Max Horkheimer – Autoritärer Staat

Der hier vorliegende Text von Marx Horkheimer ist eine Kritik am modernen Staat, dieser Staat, in seiner gegenwärtigen Phase, ist der kapitalistische Staat. Horkheimer, der Text ist aus dem Jahre 1940, kritisiert, wenn auch der Titel etwas irritierend sein mag, den Staat. Der Staat ist autoritär, es gibt keine Nuancierungen darin, er greift sowohl den stalinistischen Staat (UdSSR), die faschistischen Staaten (Italien und Deutschland), aber macht darin keinen Halt, sondern auch den sogenannten liberalen demokratischen Staat an („Hunger, Polizeikontrolle, Soldatsein gibt es auf liberal und autoritär.“) und appelliert an die Revolutionäre daran dass die klassenlose und staatenlose Gesellschaft dass ist wofür gekämpft werden muss. Gerade jetzt wo zwischen guten und bösen, zwischen richtigen und falschen, zwischen besseren und schlechteren Staaten gerne differenziert wird, ohne dass dabei der Staat, sowie die Nation, angegriffen wird und gerade weil dieser der Garant des reibungslosen Ablaufes des Kapitals ist.


Max Horkheimer – Autoritärer Staat

Der hier Anfang der 1940er-Jahre von Horkheimer („Frankfurter Schule“, Kritische Theorie) beschriebene autoritäre Staat unterscheidet sich vom liberalen Rechtsstaat vor allem dadurch, dass er die Wirtschaft aktiv selbst gestaltet und nicht nur ihre Rahmenbedingungen vorgibt. Staatskapitalismus ändert jedoch nichts an den Grundlagen kapitalistischer Ökonomie, selbst wenn der wirtschaftliche Wettbewerb wie in der Sowjetunion Monopolen zum Opfer fällt. Einen wesentlichen Grund für den ökonomischen Zusammenbruch der Sowjetunion nahm Horkheimer in einem einzigen Satz fast fünf Jahrzehnte früher vorweg: „Das Gesetz seines Zusammenbruchs ist ihm leicht anzusehen: es gründet in der Hemmung der Produktivität durch die Existenz der Bürokratien.“

Die historischen Voraussagen über das Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft haben sich bewährt. Im System der freien Marktwirtschaft, das die Menschen zu arbeitsparenden Erfindungen und schließlich zur mathematischen Weltformel gebracht hat, sind seine spezifischen Erzeugnisse, die Maschinen, Destruktionsmittel nicht bloß im wörtlichen Sinn geworden: sie haben anstatt der Arbeit die Arbeiter überflüssig gemacht. Die Bourgeoisie selbst ist dezimiert, die Mehrzahl der Bürger hat ihre Selbständigkeit verloren; soweit sie nicht ins Proletariat oder vielmehr in die Masse der Arbeitslosen hinabgestoßen sind, gerieten sie in Abhängigkeit von den großen Konzernen oder vom Staat. Das Dorado der bürgerlichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation, wird liquidierte Ihr Werk wird teils von den Trusts verrichtet, die ohne Hilfe der Banken sich selbst finanzieren, den Zwischenhandel ausschalten und die Generalversammlung in Zucht nehmen. Teils wird das Geschäft vom Staat besorgt. Als caput mortuum des Verwandlungsprozesses der Bourgeoisie ist die oberste industrielle und staatliche Bürokratie übrig geblieben. »So oder so, mit oder ohne Trust, muß schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen… Alle gesellschaftlichen Funktionen der Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen… Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten… Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.«1 Im Übergang; vom Monopol- zum Staatskapitalismus ist das letzte, was die bürgerliche Gesellschaft zu bieten hat, »Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen, erst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodann durch den Staat«.2 Der Staatskapitalismus ist der autoritäre Staat der Gegenwart.

Dem natürlichen Ablauf der kapitalistischen Weltordnung ist nach der Theorie ein unnatürliches Ende bestimmt: die vereinigten Proletarier vernichten die letzte Form der Ausbeutung, die staatskapitalistische Sklaverei. Die Konkurrenz der Lohnarbeiter hatte das Gedeihen der privaten Unternehmer garantiert. Das war die Freiheit der Armen. Einmal war Armut ein Stand, dann wurde sie zur Panik. Die Armen sollten rennen und sich stoßen wie die Menge im brennenden Saal. Der Ausgang war der Eingang in die Fabrik, die Arbeit für den Unternehmer. Es konnte nicht genug Arme geben, ihre Zahl war ein Segen für das Kapital. Im gleichen Maße jedoch, in dem das Kapital die Arbeiter im Großbetrieb konzentriert, gerät es in die Krise und macht ihr Dasein aussichtslos. Sie können sich nicht einmal mehr verdingen. Ihr Interesse verweist sie auf den Sozialismus. Wenn einmal die herrschende Klasse den Arbeiter »ernähren muß, anstatt von ihm ernährt zu werden«, ist die Revolution an der Zeit. Diese Theorie des Endes entspringt einem Zustand, der noch mehrdeutig war; sie ist selbst doppelsinnig: Entweder sie rechnet mit dem Zusammenbruch durch die ökonomische Krise, dann ist die Fixierung durch den autoritären Staat ausgeschlossen, den Engels doch voraussieht. Oder sie erwartet den Sieg des autoritären Staats, dann ist nicht mit dem Zusammenbruch durch die Krise zu rechnen, denn sie war stets durch die Marktwirtschaft definiert. Der Staatskapitalismus beseitigt aber den Markt und hypostasiert die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands. In seiner »ökonomischen Unabweisbarkeit« bedeutet er einen Fortschritt, ein neues Atemholen für die Herrschaft. Die Arbeitslosigkeit wird organisiert. Einzig die schon gerichteten Teile der Bourgeoisie sind am Markt noch wahrhaft interessiert. Großindustrielle schreien heute nach dem Liberalismus nur, wo die etatistische Verwaltung noch zu liberal, nicht völlig unter ihrer Kontrolle ist. Die zeitgemäße Planwirtschaft kann die Masse besser ernähren und sich besser von ihr ernähren lassen als die Reste des Marktes. Eine Periode mit eigener gesellschaftlicher Struktur hat die freie Wirtschaft abgelöst. Sie zeigt ihre besonderen Tendenzen national und international.

Daß der Kapitalismus die Marktwirtschaft überleben kann, hat sich im Schicksal der proletarischen Organisationen längst angekündigt. Die Parole der Vereinigung in Gewerkschaften und Parteien war gründlich befolgt, aber diese führten weniger die unnatürlichen Aufgaben der vereinigten Proletarier durch, nämlich den Widerstand gegen die Klassengesellschaft überhaupt, als daß sie den natürlichen Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung zur Massenorganisation gehorchten. Sie fügten sich den Wandlungen der Wirtschaft ein. Im Liberalismus hatten sie sich der Erzielung von Verbesserungen zugewandt. Der Einfluß einigermaßen gesicherter Arbeiterschichten gewann schon kraft ihrer Zahlungsfähigkeit in den Vereinen größeres Gewicht. Die Partei verwandte sich für eine soziale Gesetzgebung, der Arbeiterschaft sollte das Leben im Kapitalismus erleichtert werden. Die Gewerkschaft erkämpfte Vorteile für Berufsgruppen. Als ideologische Rechtfertigung bildeten sich die Phrasen der Betriebsdemokratie und des Hineinwachsens in den Sozialismus aus. Die Arbeit als Beruf: als die Plackerei, wie die Vergangenheit sie einzig kennt, wurde kaum mehr in Frage gestellt. Sie wurde aus des Bürgers Zierde zur Sehnsucht der Erwerbslosen. Die großen Organisationen förderten eine Idee der Vergesellschaftung, die von der Verstaatlichung, Nationalisierung, Sozialisierung im Staatskapitalismus kaum verschieden war. Das revolutionäre Bild der Entfesselung lebte (nur noch in den Verleumdungen der Konterrevolutionäre) fort. Wenn überhaupt die Phantasie sich vom Boden der Tatsachen entfernte, setzte sie an Stelle der vorhandenen staatlichen Apparatur die Bürokratien von Partei und Gewerkschaft, an Stelle des Profitprinzips die Jahrespläne der Funktionäre. Noch die Utopie war von Maßregeln ausgefüllt. Die Menschen wurden als Objekte vorgestellt, gegebenenfalls als ihre eigenen. Je größer die Vereine wurden, desto mehr verdankte ihre Führung einer Auslese der Tüchtigsten ihren Platz. Robuste Gesundheit, das Glück, dem durchschnittlichen Mitglied erträglich und den herrschenden Gewalten nicht unerträglich zu sein, der zuverlässige Instinkt gegen das Abenteuer, die Gabe, mit der Opposition umzuspringen, die Bereitschaft, das Verstümmelte an der Menge und an ihnen selbst als Tugend auszuschreien, Nihilismus und Selbstverachtung sind notwendige Eigenschaften.

Diese leitenden Männer zu kontrollieren und zu ersetzen wird mit der Vergrößerung des Apparats aus technischen Gründen immer schwieriger. Zwischen der sachlichen Zweckmäßigkeit ihres Verbleibens und ihrer persönlichen Entschlossenheit, nicht abzutreten, herrscht prästabilierte Harmonie. Der führende Mann und seine Clique wird in der Arbeiterorganisation so unabhängig wie in dem anderen, dem Industriemonopol, das Direktoriat von der Generalversammlung. Die Machtmittel, hier die Reserven des Betriebs, dort die Kasse der Partei oder Gewerkschaft, stehen der Leitung im Kampf gegen Störenfriede zur Verfügung. Die Unzufriedenen sind zersplittert und auf die eigene Tasche angewiesen. Im äußersten Fall wird die Fronde geköpft, die der Generalversammlung durch Bestechung, die des Parteitags durch Ausschluß. Was unter der Herrschaft gedeihen will, steht in Gefahr, die Herrschaft zu reproduzieren. Soweit die proletarische Opposition in der Weimarer Republik nicht als Sekte zugrunde ging, verfiel auch sie dem Geist der Administration. Die Institutionalisierung der Spitzen von Kapital und Arbeit hat denselben Grund: die Veränderung der Produktionsweise. Die monopolisierte Industrie, welche die Masse der Aktionäre zu Opfern und Parasiten macht, verweist die Masse der Arbeiter auf Warten und Unterstützung. Sie haben nicht so viel von ihrer Arbeit wie von der Protektion und Hilfeleistung der Vereine zu erwarten. In den restlichen Demokratien befinden sich die Leiter der großen Arbeiterorganisationen heute schon in einem ähnlichen Verhältnis zu ihren Mitgliedern wie im integralen Etatismus die Exekutive zur Gesamtgesellschaft: sie halten die Masse, die sie versorgen, in strenger Zucht, schließen sie gegen unkontrollierten Zuzug hermetisch ab, dulden Spontaneität bloß als Ergebnis ihrer eigenen Mache. Weit mehr noch als die vorfaschistischen Staatsmänner, die zwischen den Monopolisten der Arbeit und der Industrie vermitteln und von der Utopie einer humanitären Version des autoritären Staats nicht lassen können, streben sie nach ihrer Art Volksgemeinschaft.

An Rebellionen gegen diese Entwicklung der Arbeitervereine hat es nicht gefehlt. Die Proteste der sich absplitternden Gruppen glichen einander wie ihr Schicksal. Sie richten sich gegen die konformistische Politik der Leitung, gegen das Avancement zur Massenpartei, gegen die unentwegte Disziplin. Sie entdecken früh, daß das ursprüngliche Ziel, die Abschaffung der Beherrschung und Ausbeutung in jeder Form, im Mund der Funktionäre nur noch eine Propagandaphrase ist. Sie kritisieren in den Gewerkschaften den Tarifvertrag, weil er den Streik einschränkt, in der Partei die Mitarbeit an der kapitalistischen Gesetzgebung, weil sie korrumpiert, in beiden die Realpolitik. Sie erkennen, daß der Gedanke an die soziale Umwälzung bei den Instanzen um so stärker kompromittiert wird, je mehr Anhänger sie für ihn werben. Aber die Bürokraten an der Spitze sind kraft des Amtes auch die besseren Organisatoren, und wenn die Partei bestehen soll, geht es ohne eingespielte Fachleute nicht ab. Überall sind die oppositionellen Versuche gescheitert, die Verbände mitzureißen oder neue Formen der Resistenz auszubilden. Wo die oppositionellen Gruppen nach der Sezession größere Bedeutung erlangten, wandelten sie sich selbst in bürokratische Einrichtungen um. Anpassung ist der Preis, den Individuen und Vereine zahlen müssen, um im Kapitalismus aufzublühen. Selbst jene Gewerkschaften, deren Programm im Gegensatz zu allem Parlamentariern stand, sind mit der Zunahme ihrer Mitgliedschaft von den Extravaganzen des Generalstreiks und der direkten Aktion weit abgekommen. Durch Übernahme eines Munitionsministeriums haben sie schon im Ersten Weltkrieg ihre Bereitschaft zu friedlicher Kooperation dokumentiert. Sogar die Maximalisten blieben nach der Revolution nicht davor bewahrt, daß die schmähliche Soziologie des Parteiwesens am Ende noch recht behielt. Ob Revolutionäre die Macht wie den Raub oder den Räuber ergreifen, zeigt sich erst im Verlauf. Anstatt am Ende in der Demokratie der Räte aufzugehen, kann die Gruppe sich als Obrigkeit festsetzen. Arbeit, Disziplin und Ordnung können die Republik retten und mit der Revolution aufräumen. Wenngleich die Abschaffung der Staaten auf ihrem Banner stand, hat jene Partei ihr industriell zurückgebliebenes Vaterland ins geheime Vorbild jener Industriemächte umgewandelt, die an ihrem Parlamentarismus kränkelten und ohne den Faschismus nicht mehr leben konnten. Die revolutionäre Bewegung spiegelt den Zustand den sie angreift, negativ wider. In der monopolistischen Periode durchdringen sich private und staatliche Verfügung über fremde Arbeit; auf das private Moment zielt der sozialistische Kampf gegen die Anarchie der Marktwirtschaft, auf das private und staatliche zugleich der Widerstand gegen die letzte Form der Ausbeutung. Der historische Widerspruch, vernünftige Planung und Freiheit, Entfesselung und Regulierung zugleich zu fordern, kann überwunden werden; bei den Maximalisten jedoch hat schließlich die Autorität gesiegt und Wunder verrichtet.

Opposition als politische Massenpartei konnte eigentlich nur in der Marktwirtschaft existieren. Der Staat, der infolge der Zersplitterung des Bürgertums einige Selbständigkeit besaß, wurde mittels seiner Parteien bestimmt. Sie verfolgten teils das allgemeine bürgerliche Ziel, die alten Feudalmächte abzuwehren, teils vertraten sie besondere Gruppen. Von der Vermittlung der Herrschaft durch Parteien hat auch die proletarische Opposition profitiert. Die Zersplitterung der herrschenden Klasse, welche die Trennung der Gewalten und die verfassungsmäßigen Rechte der Individuen bedingte, war die Voraussetzung der Arbeitervereine. Die Freiheit der Versammlung gehörte in Europa zu den notwendigen Konzessionen der Klasse ans Individuum, solange die Individuen, aus denen sie bestand, noch nicht unmittelbar mit dem Staat koinzidierten und daher staatliche Übergriffe befürchten mußten. Auch im Anfang wurden bekanntlich die Achtung vor der Person, die Heiligkeit des Hausfriedens, die Unverletzlichkeit des Arrestanten und ähnliche Grundsätze mit Füßen getreten, sobald die Rücksicht auf die eigene Klasse wegfiel. Die Chronik der Zuchthausrevolten wie politischer Insurrektionen und besonders die Kolonialgeschichte sind Kommentare zur bürgerlichen Humanität. Soweit die Koalitionsfreiheit die Proletarier betraf, war sie von Anfang an ein Stiefkind unter den Menschenrechten. »Gewiß soll allen Bürgern erlaubt sein, sich zu versammeln«, sagte der Referent für Arbeitsfragen in der Konstituierenden Versammlung 1791, »aber es soll nicht erlaubt sein, daß sich Bürger bestimmter Berufe zwecks ihrer angeblichen, gemeinsamen Interessen versammeln.«3 Im Namen der Abschaffung von Zünften und Korporationen haben die Liberalen den Zusammenschluß der Arbeiter erschwert, aber schließlich nicht verhindern können. Außer den Aufgaben bürgerlicher Parteien enthielt das Programm der sozialistischen Vereine noch die Revolution. Sie erschien als das abgekürzte Verfahren dazu, das ideologische Ziel des Bürgertums, den allgemeinen Wohlstand zu verwirklichen. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Überwindung der Kraft- und Materialvergeudung des Marktsystems durch Planwirtschaft, die Abschaffung des Erbrechts und so fort waren rationale Forderungen im Zug der Zeit. Die Sozialisten vertraten gegen das Bürgertum seine eigene fortgeschrittenere Phase und strebten schließlich eine bessere Regierung an. Die Einrichtung der Freiheit galt dann als mechanische, selbstverständliche Folge der Eroberung der Macht oder gar als Utopie.

Die Richtung auf den autoritären Staat war den radikalen Parteien in der bürgerlichen Ära seit jeher vorgezeichnet. In der französischen Revolution erscheint die spätere Geschichte zusammengedrängt. Robespierre hatte die Autorität im Wohlfahrtsausschuß zentralisiert, das Parlament zur Registrierkammer von Gesetzen herabgedrückt. Er hatte die Funktionen der Verwaltung und Beherrschung in der jakobinischen Parteileitung vereinigt. Der Staat regulierte die Wirtschaft. Die Volksgemeinschaft durchsetzte alle Lebensformen mit Brüderlichkeit und Denunziation. Der Reichtum war fast in die Illegalität gedrängt. Auch Robespierre und die Seinen planten, den inneren Feind zu enteignen, der wohl dirigierte Volkszorn gehörte zur politischen Maschinerie. Die französische Revolution war der Tendenz nach totalitär. Ihr Kampf gegen die Kirche entsprang nicht der Antipathie gegen die Religion, sondern der Forderung, daß auch sie der patriotischen Ordnung sich einzugliedern und zu dienen habe. Die Kulte der Vernunft und des höchsten Wesens sind wegen der Renitenz des Klerus verbreitet worden. Der »Sansculotte Jesus« kündet den nordischen Christus an. Unter den Jakobinern kam der Staatskapitalismus über die blutigen Anfänge nicht hinaus.4 Aber der Thermidor hat nicht seine Notwendigkeit beseitigt. Sie meldet sich in den Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts stets wieder an. In Frankreich haben die konsequent liberalen Regierungen immer nur ein kurzes Leben geführt. Um der etatistischen Tendenzen von unten Herr zu werden, müßte die Bourgeoisie rasch den Bonapartismus von oben rufen. Der Regierung Louis Blancs ist es nicht besser ergangen als dem Directoire. Und seitdem in der Junischlacht einmal die Nationalwerkstätten und das Recht auf Arbeit nur durch die Entfesselung der Generäle zu unterdrücken waren, hat sich die Marktwirtschaft als immer reaktionärer erwiesen. Setzte Rousseaus Einsicht, daß die großen Unterschiede des Eigentums dem Prinzip der Nation zuwiderliefen, schon seinen Schüler Robespierre in Gegensatz zum Liberalismus, so ließ sich das spätere Wachstum der kapitalistischen Vermögen mit dem allgemeinen Interesse nur noch im nationalökonomischen Kolleg zusammenbringen. Unter den Bedingungen der großen Industrie ging dann der Kampf darum, wer das Erbe der Konkurrenzgesellschaft antritt. Die hellsichtigen Lenker des Staates erfuhren nicht weniger als die Massen hinter den extremen Parteien, Arbeiter und ruinierte Kleinbürger, daß sie erledigt war. Die dunkle Beziehung von Lassalle, dem Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei, und Bismarck, dem Vater des deutschen Staatskapitalismus war symbolisch. Beide steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß auf irgend eine Form des autoritären Staats verwiesen. Für die Individuen freilich ist es entscheidend, welche Gestalt er schließlich annimmt. Arbeitslose, Rentner, Geschäftsleute, Intellektuelle erwarten Leben oder Tod, je nachdem ob Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus siegt.

Die konsequenteste Art des autoritären Staats, die aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital sich befreit hat, ist der integrale Etatismus oder Staatssozialismus. Er steigert die Produktion wie nur der Übergang von der merkantilistischen Periode in die liberalistische. Die faschistischen Länder bilden eine Mischform. Auch hier wird der Mehrwert zwar unter staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt, er fließt jedoch unter dem alten Titel des Profits in großen Mengen weiter an die Industriemagnaten und Grundbesitzer. Durch ihren Einfluß wird die Organisation gestört und abgelenkt. Im integralen Etatismus ist die Vergesellschaftung dekretiert. Die privaten Kapitalisten sind abgeschafft. Coupons werden einzig noch von Staatspapieren abgeschnitten. Infolge der revolutionären Vergangenheit des Regimes ist der Kleinkrieg der Instanzen und Ressorts nicht wie im Faschismus durch Verschiedenheiten der sozialen Herkunft und Bindung innerhalb der bürokratischen Stäbe kompliziert, die dort so viel Reibungen erzeugt. Der integrale Etatismus bedeutet keinen Rückfall, sondern Steigerung der Kräfte, er kann leben ohne Rassenhaß. Aber die Produzenten, denen juristisch das Kapital gehört, »bleiben Lohnarbeiter, Proletarier«, mag noch so viel für sie getan werden. Das Betriebsreglement hat sich über die ganze Gesellschaft ausgebreitet. Spielte nicht die Armut an technischen Hilfsmitteln und die kriegerische Umwelt der Bürokratie in die Hände, so hätte der Etatismus sich schon überlebt. Im integralen Etatismus steht, wenn man von den kriegerischen Verwicklungen absieht, der Absolutismus der Ressorts, für deren Kompetenzen die Polizei das Leben bis in die letzten Zellen durchdringt, der freien Einrichtung der Gesellschaft entgegen. Zur Demokratisierung der Verwaltung bedarf es keiner ökonomischen oder juristischen Maßnahmen mehr, sondern des Willens der Regierten. Der circulus vitiosus von Armut, Herrschaft, Krieg und Armut umfängt sie solange, bis sie ihn selbst durchbrechen werden. Wo auch sonst in Europa Tendenzen im Sinn des integralen Etatismus sich regen, eröffnet sich die Aussicht, daß sie diesmal nicht wieder in bürokratischer Herrschaft sich verfangen werden. Wann es gelingt, ist nicht vorher zu entscheiden und auch nachher durch die Praxis nicht ein für allemal ausgemacht. Unwiderruflich ist in der Geschichte nur das Schlechte: die ungewordenen Möglichkeiten, das versäumte Glück, die Morde mit und ohne juristische Prozedur, das, was die Herrschaft den Menschen antut. Das andere steht immer in Gefahr.

In allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv. Die maßlose Vergeudung wird nicht mehr durch ökonomische Mechanismen im klassischen Sinn bewirkt; sie entsteht jedoch aus den unverschämten Bedürfnissen des Machtapparats und aus der Vernichtung jeglicher Initiative der Beherrschten: Gehorsam ist nicht so produktiv. Trotz der sogenannten Krisenlosigkeit gibt es keine Harmonie. Auch sofern der Mehrwert nicht länger als Profit eingestrichen wird, geht es um ihn. Die Zirkulation wird abgeschafft, die Ausbeutung modifiziert. Der auf die Marktwirtschaft gemünzte Satz, daß der Anarchie in der Gesellschaft die straffe Ordnung in der Fabrik entspricht, bedeutet heute, daß der internationale Naturstand, der Kampf um den Weltmarkt, und die faschistische Disziplin der Völker wechselseitig sich bedingen. Auch wenn Eliten heute gemeinsam gegen ihre Völker verschworen sind, bleiben sie immer auf dem Sprung, sich von den Jagdgebieten etwas abzujagen. Wirtschafts- und Abrüstungskonferenzen schieben die Händel immer nur für eine Weile auf, das Prinzip der Herrschaft erweist sich im Äußeren als das der permanenten Mobilisation. Der Zustand bleibt weiterhin absurd. Freilich wird die Fesselung der Produktivkräfte von nun an als Bedingung der Herrschaft verstanden und mit Bewußtsein ausgeübt. Daß zwischen den Schichten der Beherrschten, sei es zwischen Gemeinen und Facharbeitern oder den Geschlechtern oder den Rassen, ökonomisch differenziert, daß die Isolierung der Individuen voneinander mit allen Verkehrsmitteln, mit Zeitung, Kino, Radio, systematisch betrieben werden muß, gehört zum Katechismus der autoritären Regierungskunst. Sie sollen allen zuhören, vom Führer bis zum Blockwart, nur nicht einander, sie sollen über alles orientiert sein, von der nationalen Friedenspolitik bis zur Verdunkelungslampe, nur nicht sich orientieren, sie sollen überall Hand anlegen, nur nicht an die Herrschaft. Die Menschheit wird allseitig ausgebildet und verstümmelt. Mag das Land, zum Beispiel die Vereinigten Staaten Europas, noch so groß und mächtig sein, die Unterdrückungsmaschinerie gegen den inneren Feind muß einen Vorwand in der Drohung mit dem äußeren finden. Wenn Hunger und Kriegsgefahr notwendige, unkontrollierte, wider Willen produzierte Folgen der freien Wirtschaft waren, werden sie vom autoritären Staat der Tendenz nach konstruktiv angewandt.

So unerwartet nach Ort und Zeit das Ende der letzten Phase kommen mag, es wird kaum durch eine wieder auferstandene Massenpartei herbeigeführt; sie würde die herrschende bloß ablösen. Die Aktivität politischer Gruppen und Vereinzelter mag zur Vorbereitung der Freiheit entscheidend beitragen; gegnerische Massenparteien hat der autoritäre Staat nur als konkurrierende zu fürchten. Sie rühren nicht ans Prinzip. In Wahrheit ist der innere Feind überall und nirgends. Nur im Anfang kommen die meisten Opfer des Polizeiapparates aus der unterlegenen Massenpartei. Später strömt das vergossene Blut aus dem geeinten Volk zusammen. Die Auslese, die man in den Lagern konzentriert, wird immer zufälliger. Ob die Menge der Insassen jeweils wächst oder abnimmt, ja ob man es sich zeitweise leisten kann, die leeren Plätze der Ermordeten gar nicht wieder zu belegen, eigentlich könnte jeder im Lager sein. Die Tat, die hineinführt, begeht jeder in Gedanken jeden Tag. Im Faschismus träumen alle den Führermord und marschieren in Reih und Glied. Sie folgen aus nüchterner Berechnung: nach dem Führer käme doch nur der Stellvertreter. Wenn die Menschen einmal nicht mehr marschieren, dann werden sie auch ihre Träume verwirklichen. Die vielberufene politische Müdigkeit der Massen, hinter der sich die Parteibonzen nicht selten verstecken, ist eigentlich nur die Skepsis gegen die Leitung. Die Arbeiter haben gelernt, daß von denen, die sie jeweils riefen und wieder nach Hause schickten, auch nach dem Sieg stets nur das gleiche zu gewärtigen war. In der französischen Revolution brauchten die Massen fünf Jahre, bis ihnen einerlei war, ob Barras oder Robespierre. Aus der gewitzigten Apathie, die den Widerwillen gegen die ganze politische Fassade enthält, ist kein Schluß für die Zukunft zu ziehen. Mit der Erfahrung, daß ihr politischer Wille durch die Veränderung der Gesellschaft wirklich ihr eigenes Dasein verändert, wird die Apathie der Massen verschwunden sein. Sie gehört dem Kapitalismus an, freilich allen seinen Phasen. Die generalisierende Soziologie hat daran gekrankt, daß sie zumeist von feineren Leuten betrieben worden ist. Diese differenzieren zu gewissenhaft. Die Millionen unten erfahren von Kindheit an, daß die Phasen des Kapitalismus zu demselben System gehören. Hunger, Polizeikontrolle, Soldatsein gibt es auf liberal und autoritär. Beim Faschismus sind die Massen vornehmlich daran interessiert, daß es nicht der Fremde schafft, denn die abhängige Nation hat die verstärkte Ausbeutung zu dulden. Hoffnung bietet ihnen gerade noch der integrale Etatismus, weil er an der Grenze des Besseren steht, und Hoffnung widerspricht der Apathie. Im Begriff der revolutionären Diktatur als Übergang war keineswegs beschlossen, daß irgendeine Elite aufs neue die Produktionsmittel monopolisiert. Solcher Gefahr kann die Energie und Wachsamkeit der Menschen selbst begegnen. Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten. Jede Resignation ist schon der Rückfall in die Vorgeschichte. Nach der Auflösung der alten Machtpositionen wird die Gesellschaft entweder ihre Angelegenheiten auf Grund freier Übereinkunft verwalten, oder die Ausbeutung geht weiter. Daß sich Reaktionen ereignen, daß der Ansatz zur Freiheit immer wieder vernichtet wird, ist theoretisch nicht auszuschließen, gewiß nicht so lang es eine feindliche Umwelt gibt. Es lassen sich keine patenten Systeme ausdenken, die selbsttätig Rückfälle verhindern. Die Modalitäten der neuen Gesellschaft finden sich erst im Lauf der Veränderung. Die theoretische Konzeption, die nach ihren Vorkämpfern der neuen Gesellschaft den Weg weisen soll, das Rätesystem, stammt aus der Praxis. Es geht auf 1871, 1905 und andere Ereignisse zurück. Die Umwälzung hat eine Tradition, auf deren Fortsetzung die Theorie verwiesen ist.

Nicht weil das künftige Zusammenleben auf einer raffinierteren Verfassung beruhte, hat es Aussicht auf Dauer, sondern weil die Herrschaft sich im Staatskapitalismus abnutzt. Dank seiner Praxis bereiten die zweckmäßige Leitung des Produktionsapparates, der Austausch von Stadt und Land, die Versorgung der großen Städte keine Schwierigkeiten mehr. Die Steuerung der Wirtschaft, die früher aus der trügerischen Initiative privater Unternehmer resultierte, wird schließlich in einfache Verrichtungen aufgelöst, die erlernbar sind wie Bau und Bedienung von Maschinen. Der Auflösung des Unternehmergenies folgt die der Führerweisheit. Ihre Funktionen können durchschnittlich geschulte Kräfte bewältigen. Ökonomische Fragen werden mehr und mehr zu technischen. Die Vorzugsstellung von Beamten der Verwaltung, technischen und planwirtschaftlichen Ingenieuren, verliert in der Zukunft ihre vernünftige Basis, die nackte Macht wird ihr einziges Argument. Daß die Rationalität der Herrschaft schon im Schwinden begriffen ist, wenn der autoritäre Staat die Gesellschaft übernimmt, ist der wahre Grund seiner Identität mit dem Terrorismus und zugleich der Engelsschen Theorie, daß die Vorgeschichte mit ihm zu Ende geht. Die Verfassung war, bevor sie in den faschistischen Ländern abstarb, ein Instrument der Herrschaft. Durch sie hatte seit der englischen und französischen Revolution das europäische Bürgertum die Regierung begrenzt und sein Eigentum gesichert. Daß die Rechte des Individuums nicht einer Gruppe vorbehalten bleiben konnten, sondern formelle Universalität gefordert war, macht sie heute zur Sehnsucht der Minoritäten. In einer neuen Gesellschaft wird sie nicht mehr Gewicht beanspruchen als Fahrpläne und Verkehrsregeln in der bestehenden. »Wie oft schon tat man«, klagt Dante über die Unbeständigkeit der Verfassung in Florenz, »Gesetze, Münzen, Ämter, Brauch in Bann, und deine Bürgerschaft sah neue Glieder.«5 Was der zerfallenden Patrizierherrschaft gefährlich gewesen ist, wäre der klassenlosen Gesellschaft eigentümlich. Die Formen der freien Assoziation schließen sich nicht zum System zusammen.

So wenig das Denken aus sich heraus die Zukunft zu entwerfen vermag, so wenig bestimmt es den Zeitpunkt. Die Etappen des Weltgeistes folgen nach Hegel einander mit logischer Notwendigkeit, keine kann übersprungen werden. Marx ist ihm darin treu geblieben. Die Geschichte wird als unverbrüchliche Entwicklung vorgestellt. Das Neue kann nicht beginnen, ehe seine Zeit gekommen ist. Aber der Fatalismus beider Denker bezieht sich, merkwürdig genug, bloß auf die Vergangenheit. Ihr metaphysischer Irrtum, daß die Geschichte einem festen Gesetz gehorche, wird durch den historischen Irrtum aufgehoben, daß es zu ihrer Zeit erfüllt sei. Die Gegenwart und das Spätere steht nicht wieder unter dem Gesetz. Es hebt auch keine neue gesellschaftliche Periode an. Fortschritt gibt es in der Vorgeschichte. Er beherrscht die Etappen bis zur Gegenwart. Von geschichtlichen Unternehmungen, die vergangen sind, mag sich sagen lassen, daß die Zeit nicht reif für sie gewesen sei. In der Gegenwart verklärt die Rede von der mangelnden Reife das Einverständnis mit dem Schlechten. Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen. Was im Rückblick als Vorstufe, als unreife Verhältnisse erscheint, galt ihm einmal als letzte Chance der Veränderung. Er ist mit den Verzweifelten, die ein Urteil zum Richtplatz schickt, nicht mit denen, die Zeit haben. Die Berufung auf ein Schema von gesellschaftlichen Stufen, das die Ohnmacht einer vergangenen Epoche post festum demonstriert, war im betroffenen Augenblick verkehrt in der Theorie und niederträchtig in der Politik. Die Zeit, zu der sie gedacht wird, gehört zum Sinn der Theorie. Die Lehre vom Wachsen der Produktivkräfte, von der Abfolge der Produktionsweisen, von der Aufgabe des Proletariats ist weder ein historisches Gemälde zum Anschauen noch eine naturwissenschaftliche Formel zur Vorausberechnung künftiger Tatsachen. Sie formuliert das richtige Bewußtsein in einer bestimmten Phase des Kampfs und ist als solches auch in späteren Konflikten wieder zu erkennen. Die als Eigentum erfahrene Wahrheit schlägt in ihr Gegenteil um, auf sie trifft der Relativismus zu, dessen kritischer Zug von demselben Sekuritätsideal herrührt wie die absolute Philosophie. Die kritische Theorie ist von anderem Schlag. Sie kehrt sich gegen das Wissen, auf das man pochen kann. Sie konfrontiert Geschichte mit der Möglichkeit, die stets konkret in ihr sichtbar wird. Die Reife ist das Thema probandum und probatum. Obgleich der spätere historische Verlauf die Girondisten gegen die Montagnards, Luther gegen Münzer bestätigt hat, wurde die Menschheit nicht durch die unzeitgemäßen Unternehmungen der Umstürzler, sondern durch die zeitgemäße Weisheit der Realisten verraten. Die Verbesserung der Produktionsmethoden mag wirklich nicht bloß die Chancen der Unterdrückung, sondern auch die ihrer Abschaffung verbessert haben. Aber die Konsequenz, die heute aus dem historischen Materialismus und damals aus Rousseau oder der Bibel folgte, nämlich die Einsicht, daß »Jetzt oder erst in hundert Jahren« das Grauen ein Ende findet, war in jedem Augenblick an der Zeit.

Die bürgerlichen Erhebungen hingen in der Tat von der Reife ab. Ihr Erfolg, von den Reformatoren bis zur legalen Revolution des Faschismus, war an die technischen und ökonomischen Errungenschaften gebunden, die den Fortschritt des Kapitalismus bezeichnen. Sie kürzen die vorbestimmte Entwicklung ab. Die Idee der Geburtshilfe entspricht genau der Geschichte des Bürgertums. Seine materiellen Existenzformen waren ausgebildet, ehe die politische Macht erobert war. Die Theorie der Abkürzung beherrscht die »politique scientifique« seit der französischen Revolution. Mit dem Imprimatur Saint-Simons hat Comte als politischen Leitsatz den Gedanken formuliert: »Es ist ein großer Unterschied, ob man dem Gang der Geschichte einfach folgt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, oder mit Einsicht in die ursächlichen Verhältnisse. Die geschichtlichen Veränderungen greifen im ersten wie im zweiten Fall Platz, aber sie lassen länger auf sich warten, und sie geschehen vor allem nur, nachdem sie, je nach ihrer Art und Bedeutung, die Gesellschaft erst entsprechend verhängnisvoll erschüttert haben.«6 Die Kenntnis der historischen Gesetze, die den Ablauf der Gesellschaftsformen regeln, soll nach den Saint-Simonisten die Revolution mildem, nach den Marxisten verstärken. Beide schreiben ihnen die Funktion zu, einen Prozeß abzukürzen, der sich selbsttätig, gleichsam natürlich, vollzieht. »Die revolutionäre Umgestaltung«, sagt Bebel, »die alle Lebensbeziehungen der Menschen von Grund aus ändert und insbesondere auch die Stellung der Frau verändert, vollzieht sich also bereits vor unseren Augen. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß die Gesellschaft diese Umgestaltung in größtem Maßstab in die Hand nimmt, und den Umwandlungsprozeß beschleunigt und verallgemeinert und damit alle ohne Ausnahme an seinen zahllosen vielgestaltigen Vorteilen teilnehmen läßt.«7 So reduzierte sich die Revolution auf den intensiveren Übergang zum Staatskapitalismus, der damals schon sich anmeldete. Trotz des Bekenntnisses zur Hegelschen Logik von Sprung und Umschlag erschien die Veränderung wesentlich als Vergrößerung von Ausmaßen: die Ansätze zur Planung sollten verstärkt, die Distribution vernünftiger gestaltet werden. Die Lehre vom Geburtshelfertum bringt die Revolution auf bloßen Fortschritt herunter.

Dialektik ist nicht identisch mit Entwicklung. Zwei entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die Befreiung von ihr, sind im Begriff der sozialen Umwälzung in eins gefaßt. Sie bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute Anstrengung der Freiheit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung. Solches Ende ist keine Beschleunigung des Fortschritts mehr, sondern der Sprung aus dem Fortschritt heraus. Das Rationale ist nie vollständig deduzierbar. Es ist in der geschichtlichen Dialektik überall angelegt als der Bruch mit der Klassengesellschaft. Die theoretischen Argumente dafür, daß der Staatskapitalismus ihre letzte Etappe sei, beziehen sich darauf, daß die gegenwärtigen materiellen Verhältnisse den Sprung ermöglichen und fordern. Die Theorie, der sie entstammen. weist dem bewußten Willen die objektiven Möglichkeiten. Wenn sie die Phasen der bürgerlichen Wirtschaft, Blüte und Verfall dartut wie ein immanentes Entwicklungsgesetz, so reißt mit dem Übergang zur Freiheit die Selbstbewegung ab. Man kann heute bestimmen, was die Führer der Massen ihnen noch antun werden, wenn man beide nicht abschafft. Das gehört zum immanenten Entwicklungsgesetz. Man kann nicht bestimmen, was eine freie Gesellschaft tun oder lassen wird. Die Selbstbewegung des Begriffs der Ware führt zum Begriff des Staatskapitalismus wie bei Hegel die sinnliche Gewißheit zum absoluten Wissen. Wenn aber bei Hegel die Stufen des Begriffs ohne weitere Umstände der physikalischen und gesellschaftlichen Natur entsprechen müssen, weil Begriff und Wirklichkeit wie am Ende so schon im Grund nicht bloß unterschieden, sondern auch dasselbe sind, so darf das materialistische Denken sich dieser Identität nicht für versichert halten. Der Eintritt von Verhältnissen, die aus dem Begriff abzulesen sind, legt dem Idealisten das Gefühl der Befriedigung, dem historischen Materialisten eher das der Empörung nah. Daß die menschliche Gesellschaft wirklich alle Phasen durchläuft, die als Umschlag des freien und gerechten Tauschs in Unfreiheit und Ungerechtigkeit aus seinem eigenen Begriff zu entfalten sind, enttäuscht ihn, wenn es wirklich so kommt. Die idealistische Dialektik konserviert das Erhabene, Gute, Ewige; jeder historische Zustand enthalte das Ideal, nur nicht explizit. Die Identität von Ideal und Wirklichkeit gilt als Voraussetzung und Ziel der Geschichte. Die materialistische Dialektik trifft das Gemeine, Schlechte, Zeitgemäße; jeder historische Zustand enthält das Ideal, nur nicht explizit. Die Identität von Ideal und Wirklichkeit ist die universale Ausbeutung. Deshalb besteht die Marxsche Wissenschaft in der Kritik der bürgerlichen Ökonomie und nicht im Entwurf der sozialistischen: den hat Marx Bebel überlassen. Er selbst erklärt die Wirklichkeit an ihrer Ideologie: durch die Entfaltung der offiziellen Ökonomik entdeckt er das Geheimnis der Ökonomie. Verhandelt wird über Smith und Ricardo, angeklagt ist die Gesellschaft.

Die Deduktion der kapitalistischen Phasen von der einfachen Warenproduktion bis zu Monopol und Staatskapitalismus ist freilich kein Gedankenexperiment. Das Tauschprinzip ist nicht bloß ersonnen, es hat die Wirklichkeit beherrscht. Die Widersprüche, welche die Kritik in ihm entdeckt, haben sich in der Geschichte drastisch bemerkbar gemacht. Im Tausch der Ware Arbeitskraft wird der Arbeiter entschädigt und betrogen zugleich. Die Egalität der Warenbesitzer ist ein ideologischer Schein, der im Industriesystem zergeht und im autoritären Staat der offenen Beherrschung weicht. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist in ihrer Produktionsweise beschlossen, die durch jenes ökonomische Prinzip bezeichnet war. Trotz seiner realen Gültigkeit jedoch ist es zwischen seiner kritischen Darstellung und dem historischen Verlauf nie zu einer Deckung gekommen, die nicht hätte durchbrochen werden können. Die Differenz von Begriff und Realität begründet die Möglichkeit der umwälzenden Praxis, nicht der bloße Begriff. Zwischen den Veränderungen in der Produktionsweise und dem Gang der Ideologie besteht in der Klassengesellschaft ein notwendiger Zusammenhang, den man begrifflich deduzieren kann. Aber die Zwangsläufigkeit der Vergangenheit legt so wenig den Willen zur Freiheit fest, der in ihr selbst sich meldet, wie den der Zukunft. Für jede Folgerung aus dem Glauben, daß die Geschichte einer aufsteigenden Linie folgen wird, gleichgültig, ob man sie nun als Gerade, Zickzack oder Spirale vorstellt, gibt es ein Gegenargument, das um nichts weniger gültig ist. Theorie erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses. Bei aller Konsequenz in der Entwicklung, welche sie zu erfassen vermag, bei aller Logik in der Abfolge der einzelnen gesellschaftlichen Epochen, bei aller Steigerung der materiellen Produktivkräfte, der Methoden und Geschicklichkeiten, sind in der Tat die kapitalistischen Antagonismen angewachsen. Durch sie werden schließlich die Menschen selbst definiert. Diese sind heute nicht nur fähiger zur Freiheit sondern auch unfähiger. Nicht bloß die Freiheit, auch künftige Formen der Unterdrückung sind möglich. Sie lassen theoretisch sich berechnen als Rückfall oder als neue ingeniöse Apparatur. Mit dem Staatskapitalismus kann die Macht neu sich befestigen. Auch er ist eine antagonistische, vergängliche Form. Das Gesetz seines Zusammenbruchs ist ihm leicht anzusehen: es gründet in der Hemmung der Produktivität durch die Existenz der Bürokratien. Aber die Ausbreitung der autoritären Formen hat noch viel vor sich, und es wäre nicht zum ersten Mal, daß auf eine Periode größerer Selbständigkeit der Abhängigen eine lange Periode verstärkter Unterdrückung folgt. Athenische Industrie und römischer Grundbesitz haben die Sklaverei großen Maßstabs eingerührt, als die freien Arbeiter zu anspruchsvoll und teuer wurden. Im ausgehenden Mittelalter wurde den Bauern die Freiheit, die sie wegen ihres numerischen Rückgangs bis zum vierzehnten Jahrhundert errungen hatten, wieder abgenommen. Die Empörung beim Gedanken, daß auch die beschränkte Freiheit des neunzehnten Jahrhunderts auf lange Dauer durch den Staatskapitalismus, durch die »Sozialisierung der Armut« abgelöst werden, geht auf die Erkenntnis zurück, daß dem gesellschaftlichen Reichtum keine Schranken mehr gesetzt sind. Aber auf den Bedingungen des gesellschaftlichen Reichtums beruht nicht bloß die Chance der Zertrümmerung, sondern ebenso sehr des Fortbestandes der modernen Sklaverei. Der objektive Geist ist jeweils das Produkt der Anpassung der Macht an ihre Existenzbedingungen. Trotz des offenen Gegensatzes zwischen Kirche und Staat im Mittelalter, zwischen den weltumspannenden Kartellen in der Gegenwart, haben sie weder einander umgebracht, noch fusionieren sie sich völlig. Beides wäre das Ende der Herrschaft, die den Antagonismus in sich selbst erhalten muß, wenn sie den zu den Beherrschten ertragen soll. Das Weltkartell ist unmöglich, es schlüge sogleich in die Freiheit um. Die paar großen Monopole, die bei gleichen Fabrikationsmethoden und Erzeugnissen ihre Konkurrenz aufrechterhalten, geben das Modell künftiger außenpolitischer Konstellationen ab. Zwei freundlich-feindliche Staatenblocks wechselnder Zusammensetzung könnten die ganze Welt beherrschen, ihrer Gefolgschaft auf Kosten der halb-kolonialen und kolonialen Massen neben dem Fascio auch bessere Rationen bieten und in ihrer gegenseitigen Bedrohung immer neue Gründe zum Fortgang der Aufrüstung finden. Die Ausdehnung der Produktion, die durch die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zuerst beschleunigt und später hintan gehalten wurde, entspricht an sich noch keineswegs den menschlichen Bedürfnissen. Heute wird sie zugunsten der Herrschaft gelenkt. Die Bäume sollen nicht in den Himmel wachsen. Solange auf der Welt noch Knappheit am Notwendigen, ja nur an Luxusmitteln besteht, nehmen die Herrschenden die Gelegenheit wahr, Personen und Gruppen, nationale und soziale Schichten, voneinander zu isolieren und ihre eigene Führerrolle zu reproduzieren. Die Bürokratie bekommt den ökonomischen Mechanismus wieder in die Hand, der unter der Herrschaft des reinen Profitprinzips der Bourgeoisie entglitt. Der fachwissenschaftliche Begriff der Ökonomie, der im Gegensatz zu ihrer Kritik mit dem Markt im Schwinden begriffen ist, enthält keine weiteren Einwände gegen die Existenzfähigkeit des Staatskapitalismus als die, welche Mises und die Seinen gegen den Sozialismus vorbrachten. Sie leben heute gerade noch vom Kampf gegen die sozialen Reformen in demokratischen Ländern und haben vollends ihr Gewicht verloren. Der Kern der liberalistischen Einwände bestand aus wirtschaftstechnischen Bedenken. Ohne einigermaßen unbehindertes Funktionieren der alten Mechanismen von Angebot und Nachfrage sollten unproduktive von produktiven industriellen Verfahrungsweisen nicht zu unterscheiden sein. Die beschränkte Gescheitheit, die sich auf solche Argumente gegen die Geschichte versteift, war so sehr dem Bestehenden verpflichtet, daß sie seinen Triumph im Faschismus übersah. Der Kapitalismus hat eine Frist, auch nachdem seine liberalistische Phase vorüber ist. Die faschistische freilich ist von denselben ökonomischen Tendenzen durchherrscht, die schon den Markt vernichteten. Nicht etwa die Unmöglichkeit der Rechnungslegung, sondern die internationale Krise, welche der autoritäre Staat perpetuiert, läßt der unter seinen Formen verkommenden Menschheit keine Wahl mehr. Das ewige System des autoritären Staats, wie furchtbar es auch droht, ist nicht realer als die ewige Harmonie der Marktwirtschaft. War der Tausch von Äquivalenten noch eine Hülle der Ungleichheit, so ist der faschistische Plan schon der offene Raub.

Die Möglichkeit heute ist nicht geringer als die Verzweiflung. Der Staatskapitalismus als jüngste Phase hat mehr Kräfte in sich, die wirtschaftlich zurückgebliebenen Territorien der Erde zu organisieren, als die vorhergehende, deren maßgebende Repräsentanten ihre verminderte Kraft und Initiative zur Schau stellen. Sie werden von der Angst bestimmt, ihre profitable soziale Stellung zu verlieren. Sie wollten gerne alles tun, um sich die Hilfe des zukünftigen Faschismus nicht auf die Dauer zu verscherzen. In ihm erscheint ihnen die regenerierte Gestalt der Herrschaft, sie ahnen die Kraft, die bei ihnen am Versiegen ist. Der seit Jahrhunderten akkumulierte Reichtum und die ihm zugehörige diplomatische Erfahrung wird darauf verwandt, daß die legitimen Beherrscher Europas seine Vereinigung selbst kontrollieren und den integralen Etatismus noch einmal draußen halten. Sowohl durch solche Rückfälle wie durch Versuche, wirkliche Freiheit herzustellen, kann die Ära des autoritären Staats unterbrochen werden. Diese Versuche, die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden, können nur von den Vereinzelten kommen. Vereinzelt sind alle. Die verdrossene Sehnsucht der atomisierten Massen und der bewußte Wille der Illegalen weist in dieselbe Richtung. Genau so weit wie ihre Unbeirrbarkeit ging auch in früheren Revolutionen der kollektive Widerstand, der Rest war Gefolgschaft. Es führt eine Linie von den linken Gegnern des Etatismus Robespierres zum Komplott der Gleichen unter dem Directoire. Solange die Partei noch eine Gruppe, ihren antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität nicht durch Gehorsam ersetzt wird, solange sie die Diktatur des Proletariats noch nicht mit der Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker verwechselt, wird ihre Generallinie von eben den Abweichungen bestimmt, von denen sie als herrschende Clique sich freilich rasch zu säubern weiß. Solange die Avantgarde ohne periodische Säuberungsaktionen zu handeln vermag, lebt mit ihr die Hoffnung auf den klassenlosen Zustand. Die zwei Phasen, in denen nach dem Wortlaut der Tradition er sich verwirklichen soll, haben mit der Ideologie, die heute der Verewigung des integralen Etatismus dient, nur wenig zu tun. Weil die unbegrenzte Menge der Konsum- und Luxusmittel noch als ein Traum erscheint, soll die Herrschaft, die bestimmt war, in der ersten Phase abzusterben, sich versteifen dürfen. Gesichert durch schlechte Ernten und Wohnungsnot verkündet man, die Regierung der Geheimpolizei werde verschwinden, wenn das Schlaraffenland verwirklicht sei. Engels ist dagegen ein Utopist, er setzt die Vergesellschaftung und das Ende der Herrschaft in eins: »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in die gesellschaftlichen Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.«8 Er hat nicht daran geglaubt, daß die unbegrenzte Steigerung der materiellen Produktion die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft und die klassenlose Demokratie erst dann erreichbar sei, wenn die ganze Erde vollends mit Radios und Traktoren bevölkert ist. Die Praxis hat die Theorie zwar nicht widerlegt, aber interpretiert. Eingeschlafen sind die Feinde der Staatsgewalt, nur nicht von selbst. Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein Stück Repression überflüssig werden. Statt dessen hat sich in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert. Ob die Produktionssteigerung den Sozialismus verwirklicht oder liquidiert, kann nicht abstrakt entschieden werden.

Das Entsetzen in der Erwartung einer autoritären Weltperiode verhindert nicht den Widerstand. Die Ausübung von Verwaltungsfunktionen durch eine Klasse oder Partei kann nach der Abschaffung jedes Privilegs durch Formen einer klassenlosen Demokratie ersetzt werden, die vor der Erhöhung von administrativen zu Machtpositionen behüten können. Wenn ehemals die Bourgeoisie ihre Regierungen durch das Eigentum bei der Stange hielt, wird in einer neuen Gesellschaft die Verwaltung nur durch unnachgiebige Selbständigkeit der Nichtdelegierten davon abzuhalten sein, in Herrschaft umzuschlagen. Die Gefolgschaften bilden schon heute für den autoritären Staat keine geringere Gefahr als die freien Arbeiter für den Liberalismus. Bankrott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat. Ihm huldigen auch nicht wenige Marxisten. Ohne das Gefühl, mit einer großen Partei, einem allverehrten Führer, der Weltgeschichte oder wenigstens der unfehlbaren Theorie zu sein, funktionierte ihr Sozialismus nicht. Die Hingabe an marschierende Massen, die beseligte Einordnung in die Kollektivität, der ganze Philistertraum, den Nietzsches Verachtung getroffen hat, feiert bei den autoritären Jugendverbänden fröhliche Auferstehung. Die Revolution, die ein Beruf war wie die Wissenschaft, hat ins Gefängnis oder nach Sibirien geführt. Seit dem Sieg aber winkt auch eine Laufbahn, wenn nirgendwo sonst, dann wenigstens in den Parteihierarchien. Es gibt nicht bloß Professoren sondern auch Revolutionäre von Prominenz. Der publizistische Betrieb assimiliert die Revolution, indem er ihre Spitzen in die Liste der großen Namen aufnimmt. Der Vereinzelte aber, der von keiner Macht berufen und gedeckt ist, hat auch keinen Ruhm zu erwarten. Dennoch ist er eine Macht, weil alle vereinzelt sind. Sie haben keine Waffe als das Wort. Je mehr es von den Barbaren drinnen und den Kulturfreunden draußen verschachert wird, um so mehr kommt es doch wieder zu Ehren. Die ohnmächtige Äußerung im totalitären Staat ist bedrohlicher als die eindrucksvollste Parteikundgebung unter Wilhelm II. Daß die deutschen Geistigen nicht lange brauchen, um mit der fremden Sprache umzuspringen wie mit der eigenen, sobald diese ihnen die zahlenden Leser sperrt, rührt daher, daß ihnen Sprache immer schon mehr im Kampf ums Dasein als zum Ausdruck der Wahrheit diente. Im Verrat der Sprache an den Verkehr aber kündigt ihr Ernst sich aufs neue an. Es ist, als fürchteten sie, die deutsche Sprache könne sie am Ende doch weiter treiben, als ihnen mit ihrer tolerierten Existenz und den berechtigten Ansprüchen der Mäzenaten vereinbar dünkt. Die Aufklärer hatten viel weniger zu riskieren. Ihre Opposition harmonierte mit den Interessen der Bourgeoisie, die damals schon keine geringe Macht besaß. Voltaire und die Enzyklopädisten hatten ihre Beschützer. Jenseits jener Harmonie erst tat kein Minister mehr mit. Jean Meslier mußte zeit seines Lebens schweigen, und der Marquis hat das seine in Gefängnissen verbracht. Wenn aber das Wort ein Funke werden kann, so hat es heute noch nichts in Brand gesteckt. Es hat überhaupt nicht den Sinn von Propaganda und kaum den des Aufrufs. Es trachtet auszusagen, was alle wissen und zu wissen sich verbieten, es will nicht durch versierte Aufdeckung von Zusammenhängen imponieren, die nur die Mächtigen wissen. Der stellungslose Politiker der Massenpartei aber, dessen rhetorisches Pathos vom starken Arm verklungen ist, ergeht sich heute in Statistik, Nationalökonomie und inside stories. Seine Rede ist nüchtern und wohlinformiert geworden. Er behält den angeblichen Kontakt mit der Arbeiterschaft und drückt sich in Exportziffern und Ersatzstoffen aus. Er weiß es besser als der Faschismus und berauscht sich masochistisch an den Tatsachen, die ihn doch verlassen haben. Wenn man sich schon auf gar nichts Gewaltiges mehr berufen kann, muß die Wissenschaft herhalten.

Wem an der menschlichen Einrichtung der Welt liegt, der kann auf keine Appellationsinstanz blicken: weder auf bestehende noch auf zukünftige Macht. Die Frage, was »man« mit der Macht anfangen soll, wenn man sie einmal hat, dieselbe Frage, die für die Bürokraten der Massenpartei höchst sinnvoll war, verliert im Kampf gegen sie ihre Bedeutung. Die Frage setzt den Fortbestand dessen voraus, was verschwinden soll; die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit. Wenn die Gesellschaft in Zukunft wirklich nicht mehr durch vermittelten oder unmittelbaren Zwang funktionieren, sondern aus Übereinkunft sich selbst bestimmen wird, so lassen die Ergebnisse der Übereinkunft sich nicht theoretisch vorwegnehmen. Entwürfe für die Besorgung der Wirtschaft über das hinaus, was im Staatskapitalismus schon vorliegt, können einmal nützlich werden. Das Nachdenken heute, das der veränderten Gesellschaft dienen soll, darf aber nicht überspringen, daß in der klassenlosen Demokratie das Ausgedachte weder durch Gewalt noch durch Routine vorweg zu oktroyieren ist, sondern seiner Substanz nach der Übereinkunft selber vorbehalten bleibt. Dies Bewußtsein wird keinen, der zur Möglichkeit der veränderten Welt steht, davon abhalten, zu überlegen, wie die Menschen am raschesten ohne Bevölkerungspolitik und Strafjustiz, ohne Musterbetriebe und unterdrückte Minoritäten leben können. Zwar ist es fraglicher, als neuhumanistische Deutsche sich ahnen lassen, ob die Absetzung der autoritären Bürokratien mit Volksfesten der Rache verbünden sein wird. Wenn aber die Entmachtung der Herrschenden sich nochmals unter Terrorakten vollzieht, so werden die Vereinzelten leidenschaftlich darauf dringen, daß sie ihre Bestimmung erfüllt. Nichts auf der Erde vermag länger die Gewalt zu rechtfertigen, als daß es ihrer bedarf, das Ende der Gewalt herbeizuführen. Wenn die Gegner damit recht haben, daß nach dem Sturz des faschistischen Terrorapparates nicht bloß für einen Augenblick sondern für die Dauer das Chaos anbräche, bis ein neuer an seine Stelle tritt, so ist die Menschheit verloren. Die Behauptung, daß ohne neue autoritäre Bürokratie die Maschinen, die Wissenschaft, die technischen und administrativen Methoden, die gesamte Versorgung, zu der man im autoritären Staat gekommen ist, vernichtet würden, ist ein Vorwand. Ihre erste Sorge, wenn sie an die Freiheit denken, ist die neue Strafjustiz, nicht ihre Abschaffung. »Die Massen«, heißt es in einem Pamphlet mit >Schulungsmaterial<, »werden die Unterdrücker anstelle der politischen Gefangenen in die Gefängnisse setzen.« Fachleute der Repression werden sich jedenfalls in Mengen zur Verfügung stellen. Ob sich das wieder verfestigt, hängt von den Nichtfachleuten ab. Um so bescheidener kann die Rolle der Spezialisten sein, als die Produktionsweise gar nicht so sehr anders weitergehen muß als die im integralen Etatismus schon entwickelte. Der Staatskapitalismus erscheint zuweilen fast als Parodie der klassenlosen Gesellschaft. Die Anzeichen freilich, daß auch seine zentralistische Produktionsweise aus technischen Gründen sich überlebt, sind schlicht wenige. Wenn kleine Einheiten gegenüber der zentralen Instanz in der modernen industriellen Produktion und Strategie an Bedeutung zunehmen, so daß Elitearbeiter von der zentralistischen Spitze immer besser gefüttert werden müssen, so ist dies der sichtbare Ausdruck einer allgemeinen ökonomischen Umwälzung. Die Degradierung der Einzelnen zu bloßen Reaktionszentren, die auf alles ansprechen, bereitet zugleich ihre Emanzipation vom zentralen Kommando vor.

Auch die perfekten Waffen, die der Bürokratie zur Verfügung stehen, vermöchten die Veränderung nicht dauernd abzuwehren, hätten sie nicht eine andere als bloß unmittelbare Kraft. In Angst hat sich das Individuum historisch konstituiert. Es gibt eine Verstärkung der Angst über die Todesangst hinaus, vor der es sich wieder auflöst. Die Vollendung der Zentralisation in Gesellschaft und Staat treibt das Subjekt zu seiner Dezentralisation. Sie setzt die Lähmung fort, in die der Mensch durch seine steigende Entbehrlichkeit, durch seine Trennung von der produktiven Arbeit, durch das dauernde Zittern um die erbärmliche Notstandshilfe im Zeitalter der großen Industrie bereits geraten war. Der Gang des Fortschritts erscheint den Opfern so, als käme es für ihre Wohlfahrt auf Freiheit und Unfreiheit kaum mehr an. Es geht der Freiheit wie nach Valery der Tugend. Sie wird nicht bestritten, sondern vergessen und allenfalls einbalsamiert wie die Parole der Demokratie nach dem letzten Krieg. Man ist sich darüber einig, daß das Wort Freiheit nur mehr als Phrase gebraucht werden darf, sie ernst nehmen gilt als utopisch. Einmal half die Kritik an der Utopie dazu, daß der Gedanke der Freiheit der ihrer Verwirklichung blieb. Heute wird die Utopie diffamiert, weil keiner mehr so recht die Verwirklichung will. Sie erdrosseln die Phantasie, der schon Bebel nicht hold war.9 Wenn in Reichweite der Gestapo der Schrecken wenigstens auch subversive Tendenzen zeitigt, so unterhält er jenseits der Grenzen einen heillosen Respekt vor der Ewigkeit des Zwangs. Anstelle des antisemitischen, unnachgiebigen, aggressiven Staatskapitalismus wagt man gerade noch, sich einen zu erträumen, der von Gnaden der älteren Weltmächte das Volk verwaltet. »Es gibt keinen Sozialismus, der anders als durch autoritäre Mittel realisierbar wäre«, ist der Schluß, zu dem der Nationalökonom Pirou gelangt.10 »In unserer Epoche wird die Autorität vom Staat im Rahmen der Nation ausgeübt. Der Sozialismus kann somit, auch wenn er internationalistisch ausgerichtet ist, in seinem Aktionsprogramm heute einzig national sein.« Nicht anders als der Beobachter denken die unmittelbar Interessierten. Wie ehrlich sie die »Arbeiterdemokratie« im Sinn haben mögen, die diktatorischen Maßnahmen, die deren Sicherung dienen sollen, die »Ersetzung« des heutigen Apparats durch den zukünftigen, der Glaube an die »Führungsqualität« der Partei, kurz die Kategorien der wahrscheinlich notwendigen Repression decken so genau den realistischen Vordergrund, daß das Bild am Horizont, auf das die sozialistischen Politiker hinweisen, als Fata Morgana verdächtig ist. Wie jene liberalen Kritiker des Strafvollzugs, die eine bürgerliche Revolution ins Justizministerium beruft, gewöhnlich nach zwei Jahren müde werden, weil an der Macht der Provinzbeamten ihre Kräfte erlahmen, scheinen die Politiker und Intellektuellen durch die Zähigkeit des Bestehenden zermürbt zu sein. Vom Faschismus und mehr noch vom Bolschewismus wäre zu lernen gewesen, daß eben, was der nüchternen Sachkenntnis verrückt erscheint, zuweilen das Gegebene ist und die Politik, nach einem Hitlerschen Wort, nicht die Kunst des Möglichen sondern des Unmöglichen. Zudem ist, worum es geht, lang nicht so wider die Erwartung, wie man gern glauben machte. Damit die Menschen einmal solidarisch ihre Angelegenheiten regeln, müssen sie sich weit weniger verändern, als sie vom Faschismus geändert wurden. Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt. Sie zu durchdringen muß die Vorstellung eine Kraft besitzen, die ihr freilich der Faschismus entzogen hat. Sie wird von der Anstrengung absorbiert, deren jeder einzelne bedarf, um weiter mitzumachen. Aber die materiellen Bedingungen sind erfüllt. Bei aller Notwendigkeit von Übergang, Diktatur, Terrorismus, Arbeit, Opfer hängt das andere einzig noch vom Willen der Menschen ab. Was vor wenigen Jahrzehnten offiziell als unüberwindliche technische oder organisatorische Schranke verkündet wurde, ist, für jeden sichtbar, durchbrochen. Daher wurden die simplen Wirtschaftslehren, die so kurze Beine hatten, durch philosophische Anthropologien abgelöst. Wenn man Strümpfe aus der Luft machen kann, muß man schon zum Ewigen im Menschen greifen, nämlich psychologische Wesenheiten als Invarianten verklären, um die Ewigkeit der Herrschaft darzutun.

Daß selbst die Feinde des autoritären Staats Freiheit nicht mehr denken können, zerstört die Kommunikation. Sprache ist fremd, in der man nicht seinen eigenen Impuls erkennt oder die ihn nicht entzündet. Darum gibt die nichtkonformistische Literatur der Bourgeoisie ihr heute nicht einmal mehr ein Ärgernis; sie hat Tolstoi auf den Tonfilm und Maupassant in den Drugstore gebracht. Nicht bloß die Kategorien, in denen die Zukunft darzustellen, auch die, in denen die Gegenwart zu treffen ist, sind ideologisch geworden. So unmittelbar ist die Verwirklichung schon heute spruchreif, daß man nicht mehr sprechen kann. Mit Recht erweckt der Gedanke, der schwer nutzbar zu machen und zu etikettieren ist, stärkeres Mißtrauen bei den Instanzen von Wissenschaft und Literatur als das Bekenntnis selbst zu einer marxistischen Doktrin. Die Geständnisse, zu denen man ihn unter dem Vorfaschismus durch gütliches Zureden verlocken möchte, um ihn nachher für immer los zu sein – heraus mit der Sprache! – wären nutzlos auch für die Beherrschten. Die Theorie hat kein Programm für die nächste Wahlkampagne, ja noch nicht einmal eines für den Wiederaufbau Europas, den die Fachmänner schon besorgen werden. Der Bereitschaft zum Gehorsam, die sich auch an das Denken heranmacht, vermag sie nicht zu dienen. Bei aller Eindringlichkeit, mit der sie den Gang des gesellschaftlichen Ganzen bis zu den feinsten Differenzen zu verfolgen sucht, kann sie den einzelnen die Form ihrer Resistenz gegen das Unrecht nicht vorschreiben. Denken selbst ist schon ein Zeichen der Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen zu lassen. Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Beziehung. Gefährdet ist diese Beziehung. Das auszudrücken, was den Revolutionären in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, sind soziologische und psychologische Begriffe zu oberflächlich: die Intention auf Freiheit ist beschädigt, ohne die weder Erkenntnis noch Solidarität noch ein richtiges Verhältnis zwischen Gruppe und Führer denkbar ist. Wenn es kein Zurück zum Liberalismus gibt, so scheint die richtige Form der Aktivität die Förderung des Staatskapitalismus zu sein. Daran mitzuarbeiten, ihn auszubreiten und überall bis zu den avanciertesten Formen weiter zu treiben, biete den Vorzug der Fortschrittlichkeit und alle Gewähr des Erfolges, die man für die politique scientifique nur wünschen mag. Weil das Proletariat von den alten Mächten nichts mehr zu erwarten habe, bleibe nichts übrig als der Bund mit den neuen. Damit, daß die Planwirtschaft, die die Führer und Väter der Völker machen, von der sozialistischen weniger entfernt ist als der Liberalismus, soll das Bündnis von Führern und Proletariern begründet werden. Es sei sentimental, der Erschlagenen wegen sich dauernd negativ zum Staatskapitalismus zu stellen. Die Juden seien schließlich meistens Kapitalisten gewesen, und die kleinen Nationen hätten keine Existenzberechtigung mehr. Der Staatskapitalismus sei das heute Mögliche. Solange das Proletariat seine eigene Revolution nicht mache, sei ihm und seinen Theoretikern keine Wahl gelassen, als dem Weltgeist auf dem Weg zu folgen, den er nun einmal gewählt hat. Solche Stimmen, an denen es nicht fehlt, sind nicht die dümmsten, nicht einmal die unehrlichsten. Soviel ist wahr, daß mit dem Rückfall in die alte Privatwirtschaft der ganze Schrecken wieder von vorne unter veränderter Firma beginnen würde. Aber das historische Schema solcher Raisonnements kennt nur die Dimension, in der sich Fortschritt und Rückschritt abspielt, es sieht vom Eingriff der Menschen ab. Es veranschlagt sie bloß als das, was sie im Kapitalismus sind: als soziale Größen, als Sachen. Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.

Max Horkheimer 1940/1942


1Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1924, S. 46 u. 47. Vgl. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 10. Aufl., Stuttgart 1919, S.298 ff.

2Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, a.a.O., S. 55.

3Bouchez et Roux, Histoire Parlementairc de la Revolution Francaise, tome 10, Paris 1834, S. 194.

4Vgl. die Arbeiten von A. Mathiez, besonders La Reaction Thermidorienne, Paris 1929, S. l ff. und Contributions a l’Histoire Religieuse de la Revolution Francaise, Paris 1907.

5Dante, Göttliche Komödie, >Fegefeuer<, deutsch von K. zu Putlitz, Tempelausgabe, VI, Vers

6Auguste Comte, Systeme de politique positive, veröffentl. als 3. Heft in Saint-Simons Catechisme des industriell, OEuvres de Saint-Simon, 9. Band, Paris 1873, S. 115.

7August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Stuttgart 1919, S. 474.

8Friedrich Engels, a. a.O., S. 302.

9Vgl. Bebel, a.a.O., S. 141 f.

10Gaetan Pirou, Neo-Liberalism, Neo-Corporatism, Neo-Socullism, Paris 1939, S. 173.

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