Anton Pannekoek, der Syndikalismus
Erschien ursprünglich in der Nummer Zwei, Bd. II im Januar 1936 in „International Council Correspondence”. Hier und hier.
Die italienische Übersetzung erschien in der Nummer 12, November-Dezember 1976, von „Anarchismo“. Die spätere Veröffentlichung vom „Edizione Anarchismo“ im November 2013 als die Nummer 53, der Reihe „Opuscoli Provvisori“.
Einleitende Anmerkung zur zweiten Auflage
Ein weiterer paläontologischer Beitrag. Auf den ersten Blick scheint es eine naheliegende Bewertung zu sein, aber das ist sie nicht. Eine Kritik des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus aus der Ferne und gerade deshalb offenkundig noch lange nicht alt.
Heute kämpfen die Ausgebeuteten in der Mitte derselben Furt, sie kommen nicht vorwärts und denken nicht einmal daran – sie können es nicht -, umzukehren. Und mit ihnen die Anarchistinnen und Anarchisten, zumindest diejenigen, die über das Problem nachdenken, wie man etwas tun kann, um sich in Richtung Revolution zu bewegen, die anarchistische Revolution natürlich, denn von anderen Revolutionen, ob groß oder klein, mit Guillotinen im Einsatz oder nicht, sind die Seiten der Illustrierten voll.
Pannekoeks Schrift ist prägnant, Pulsinellis Einleitung ist prägnant, und sogar meine kleine Anmerkung, die ich hier im Anhang platziere, ist gültig. Im Übrigen verweise ich auf meine Kritik des Syndikalismus (A.d.Ü., Critica del sindcalismo, die Übersetzung ist ein Arbeit), die immer mehr zu einer lästigen Parade von „Ich hab’s dir ja gesagt“ wird, deren Lektüre aber unfehlbar gültig bleibt.
Die Phänomenologie der Clowns in der Regierung ändert sich, die blutigen Auswirkungen, die sich auf dem Rücken der Sklaven materialisieren, die jetzt von Fußmatten vernarbt sind, ändern sich, aber das bronzene Gesicht der Gewerkschafter/Syndikalisten bleibt immer dasselbe. Teilnahmslose Mumien, die ihren eigenen kleinen Garten bewachen. Der letzte Gedanke, der durch die wenigen Gramm grauer Substanz (ein flüchtiges Herz, das versteht sich von selbst) in ihrer Schädelkiste fließt, gilt ihren eigenen Interessen und denen der Kapitalisten – die durch das raue Auf und Ab der internationalen Finanzbilanz auf die Probe gestellt werden – und ganz sicher nicht denen der Arbeiter.
Wann wird die Beerdigung dieser abscheulichen Bürokraten stattfinden?
Triest, 25. November 2011
Alfredo M. Bonanno
Einleitung zur ersten Auflage
Der folgende Text stammt aus der amerikanischen Zeitschrift „International Council Correspondence“, Bd. II, Nr. 2 vom Januar 1936; er wurde von Anton Pannekoek unter dem Pseudonym J. Harper verfasst. Die Zeitschrift ‚I.C.C.‘ war das Sprachrohr der Rätekommunisten, die nach der Niederlage der revolutionären Bewegung und dem Aufkommen des Nationalsozialismus nach Amerika geflüchtet waren. Karl Korsch, Paul Mattick, Otto Rühle und andere nicht-leninistische Marxisten, die die deutschen Räteerfahrungen miterlebt und unterstützt hatten, sowie die KAPD, die niederländische Partei, die nicht Mitglied der leninistischen Internationale war, arbeiteten ebenfalls mit der „I.C.C.“ zusammen. Gegen sie schleuderte Lenin polemische Donnerschläge in, Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.
Der Text von Pannekoek – Autor von Arbeiterräte – enthält an sich nichts Außergewöhnliches oder absolut Neues, er ist aber wertvoll für das klare Verständnis der inneren Grenzen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus und schafft es, Tendenzen und Erscheinungsformen vorwegzunehmen, die der Gewerkschaftswesens/Syndikalismus in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich annahm.
Es gibt auch Naivitäten und Ansätze feststellbar, die nicht ganz unsere sind, die wir hier aber nicht hervorheben wollen.
Bei der Bewertung dieses Textes dürfen wir nicht das Jahr vergessen, in dem er veröffentlicht wurde: 1936. Die kritische Bewertung des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus im negativen Sinne ist eindeutig, und zwar genau zu der Zeit, als wir – zum Beispiel in Spanien – an theoretischen Positionen festhielten, die dazu tendierten, die Gewerkschaft/Syndikat zum Verwaltungsorgan der Ökonomie und der Betriebe zu machen, die von der Anwesenheit der Bosse befreit waren. Im Wesentlichen wollten sie die Ökonomie „gewerkschaftlich/syndikalistisch organisieren“, also nicht unmittelbar diese durch Arbeiterinnen und Arbeiter vereinnahmen und verwalten zu lassen, sondern die – vermeintlich „neutrale“ – Gewerkschafts-, Syndikatsstruktur vermitteln lassen.
Pannekoeks Position zur Gewerkschaft/Syndikat unterscheidet sich deutlich von der letzteren. Diese beiden Positionen verdeutlichen, wie damals – und heute – die Gewerkschafts-, Syndikatsfrage und die Lösung, die ihr gegeben wird, zwischen verschiedenen Positionen unterscheiden, die von der Mitbeteiligung an der Verwaltung der kapitalistischen Ökonomie bis hin zur Übernahme von Haltungen und dem Eintreten für eine Praxis reichen können, die der kapitalistischen Ökonomie eindeutig entgegengesetzt und antagonistisch ist.
Was wir heute betonen wollen, ist, dass die Gewerkschaft/Syndikat eine perfekt integrierte und funktionale Institution für die Verwirklichung der kapitalistischen Planung ist, mit der spezifischen Aufgabe, die Klasse zu „kontrollieren“ und zu chloroformieren.
Als „Vertreterin“ der Arbeiterklasse stimmt sie sich mit den Bedürfnissen des Kapitals ab und durchdringt sie, indem sie die Kräfte – Kapital und Arbeit -, die bei der Realisierung von Profiten zusammenwirken, neu zusammensetzt, um immer stabilere Gleichgewichte zu erreichen, natürlich unter dem Vorzeichen der Kontinuität der Lohnsklaverei.
Die Gewerkschaft/Syndikat ist das verzerrte Spiegelbild der ökonomischen Bedürfnissphäre des Lohnempfängers und bringt das Warenwesen des Lohnempfängers, der sich verkauft, um andere Waren zu realisieren, voll zum Ausdruck.
Als verdinglichter Ausdruck der Reduktion des Menschen auf die Ware und mit dem Anspruch, nur ökonomische „Interessen“ zu interpretieren, delegiert sie am Ende alles andere an die „Partei“: Sie wird darauf reduziert, den Verkaufs- (und Kauf-)Preis der Arbeitskraft auszuhandeln.
Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der Lohnarbeit, sondern die Angleichung ihrer Kosten. Eine Funktion, die dem Kapital völlig fremd ist und seine ständige Rationalisierung vorantreibt.
Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus neigt dazu, die Funktion des Lohnarbeiters zu fixieren – und aufrechtzuerhalten – und arbeitet nicht im Geringsten daran, das Lohnarbeiterdasein zu überwinden und zu verleugnen, um die Identität, die Würde und das Bewusstsein des Proletariats anzunehmen, d.h. als praktischer Negator des Kapitalismus, seines gewerkschaftlichen Derivats und von sich selbst.
Es ist völlig sinnlos, über den Zustand des herzlichen Einvernehmens und der perfekten Kollaboration des heutigen Gewerkschaftswesens/Syndikalismus mit dem Staat und den Bossen in der Zunftkammer zu sprechen, denn er ist für alle sichtbar.
Vielleicht ist es wichtiger, sich damit zu beschäftigen, wie sie ihr kapitalistisches Wesen vollständig verwirklicht haben, indem sie sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in rein kapitalistische Strukturen wie Banken verwandelt haben. Das ist in Deutschland und den Vereinigten Staaten der Fall, wo die Gewerkschaften/Syndikate eine Reihe von Banken betreiben und somit: Handel treiben, Kredite vergeben, Profitraten festlegen, investieren, spekulieren usw.
Ist es heute sinnvoll, eine gewerkschaftliche/syndikalistische Erneuerung vorzuschlagen, Anarcho-Syndikate zu gründen oder sich als linker Gewerkschafter/Syndikalist sich zu stellen? Das sind die Fragen, über die wir diskutieren müssen.
Wir sind der Meinung, dass die Wiederherstellung einer organisatorischen Trennung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Moment einen Rückschritt gegenüber dem Niveau der proletarischen Autonomie der letzten Jahre bedeutet. Es kann keine Trennung reproduziert werden, nur weil man den fotogensten und vorzeigbarsten Teil des Kapitals, nämlich die linke Seite seines Gesichts (die Gewerkschaften/Syndikate), bevorzugt oder zu imitieren versucht. Stattdessen geht es darum, Basisorganisationen zum Leben zu erwecken, die, ausgehend von der Besonderheit der sozialen Struktur, aus der sie hervorgehen, dazu neigen, die Gesamtheit der Spannungen und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und dabei kristallisierte Organisationsformen und Interventionspraktiken zu vermeiden.
Sie überschreiten die Grenzen des produktiven Bereichs, in dem sie tätig sind, und vereinen das Territorium und die Probleme, mit denen das Proletariat dort konfrontiert ist, mit allen anderen unerfüllten sozialen Bedürfnissen. Der Versuch, das Geflecht der Bedürfnisse und die Konflikte, die sie hervorbringen, nachzuvollziehen, in einem Moment der Kontinuität der Intervention und der theoretisch-praktischen Komplexität Fabrik und Territorium, antiproduktivistisches Moment und Wiederaneignung der produzierten Waren zu verbinden, den abstrakt „politischen“ Angriff auf die dominante Achse von Partei, Gewerkschaft/Syndikat, Staat und Kapital mit der praktischen Konkretheit der Selbstbeschränkung, der Hausbesetzung mit der Ablehnung von Steuern und der Aushöhlung der Löhne, der Forderung nach Verallgemeinerung der Löhne, der Massifizierung des Einkommens mit der Entlohnung der weiblichen Hausarbeit, der Forderung nach Beschäftigung mit der Abschaffung paläokapitalistischer Formen (von Schwarzarbeit, Akkordarbeit, Heimarbeit), die die Schule mit dem Territorium verbindet, d.h. das Problem des Studenten mit dem der Arbeitslosen, in dem er oder sie aussteigen wird, usw.
In den Fluss der proletarischen Selbstorganisation zu kommen, bedeutet, Anti-Macht-Zellen zu gebären, die perfekt in das soziale Gefüge eingebettet sind und das Krebsgeschwür der praktischen Negation der kapitalistischen Verhältnisse und Werte verbreiten: die Ideologie der Arbeit, des Profits, der Akkumulation, der Arbeitsteilung usw. sowie die Immunisierung der Repressionsstrukturen und ihrer Prätorianer.
Proletarische Selbstorganisation bedeutet, vom Spezifischen der gegebenen Situation auszugehen, um den Bereich der praktischen Intervention auf die Universalität der Funktionen und Rollen auszuweiten, die die Proletarierinnen und Proletarier übernehmen müssen, um das Kapital (und ihre eigene Versklavung) im Austausch für einen Lohn, d. h. einen infinitesimalen Teil der produzierten Waren, zu reproduzieren.
In diesem Prozess, der zur Totalität tendiert, ist es höchst schädlich, Organisationsformen – wie die Gewerkschaft/Syndikat – neu vorzuschlagen, deren Existenzgrundlage auf einer Teilung und Begrenzung beruht: dem ökonomischen Moment und dem Bereich der Produktion, d.h. dem Proletariat nur in der Phase der Produktion.
Diese Verstümmelung zu vermeiden, würde bedeuten, seinen eigenen Platz im Netzwerk der Anti-Macht-Organismen zu finden und vor allem das Proletariat als ein Wesen zu begreifen, das nicht nur produziert, sondern auch konsumiert, das sich mit Kultur, Unterhaltung und Sport entfremdet, das das Kapital in seiner Familie reproduziert (wo er der „Herr“ ist und seine Frauen-Kinder die Proletarier der Situation), dessen Sexualität immer verzerrt und sublimiert ist, das Lebensmittel mit geringem Nährwert isst, wenn sie nicht völlig schädlich sind, das in Städten des Wahnsinns und der Umweltverschmutzung lebt usw. Es geht darum, eine enorme kritische Intervention – theoretisch und dann praktisch – zu entwickeln, die sich auf die Gesamtheit der bestehenden Bedingungen erstreckt. Es geht darum, das Proletarische in seiner Gesamtheit zu begreifen, ohne das Ökonomische, das Politische, das Militärische, die Stadtplanung usw. zu privilegieren.
Sich auf die ökonomische Sphäre zu beschränken und sich darin zu erschöpfen, ist der beste Weg, um sich selbst dazu zu zwingen, auf alles andere zu verzichten und Schemata und Formeln – ähnlich wie ausgestopfte Tiere – einer proletarischen Bewegung zu reproduzieren, die sich gegen einen alten, jetzt veränderten Kapitalismus stellte.
Ist der Anarchosyndikalismus erneuerbar?
Tito Pulsinelli
[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 12, November-Dezember 1976, S. 353-355]
Syndikalismus, von Anton Pannekoek, 1936
Quelle: Trade-Unionism / J[ohn]. H[arper]. [=Anton Pannekoek]. – In: International Council Correspondence, Vol. II (1935-1936), Nr. 2 (Januar 1936)
Wie muss die Arbeiterklasse den Kapitalismus bekämpfen, um zu gewinnen? Das ist die alles entscheidende Frage, vor der die Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag stehen. Welche effizienten Aktionsmittel, welche Taktiken können sie anwenden, um die Macht zu erobern und den Feind zu besiegen? Keine Wissenschaft, keine Theorie kann ihnen genau sagen, was sie tun sollen. Aber spontan und instinktiv, durch Ausprobieren, durch das Erspüren von Möglichkeiten, fanden sie ihre Handlungsmöglichkeiten. Und als der Kapitalismus wuchs, die Erde eroberte und seine Macht ausbaute, wuchs auch die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter. Neue Aktionsformen, die breiter und effizienter waren, kamen zu den alten hinzu. Es liegt auf der Hand, dass sich mit den veränderten Bedingungen auch die Aktionsformen und Taktiken des Klassenkampfes ändern müssen. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist die wichtigste Form der Arbeiterbewegung im starren Kapitalismus. Die isolierten Arbeiterinnen und Arbeiter sind gegenüber den kapitalistischen Arbeitgebern machtlos. Um dieses Handicap zu überwinden, organisieren sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaft/Syndikat bindet die Arbeiterinnen und Arbeiter zu gemeinsamen Aktionen zusammen, wobei der Streik ihre Waffe ist. Dann ist das Kräfteverhältnis relativ ausgeglichen oder manchmal sogar am stärksten auf der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass der isolierte kleine Arbeitgeber gegenüber der mächtigen Gewerkschaft/Syndikat schwach ist. Daher stehen sich im entwickelten Kapitalismus Gewerkschaften/Syndikate und Arbeitgeberverbände (Verbände, Trusts, Unternehmen usw.) als kämpfende Kräfte gegenüber.
Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus entstand zuerst in England, wo sich der Industriekapitalismus zuerst entwickelte. Später verbreitete sie sich in anderen Ländern als natürlicher Begleiter der kapitalistischen Industrie. In den Vereinigten Staaten herrschten ganz besondere Bedingungen. Zu Beginn sorgte der Reichtum an freiem, unbesetztem Land, das den Siedlern offenstand, für einen Mangel an Arbeiterinnen und Arbeitern in den Städten und für relativ hohe Löhne und gute Bedingungen. Die American Federation of Labour wurde zu einer Macht im Land und konnte den in ihren Gewerkschaften/Syndikaten organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern einen relativ hohen Lebensstandard sichern.
Es ist klar, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter unter diesen Bedingungen nicht einen Moment lang auf die Idee kommen konnten, den Kapitalismus zu stürzen. Der Kapitalismus bot ihnen einen ausreichenden und ziemlich sicheren Lebensunterhalt. Sie fühlten sich nicht als getrennte Klasse, deren Interessen der bestehenden Ordnung feindlich gegenüberstanden; sie waren ein Teil von ihr; sie waren sich bewusst, dass sie an allen Möglichkeiten eines aufsteigenden Kapitalismus auf einem neuen Kontinent teilhatten. Es gab Platz für Millionen von Menschen, die hauptsächlich aus Europa kamen. Für diese wachsenden Millionen von Bauern war eine schnell wachsende Industrie notwendig, in der Arbeiterinnen und Arbeiter mit Energie und Glück zu freien Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten und sogar reichen Kapitalisten aufsteigen konnten. Es ist nur natürlich, dass hier ein wahrer kapitalistischer Geist in der Arbeiterklasse herrschte.
Das Gleiche war in England der Fall. Hier lag es an Englands Monopol im Welthandel und in der Großindustrie, am Mangel an Konkurrenten auf den ausländischen Märkten und am Besitz reicher Kolonien, die England enormen Reichtum brachten. Die Kapitalistenklasse brauchte nicht um ihre Gewinne zu kämpfen und konnte den Arbeiterinnen und Arbeitern einen angemessenen Lebensunterhalt ermöglichen. Natürlich waren anfangs Kämpfe nötig, um ihnen diese Wahrheit klarzumachen, aber dann konnten sie Gewerkschaften/Syndikate zulassen und Löhne im Austausch für den Arbeitsfrieden gewähren. So wurde auch hier die Arbeiterklasse vom kapitalistischen Geist durchdrungen.
Dies steht in völligem Einklang mit dem innersten Charakter des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Aktion der Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinausgeht. Ihr Ziel ist es nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Ihr Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.
Natürlich ist die gewerkschaftliche/syndikalistische Aktion Klassenkampf. Im Kapitalismus gibt es einen Antagonismus der Klassen – Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeiter haben entgegengesetzte Interessen. Nicht nur in der Frage der Erhaltung des Kapitalismus, sondern auch innerhalb des Kapitalismus selbst, wenn es um die Aufteilung des Gesamtprodukts geht. Die Kapitalisten versuchen, ihre Gewinne, den Mehrwert, so weit wie möglich zu steigern, indem sie die Löhne senken und die Arbeitszeit oder die Arbeitsintensität erhöhen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hingegen versuchen, ihre Löhne zu erhöhen und ihre Arbeitszeit zu verkürzen.
Der Preis der Arbeitskraft ist keine feste Menge, auch wenn er ein bestimmtes Hungerminimum überschreiten muss; und er wird von den Kapitalisten nicht aus freien Stücken gezahlt. So wird dieser Antagonismus zum Gegenstand einer Auseinandersetzung, dem eigentlichen Klassenkampf. Es ist die Aufgabe, die Funktion der Gewerkschaften/Syndikate, diesen Kampf zu führen.
Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war die erste Schule für proletarische Tugenden, für Solidarität als Geist des organisierten Kampfes. Sie verkörperte die erste Form der proletarischen organisierten Macht. In den frühen englischen und amerikanischen Gewerkschaften/Syndikate versteinerte diese Tugend oft und entartete zu einer engen Handwerkskorporation, einer wahrhaft kapitalistischen Geisteshaltung. Anders war es jedoch dort, wo die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Existenz kämpfen mussten, wo die äußersten Anstrengungen ihrer Gewerkschaften/Syndikate ihren Lebensstandard kaum aufrechterhalten konnten, wo die volle Wucht eines energischen, kämpferischen und expandierenden Kapitalismus auf sie einschlug. Dort mussten sie die Weisheit lernen, dass nur die Revolution sie endgültig retten kann.
Es gibt also eine Diskrepanz zwischen der Arbeiterklasse und dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus. Die Arbeiterklasse muss über den Kapitalismus hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus lebt vollständig innerhalb des Kapitalismus und kann nicht über ihn hinausblicken. Der Gewerkschaftswesen/Syndikalismus kann nur einen Teil des Klassenkampfes darstellen, einen notwendigen, aber engen Teil. Und er entwickelt Aspekte, die ihn in Konflikt mit den größeren Zielen der Arbeiterklasse bringen.
Mit dem Wachstum des Kapitalismus und der Großindustrie müssen auch die Gewerkschaften/Syndikate wachsen. Sie werden zu großen Unternehmen mit Tausenden von Mitgliedern, die sich über das ganze Land erstrecken, mit Sektionen in jeder Stadt und jeder Fabrik. Es müssen Funktionäre ernannt werden: Vorsitzende, Sekretäre, Schatzmeister, die die Geschäfte führen und die Finanzen verwalten, sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene. Sie sind die Anführer, die mit den Kapitalisten verhandeln und durch diese Praxis eine besondere Fähigkeit erworben haben. Der Vorsitzende einer Gewerkschaft/Syndikats ist ein hohes Tier, so groß wie der kapitalistische Arbeitgeber selbst, und er verhandelt mit ihm auf Augenhöhe über die Interessen seiner Mitglieder. Die Funktionäre sind Spezialisten für die gewerkschaftliche/syndikalistische Arbeit, die die Mitglieder, die ganz mit ihrer Fabrikarbeit beschäftigt sind, nicht selbst beurteilen oder leiten können.
Eine so große Körperschaft wie eine Gewerkschaft/Syndikat ist nicht einfach eine Versammlung einzelner Arbeiterinnen und Arbeiter; sie wird zu einem organisierten Körper, wie ein lebendiger Organismus, mit einer eigenen Politik, einem eigenen Charakter, einer eigenen Mentalität, eigenen Traditionen und eigenen Funktionen. Sie ist ein Organ mit eigenen Interessen, die sich von den Interessen der Arbeiterklasse unterscheiden. Sie hat den Willen zu leben und für ihre Existenz zu kämpfen. Sollte es dazu kommen, dass die Gewerkschaften/Syndikate für die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr notwendig sind, dann würden sie nicht einfach verschwinden. Ihre Gelder, ihre Mitglieder und ihre Funktionäre: All das sind Realitäten, die nicht sofort verschwinden, sondern als Elemente der Organisation weiterbestehen werden.
Die Funktionäre der Gewerkschaft/Syndikats, die Anführer der Arbeiterinnen und Arbeiter, sind die Träger der speziellen Gewerkschafts-, Syndikatsinteressen. Ursprünglich waren sie Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Betrieb, aber durch ihre lange Tätigkeit an der Spitze der Organisation haben sie einen neuen sozialen Charakter bekommen. In jeder sozialen Gruppe, die groß genug ist, um eine spezielle Gruppe zu bilden, prägt und bestimmt die Art ihrer Arbeit ihren sozialen Charakter, ihre Denk- und Handlungsweise. Die Funktion der Beamten und Beamtinnen ist eine ganz andere als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie arbeiten nicht in Fabriken, sie werden nicht von Kapitalisten ausgebeutet, ihre Existenz ist nicht ständig von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie sitzen in Büros, in ziemlich sicheren Positionen. Sie müssen sich um die Angelegenheiten der Unternehmen kümmern, auf Versammlungen der Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen und mit den Arbeitgebern diskutieren. Natürlich müssen sie sich für die Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen und ihre Interessen und Wünsche gegenüber den Kapitalisten verteidigen. Das unterscheidet sich jedoch nicht sehr von der Position eines Rechtsanwalts, der als Sekretär einer Organisation für deren Mitglieder eintritt und deren Interessen nach seinen Fähigkeiten verteidigt.
Es gibt jedoch einen Unterschied. Da viele der Anführer aus den Reihen der Arbeiterinnen und Arbeiter stammen, haben sie am eigenen Leib erfahren, was Lohnsklaverei und Ausbeutung bedeuten. Sie fühlen sich als Mitglieder der Arbeiterklasse und der proletarische Geist wirkt oft wie eine starke Tradition in ihnen. Aber die neue Realität ihres Lebens neigt dazu, diese Tradition immer weiter zu schwächen. Ökonomisch gesehen sind sie keine Proletarier mehr. Sie sitzen in Konferenzen mit den Kapitalisten und verhandeln über Löhne und Arbeitszeiten, wobei sie ihre Interessen gegeneinander ausspielen, genauso wie die entgegengesetzten Interessen der kapitalistischen Konzerne gegeneinander abgewogen werden. Sie lernen, die Position des Kapitalisten genauso gut zu verstehen wie die der Arbeiterinnen und Arbeiter; sie haben ein Auge für die „Bedürfnisse der Industrie“; sie versuchen zu vermitteln. Natürlich gibt es persönliche Ausnahmen, aber in der Regel haben sie nicht das elementare Klassengefühl der Arbeiterinnen und Arbeiter, die die kapitalistischen Interessen nicht verstehen und gegen ihre eigenen abwägen, sondern für ihre eigenen Interessen kämpfen. So geraten sie in Konflikt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern.
Die Anführer der Arbeiter im fortgeschrittenen Kapitalismus sind so zahlreich, dass sie eine besondere Gruppe oder Klasse mit einem besonderen Klassencharakter und besonderen Interessen bilden. Als Vertreter und Anführer der Gewerkschaften/Syndikate verkörpern sie den Charakter und die Interessen der Gewerkschaften/Syndikate. Die Gewerkschaften/Syndikate sind notwendige Elemente des Kapitalismus, also fühlen sich auch die Anführer als nützliche Staatsbürger in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig. Die kapitalistische Funktion der Gewerkschaften/Syndikate besteht darin, Klassenkonflikte zu regeln und den Arbeitsfrieden zu sichern. Daher sehen es die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate als ihre Pflicht an, sich für den Arbeitsfrieden einzusetzen und bei Konflikten zu vermitteln. Die Bewährungsprobe der Gewerkschaft/Syndikats liegt ganz und gar im Kapitalismus; deshalb blicken die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate nicht über ihn hinaus. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wille der Gewerkschaften/Syndikate, zu leben und um ihre Existenz zu kämpfen, verkörpert sich in dem Willen der Anführer, für die Existenz der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Ihre eigene Existenz ist untrennbar mit der Existenz der Gewerkschaften/Syndikate verbunden. Das ist nicht in einem kleinlichen Sinne gemeint, dass sie nur an ihre persönlichen Arbeitsplätze denken, wenn sie für die Gewerkschaften/Syndikate kämpfen. Es bedeutet, dass primäre Lebensnotwendigkeiten und soziale Funktionen die Meinungen bestimmen. Ihr ganzes Leben konzentriert sich auf die Gewerkschaften/Syndikate, nur hier haben sie eine Aufgabe. Das notwendigste Organ der Gesellschaft, die einzige Quelle von Sicherheit und Macht sind für sie also die Gewerkschaften/Syndikate; deshalb müssen sie mit allen Mitteln erhalten und verteidigt werden, auch wenn die Realitäten der kapitalistischen Gesellschaft diese Position untergraben. Dies geschieht, wenn sich die Klassenkonflikte durch die Expansion des Kapitalismus verschärfen.
Die Konzentration des Kapitals in mächtigen Konzernen und ihre Verbindung zur Großfinanz machen die Position der kapitalistischen Arbeitgeber viel stärker als die der Arbeiterinnen und Arbeiter. Mächtige Industriemagnaten herrschen wie Monarchen über große Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern; sie halten sie in absoluter Unterwerfung und erlauben „ihren“ Leuten nicht, in Gewerkschaften/Syndikate einzutreten. Ab und zu brechen die schwer ausgebeuteten Lohnsklaven in einem großen Streik aus. Sie hoffen, bessere Bedingungen, kürzere Arbeitszeiten, humanere Arbeitsbedingungen und das Recht auf gewerkschaftliche/syndikalistische Organisierung durchzusetzen. Gewerkschaftliche/Syndikalistische Organizer kommen ihnen zu Hilfe. Doch dann setzen die kapitalistischen Herren ihre soziale und politische Macht ein. Die Streikenden werden aus ihren Häusern vertrieben; sie werden von der Miliz oder angeheuerten Schlägern erschossen; ihre Sprecher werden ins Gefängnis gesteckt; ihre Hilfsaktionen werden per Gerichtsbeschluss verboten. Die kapitalistische Presse prangert ihre Sache als Unordnung, Mord und Revolution an; die öffentliche Meinung wird gegen sie aufgehetzt. Dann, nach monatelangem Durchhalten und heldenhaftem Leiden, erschöpft von Elend und Enttäuschung, unfähig, der eisernen kapitalistischen Struktur eine Delle zuzufügen, müssen sie aufgeben und ihre Forderungen auf günstigere Zeiten verschieben.
In den Branchen, in denen die Gewerkschaften/Syndikate als mächtige Organisationen existieren, wird ihre Position durch dieselbe Kapitalkonzentration geschwächt. Die umfangreichen Mittel, die sie zur Streikunterstützung gesammelt hatten, sind im Vergleich zur Geldmacht ihrer Gegner unbedeutend. Ein paar Aussperrungen (A.d.Ü., lock-outs) können sie völlig aufzehren. Egal, wie sehr der kapitalistische Arbeitgeber die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen unter Druck setzt, die Gewerkschaft/Syndikat kann keinen Kampf führen. Wenn Verträge erneuert werden müssen, fühlt sich die Gewerkschaft/Syndikat als die schwächere Partei. Sie muss die schlechten Bedingungen akzeptieren, die die Kapitalisten anbieten; da nützt kein Verhandlungsgeschick. Aber jetzt beginnt der Ärger mit den einfachen Mitgliedern. Sie wollen kämpfen; sie werden sich nicht unterwerfen, bevor sie gekämpft haben, und sie haben nicht viel zu verlieren, wenn sie kämpfen. Die Anführer hingegen haben viel zu verlieren – die Finanzkraft der Gewerkschaft/Syndikats, vielleicht sogar ihre Existenz. Sie versuchen, den Kampf zu vermeiden, den sie für aussichtslos halten. Sie müssen sie davon überzeugen, dass es besser ist, sich zu einigen. Letztendlich müssen sie also als Sprecher der Arbeitgeber auftreten, um den Arbeiterinnen und Arbeitern die Bedingungen der Kapitalisten aufzuzwingen. Noch schlimmer ist es, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf bestehen, gegen die Entscheidung der Gewerkschaften/Syndikate zu kämpfen. Dann muss die Macht der Gewerkschaft/Syndikats als Waffe eingesetzt werden, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterdrücken.
So ist der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate zum Sklaven seiner kapitalistischen Aufgabe geworden, den Arbeitsfrieden zu sichern – nun auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, obwohl er ihnen doch so gut wie möglich dienen wollte. Er kann nicht über den Kapitalismus hinausblicken, und innerhalb des Horizonts des Kapitalismus mit einer kapitalistischen Sichtweise hat er Recht, wenn er meint, dass Kämpfen nichts bringt. Ihn zu kritisieren kann nur bedeuten, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus hier an der Grenze seiner Macht steht.
Gibt es denn einen anderen Ausweg? Können die Arbeiterinnen und Arbeiter durch Kämpfe etwas gewinnen? Wahrscheinlich werden sie das unmittelbare Thema des Kampfes verlieren; aber sie werden etwas anderes gewinnen. Indem sie sich nicht unterwerfen, ohne gekämpft zu haben, wecken sie den Geist der Revolte gegen den Kapitalismus. Sie proklamieren ein neues Thema. Aber hier muss die gesamte Arbeiterklasse mitmachen. Der ganzen Klasse, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, müssen sie zeigen, dass es im Kapitalismus keine Zukunft für sie gibt und dass sie nur gewinnen können, wenn sie kämpfen, nicht als eine Gewerkschaft/Syndikat, sondern als eine vereinte Klasse. Das bedeutet den Beginn eines revolutionären Kampfes. Und wenn die anderen Arbeiterinnen und Arbeiter diese Lektion verstehen, wenn in anderen Branchen zeitgleiche Streiks ausbrechen, wenn eine Welle der Rebellion über das Land schwappt, dann werden in den arroganten Herzen der Kapitalisten vielleicht Zweifel an ihrer Allmacht und eine gewisse Bereitschaft zu Zugeständnissen aufkommen.
Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate versteht diese Sichtweise nicht, denn die Gewerkschaften/Syndikate können nicht über den Kapitalismus hinausgehen. Er lehnt diese Art des Kampfes ab. Den Kapitalismus auf diese Weise zu bekämpfen, bedeutet gleichzeitig eine Rebellion gegen die Gewerkschaften/Syndikate. Der Anführer der Gewerkschaften/Syndikate steht an der Seite des Kapitalisten, weil sie gemeinsam die Rebellion der Arbeiterinnen und Arbeiter fürchten.
Als die Gewerkschaften/Syndikate gegen die Kapitalistenklasse für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, hasste die Kapitalistenklasse sie, aber sie hatte nicht die Macht, sie vollständig zu zerstören. Wenn die Gewerkschaften/Syndikate versuchen würden, alle Kräfte der Arbeiterklasse in ihrem Kampf zu mobilisieren, würde die Kapitalistenklasse sie mit allen Mitteln verfolgen. Sie könnten erleben, dass ihre Aktionen als Rebellion unterdrückt werden, ihre Büros von der Miliz zerstört werden, ihre Anführer ins Gefängnis geworfen und mit Geldstrafen belegt werden und ihre Gelder beschlagnahmt werden. Wenn sie andererseits ihre Mitglieder vom Kampf abhalten, kann die Kapitalistenklasse sie als wertvolle Institutionen betrachten, die erhalten und geschützt werden müssen, und ihre Anführer als verdienstvolle Staatsbürger. Die Gewerkschaften/Syndikate befinden sich also zwischen dem Teufel und dem tiefen blauen Meer: auf der einen Seite die Verfolgung, die für Menschen, die eigentlich friedliche Staatsbürger sein wollten, schwer zu ertragen ist; auf der anderen Seite die Rebellion der Mitglieder, die die Gewerkschaften/Syndikate untergraben kann. Die Kapitalistenklasse wird, wenn sie klug ist, erkennen, dass ein bisschen Scheingefechte erlaubt sein müssen, um den Einfluss der Anführer der Gewerkschaften/Syndikaten auf die Mitglieder zu wahren.
Die Konflikte, die hier entstehen, sind niemandes Schuld; sie sind eine unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus existiert, aber er ist gleichzeitig auf dem Weg in den Ruin. Er muss als etwas Lebendiges und gleichzeitig als etwas Vergängliches bekämpft werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen einen ständigen Kampf um Löhne und Arbeitsbedingungen führen, während gleichzeitig kommunistische Ideen, mehr oder weniger deutlich und bewusst, in ihren Köpfen erwachen. Sie klammern sich an die Gewerkschaften/Syndikate, weil sie glauben, dass diese immer noch notwendig sind, und versuchen ab und zu, sie in bessere Kampfinstitutionen zu verwandeln. Aber der Geist des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der in seiner reinen Form ein kapitalistischer Geist ist, steckt nicht in den Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Divergenz zwischen diesen beiden Tendenzen im Kapitalismus und im Klassenkampf zeigt sich jetzt als Riss zwischen dem Geist der Gewerkschaften/Syndikate, der hauptsächlich von ihren Anführern verkörpert wird, und dem wachsenden revolutionären Gefühl der Mitglieder. Diese Kluft zeigt sich in den entgegengesetzten Positionen, die sie in verschiedenen wichtigen sozialen und politischen Fragen vertreten.
Die Gewerkschaften/Syndikate sind an den Kapitalismus gebunden; sie haben die besten Chancen, gute Löhne zu erzielen, wenn der Kapitalismus floriert. In Zeiten der Depression muss sie also hoffen, dass der Wohlstand wiederhergestellt wird, und sie muss versuchen, ihn zu fördern. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter als Klasse ist der Wohlstand des Kapitalismus überhaupt nicht wichtig. Wenn dieser durch Krisen oder Depressionen geschwächt ist, haben sie die beste Chance, ihn anzugreifen, die Kräfte der Revolution zu stärken und die ersten Schritte in Richtung Freiheit zu unternehmen.
Der Kapitalismus dehnt seine Herrschaft über fremde Kontinente aus und reißt deren Naturschätze an sich, um große Profite zu machen. Er erobert Kolonien, unterjocht die primitive Bevölkerung und beutet sie aus, oft mit schrecklichen Grausamkeiten. Die Arbeiterklasse prangert die koloniale Ausbeutung an und wehrt sich dagegen, aber die Gewerkschaften/Syndikate unterstützen oft die Kolonialpolitik als Weg zum kapitalistischen Wohlstand.
Mit der enormen Zunahme des Kapitals in der heutigen Zeit werden Kolonien und fremde Länder als Orte genutzt, an denen große Kapitalsummen investiert werden können. Sie werden als Absatzmärkte für die Großindustrie und als Rohstoffproduzenten zu wertvollen Besitztümern. Zwischen den großen kapitalistischen Staaten entsteht ein Wettlauf um die Kolonien und ein erbitterter Interessenkonflikt um die Aufteilung der Welt. In dieser Politik des Imperialismus werden die Mittelklassen in einer gemeinsamen Verherrlichung nationaler Größe mitgerissen. Dann stellen sich die Gewerkschaften/Syndikate auf die Seite der Herrenklasse, weil sie den Wohlstand ihres eigenen nationalen Kapitalismus als abhängig von seinem Erfolg im imperialistischen Kampf betrachten. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Imperialismus zunehmende Macht und Brutalität ihrer Ausbeuter.
Diese Interessenkonflikte zwischen den nationalen Kapitalismen explodieren in Kriegen. Der Weltkrieg ist die Krönung der Politik des Imperialismus. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet der Krieg nicht nur die Zerstörung all ihrer Gefühle von internationaler Brüderlichkeit, sondern auch die brutalste Ausbeutung ihrer Klasse für den kapitalistischen Profit. Die Arbeiterklasse, als die zahlreichste und am meisten unterdrückte Klasse der Gesellschaft, muss alle Schrecken des Krieges ertragen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben hergeben.
Die Gewerkschaften/Syndikate müssen im Krieg jedoch auf der Seite des Kapitalisten stehen. Ihre Interessen sind mit dem nationalen Kapitalismus verknüpft, dessen Sieg sie von ganzem Herzen wünschen müssen. Daher trägt sie dazu bei, starke nationale Gefühle und nationalen Hass zu wecken. Sie hilft der Kapitalistenklasse, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Krieg zu treiben und jeden Widerstand niederzuschlagen.
Die Gewerkschaften/Syndikate verabscheuen den Kommunismus. Der Kommunismus entzieht ihr die Grundlage ihrer Existenz. Im Kommunismus, wo es keine kapitalistischen Arbeitgeber gibt, ist kein Platz für die Gewerkschafts/Syndikats- und Arbeiterführer. Es stimmt, dass in Ländern mit einer starken sozialistischen Bewegung, in denen die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter Sozialistinnen und Sozialisten sind, auch die Anführer der Gewerkschaften/Syndikate Sozialisten sein müssen, sowohl von ihrer Herkunft als auch von ihrem Umfeld her. Aber dann sind sie rechte Sozialisten; und ihr Sozialismus beschränkt sich auf die Idee eines Gemeinwohls, in dem statt gieriger Kapitalisten ehrliche Anführer der Arbeiter die industrielle Produktion leiten werden. Die Gewerkschaften/Syndikate hassen die Revolution. Die Revolution bringt alle gewöhnlichen Beziehungen zwischen Kapitalisten und Arbeiterinnen und Arbeitern durcheinander. In ihren gewaltsamen Zusammenstößen werden alle sorgfältigen tariflichen Regelungen hinweggefegt; im Kampf ihrer gigantischen Kräfte verliert das bescheidene Geschick der verhandelnden Arbeiterführer seinen Wert. Mit all ihrer Macht stellt sich das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen die Ideen der Revolution und des Kommunismus.
Dieser Widerstand ist nicht ohne Bedeutung. Das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus ist eine Macht für sich. Sie verfügt über beträchtliche Mittel als materielles Element der Macht. Sie hat ihren geistigen Einfluss, den sie durch ihre Zeitschriften aufrechterhält und verbreitet, als geistiges Element der Macht. Sie ist eine Macht in den Händen der Anführer, die sie überall dort einsetzen, wo die besonderen Interessen der Gewerkschaften/Syndikate mit den revolutionären Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten. Obwohl die Gewerkschaften/Syndikate von den Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebaut wurden und aus Arbeiterinnen und Arbeitern bestehen, sind sie zu einer Macht geworden, die über den Arbeiterinnen und Arbeitern steht, so wie die Regierung eine Macht ist, die über dem Volk steht.
Die Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich, was auf die verschiedenen Entwicklungsformen des Kapitalismus zurückzuführen ist. Sie sind auch nicht immer in jedem Land gleich. Wenn sie langsam auszusterben scheinen, gelingt es dem Kampfgeist der Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal, sie zu verändern oder neue Formen des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus zu schaffen. So entstand in England in den Jahren 1880-90 aus den Massen der armen Hafenarbeiter und der anderen schlecht bezahlten, ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter das „neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus“, das den alten Handwerksgewerkschaften (A.d.Ü., sowas wie Zünfte) einen neuen Geist einhauchte. Es ist eine Folge der kapitalistischen Entwicklung, dass sie bei der Gründung neuer Industrien und der Ersetzung von Facharbeitern durch Maschinenkraft große Mengen ungelernter Arbeiterinnen und Arbeiter anhäuft, die unter den schlechtesten Bedingungen leben. Sie werden schließlich zu einer Welle der Rebellion, zu großen Streiks gezwungen und finden so den Weg zu Einheit und Klassenbewusstsein. Sie formen das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus in eine neue Form, die an einen höher entwickelten Kapitalismus angepasst ist. Wenn der Kapitalismus danach zu noch mächtigeren Formen heranwächst, kann dieses neue Gewerkschaftswesen/Syndikalismus natürlich nicht dem Schicksal aller Gewerkschaften/Syndikate entgehen, und dann produziert es die gleichen inneren Widersprüche.
Die bemerkenswerteste Form entstand in Amerika, in den „Industrial Workers of the World“. Die i.w.w. entstand aus zwei Formen der kapitalistischen Expansion. In den riesigen Wäldern und Ebenen des Westens erntete der Kapitalismus die natürlichen Reichtümer mit den Methoden des Wilden Westens, der wilden und brutalen Ausbeutung, und die Arbeiterinnen und Arbeiter wehrten sich ebenso wild und eifersüchtig dagegen. Und in den östlichen Staaten wurden neue Industrien gegründet, die auf der Ausbeutung von Millionen armer Einwanderer beruhten, die aus Ländern mit niedrigem Lebensstandard stammten und nun in Ausbeuterbetrieben oder unter anderen miserablen Arbeitsbedingungen arbeiten mussten.
Gegen den engstirnigen, handwerklichen Geist des alten Gewerkschaftswesens/Syndikalismus, der A.F. of L (A.d.Ü., American Federation of Labor)., der die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Industriebetriebs in eine Reihe von getrennten Gewerkschaften/Syndikate aufspaltete, stellte die i.w.w. den Grundsatz: Alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer Fabrik müssen als Gefährte und Gefährtinnen gegen den einen Meister eine Gewerkschaft/Syndikat bilden, um als starke Einheit gegen den Arbeitgeber zu agieren. Gegen die Vielzahl der oft eifersüchtigen und zänkischen Gewerkschaften/Syndikate stellte der i.w.w. die Parole auf: eine große Gewerkschaft/Syndikat für alle Arbeiterinnen und Arbeiter (A.d.Ü., One big union for all the workers). Der Kampf der einen Gruppe ist die Sache aller. Die Solidarität erstreckt sich auf die gesamte Klasse. Entgegen der hochmütigen Verachtung der gut bezahlten alten amerikanischen Facharbeiter gegenüber den unorganisierten Einwanderern, waren es diese am schlechtesten bezahlten Proletarier, die der i.w.w. in den Kampf führte. Sie waren zu arm, um hohe Beiträge zu zahlen und gewöhnliche Gewerkschaften/Syndikate zu gründen. Aber als sie ausbrachen und sich in großen Streiks auflehnten, war es der i.w.w., der ihnen beibrachte, wie man kämpft, der im ganzen Land Unterstützungsgelder sammelte und der ihre Sache in seinen Zeitungen und vor Gericht verteidigte. Durch eine glorreiche Reihe von großen Schlachten brachte sie den Geist der Organisation und des Selbstvertrauens in die Herzen dieser Massen. Im Gegensatz zum Vertrauen in die großen Kassen der alten Gewerkschaften/Syndikate setzten die Industriearbeiterinnen und -arbeiter auf die lebendige Solidarität und die Kraft des Durchhaltens, getragen von einer brennenden Begeisterung. Anstelle der schweren, gemauerten Gebäude der alten Gewerkschaften/Syndikate vertraten sie das Prinzip des flexiblen Aufbaus, mit einer schwankenden Mitgliederzahl, die in Friedenszeiten schrumpft und im Kampf selbst anschwillt und wächst. Im Gegensatz zum konservativen kapitalistischen Geist der Gewerkschaften/Syndikate waren die Industriearbeiterinnen und -arbeiter antikapitalistisch und standen für die Revolution. Deshalb wurden sie von der gesamten kapitalistischen Welt mit großem Hass verfolgt. Sie wurden ins Gefängnis geworfen und aufgrund falscher Anschuldigungen gefoltert; für sie wurde sogar ein neues Verbrechen erfunden: das des „kriminellen Syndikalismus“.
Industrieller Syndikalismus/Gewerkschaftswesen allein ist als Methode zum Kampf gegen die Kapitalistenklasse nicht ausreichend, um die kapitalistische Gesellschaft zu stürzen und die Welt für die Arbeiterklasse zu erobern. Sie bekämpft die Kapitalisten als Arbeitgeber auf dem ökonomischen Feld der Produktion, aber sie hat nicht die Mittel, um ihre politische Hochburg, die Staatsmacht, zu stürzen. Trotzdem ist der I.W.W. bisher die revolutionärste Organisation in Amerika gewesen. Mehr als jede andere hat sie dazu beigetragen, Klassenbewusstsein und Einsicht, Solidarität und Einheit in der Arbeiterklasse zu wecken, ihren Blick auf den Kommunismus zu richten und ihre Kampfkraft vorzubereiten.
Die Lehre aus all diesen Kämpfen ist, dass das Gewerkschaftswesen/Syndikalismus gegen den Großkapitalismus nicht gewinnen kann. Und wenn es doch einmal gewinnt, dann sind diese Siege nur eine vorübergehende Erleichterung. Und doch sind diese Kämpfe notwendig und müssen geführt werden. Bis zum bitteren Ende? – Nein, bis zum besseren Ende.
Der Grund dafür ist offensichtlich. Eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern mag einem Kampf gegen einen isolierten kapitalistischen Arbeitgeber gewachsen sein. Aber eine isolierte Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern ist gegen einen Arbeitgeber, hinter dem die gesamte Kapitalistenklasse steht, machtlos. Und das ist hier der Fall: Die Staatsmacht, die Geldmacht des Kapitalismus, die öffentliche Meinung der Mittelklasse, angestachelt durch die kapitalistische Presse, greifen die Gruppe der kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeiter an. Aber steht die Arbeiterklasse hinter den Streikenden? Die Millionen anderer Arbeiterinnen und Arbeiter betrachten diesen Kampf nicht als ihre eigene Sache. Sicherlich sympathisieren sie und sammeln oft Geld für die Streikenden, was eine gewisse Erleichterung bringen kann, sofern die Verteilung nicht durch eine richterliche Verfügung untersagt wird. Aber diese nachsichtige Sympathie überlässt den wirklichen Kampf der streikenden Gruppe allein. Die Millionen stehen abseits, passiv. So kann der Kampf nicht gewonnen werden (außer in einigen besonderen Fällen, wenn die Kapitalisten es aus geschäftlichen Gründen vorziehen, Zugeständnisse zu machen), weil die Arbeiterklasse nicht als eine ungeteilte Einheit kämpft.
Anders sieht es natürlich aus, wenn die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter einen solchen Kampf als etwas ansieht, das sie direkt betrifft; wenn sie merken, dass ihre eigene Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn sie selbst in den Kampf ziehen und den Streik auf andere Fabriken, auf immer mehr Industriezweige ausweiten, dann muss die staatliche Macht, die kapitalistische Macht, geteilt werden und kann nicht vollständig gegen die einzelne Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern eingesetzt werden. Sie muss sich der kollektiven Macht der Arbeiterklasse stellen.
Die Ausweitung des Streiks auf immer breitere Kreise bis hin zum Generalstreik ist oft als Mittel zur Abwendung der Niederlage empfohlen worden. Aber das ist natürlich kein wirklich zweckmäßiges Muster, auf das man zufällig stößt und das den Sieg garantiert. Wäre das der Fall, hätten die Gewerkschaften/Syndikate es sicherlich schon mehrfach als reguläre Taktik eingesetzt. Es kann nicht von den Anführern der Gewerkschaften/Syndikate nach Belieben als einfache taktische Maßnahme verkündet werden. Sie muss den tiefsten Gefühlen der Massen entspringen, als Ausdruck ihrer spontanen Initiative, und diese wird erst dann geweckt, wenn das Thema des Kampfes größer ist oder wird als ein einfacher Lohnkampf einer Gruppe. Nur dann werden die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre ganze Kraft, ihren Enthusiasmus, ihre Solidarität und ihr Durchhaltevermögen in den Kampf einbringen.
Und all diese Kräfte werden sie brauchen. Denn auch der Kapitalismus wird stärkere Kräfte als bisher ins Feld führen. Vielleicht wurde er durch die unerwartete Demonstration proletarischer Kraft besiegt und überrumpelt und hat deshalb Zugeständnisse gemacht. Aber danach wird er neue Kräfte aus den tiefsten Wurzeln seiner Macht schöpfen und seine Position zurückerobern. Der Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter ist also weder dauerhaft noch sicher. Es gibt keinen klaren und offenen Weg zum Sieg; der Weg selbst muss unter immensen Anstrengungen durch den kapitalistischen Dschungel gehauen und gebaut werden.
Aber auch so wird er einen großen Fortschritt bedeuten. Eine Welle der Solidarität ist durch die Massen gegangen, sie haben die immense Kraft der Klasseneinheit gespürt, ihr Selbstvertrauen ist gestiegen, sie haben den bornierten Gruppenegoismus abgeschüttelt. Durch ihre eigenen Taten haben sie eine neue Weisheit erlangt: was Kapitalismus bedeutet und wie sie als Klasse gegen die Kapitalistenklasse stehen. Sie haben einen Blick auf ihren Weg in die Freiheit erhascht.
So weitet sich das enge Feld des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Kampfes zum weiten Feld des Klassenkampfes. Aber jetzt müssen sich die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst ändern. Sie müssen einen breiteren Blick auf die Welt werfen. Von ihrem Beruf, ihrer Arbeit innerhalb der Fabrikmauern, muss sich ihr Blick auf die Gesellschaft als Ganzes weiten. Ihr Geist muss sich über die unbedeutenden Dinge um sie herum erheben. Sie müssen sich mit dem Staat auseinandersetzen; sie betreten das Reich der Politik. Die Probleme der Revolution müssen angegangen werden.
J.H.
Anhang
Jenseits von Operaismus und Syndikalismus. Das Ende des Syndikalismus entspricht dem Ende des Operaismus
Für uns ist es auch das Ende der quantitativen Illusion der Partei und der spezifischen Syntheseorganisation. Die Revolte von morgen wird neue Wege gehen.
Die Gewerkschaft/Syndikat befindet sich auf dem Weg zu ihrem traurigen Untergang.
Auf Gedeih und Verderb geht mit dieser strukturellen Form des Kampfes eine Epoche, ein Modell und eine zukünftige Welt zu Ende, die als (verbesserte und korrigierte) Reproduktion der gegenwärtigen Welt gesehen wird.
Wir bewegen uns auf neue und tiefgreifende Umwälzungen zu. In der Produktionsstruktur, in der Sozialstruktur.
Auch die Methoden des Kampfes, die Aussichten und die mittelfristigen Pläne selbst werden verändert.
Die sich ausbreitende Industriegesellschaft eignete sich gut für das Instrument der Gewerkschaften/Syndikate, die von einem Kampfinstrument bald zu einem Instrument der Unterstützung der Produktionsstruktur selbst wurden.
Auch der revolutionäre Syndikalismus spielte eine Rolle: Er trieb die kämpferischsten Komponenten der Arbeiterbewegung voran, drängte sie aber gleichzeitig als Fähigkeit zurück, über die Gesellschaft der Zukunft, die kreativen Bedürfnisse der Revolution nachzudenken. Alles blieb in der Dimension der Fabrik verpackt.
Der Operaimsus war nicht nur ein Gemeinplatz des autoritären Kommunismus. Privilegierte Orte der Klassenkonfrontation zu lokalisieren, ist immer noch eine der tief verwurzelten Gewohnheiten, die sich nicht ändern lassen.
Das Ende des Gewerkschaftswesens/Syndikalismus also. Wir führen dieses Gespräch nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren [1975-1986].
Früher ernteten wir Kritik und Erstaunen, vor allem, wenn wir den Anarchosyndikalismus in einen Topf mit derselben negativen Bewertung warfen. Heute werden wir leichter akzeptiert. Denn wer ist nicht kritisch gegenüber dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus? Jeder, oder fast jeder. Nur vergessen wir die Zusammenhänge. Unsere Kritik an dem Gewerkschaftswesen/Syndikalismus war auch eine Kritik an der „quantitativen“ Methode, die alle Merkmale der Partei in „nuce“ aufweist; sie war auch eine Kritik an den spezifischen Syntheseorganisationen (z.B. – in gewisser Hinsicht – an der F.A.I. von heute und gestern); sie war auch eine Kritik an der Respektabilität der Klasse (A.d.Ü., eigentliche Spießbürgertum der Klasse), die von der Bourgeoisie übernommen und durch die Gemeinplätze der so genannten proletarischen Moral auf uns übertragen wurde. All das kann nicht beiseite gelassen werden.
Auch wenn es heute viele Gefährtinnen und Gefährten gibt, die mit uns in unserer mittlerweile traditionellen Kritik am Gewerkschaftswesen/Syndikalismus übereinstimmen, gibt es immer noch wenige, die alle Konsequenzen teilen, die sich aus dieser Kritik ergeben.
In der Welt der Produktion können wir nur mit Instrumenten intervenieren, die sich nicht in die quantitative Perspektive einordnen und daher nicht behaupten können, dass hinter ihnen spezifische anarchistische Organisationen stehen, die an der Hypothese der revolutionären Synthese arbeiten.
Dies erfordert eine andere Methode der Intervention, eine, die „Kerne“ in den Fabriken oder in den Zonen aufbaut und sich darauf beschränkt, den Kontakt zu einer spezifischen Struktur zu halten, die ausschließlich auf Affinität beruht. Aus der Beziehung zwischen der spezifischen Struktur und den Basiskernen entsteht ein neues Modell des revolutionären Kampfes, das darauf abzielt, die Strukturen des Kapitals und des Staates mit einer aufständischen Methodik anzugreifen.
Dieser Ansatz ermöglicht es, die tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur besser zu verfolgen. Die Fabrik wird bald verschwinden, an ihre Stelle werden neue
Produktionsorganisationen treten, die hauptsächlich auf Automatisierung basieren. Die Arbeitenden von gestern werden (teilweise) in eine Unterstützungsrealität (Dienstleistungen) oder einfach in eine kurzfristige Wohlfahrtssituation und langfristig in ein einfaches Überleben integriert werden. Neue Formen der Arbeit zeichnen sich am Horizont ab. Die klassische Arbeiterfront gibt es schon jetzt nicht mehr. Die Gewerkschaft /Syndikat natürlich auch nicht. Zumindest existiert sie nicht mehr in den Formen, in denen wir sie bisher kannten. Sie wird zu einer Art Holdinggesellschaft, die einen gesellschaftlichen Konsens herstellt. Ein Unternehmen wie jedes andere.
Ein Netzwerk von sich ständig verändernden Beziehungen, die alle unter dem Banner von Partizipation, Pluralismus, Demokratie, Versammlungsrecht usw. stehen, wird sich über die Gesellschaft ausbreiten und (fast) alle Kräfte der Subversion zügeln. Die extremen Aspekte des revolutionären Projekts werden systematisch kriminalisiert. Aber die Revolte wird neue Wege einschlagen, durch tausend neue unterirdische Kanäle eindringen und in hunderttausend plötzlichen Ausbrüchen blinder Wut, scheinbar zweckloser Zerstörung und einer neuen, unverständlichen Symbolik zum Vorschein kommen.
Wir müssen aufpassen, dass wir, die wir oft schmerzhafte und schwere Hypotheken aus der Vergangenheit mit uns herumtragen, nicht von einem Phänomen abgeschnitten werden, das wir am Ende nicht verstehen und dessen Gewalt uns an einem schlechten Tag sogar Angst machen könnte. Und wir müssen zuerst darauf achten, dass wir unsere kritische Analyse ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen voll entfalten.
Alfredo M. Bonanno
[Veröffentlicht in „Anarchismo“ Nr. 52, Mai 1986, S. 3].