbunden sind, und genau diese Existenz führt dazu, dass sie sich angesichts der allgemeinen historischen Dynamik ohnmächtig fühlen und nicht in der Lage sind, ein anderes Gesellschaftssystem zu errichten. Sie neigen daher dazu, dem Diskurs, den sie gerne hören würden, mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem, der an die Tatsachen appelliert und sie wirklich zu erklären versucht. Sie zieht den Diskurs, der ihre Illusionen nährt, dem Diskurs vor, der sie leugnet.
Angesichts dieses Teufelskreises ist die Existenz der Masse selbst in eine Lüge gehüllt. Und es ist genau diese Lüge, die sie erträglich macht. Alle sozialen Lügen im Zeitalter des Kapitalismus basieren auf dem Axiom, dass die merkantile gesellschaftliche Entwicklung, wenn sie richtig ausgerichtet ist, die gegenwärtigen Leiden und Einschränkungen lösen oder schrittweise verringern wird. Dieses Axiom hat, das ist nicht zu übersehen, eine sehr präzise subjektive Grundlage, die die Quelle seines großen Widerstands gegen alle revolutionären Diskurse oder Versuche ist. Es handelt sich um eine Form der Subjektivität, die ihre Bedürfnisse in die Aneignung von Objekten projiziert; die bereit ist, ihr Sein, ihr Leben, in ein Mittel zum Haben zu verwandeln, und die damit voll und ganz für die Entwicklung der Warenproduktion funktional ist. Selbst wenn sie sich dabei gegen die Bourgeoisie auflehnt. Tatsächlich lehnt sie sich nur deshalb gegen den Kapitalismus auf, weil der Kapitalismus solche Erwartungen an den Besitz enttäuscht, nicht weil sie ihre geistige Selbstentfremdung überwunden hat. Mit anderen Worten: Es vertritt die Interessen des variablen Kapitals und nicht die Interessen der Befreiung der Menschheit. Wenn sich das Proletariat zu diesem Zweck als Klasse konstituiert und als Klasse handelt, erreicht es dies jedoch nur auf einer formalen Ebene; es wird nicht tatsächlich zur Klasse für sich selbst im Marx’schen Sinne, sondern bleibt in Wirklichkeit Klasse für das Kapital. Und dann werden Klassenaufstände oder Klassenkämpfe zu einem Ansporn für die weitere Entwicklung oder Perfektionierung des Kapitalismus.
Es herrschen immer noch typische soziale Verhaltensweisen vor, die sich lediglich durch den Grad der Passivität/Aktivität in Bezug auf die kapitalistische Entwicklung unterscheiden: Die einen lehnen sich zurück und warten ab, die anderen kämpfen, um sie herbeizuführen. Aber sie alle teilen die gleiche Erwartung, sie projizieren in ihrer Praxis die gleiche Endgültigkeit, die ihr elendes Leben sinnvoll macht. Genauer gesagt, der der vorherrschenden Form der Subjektivität innewohnende Glaube, dass die komplexe psychische Dynamik, die das menschliche Leben kennzeichnet, in Zukunft schrittweise erweitert und verwirklicht werden kann, da der Kapitalismus eine Form der Erfüllung für alle Triebe bietet.
Diese konformistische Erwartung hat sich jedoch nicht bestätigt. Weder durch die Entwicklung der Konsumgesellschaft, die mit den Grenzen des Kapitals kollidiert, noch durch den Zugang zu einem höheren Niveau und einer größeren Vielfalt dieses Konsums. Denn die psychische oder vitale Dynamik des Menschen kann per definitionem nur durch uneingeschränkte Selbsttätigkeit, durch die freie Entfaltung all seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten eine zufriedenstellende Erfüllung finden. Und das ist in der heutigen Gesellschaft nicht nur wegen der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise unmöglich, sondern auch, weil jede materielle Produktion ökonomisch, technologisch und ökologisch endlich ist. Als wäre das nicht genug, wird auch immer deutlicher, dass die Steigerung des Konsumniveaus an sich nicht zum Glück oder zur Entwicklung menschlicher Qualitäten beiträgt. Dieses Phänomen hat eine sehr tiefe Wurzel. Das Sein ist Aktivität. Die menschliche Natur ist im Wesentlichen selbsttätig und kann daher nur in der Selbsttätigkeit Selbstverwirklichung finden. Der Besitz, das Haben, ist eine Form, die Selbstaktivität als solche zu stoppen oder zu reduzieren und die Selbstaktivität im Allgemeinen auf diese besondere Art der Selbstaktivität zu beschränken oder ihr unterzuordnen. Deshalb kann er weder zu einem glücklichen Leben führen, noch ist er für die Entwicklung menschlicher Qualitäten förderlich. Im Gegenteil, er erzeugt ein Gefühl der Leere und Ohnmacht, weil das Haben von der Selbsttätigkeit als solcher entfremdet ist, anstatt eine Funktion davon zu sein. Man lebt, um zu haben, anstatt zu haben, um zu leben, und das Selbst wird dafür geopfert. Die materielle Produktion dient also nicht dazu, die Selbsttätigkeit, das Leben, zu bereichern und zu verstärken, sondern verarmt sie durch entfremdeten Konsum und entfremdete Arbeit. Und das kann sie gar nicht anders, denn diese Form der Arbeit ist ihre effektive Grundlage und enthält in sich selbst bereits das Prinzip der Unterordnung des Lebens unter das Haben: in der allgemeinen Form der Unterordnung der lebendigen Arbeit unter die akkumulierte Arbeit und in der besonderen Form der Verwandlung des Lebens des Arbeiters in ein bloßes Mittel zur Erzielung eines Lohns.
Auf dieser psychosozialen Grundlage hat der Kapitalismus die Subjektivität als Begehren und als Schöpfung vollständig untergeordnet und den Kreislauf des Kapitals vollendet. Damit wird die gesamte materielle und geistige Dynamik der Gesellschaft als Funktion des Kapitalzyklus vollständig unterdrückt. Proletarier können nicht mehr „leben“, es sei denn als Elemente dieses allumfassenden Prozesses des Kapitals, der sich durch die Produktion, die Zirkulation und den Konsum zieht und das Netz der alltäglichen sozialen Beziehungen als funktionales Ganzes gestaltet.
Doch kommen wir nun zurück zum Problem des Populismus.
Es ist klar, dass auf der oben beschriebenen sozialen Grundlage jeder Populismus fast zwangsläufig einen gewissen caudillistischen12 Charakter hat. Allerdings ist dieser in einigen Fällen stärker ausgeprägt als in anderen. Wenn wir dies vom Standpunkt der klassischen Antike aus betrachten, ist diese Art von autoritärer Politik, die auf populistischer Demagogie beruht, vom Standpunkt der Regierungsformen oder politischen Systeme aus gesehen eine für die Tyrannei typische Aktivität.13 Denn in diesen Fällen ist die populäre Unterstützung, so aktiv sie auch sein mag, instrumentell, entfremdet. Wir haben es hier also nicht mit einer entarteten Demokratie zu tun, sondern mit einer Demokratie, die so verletzt wurde, dass sie den Aufstieg einer illegitimen herrschenden Klasse an die Macht ermöglicht hat. Was als Entartung der Demokratie für einen Teil der herrschenden Klasse dargestellt wird, ist in Wirklichkeit nur ein Wechsel von der Oligarchie zur Tyrannei.
Dies zeigt, dass die bourgeoise Politik im Allgemeinen zutiefst demagogisch ist, wenn sie sich auf die Geschichte beruft, um ihre Argumente vorzubringen. Schon der Begriff der Demokratie selbst wird demagogisch verwendet: Die gute Demokratie ist immer diejenige, die formal in Übereinstimmung mit der Klassenstruktur der Gesellschaft und ihrer Entwicklung konstituiert ist; die Demokratie, an die das „Pöbel“ glaubt, ist immer eine pervertierte Demokratie. Wenn Beispiele auftauchen, die zeigen, dass dies nicht zwangsläufig so ist, sondern dass die Masse eine revolutionäre und nicht nur eine konservative Selbstorganisationsfähigkeit besitzt, dann greift man auf die falsche Identität <populistische Regierung=Regierung des Pöbles> und den daraus folgenden Syllogismus zurück: Wenn A (die populistische Regierung ist die Regierung des Pöbels) und B (die Regierung des Pöbels ist pervers, irrational, von Unwahrheiten beherrscht etc. ), dann C (die populistische Regierung ist pervers – und ihr Ursprung liegt in der Macht des Pöbels, wie in A impliziert). Dies hat eine doppelte Funktion: einerseits als oppositionelles Argument der bourgeoisen Fraktionen gegen die populistische Regierung, aber vor allem als mystifizierendes Argument dieser Fähigkeit der Massen. Im Fall von Venezuela lässt sich dies deutlich erkennen. Die Fraktion der Bourgeoisie, die den Chavismus bekämpft, weiß genau, dass die Macht des Chavismus mehr von der Selbstaktivität der proletarischen Massen abhängt, wie begrenzt sie auch sein mag, als von den bourgeoisen Sektoren, die ihn unterstützen.
Die populistische Degeneration der proletarischen Politik
Der obige Syllogismus ist jedoch ungeheuer „populär“, und zwar genau in dem pejorativen Sinne, den die klassischen Denker dem „Vulgären“, der „Plebs“ oder dem „Pöbel“ als politischem Subjekt gaben. Die Schlussfolgerung C wird zur mehr oder weniger unbewussten Prämisse aller Arten von Gefangenen der liberal-demokratischen Mentalität, einschließlich vieler Anarchistinnen und Anarchisten, die solche Regierungen als autoritär kritisieren und nicht weiter sehen. Das wichtigste Ergebnis ist, dass populistische Regierungen in den Begriffen der bourgeoisen Politik in Frage gestellt werden, als Agenten, die der individuellen Freiheit, den legitimen Interessen usw. abträglich sind. Selbst wenn sie sozialistische Demagogie betreiben, werden sie später der Inkohärenz beschuldigt, anstatt ihren kapitalistischen Charakter von Anfang an anzuprangern.
Es ist nicht so schwer zu erkennen, dass es in Wirklichkeit um die Interessen geht, auf die populistische Politik reagiert und die in der Regel ihr ständiger Inhalt sind, trotz der Unterschiede in der konkreten Regierungspolitik. Dieser Aspekt ist für die bourgeoisen politischen Kräfte natürlich nicht von Interesse. Denn er hebt die konkreten Klasseninteressen hervor, und wenn es eine Kombination verschiedener oder sogar widersprüchlicher Klasseninteressen gibt, führt er logischerweise dazu, dass wir ihr effektives Gewicht bei der Festlegung der Regierungspolitik einschätzen.
Andererseits sind dieselben bourgeoisen Kräfte daran interessiert, die heteronome Mobilisierung der Massen mit autonomen Aktionen der Massen zu verschmelzen. Denn wenn konsequent von der „Volksmacht“ ausgegangen wird, dann wird sie nur in dem Maße verwirklicht, in dem sie die gesellschaftliche Entwicklung effektiv lenkt und die konkrete Regierungspolitik bestimmt, was nur selten der Fall ist. Die rechten Kräfte sind sehr darauf bedacht, diesen Widerspruch des Populismus gegenüber den Massen nicht so darzustellen. Das Gleiche gilt aber auch für die Linke des Kapitals, sofern sie an der Entwicklung des Populismus beteiligt ist (z. B. viele leninistische Parteien). In diesem Fall können sie die Mystifizierung der Macht der Massen nicht angreifen, ohne ihre eigenen Positionen anzugreifen, und das ist der Grund, warum jede Unterstützung des Populismus am Ende zu einer Kapitulation führt, zunächst programmatisch und dann auch theoretisch.
Der Fall des Bolschewismus ist paradigmatisch. Er veranschaulicht sehr gut, wie die populistische Logik in der Lage ist, die Opposition zu integrieren und so eine mystifizierte Geschichte der revolutionären Aktionen der Massen zu schaffen. Unter der Annahme, dass die vom Volk unterstützte Regierung mit der politischen Hegemonie des wirklichen Volkes gleichzusetzen ist, ist jede Opposition gegen diese Regierung illegitim. Unter der Annahme, dass diese Regierung den Fortschritt repräsentiert, ist jeder Widerstand gegen sie reaktionär. Andererseits sind die Aktionen der Massen, die diese Regierung unterstützen, legitim und fortschrittlich, während die Aktionen, die sich gegen sie auflehnen, das Ergebnis von Manipulation sind. So hält auch heute noch ein großer Teil der „marxistischen“ Linken an der mystifizierten Geschichte fest, die seit 90 Jahren von den Epigonen des Leninismus verteidigt wird, vor allem in ihrer „kritischen“ antistalinistischen Version. Sie erkennen weder den konterrevolutionären Charakter des Bolschewismus in Bezug auf proletarische Aktionen von seinen Ursprüngen an, noch erkennen sie die Mystifizierung der bolschewistischen Regierung als Ausdruck des Proletariats oder ihre Politik und Ideologie als Mystifizierung des marxistischen Denkens. Und wie ich bereits erwähnt habe, gehören zu dieser Mehrheit der bestehenden Linken auch diejenigen, die das Problem des Bolschewismus vom Anarchismus her auf das Problem des Autoritarismus reduziert haben – verstanden als Problem der Subjektivität, der Perversion für und durch die Macht – und die Anfänge der bolschewistischen Regierung folgerichtig als legitim verstanden haben, da sie in den ersten Jahren der Revolution von den Massen unterstützt wurden – Anfänge, die natürlich durch die Anwendung autoritärer Ideen pervertiert wurden.14
Der Antiautoritarismus als solcher basiert immer auf einem Fetischismus der formalen Organisation und hat daher mit dem Populismus eine abstrakte Betrachtung der Aktivität der Massen gemeinsam. Für beide ist eine populäre oder proletarische Aktion eine Aktion, die von der Masse des Volkes oder des Proletariats durchgeführt wird. Wenn diese Aktion also in einer Form von Despotismus endet, wird dies dem (bewussten oder getäuschten) Willen eben dieser Massen zugeschrieben. Bei einigen wird dieser Wille direkt auf die autoritäre Mentalität der Massen zurückgeführt. Für andere ist er auf den Einfluss der autoritären Mentalität ihrer Anführer zurückzuführen. Vom historisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet, ist die populäre oder proletarische Aktion hingegen diejenige, die nicht nur von dem betreffenden Subjekt ausgeführt wird, sondern auch die Art von sozialen Interessen verwirklicht, die die materielle Organisation der Gesellschaft und die gesamten historischen Bedingungen für diese Subjekte bestimmen. Mit anderen Worten: „die Aktion der Proletarier“ (Form) und „die Aktion mit proletarischem Charakter“ (Inhalt) sind nicht dasselbe, und sie implizieren sich auch nicht notwendigerweise gegenseitig.15 Auf der konkreten Ebene ist die proletarische Aktion nur insofern mit ihren sozio-historischen Bestimmungen kohärent, als sie eine Bewegung der Selbstbefreiung, der Selbstbefreiung der Entfremdung durchführt. Solange es jedoch seine Selbstentfremdung akzeptiert und nur vorgibt, sie formal zu verändern, indem es beispielsweise seinen Kampf auf Lohnerhöhungen oder Sozialpolitik beschränkt, handelt das Proletariat nur als Klasse-für-das-Kapital.
1https://de.wikipedia.org/wiki/Demos
2(in der altgriechischen Staatsphilosophie) Herrschaft durch den Pöbel (als eine entartete Form der Demokratie); Pöbelherrschaft, https://de.wikipedia.org/wiki/Ochlokratie
3Polybius selbst gibt jedoch auch einen Hinweis auf das Gegenteil: „Die Bevölkerung, empört über dieses Vorgehen, begnügte sich nicht mehr damit, heimlich zu murmeln, sondern einige hängten nachts Zettel an die öffentlichen Pfosten, andere versammelten sich tagsüber in Gruppen und äußerten öffentlich ihren Hass gegen die Anführer“ (III, Kap. XII). (Band III, Kapitel XII)
4Mariano Grondona, Historia de la democracia, Sept. 2000.
http://www.cema.edu.ar/publicaciones/download/documentos/175.pdf
5Siehe: http://www.soberania.es/
6Catalina Balmaceda, Virtus romana en el siglo I a.C., 2007. Im Folgenden werde ich die Daten zur Entwicklung des Konzepts der virtus aus dieser Arbeit übernehmen, wenn auch mit einem anderen Fokus.
7Obwohl nicht „männlich“, was das Ergebnis einer Verwechslung der Schreibweisen mit dem Begriff Baron zu sein scheint, wahrscheinlich verwandt mit dem germanischen baro (kampffähiger Mann, Krieger) und dem skandinavischen beriask (kämpfen). Er wurde im 13. Jahrhundert eingeführt, hat also nichts mit vir zu tun.
8Ich entnehme den Begriff der Selbstmacht (self-power, atma-sakti) dem philosophischen Vokabular von Aurobindo Ghose.
9Unter diesem Gesichtspunkt hat die These von Marx, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu verstehen, sondern sie zu verändern (Thesen über Feuerbach, 1845), auch eine psychologische Tragweite. Wenn wir an unseren Vorstellungen von der Welt festhalten und die Welt ein Werden ist, steht unsere intellektuelle Haltung unweigerlich im Konflikt mit dem Ziel, sie zu verändern. Die richtige Haltung ist daher die der uneigennützigen Aufmerksamkeit, um die konkrete Wirklichkeit zu erfassen, und dann die Unterordnung unserer intellektuellen Tätigkeit unter den allgemeinen praktischen Zweck – ohne dabei in eine psychische Fixierung auf bestimmte Interpretationen dieses Zwecks zu verfallen, denn auch unser Intellekt ist dem Werden unterworfen. Es geht darum, in einem Zustand des schöpferischen Flusses zu leben und nicht in dem der ideologischen Sicherheit.
10Man beachte, dass ich hier von politischen Formen spreche. Aus der Sicht der effektiven Praxis, der konkreten menschlichen Tätigkeit, ist die Entscheidungsfindung nicht instrumentell, sondern organisch mit der Tätigkeit verbunden, die eine dynamische Einheit von Sein und Bewusstsein ist. Wir sprechen hier von den formalen Richtlinien, die die institutionelle Dynamik und ihre Auswirkungen bestimmen. Im Rahmen der gesellschaftlichen Tätigkeit ist die Autonomisierung der Entscheidungsfindung von der praktischen Umsetzung nur durch die Arbeitsteilung möglich.
11„Die Existenz des Kommunismus [-in dem, was er besteht-], das, was der Kommunismus hervorbringt, ist gerade die wirksame Grundlage, um alles, was unabhängig von den Individuen existiert, unmöglich zu machen, insofern das, was existiert, doch nur ein Produkt des vorherigen Handelns der Individuen selbst ist.“ (Die deutsche Ideologie, 1846).
12A.d.Ü., aus dem Spanischen caudillo, Anführer, bzw., der Titel den sich Franco selbst gab.
13„Der Tyrann geht aus dem Volk und den Massen gegen die Notablen hervor, damit das Volk kein Unrecht von ihnen erleidet. Aus den Tatsachen geht hervor, dass die meisten Tyrannen sozusagen aus Demagogen hervorgegangen sind, die durch die Verleumdung der Anständigen Vertrauen gewonnen haben.“ (Aristoteles, Politik, V, 10, 3-5).
14Andere haben darauf bestanden, dass die bolschewistische Regierung durch einen Putsch errichtet wurde und nicht das direkte Ergebnis von Aktionen der Massen oder der Entwicklung des Sowjetsystems war. Doch damit lässt sich das Problem nicht aus der Welt schaffen, dass die bolschewistische Regierung in den ersten Jahren die breite Unterstützung des Proletariats genoss.
15Ich werde nicht auf die Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit der Kategorie „Volk“ eingehen, die selbst eines der ideologischen Bollwerke des Populismus ist.