(Edizioni Anarchismo) Der Anarchismus in der Russischen Revolution

L’anarchismo nella rivoluzione russa, veröffentlicht von Edizioni Anarchismo im Jahr 2015, Opuscoli provvisori N. 77, die Übersetzung ist von uns. Mit einer Einleitung von Alfredo Maria Bonanno.


Der Anarchismus in der Russischen Revolution

Einleitende Anmerkung

Für die Lektüre der hier veröffentlichten Texte ist es notwendig, einige Hinweise zu beachten. Paul Avrich war Historiker und als solcher mit einem enormen Wissen über das Problem (Anarchismus in der russischen Revolution) ausgestattet, außerdem war er russischer Muttersprachler. Aber leider war er ein Historiker und nicht mehr.

Die italienische Übersetzung, die viel umfangreicher ist als die hier veröffentlichten Auszüge, wurde 1976 von La Salamandra angefertigt und enthält daher neben anderen, weniger wichtigen Texten auch die Klarstellungen und Kommentare des Historikers. Nicht zu veröffentlichen. Als Beispiel haben wir hier seine (positiven) Überlegungen zu dem von der Sowjetmacht für das Kropotkin-Museum reservierten Bestimmungsort, einer Schule für Kinder, wiedergegeben, eine Wahl, die den alten Anarchisten laut Avrich glücklich gemacht hätte. Und was ist mit dem Konzept der Rekuperation? Und davon, dass man auch nur die geringsten Spuren einer Hartnäckigkeit auslöschen wollte, die 1967, dem Jahr von Avrichs Besuch, offensichtlich immer noch störend war? Nicht ein Wort.

Eine weitere Perle, über die nicht berichtet wurde, ist das Urteil, Bakunins aufständische Entscheidungen in Lyon mit Kropotkins interventionistischen Entscheidungen im Manifest der Sechzehn zu vergleichen. Ein unangemessenes Urteil.

Abgesehen von all dem und den unangebrachten Tiraden, die typisch für diejenigen sind, die sich an etwas erinnern, es aber sorgfältig vermeiden, etwas Neues vorzuschlagen, ist Avrichs Einleitung eine nützliche Lektüre.

Vor kurzem habe ich während einer öffentlichen Debatte unter Gefährtinnen und Gefährten, ich glaube in Mailand, die Notwendigkeit bekräftigt, im passenden Moment zuerst auf autoritäre Kommunisten zu schießen, bevor man vielleicht auf Polizisten schießt. Ich sah eine gewisse Unsicherheit im Publikum. Ich bin sicher, dass dieses Pamphlet auch heute noch eine wichtige Lektüre sein kann.

Triest, 17. Mai 2014 Alfredo M. Bonanno


Einleitung von Paul Avrich

Die Oktoberrevolution

„Die Leidenschaft zu zerstören ist auch eine schöpferische Leidenschaft“. Michail Bakunin, der Vater des russischen Anarchismus, schrieb diese berühmten Worte im Jahr 1842 und von da an sehnten sich seine Jünger nur noch nach einer sozialen Revolution, die das zaristische Regime stürzen und den Beginn eines goldenen Zeitalters ohne jede Regierung markieren würde. Im Februar 1917 schien dieser langgehegte Traum endlich Wirklichkeit zu werden. Als der Aufstand in St. Petersburg ausbrach, der die Monarchie in den Staub stürzte, feierten die Anarchisten ihn als den spontanen Aufstand, den Bakunin fünfundsiebzig Jahre zuvor vorausgesagt hatte. Obwohl sie sich nur wenig an dem Aufstand beteiligten, der im Wesentlichen ein spontanes Phänomen war und weder von einer politischen Gruppe organisiert noch gelenkt wurde, überzeugte sie der völlige Zusammenbruch der Autorität davon, dass das goldene Zeitalter angebrochen war, und sie machten sich daran, die Reste des Staates zu beseitigen und das Land und die Fabriken in die Hände des Volkes zu überführen.

Innerhalb weniger Wochen wurden in St. Petersburg und Moskau anarchistische Föderationen gegründet, um die beiden Hauptstädte in egalitäre Kommunen nach dem Idealbild der Pariser Kommune von 1871 zu verwandeln – eine Episode, die von den Anarchisten zur Legende erklärt wurde. Ihre Parole lautete: „Durch soziale Revolution zur anarchistischen Kommune“ – eine Revolution, die Regierung und Eigentum, Gefängnisse und Kasernen, Geld und Profit abschaffen und eine Gesellschaft ohne Regierung einführen würde, die auf der freiwilligen Zusammenarbeit freier Individuen beruht. „Es lebe die Anarchie! Lasst die Schmarotzer, Herrscher und Priester erzittern – alle Verräter!“ („Vol’nji Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 4).

Als der Schwung der Revolution zunahm, breitete sich die Bewegung schnell auf andere Dörfer und Städte aus. Fast überall gab es anarchistische Gruppen, die sich in drei Kategorien einteilen ließen: Anarcho-Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten und individualistische Anarchisten. Die Anarcho-Kommunisten, die sich von Bakunin und Kropotkin inspirieren ließen, stellten sich eine freie Föderation von Gemeinschaften vor, in der jedes Mitglied nach seinen Bedürfnissen belohnt wurde. Sie stellten das Goldene Zeitalter romantisch als Spiegelbild eines vorindustriellen Russlands dar, das auf landwirtschaftlichen Kommunen und Handwerksgenossenschaften basierte, und wussten nicht, was sie mit der Großindustrie und der bürokratischen Arbeitsorganisation anfangen sollten. Im Zuge der Unruhen nach der Februarrevolution konfiszierten sie eine Reihe von Privathäusern – die wichtigsten waren die Villa von P. P. Durnovo in St. Petersburg und der alte Kaufmannsclub in Moskau (der in Haus der Anarchie umbenannt wurde) – und machten sie zum Sitz der egalitären Kommunen. Die Anarcho-Syndikalisten hingegen setzten ihre Hoffnungen auf die Fabrikkomitees, die in der frühen revolutionären Periode entstanden waren, als Keimzellen der zukünftigen libertären Gesellschaft. Die Aussicht auf eine neue, auf industrieller Produktion basierende Welt war für sie keineswegs abstoßend. Im Gegenteil, manchmal zeigten sie eine fast futuristisch anmutende Hingabe an den Kult der Maschine. Sie bewunderten den technologischen Fortschritt nach westlichem Vorbild und standen damit im Gegensatz zur slawophilen Nostalgie der Anarcho-Kommunisten für eine unwiederbringliche Welt, die es vielleicht nie gegeben hat. Die Syndikalisten hielten jedoch nicht an einem unkritischen Kult der Massenproduktion fest. Tief beeinflusst von Bakunin und Kropotkin erkannten sie die Gefahr, dass der Mensch in den Rädchen und Hebeln einer zentralisierten Industriemaschine gefangen ist. Auch sie suchten nach einem Ausweg in der Vergangenheit, in einer dezentralisierten Gesellschaft, die auf einer Organisation der Arbeit basierte, in der die Arbeiter wirklich Herr über ihr eigenes Schicksal sein konnten. Das unmittelbare Ziel der Syndikalisten war die Einführung einer umfassenden Arbeiterkontrolle über die Produktion, was bedeutete, dass Fabrikkomitees in Fragen wie Einstellung und Entlassung, Festlegung von Vorschriften, Löhnen, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen mitbestimmen sollten. Bis zum Herbst 1917 hatte sich in den meisten russischen Fabriken eine Form der Arbeiterkontrolle durchgesetzt, und in einigen Fällen gingen die Fabrikkomitees sogar so weit, dass sie die Bosse, Abteilungsleiter und Techniker selbst auswiesen und versuchten, die Fabriken selbst zu verwalten, indem sie Delegationen auf der Suche nach Brennstoffen, Rohstoffen und finanzieller Unterstützung zu Arbeiterkomitees in anderen Fabriken schickten. Allerdings hatte die Arbeiterkontrolle, zumindest in ihren extremsten Formen, ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Produktion. Die Arbeiter mussten nicht nur gegen ein kaputtes Transportsystem und einen ernsthaften Mangel an Treibstoff und Rohstoffen ankämpfen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, sondern konnten mit ihren unzureichenden technischen und administrativen Kenntnissen kaum die Probleme beheben, die durch die Vertreibung der Ingenieure und Manager aus den Fabriken entstanden waren. Die anarchistische Anführerin Emma Goldman machte in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Aussage: Eine große Fabrik in Petersburg sei während des Bürgerkriegs nur deshalb funktionsfähig geblieben, „weil der alte Besitzer und der Manager selbst in der Verantwortung geblieben waren“. (Living My Life, New York 1931, Bd. II, S. 791).

Mit ihrem Slogan „Arbeiterkontrolle“ übten die Syndikalisten jedoch schließlich einen Einfluss auf die Arbeiterbewegung aus, der proportional weit größer war als ihre zahlenmäßige Größe. Besonders erfolgreich waren sie bei den Bäckern, Bergarbeitern, Schiffern und Postarbeitern und spielten eine wichtige Rolle auf der nationalen Konferenz der Fabrikkomitees, die am Vorabend der Oktoberrevolution in Petersburg tagte. Da sie jedoch eine zentralisierte Parteiorganisation ablehnten, waren sie nie in der Lage, die Führung der Arbeiterbewegung in großem Umfang zu übernehmen. Dies wurde schließlich den Bolschewiki überlassen, die nicht nur über eine ordentliche Parteiorganisation verfügten, sondern, was den Syndikalisten fehlte, bewusst nach der Macht strebten und das Bündnis der Industriearbeiter in Fabrikkomitees und Gewerkschaften/Syndikaten suchten.

Die individualistischen Anarchisten lehnten sowohl die Landkommunen der Anarcho-Kommunisten als auch die Arbeiterorganisationen der Syndikalisten ab. Sie glaubten, dass nur Individuen, die keiner Organisation unterworfen sind, frei von Zwang und autoritärer Herrschaft sind und somit den anarchistischen Idealen treu bleiben können. In den Fußstapfen von Nietzsche und Max Stirner erhoben sie das Ego über alle kollektiven Ansprüche und legten in einigen Fällen einen ausgesprochen aristokratischen Handlungs- und Denkstil an den Tag. Die individualistischen Anarchisten hatten eine kleine Schar von Anhängern, die sich aus bohèmehaften Künstlern und Intellektuellen und gelegentlich aus einsamen Banditen zusammensetzten, die ihre soziale Entfremdung in Gewalt und Verbrechen ausdrückten und für die der Tod die ultimative Form der Selbstbehauptung war, der letzte Weg, um dem unterdrückenden Gefüge der organisierten Gesellschaft zu entkommen. Im Gegensatz dazu predigten hier und da Gruppen von Tolstojanern das christliche Evangelium der Gewaltlosigkeit – man sagte ihnen sogar nach, dass sie sich weigerten, die Läuse zu töten, die sie sich aus ihren Bärten zogen – und obwohl sie nur wenig Verbindung zu den revolutionären Anarchisten hatten, war ihr moralischer Einfluss auf die Bewegung beträchtlich.

Obwohl sie keine sehr große Anhängerschaft hatten, war der Einfluss der Anarchisten in der Revolution und im Bürgerkrieg unverhältnismäßig groß im Vergleich zu ihrer zahlenmäßigen Größe. Aus den lückenhaften Daten, die zur Verfügung stehen – Anarchisten verteilten natürlich keine „Parteibücher“ und mieden im Allgemeinen jeden formellen Organisationsapparat – geht hervor, dass es in der Blütezeit der Bewegung etwa 10.000 anarchistische Aktivisten in Russland gab, nicht mitgezählt die Tolstojaner, die Machno-Bauernbewegung in der Ukraine und die mehreren tausend Sympathisanten, die regelmäßig anarchistische Literatur lasen und die Aktivitäten der Bewegung aufmerksam verfolgten, ohne sich direkt daran zu beteiligen.

Anarchisten und Bolschewiki

Für alle anarchistischen Gruppen endeten die großen Hoffnungen, die die Februarrevolution geweckt hatte, mit einer bitteren Enttäuschung. Die Monarchie war zwar gestürzt worden, aber der Staat war stehen geblieben. Was war im Februar passiert, fragte sich eine anarchistische Zeitung in Rostow am Don? „Nichts Besonderes. Anstelle von Nikolaus dem Blutigen kam Kerenski der Blutige auf den Thron“. Die Anarchisten konnten nicht ruhen, bis die provisorische Regierung wie ihre zaristische Vorgängerin hinweggefegt war. Schon bald machten sie gemeinsame Sache mit ihren ideologischen Gegnern, den Bolschewiki, der einzigen anderen radikalen Gruppe in Russland, die für die sofortige Zerstörung des bourgeoisen Staates eintrat.

Die seit langem bestehende tiefe Feindschaft der Anarchisten gegenüber Lenin löste sich noch vor Ende 1917 auf. Beeindruckt von einer Reihe ultraradikaler Äußerungen, die Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland machte, glaubten einige Anarchisten, dass der bolschewistische Führer das enge Gewand des Marxismus abgelegt hatte und eine revolutionäre Theorie vertrat, die ihrer eigenen ähnelte. Lenins „Aprilthesen“ zum Beispiel enthielten eine Reihe von ikonoklastischen Thesen, auf die sich anarchistisches Gedankengut schon lange bezog: die Umwandlung des „imperialistischen Raubkriegs“ in einen revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Ordnung; der Verzicht auf eine parlamentarische Regierung zugunsten eines Sowjetregimes nach dem Vorbild der Pariser Kommune; die Abschaffung von Polizei, Armee und Bürokratie; die Angleichung der Einkommen. (Siehe V. I. Lenin, Socinenia [Opere complete], in 55 volumi, V edizione, Mosca 1958-1965, vol. XXXI, pp. 103-112).

Obwohl Lenins Wunsch, die Macht zu ergreifen, für einige ein Grund zum Zögern war, hielten nicht wenige Anarchisten seine Ideen für ausreichend übereinstimmend mit ihren eigenen, um als Grundlage für eine Zusammenarbeit zu dienen. Wenn sie noch einen Verdacht hegten, wurde dieser vorerst beiseite geschoben. Lenins Aufruf zu „einer Spaltung und einer Revolution, die tausendmal mächtiger ist als die vom Februar“ (ib., XXXII, S. 441), klang eindeutig bakuninistisch und war genau das, was die meisten Anarchisten hören wollten. Einer der anarchistischen Anführer in Petersburg war sogar davon überzeugt, dass Lenin beabsichtigte, Anarchie zu schaffen, indem er den Staat „wegfegt“, sobald er ihn in Besitz genommen hat. (Siehe B. D. Wolfe, Introduzione a I dieci giorni che sconvolsero il mondo, di J. Reed, New York, 1960, p. XXXI).

So kam es, dass in den acht Monaten zwischen den beiden Revolutionen von 1917 die Anarchisten und die Bolschewiki ihre Bemühungen auf dasselbe Ziel richteten, nämlich die Zerstörung der provisorischen Regierung. Obwohl beide Seiten immer noch mit einer gewissen Vorsicht agierten, stellte ein bekannter Anarchist fest, dass es in Bezug auf die wichtigsten Probleme eine „perfekte Parallelität“ zwischen den beiden Gruppen gab. (Volin, La rivoluzione sconosciuta, tr. it., Edizioni Franchini, Carrara 1976). Ihre Slogans – „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der provisorischen Regierung! Kontrolle der Fabriken an die Arbeiter! Land an die Bauern!“ – waren oft identisch und das gemeinsame Ziel trug sogar dazu bei, dass sich zwischen den beiden ewigen Antagonisten eine gewisse Kameradschaft entwickelte. Als ein marxistischer Redner vor einem Publikum von Arbeitern in Petersburg sagte, dass die Anarchisten die Solidarität der Arbeiterklasse in Russland zerstörten, rief einer der Zuhörer in einem wütenden Ton: „Es reicht! Die Anarchisten sind unsere Freunde!“ Eine zweite Stimme hörte man jedoch murmeln: „Gott schütze uns vor solchen Freunden!“ (Vgl. „Novaia Zhizn“, 15. November 1917, S. 1).

Obwohl sich Anarchisten und Bolschewiki in ihrer Entschlossenheit, die provisorische Regierung zu stürzen, einig waren, kam es zwischen ihnen zu Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt. Im Frühjahr und Sommer 1917 drängten die anarcho-kommunistischen Militanten in der Hauptstadt und in Kronstadt auf einen sofortigen Aufstand, während das bolschewistische Komitee in Petersburg argumentierte, dass die Zeit noch nicht reif sei und dass ein undisziplinierter Aufstand der anarchistischen und bolschewistischen Basis leicht niedergeschlagen werden könnte und damit der Partei und der Revolution irreparablen Schaden zufügen würde. Die Anarcho-Kommunisten wollten jedoch von keiner politischen Gruppierung, auch nicht von den Bolschewiki, etwas von Hinhaltetaktik hören. In ihrer Vorfreude auf das Goldene Zeitalter verfolgten sie das Projekt eines bewaffneten Aufstandes. Die Agitatoren forderten ihren Zuhörern auf, sich unverzüglich zu erheben, und versicherten ihnen, dass die Unterstützung politischer Organisationen nicht nötig sei, „weil schon die Februarrevolution ausgebrochen war, ohne dass eine Partei die Führung übernommen hatte“. (L. Trotsky, Storia della rivoluzione russa).

Die Anarchisten brauchten nicht lange zu warten. Am 3. Juli begann eine Menge von Soldaten, Kronstädter Matrosen und Arbeitern einen offenen Aufstand in der Hauptstadt und forderte die Machtübernahme durch den Petersburger Sowjet (obwohl die Anarchisten unter ihnen mehr an der Zerstörung des Staates als an der Übergabe der Macht in die Hände der Sowjets interessiert waren). Der Petersburger Sowjet weigerte sich jedoch, diese verfrühte Rebellion zu unterstützen, und nach ein paar Tagen sporadischer Unruhen wurde der Aufstand niedergeschlagen. Es wäre übertrieben, die Julitage als eine „anarchistische Schöpfung“ zu bezeichnen, wie es ein Redner auf der anarchistischen Konferenz 1918 tat. (Siehe „Burevestnik“, 11. April 1918, S. 2). Andererseits sollte die Rolle der Anarchisten nicht unterschätzt werden. Gemeinsam mit der militanten bolschewistischen Basis und den unabhängigen Radikalen übernahmen sie die Rolle des Provokateurs, der die Soldaten, Matrosen und Arbeiter zu dem zum Scheitern verurteilten Aufstand anstachelte.

Die Revolution

Nach den Julitagen bewahrheiteten sich die Befürchtungen des bolschewistischen Komitees teilweise, da die Parteiführer verhaftet wurden oder untertauchen mussten. Die Bolschewiki waren jedoch weit davon entfernt, vernichtet zu werden. Tatsächlich hatten sie im Oktober immer noch genug Kraft, um den Aufstand gegen das Kerenski-Regime erfolgreich voranzutreiben, an dem sich die Anarchisten erneut aktiv beteiligten. (In dem von den Bolschewiki dominierten revolutionären Militanten Komitee, das den Staatsstreich vom 25. Oktober organisierte, saßen mindestens vier Anarchisten). Ungeachtet der Predigten von Bakunin und Kropotkin gegen politische Putsche beteiligten sich die Anarchisten an der Machtergreifung in dem Glauben, dass diese, einmal erobert, irgendwie verbreitet und beseitigt werden könnte.

Aber es verging noch kein Tag, an dem sie es sich anders überlegten. Als die Bolschewiki am 26. Oktober eine neue „Regierung der Sowjets“ ausriefen und einen zentralen Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) schufen, der sich ausschließlich aus Mitgliedern ihrer Partei zusammensetzte, wurden viele Anarchisten an Bakunins und Kropotkins Warnungen erinnert, dass die „Diktatur des Proletariats“ in Wirklichkeit die „Diktatur der sozialdemokratischen Partei“ bedeuten würde. („Svobodnaia Kommuna“, 2. Oktober 1917, S. 2). Sie protestierten sofort mit der Behauptung, dass eine solche Konzentration der politischen Macht die im Februar begonnene soziale Revolution zerstören würde. Der Erfolg der Revolution, so betonten sie, hänge von der Dezentralisierung der politischen und ökonomischen Macht ab. Die Sowjets und Fabrikkomitees sollten dezentralisierte Einheiten bleiben, die nicht der Kontrolle von Parteiführern oder sogenannten Volkskommissaren unterworfen sind. Sollte eine politische Gruppe versuchen, sie zu Zwangsinstrumenten zu machen, musste das Volk bereit sein, wieder zu den Waffen zu greifen.

In anarchistischen Kreisen in Petersburg sprach man bald von einer „dritten und letzten revolutionären Phase“, einem entscheidenden Kampf zwischen „Autorität und Freiheit … zwischen zwei ewig widerstreitenden sozialen Idealen: dem marxistischen und dem anarchistischen“. Die Matrosen in Kronštadt begannen bedrohlich zu murmeln, dass die gleichen Kanonen, die das Winterpalais eingenommen hatten, auch Smolny (den Sitz der bolschewistischen Regierung) einnehmen würden, wenn der Sovnarkom es wagte, die Revolution zu verraten. „Wo die Autorität beginnt, endet die Revolution!“ („Golos Truda“, 4. November 1917, S. 1). Die Anarchisten hatten bald mehr und mehr Grund zur Beschwerde. Am 2. November veröffentlichte die neue Regierung eine Erklärung der Rechte des russischen Volkes, in der das „unveräußerliche Recht jeder Nation, sich selbst zu regieren, indem sie einen unabhängigen Staat errichtet“, festgehalten wurde. Für die Anarchisten bedeutete dies einen Rückschritt, den Verzicht auf ein internationalistisches und staatenloses Ideal.

Im Frühjahr 1918 war eine neue politische Polizei, die Tscheka, geschaffen worden, Land wurde verstaatlicht, Fabrikkomitees wurden der Kontrolle eines Netzwerks staatlicher Gewerkschaften/Syndikate unterstellt – kurzum, es war eine „Kommissarkratie, das Geschwür unserer Zeit“ geschaffen worden, wie die anarcho-kommunistische Vereinigung in Charkow es bissig nannte. („Bezvlastie“, März 1918, S. 1). Einem anarchistischen Pamphlet jener Zeit zufolge hatte die Konzentration der Macht in den Händen des Sovnarkom, der Tscheka und des Vesenkha (Oberster ökonomischer Rat) jeder Hoffnung auf ein freies Russland den Gnadenstoß versetzt: „Tag für Tag, Schritt für Schritt, beweist der Bolschewismus, dass die Staatsmacht unveräußerliche Eigenschaften besitzt; sie mag ihr Gewand, ihre „Theorie“ und ihre Diener wechseln, aber im Kern bleibt sie despotische Macht in neuer Form“. („Velikii opyt“, 1918).

Die Pariser Kommune, die einst als soziales Ideal beschworen wurde, um die provisorische Regierung zu ersetzen, wurde nun die anarchistische Antwort auf Lenins Diktatur. Die Arbeiter wurden aufgefordert, „die Worte, Befehle und Dekrete der Kommissare zurückzuweisen“ und ihre eigenen freiheitlichen Kommunen nach dem Vorbild von 1871 zu gründen. („Burevestnik“, 9. April 1918, S. 2). Gleichzeitig verachteten die Anarchisten den „Parlamentsfetischismus“ der Kadetten, revolutionären Sozialisten und Menschewiki gleichermaßen, und es war kein Zufall, dass ein anarchistischer Matrose aus Kronstadt, Anatoli Zhelezniakov, die Gruppe anführte, die die konstituierende Versammlung im Januar 1918 auflöste und ihre kurze Lebensdauer von nur einem Tag beendete.

Die Flut von Beschimpfungen gegen die Sowjetregierung erreichte im Februar 1918 ihren Höhepunkt, als die Bolschewiki die Friedensverhandlungen mit den Deutschen in Brest-Litowsk wieder aufnahmen. Die Anarchisten schlossen sich den anderen linken „Internationalisten“ – linken revolutionären Sozialisten, menschewistischen Internationalisten und linken Kommunisten – an und protestierten gegen jedes Abkommen mit dem deutschen „Imperialismus“. Lenin argumentierte, dass die Rote Armee zu erschöpft sei, um weiter zu kämpfen, und die Anarchisten entgegneten, dass eine Berufsarmee ohnehin fehl am Platz sei, da die Verteidigung der Revolution nun dem Volk obliege, das in Partisanenkernen organisiert sei. Einer der führenden Vertreter des Anarcho-Kommunismus, Alexandr Ge, sprach sich mit feurigen Worten gegen den Friedensvertrag aus: „Kommunistische Anarchisten verkünden Terror und Partisanenkrieg an zwei Fronten. Es ist besser, für die sozialistische Weltrevolution zu sterben, als durch ein Abkommen mit dem deutschen Imperialismus zu leben“. („Prava“, 25. Februar 1918, S. 2). Die Anarcho-Kommunisten und ihre syndikalistischen Gefährten argumentierten, dass spontan organisierte Guerillabanden in jedem Bezirk die Invasoren stören und demoralisieren würden, bis hin zu ihrer Vernichtung, wie es 1812 mit Napoleons Armee geschehen war. Volin, einer der einflussreichsten Syndikalisten, beschrieb diese Strategie kurz und bündig: „Was ihr tun müsst, ist durchhalten. Widerstand leisten. Gib nicht nach. Führt einen unerbittlichen Partisanenkrieg – hier, dort, überall. Rückt vor. Oder, wenn du dich zurückziehst, zerstöre. Quält, schikaniert und plündert den Feind.“

Doch der Appell der Anarchisten stieß auf taube Ohren. Der Vertrag von Brest-Litowsk, der noch härter war, als Ge und Volin befürchtet hatten, wurde von der bolschewistischen Delegation am 3. März 1918 unterzeichnet. Lenin bestand darauf, dass das Abkommen, so hart es auch war, eine dringend benötigte Atempause gewährte, die es seiner Partei ermöglichen würde, die Revolution zu konsolidieren und später voranzutreiben. Es war wirklich ein „dunkler Frieden“, wie sie ihn in Anlehnung an Lenins Worte nannten. (Bol’shevistkaia diktatura v svete anarkhizma, Paris 1928, S. 10). Als der Vierte Sowjetkongress am 14. März zusammentrat, um den Vertrag zu ratifizieren, stimmten Alexandr Ge und seine Gefährten (es waren vierzehn) alle gegen den Vertrag. („Izvestiia“, 17. März 1918, S. 2).

Der Streit um den Vertrag von Brest-Litowsk beseitigte alle Hemmungen, die aufkeimende Zwietracht zwischen den Anarchisten und der bolschewistischen Partei. Mit dem Sturz der provisorischen Regierung im Oktober 1917 hatte ihre Ehe ihren Zweck erfüllt. Im Frühjahr 1918 war die Enttäuschung über Lenin bei den meisten Anarchisten so groß, dass sie sich zweifellos einen endgültigen Bruch mit ihm wünschten, während die Bolschewiki ihrerseits über die Beseitigung ihrer ehemaligen Verbündeten nachdachten, die ihnen nicht mehr nützlich waren und deren unablässige Kritik das neue Regime nicht dulden konnte. Abgesehen von ihrer lästigen verbalen Aggression stellten die Anarchisten außerdem allmählich eine greifbarere Gefahr dar. Teilweise in Vorbereitung auf einen zukünftigen Guerillakrieg gegen Deutschland, teilweise um feindliche Manöver der sowjetischen Regierung abzuschrecken, organisierten anarchistische Kreise Kerne von „Schwarzen Wachen“ (die schwarze Flagge war das Banner der Anarchisten), die mit Gewehren, Pistolen und Granaten bewaffnet waren. Im April 1918, als die Tscheka eine Kampagne startete, um Moskau und Petersburg von den gefährlichsten anarchistischen Zellen zu befreien, kam es zum offenen Bruch. Die schwerste Aktion fand am 11. April statt, als nachts sechsundzwanzig anarchistische Hauptquartiere in Moskau überfallen wurden, wobei vierzig Anarchisten getötet oder verwundet und mehr als fünfhundert verhaftet wurden. Die Anarchisten protestierten und beschuldigten die Bolschewiki, eine Kaste von individualistischen Intellektuellen zu sein, die Verräter an den Massen und der Revolution seien.

Die politische Macht, so erklärten sie, korrumpiert immer diejenigen, die sie an sich reißen, und betrügt das Volk um seine Freiheit. Doch auch wenn ihnen das goldene Zeitalter entglitt, ließen sich die Anarchisten nicht entmutigen. Sie klammerten sich hartnäckig an den Glauben, dass ihre Vision einer Utopie jenseits des Staates am Ende triumphieren würde. „Lasst uns weiterkämpfen“, verkündeten sie, „und unser Motto wird sein: ‚Die Revolution ist tot! Es lebe die Revolution!’“ (G. P. Maksimov, The Guillotine at Work, Chicago 1940, S. 23).

Der Bürgerkrieg

Als die ersten Schüsse des russischen Bürgerkriegs fielen, standen die Anarchisten wie die anderen linken Oppositionsparteien vor einem schweren Dilemma. Auf welcher Seite sollten sie stehen? Als gute Libertäre waren sie mit der diktatorischen Politik von Lenins Regierung nicht einverstanden. Aber die Aussicht auf einen weißen Sieg schien noch schlimmer. Aktiver Widerstand gegen das Sowjetregime könnte den Ausschlag zugunsten der Konterrevolutionäre geben. Andererseits konnte die Unterstützung der Bolschewiki dazu dienen, ihre Macht so weit zu festigen, dass sie nicht mehr untergraben werden konnten, sobald die Gefahr der Reaktion vorüber war. Die Lösung war nicht einfach. Nach vielen Diskussionen und Grübeleien nahmen die Anarchisten verschiedene Positionen ein, die vom aktiven Widerstand gegen die Bolschewiki über passive Neutralität bis hin zur aktiven Kollaboration reichten. Die Mehrheit jedoch verband ihr Schicksal mit dem des bedrohten Sowjetregimes. Im August 1919, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, war Lenin von dem Eifer und dem Mut dieser „Anarchistinnen und Anarchisten der Sowjets“, wie ihre antibolschewistischen Gefährten sie verächtlich nannten, so beeindruckt, dass er sie zu den „treuesten Anhängern der Sowjetmacht“ zählte. (Lenin, Opere complete, vol. XXXIX, p. 161).

Ein besonders bemerkenswerter Fall in dieser Hinsicht war der von Bill Shatov, einem ehemaligen IWW-Agitatoren in den USA, der nach der Februarrevolution in seine Heimat Russland zurückkehrte. Als Offizier der 10. Roten Armee verteidigte Shatov im Herbst 1919 Petersburg mit aller Kraft gegen den Vormarsch von General Judenič. Im folgenden Jahr wurde er nach Čita berufen, wo er Verkehrsminister der fernöstlichen Republik wurde. Vor seiner Abreise versuchte Shatov, seine kollaborative Haltung gegenüber seinen libertären Freunden Emma Goldman und Alexandr Berkman zu rechtfertigen. „Ich will euch nur sagen“, erklärte er, „dass der gegenwärtige kommunistische Staat genau so ist, wie wir Anarchisten ihn immer beschrieben haben – eine stark zentralisierte Macht, die durch die Gefahren der Revolution noch stärker wird. Unter solchen Bedingungen kannst du nicht tun, was du willst. Du kannst nicht einfach auf einen Zug aufspringen und losfahren oder auf Puffern sitzend reisen, wie ich es in den USA getan habe. Du musst um Erlaubnis bitten. Aber glaube nicht, dass ich meine amerikanischen „Glücksfälle“ vermisse. Ich habe mein Leben Russland gewidmet, der Revolution und ihrer glorreichen Zukunft“. Die Anarchisten, so Schatow, waren die „Romantiker der Revolution“, aber man konnte nicht nur mit Idealen kämpfen. Zu dieser Zeit war das Hauptziel, die Reaktionäre zu besiegen. „Wir Anarchisten müssen unseren Idealen treu bleiben, aber in dieser Zeit dürfen wir nicht kritisieren. Wir müssen arbeiten und helfen, etwas aufzubauen.“ (Siehe A. Berkman, The Bolshevik Myth, New York 1925, S. 35-36).

Schatow war einer von vielen Anarchisten, einer regelrechten Armee, die im Bürgerkrieg gegen die Weißen zu den Waffen griffen. Andere nahmen kleinere Posten in der sowjetischen Regierung an und stachelten ihre Gefährten dazu an, dies ebenfalls zu tun oder zumindest von Aktivitäten Abstand zu nehmen, die der bolschewistischen Sache feindlich gegenüberstanden. Iuda Roshchin, ein ehemaliger Terrorist und unerbittlicher Feind der Marxisten, überraschte alle, als er Lenin als eine der größten Persönlichkeiten der Neuzeit begrüßte. Laut Victor Serge versuchte Roshchin sogar, eine „libertäre Theorie der Diktatur des Proletariats“ zu entwerfen. (Victor Serge, Memorie di un rivoluzionario 1901-1904, tr. it., La Nuova Italia, Firenze 1974). 1920 forderte er seine Gefährten in einer Rede vor einer Gruppe Moskauer Anarchisten auf, mit Lenins Partei zusammenzuarbeiten. „Es ist die Pflicht eines jeden Anarchisten“, erklärte er, „in herzlicher Zusammenarbeit mit den Kommunisten zu arbeiten, die die Avantgarde der Revolution sind. Lasst eure Theorien beiseite und leistet einen praktischen Beitrag zum Wiederaufbau Russlands. Es besteht ein großer Bedarf und die Bolschewiki erwarten euch mit offenen Armen“. (Ebd.).

Die Zuhörer, die Roshchin ansprach, waren nicht beeindruckt. Sie begrüßten seine Rede mit Buhrufen und Beschimpfungen und strichen ihn als Verräter der Sache des „sowjetischen Anarchismus“ und als Verräter an der Sache von Bakunin und Kropotkin von der Liste. Selbst in dieser prekären Zeit wollte ein großer und kämpferischer Teil der anarchistischen Bewegung kein Pardon mit den bolschewistischen Gegnern geben. Die anarchistische Föderation von Brjansk zum Beispiel forderte den sofortigen Sturz der „sozialen Vampire“ des Kremls, die das Blut des Volkes aussaugen würden. Als Reaktion auf diesen Aufruf verbündete sich eine Moskauer Terrororganisation, die so genannten „Geheimen Anarchisten“, mit dem linken Flügel der revolutionären Sozialisten und warf eine Bombe in die Zentrale des Kommunistischen Parteikomitees, wobei zwölf seiner Mitglieder getötet und fünfundfünfzig weitere verletzt wurden, darunter auch Bucharin. Im Süden, wo die Autorität des Staates völlig zerbrochen war, fand die anarchistische Gewalt den fruchtbarsten Boden. Überall tauchten bewaffnete Banden von Marodeuren auf, die unter Namen wie „Hurrikan“ und „Tod“ agierten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Städte und Dörfer überfielen. Die Partisanen von Bakunin aus Jekaterinoslaw sangen von einem neuen „Dynamit-Zeitalter“, das Unterdrücker aller Richtungen, ob rot oder weiß, willkommen heißen würde. Und in Charkow verkündete ein Kreis fanatischer Anarcho-Futuristen „Tod der Weltzivilisation!“ und stachelte die Massen dazu an, ihre Äxte zu ergreifen und alles um sie herum zu zerstören.

Friedlichere Anarchisten prangerten diese Gruppen an und nannten sie „sizilianische Banditen“, die die räuberische Natur ihrer Aktivitäten unter dem Deckmantel der Anarchie verbargen. Für die Gemäßigten waren Raubüberfälle und Terrorismus groteske Karikaturen der anarchistischen Doktrin, die nur dazu dienten, die wahren Anhänger der Bewegung zu demoralisieren und den Anarchismus in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die gemäßigteren Anarchisten verzichteten auf gewaltsame Aktionen und griffen die sowjetische Diktatur nur mit Feder und Tinte an. Eines der Hauptargumente ihrer Kritik lautete, dass die bolschewistische Revolution nichts anderes getan habe, als den Privatkapitalismus durch einen „Staatskapitalismus“ zu ersetzen, und dass ein Großgrundbesitzer an die Stelle vieler kleiner Kapitalisten getreten sei, so dass die Bauern und Arbeiter nun unter der Fuchtel einer „neuen Klasse von Verwaltern – die hauptsächlich aus der Intelligenzija stammen“ – stünden. Ihrer Meinung nach erinnerte das, was in Russland geschah, stark an frühere Revolutionen, die in Westeuropa ausgebrochen waren: Sobald die Bauern und Handwerker in England und Frankreich den Landadel von der Macht verdrängt hatten, sprang die ehrgeizige Bourgeoisie in die Bresche und errichtete eine neue Klassenstruktur, in der sie sich selbst an die Spitze setzte; nicht anders waren die Privilegien und die Macht, die einst zwischen dem russischen Adel und der Bourgeoisie aufgeteilt waren, in die Hände einer neuen herrschenden Klasse übergegangen, die sich aus Parteifunktionären, Regierungsbürokraten und technischen Spezialisten zusammensetzte.

Als sich der Bürgerkrieg zuspitzte, wurde die Regierung immer weniger tolerant gegenüber Kritik und begann, anarchistische Gruppen in Moskau und Petersburg zu verfolgen. Zeitungen wurden verboten, Vereine und Organisationen gezwungen, ihre Türen zu schließen oder in die Klandestinität zu gehen. Um sich zu rechtfertigen, argumentierten die Regierungssprecher, dass sich das Land in einem tödlichen Kampf befand, bedroht von einer taumelnden ökonomischen Krise und mächtigen Feinden, die von allen Seiten auf die bolschewistische Macht eindrangen und sie stürzen wollten. Das bolschewistische Russland, so betonten sie, war trotz seiner Mängel der erste sozialistische Staat in der Geschichte, das erste Land, in dem Grundbesitzer und Kapitalisten ihrer jahrhundertealten Macht beraubt worden waren. Ein Sieg der Weißen hätte eine Rückkehr zu Ungerechtigkeit und Ausbeutung, zu der sterilen und anachronistischen Politik der Vergangenheit bedeutet; er hätte auch eine neue Diktatur bedeutet, aber eher eine antiproletarische als eine antibourgeoise. Die Bolschewiki hatten nicht die Absicht, Drohungen von irgendeiner Gruppe zu dulden, schon gar nicht von einer, die sich aktiv gegen den Vertrag von Brest-Litowsk ausgesprochen und Abordnungen von „Schwarzen Wachen“ organisiert hatte, die in der Hauptstadt schwere Unruhen auslösen konnten. In der Tat hing das Schicksal der Revolution, wie Trotzki sagte, jeden Tag an einem seidenen Faden.

Die Repressionen gingen also weiter. Infolgedessen begann ein Exodus von Anarchisten in die Ukraine, die schon immer eine Anlaufstelle für diejenigen war, die vor der Verfolgung durch die Zentralregierung flohen. 1918 entstand in der Stadt Charkow eine neue anarchistische Organisation, die Nabat (Alarm) Konföderation, die bald in allen großen Städten des Südens blühende Sektionen hatte. Wie zu erwarten war, standen die Nabat-Anhänger der Sowjetdiktatur äußerst kritisch gegenüber, doch sie waren der Meinung, dass die vordringlichste Aufgabe der anarchistischen Bewegung die Verteidigung der Revolution gegen die weiße Aggression sei, auch wenn dies ein vorübergehendes Bündnis mit den Kommunisten bedeuten könnte. Um die Revolution zu retten, setzten sie ihre Hoffnungen auf eine „Partisanenarmee“, die spontan von den revolutionären Massen selbst organisiert wurde.

Nestor Machno

Die Nabat- Anführer sahen in der Guerillagruppe von Nestor Machno, den seine Anhänger für einen neuen Sten’ka Razin oder Pugačëv hielten, der geschickt wurde, um ihren langjährigen Traum von Land und Freiheit zu verwirklichen, den Kern einer solchen Armee. Machno und seine Männer zogen zu Pferd in leichten Karren (Tachanki), auf denen sie Maschinengewehre montierten, schnell von einem Ende der Steppe zum anderen, zwischen dem Dnepr und dem Asowschen Meer, verwandelten sich unterwegs in eine kleine Armee und verbreiteten Angst und Schrecken in den gegnerischen Reihen. Banden von Guerillas akzeptierten Machnos Kommando und versammelten sich unter seiner schwarzen Flagge. Die Dorfbewohner versorgten sie bereitwillig mit Lebensmitteln und frischen Pferden, so dass die Machnowisten problemlos große Entfernungen zurücklegen konnten. Sie tauchten plötzlich dort auf, wo man sie am wenigsten erwartete, griffen Landbesitzer und Militärgarnisonen an und verschwanden dann so schnell, wie sie gekommen waren. In gestohlenen Uniformen drangen sie in die Reihen der Feinde ein, um deren Pläne zu stehlen oder sie aus nächster Nähe zu erschießen. Wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen, vergruben die Machnowisten ihre Waffen, kehrten in ihre Dörfer zurück und nahmen ihre Arbeit auf den Feldern wieder auf, um auf das nächste Signal zu warten, ein weiteres Arsenal auszugraben und an den unerwartetsten Orten aufzutauchen. Victor Serge zufolge bewiesen Machnos Rebellen „eine wahrhaft epische Fähigkeit zur Organisation und zum Kampf“. (Op. cit.). Ein großer Teil ihres Erfolgs war jedoch auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihres Anführers zurückzuführen. Machno war ein mutiger und einfallsreicher Befehlshaber, der einen eisernen Willen mit einem ausgeprägten Sinn für Humor verband und die Liebe und Ergebenheit seiner bäuerlichen Gefolgsleute gewann. Als er im September 1918 die weitaus zahlreicheren österreichischen Truppen im Dorf Dibrivski besiegte, gaben ihm seine Männer den liebevollen Spitznamen „Batko“, ihr „kleiner Vater“. (P. Aršinov, La rivoluzione anarchica in Ucraina, Tr. it., Sapere Edizioni, Mailand 1972).

Eine Zeit lang blieben die Beziehungen zwischen Machno und den Bolschewiki recht freundschaftlich und die sowjetische Presse pries ihn als „mutigen Partisanen“ und großen Revolutionsanführer. Die beste Zeit war im März 1919, als Machno und die Kommunisten einen Pakt schlossen, um gemeinsam militärisch gegen die Weiße Armee von General Denikin vorzugehen. Doch diese Haltung der guten Harmonie konnte nicht über die grundlegende Feindschaft zwischen den beiden Gruppen hinwegtäuschen. Den Kommunisten gefiel weder der unabhängige Charakter von Machnos aufständischer Armee noch die starke Anziehungskraft, die sie auf ihre Anhänger auf dem Lande ausübte; die Machnowisten ihrerseits befürchteten, dass die Rote Armee früher oder später versuchen würde, die Bewegung wieder in die Schranken zu weisen. Als die Spannungen zunahmen, hörten die sowjetischen Zeitungen auf, die Machnowisten zu loben und beschuldigten sie, Kulaken und „anarchistische Banditen“ zu sein. Im Mai wurden zwei Tscheka-Agenten, die ein Attentat auf Machno verüben sollten, gefangen genommen und hingerichtet. Im folgenden Monat ächtete Trotzki, der Oberbefehlshaber der bolschewistischen Streitkräfte, Machno und kommunistische Truppen führten einen Blitzangriff auf sein Hauptquartier in Gulyai-Polje durch.

Im Sommer wurde das unsichere Bündnis jedoch wiederhergestellt, als Denikins massive Offensive gegen Moskau sowohl die kommunistischen als auch die machnowistischen Kräfte ins Wanken brachte. Am 26. September 1919 startete Machno plötzlich einen erfolgreichen Gegenangriff auf das Dorf Peregonovka in der Nähe der Stadt Uman‘, wodurch der Nachschub für den Weißen General unterbrochen wurde und Unordnung und Panik in seinem Rücken entstand. Dies war die erste große Niederlage, die Denikin während seines dramatischen Vormarsches ins Herz Russlands erlitt, und eine der Hauptursachen, die seine Offensive gegen die bolschewistische Hauptstadt zum Stillstand brachte. Gegen Ende des Jahres zwang eine Gegenoffensive der Roten Armee Denikin zu einem raschen Rückzug an die Küste des Schwarzen Meeres.

Der Machnowismus erreichte in den Monaten nach dem Sieg bei Peregonowka den Höhepunkt seines Ruhms. Im Oktober und November besetzte Machno für mehrere Wochen Jekaterinoslaw und Alexandrowsk und hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, die Konzepte der Anarchie auf das Stadtleben anzuwenden, was er bereits auf dem Land mit der Gründung der libertären Kommunen getan hatte. Machno strebte die Zerstörung aller Formen von Herrschaft und die Förderung der Selbstbestimmung im ökonomischen und sozialen Bereich an. Als zum Beispiel die Eisenbahner in Alexandrowsk protestierten, weil sie seit mehreren Wochen nicht bezahlt worden waren, riet er ihnen, die Kontrolle über die Eisenbahnlinien zu übernehmen und den Passagieren und Güterwagen den Tarif aufzuerlegen, der ihnen eine gerechte Entlohnung für ihre Leistung zu sein schien. Utopische Projekte dieser Art hatten jedoch keinen Erfolg, außer bei kleinen Minderheiten von Arbeitern, denn im Gegensatz zu den Bauern und Dorfhandwerkern, unabhängigen Produzenten, die es gewohnt waren, ihre eigenen Unternehmen zu führen, arbeiteten Fabrikarbeiter und Bergleute als voneinander abhängige Teile eines komplexen industriellen Mechanismus und waren ohne die Anleitung von Superintendenten und erfahrenen Technikern verloren. Außerdem konnten Bauern und Handwerker die Produkte ihrer Arbeit tauschen, während das Überleben der Stadtarbeiter von einem regelmäßigen Lohn abhing. Andererseits sorgte Machno für noch mehr Verwirrung, indem er alle von seinen Vorgängern – ukrainischen Nationalisten, Weißen und Bolschewiken – ausgegebenen Papiergelder als gleichwertig anerkannte. Er hat die komplexe Natur der städtischen Ökonomie nie verstanden, und es war ihm auch egal. Er verabscheute das „Gift“ der Städte und liebte vor allem die natürliche Einfachheit der bäuerlichen Umgebung, in der er geboren wurde. Dennoch fand Machno wenig Zeit, um seine ungewissen ökonomischen Pläne zu entwickeln. Er war immer in Bewegung und gönnte sich keine Ruhepause. In den Worten eines Gefährten des Batko war der Machnowismus eine „Republik in Tatschanka…. Wie immer erlaubte die instabile Situation keine endgültige Verpflichtung zur Arbeit“. (Volin, op. cit.).

Ende 1919 erhielt Machno von der Führung der Roten Armee die Anweisung, seine Armee an die polnische Front zu verlegen. Der Befehl zielte offensichtlich darauf ab, die Machnowisten aus ihrem Gebiet zu vertreiben, damit die bolschewistische Regierung dort eingesetzt werden konnte. Machno weigerte sich, sich zu bewegen. Trotzkis Antwort war hart und entschlossen: Er verbot die Machnowisten und schickte seine Truppen gegen sie. Es folgten acht Monate harter Kämpfe, mit schweren Verlusten auf beiden Seiten. Eine schwere Typhusepidemie erhöhte die Zahl der Opfer. Auf eine Minderheit reduziert, vermieden Machnos Partisanen offene Kämpfe und griffen auf die Guerillataktik zurück, die sie in mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg perfektioniert hatten.

Die Feindseligkeiten wurden im Oktober 1920 abgebrochen, als Baron Wrangel, Denikins Nachfolger an der Südfront, von der Halbinsel Krim aus eine Großoffensive in Richtung Norden startete.

Erneut nahm die Rote Armee Machnos Hilfe in Anspruch. Im Gegenzug versprachen die Kommunisten allen Anarchisten in russischen Gefängnissen Amnestie und garantierten ihnen Propagandafreiheit, sofern sie nicht den gewaltsamen Umsturz der Sowjetregierung predigten. Nach nicht einmal einem Monat hatte die Rote Armee jedoch genug Gewinne erzielt, um den Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, und die Sowjetführung kündigte ihre Vereinbarungen mit Machno. Die Machnowisten hatten nicht nur ihre Funktion als militärische Verbündete erschöpft, sondern solange die Batko frei blieb, würden der Geist des primitiven Anarchismus und die Gefahr einer bäuerlichen Jacquerie das instabile bolschewistische Regime weiterhin bedrohen. So wurden am 25. November 1920 die Kommandeure von Machno auf der Krim, die von ihrem Sieg über Wrangels Armee zurückkehrten, von der Roten Armee gefangen genommen und sofort erschossen. Am nächsten Tag befahl Trotzki den Angriff auf Machnos Hauptquartier in Gulyai-Polje, während die Tscheka gleichzeitig Mitglieder der Konföderation Nabat in Charkow verhaftete und im ganzen Land Razzien gegen anarchistische Zentren und Organisationen durchführte. Während des Angriffs auf Gulyai-Polye wurden die meisten von Machnos Mitstreitern gefangen genommen und inhaftiert oder einfach auf der Stelle getötet. Batko gelang es jedoch, mit den angeschlagenen Überlebenden einer Armee, die einst Zehntausende zählte, seinen Verfolgern zu entkommen. Nachdem er ein ganzes Jahr lang durch die Ukraine gewandert war, überquerte der erschöpfte Partisanenanführer, der unter seinen Wunden litt, den Fluss Dnestr, durchquerte Rumänien und fand schließlich in Paris Unterschlupf.

Repression

Der Fall von Machno bedeutete den Anfang vom Ende für den russischen Anarchismus. Drei Monate später, im Februar 1921, erlitt die Bewegung einen weiteren schweren Schlag, als Pjotr Kropotkin, fast 80 Jahre alt, an Tuberkulose erkrankte und starb. Die Familie Kropotkin lehnte das von Lenin angebotene Staatsbegräbnis ab und ein Komitee von Anarchisten wurde organisiert, um die Zeremonie durchzuführen. Lew Kamenew, der Präsident des Moskauer Sowjets, gewährte einer Gruppe von inhaftierten Anarchisten einen Tag Freiheit, damit sie an der Beerdigung teilnehmen konnten. Zehntausende Anarchisten trotzten dem eisigen Moskauer Winter und zogen zum Nowodewitschi-Kloster, der Grabstätte der Kropotkin-Fürsten. Sie hissten Fahnen und Plakate, auf denen sie die Freilassung aller Anarchisten forderten, und trugen Mottos wie „Es gibt keine Freiheit, wo es Autorität gibt“ und „Die Befreiung der Arbeiterklasse gehört nur den Arbeitern“. Sie skandierten im Chor „Ewiges Gedenken“. Als der Zug am Butyrsky-Gefängnis vorbeikam, rüttelten die Insassen an den Gitterstäben ihrer Zellen und sangen eine anarchistische Hymne zu Ehren der Toten. Emma Goldman hielt eine Ansprache an Kropotkins Grab, Studenten und Arbeiter legten Blumen neben seinem Grab nieder. Das Geburtshaus Kropotkins, eine große Villa im alten Adelsviertel Moskaus, wurde seiner Frau und seinen Gefährten geschenkt, die es in ein Museum umwandelten, in dem seine Bücher, Papiere und persönlichen Gegenstände aufbewahrt werden. Es wurde von einem Komitee anarchistischer Gelehrter geleitet und dank der Beiträge von Freunden und Bewunderern aus der ganzen Welt erhalten. Nach dem Tod von Kropotkins Witwe im Jahr 1938 wurde das Museum geschlossen. Im Jahr 1967 besuchte der Autor das Gebäude und entdeckte, dass es für einen Zweck genutzt wurde, den Kropotkin selbst gutgeheißen hätte: Es wurde als Schule für die Kinder von Beamten der britischen und amerikanischen Botschaften genutzt, mit einem Spielplatz im Garten und einem Innenraum voller Kinderbücher und deren Kunstwerke.

Bei Kropotkins Beerdigung wehte die Fahne der Anarchie zum letzten Mal durch die Straßen von Moskau. Zwei Wochen später brach der Aufstand in Kronštadt aus und eine neue Welle politischer Verhaftungen wurde im Land ausgelöst. Buchläden, Druckereien und anarchistische Zentren wurden geschlossen und die wenigen Kreise zerstört. Sogar Tolstois pazifistische Anhänger – von denen einige während des Bürgerkriegs erschossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, in der Roten Armee zu dienen – wurden inhaftiert oder verbannt. In Moskau wurde eine Gruppe bekannter „Anarchisten der Sowjets“, die so genannten „Universalisten“, unter fadenscheinigen Anschuldigungen wie „Banditentum und klandestine Aktivitäten“ verhaftet und ihre Organisation durch eine neue Gruppe, die so genannten „biokosmistischen Anarchisten“, ersetzt, die versprachen, die Sowjetregierung entschieden zu unterstützen, und feierlich ihre Absicht bekundeten, eine soziale Revolution „im interplanetarischen Raum, aber nicht auf sowjetischem Territorium“ durchzuführen. (Maksimov, op. cit., S. 362).

Die Repression ging in den folgenden Monaten unvermindert weiter. Im September 1921 ließ die Tscheka zwei bekannte Anarchisten – Fanja Baron und Lev Černyj, den Dichter – ohne Gerichtsverfahren und ohne formelle Anklage hinrichten. Emma Goldman war darüber so empört, dass sie daran dachte, eine theatralische Geste nach dem Vorbild der englischen Suffragetten zu machen, indem sie sich im Atrium des Saals, in dem der dritte Kongress der Komintern tagte, an eine Bank kettete und den Delegierten ihre Empörung ins Gesicht brüllte. Ihre Freunde rieten ihr davon ab, aber kurz darauf beschlossen sie und Alexandr Berkman, die vom Weg der Revolution zutiefst desillusioniert waren, das Land zu verlassen. „Dies sind graue Tage“, schrieb Berkman in ihr Tagebuch, „nach und nach ist jede Spur von Hoffnung verblasst. Terror und Despotismus haben das Leben, das im Oktober geboren wurde, vernichtet. Die Slogans der Revolution sind verraten worden, ihre Ideale im Blut des Volkes erstickt. Die Diktatur trampelt auf den Massen herum. Die Revolution ist tot; ihr Geist schreit in der Wildnis…. Ich habe beschlossen, Russland zu verlassen“.

Fazit

Fünfzig Jahre sind seit der Unterdrückung der russischen Anarchisten vergangen, und aus historischer Sicht erscheint die Rolle, die sie in der Revolution von 1917 spielten, rätselhafter denn je. Wenn man die Schriften aus der Revolutionszeit liest, ist man immer wieder erstaunt über die Schärfe ihrer Kritik am autoritären Sozialismus, den prophetischen Charakter ihrer Warnung vor der Gefahr einer zentralisierten Macht und die Relevanz ihrer Ideen für die Gegenwart. Mit ihrem Ideal einer dezentralisierten Gesellschaft und ihrem Programm der direkten Aktion haben die Anarchisten einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Mit ihrer Kritik an der „neuen Klasse“, ihrem glühenden Antimilitarismus, ihrem Kampf für die Befreiung der Frau, der Gründung „freier Universitäten“ und ihrem ökologischen Anliegen eines Gleichgewichts zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur, ganz zu schweigen von ihrem bombastischen Terrorismus und ihrem verächtlichen Verhalten vor Gericht, erscheinen sie auch heute noch erstaunlich aktuell. Das erklärt auch das erneute Interesse am Anarchismus in den letzten Jahren, vor allem unter jungen Menschen. Die Vitalität des anarchistischen Ideals ist heute deutlicher als je zuvor. Für eine wachsende Zahl junger Rebellen stellt der libertäre Sozialismus eine Alternative zum gescheiterten autoritären Sozialismus dar, insbesondere zu dem, der sich in Russland unter der kommunistischen Herrschaft entwickelt hat. Der Traum von einer dezentralisierten Gesellschaft mit autonomen Gemeinden und Gewerkschafts- und Syndikatsverbänden zieht immer mehr Menschen an, die einer zentralisierten, konformistischen und künstlichen Welt entfliehen wollen. Kein Wunder also, dass bei Demonstrationen an Universitäten in Berkeley und Paris hin und wieder die schwarze Flagge entrollt wird.

Die Betonung des Natürlichen, Spontanen und Nicht-Systemischen, der Wunsch nach einem einfacheren und gerechteren Leben, das Misstrauen gegenüber Bürokratie und zentraler Macht und die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Emanzipation mit freiheitlichen und nicht mit autoritären Methoden erreicht werden muss – all das ist das Ergebnis der Erfahrungen der Anarchisten in der russischen Revolution. Denn Sozialismus ohne Freiheit ist, wie sowohl Proudhon als auch Bakunin feststellten, die schlimmste Form der Tyrannei. Das war vielleicht die wichtigste Lektion der Revolution.


Atheismus

Erhebt euch!

Erhebt euch! Erhebt euch, Leute! Ruft mit mächtiger Stimme: Genug! Ich will kein Automat sein. Keine Despoten und Parasiten mehr. Ich bin ein Mensch! Ich will leben und mein eigenes Leben gestalten. Ich habe das Recht zu leben und glücklich zu sein. Ich will, dass mein Glück auch das Glück der anderen ist. Ich will nicht länger ein Spielball in den Händen von despotischen himmlischen oder irdischen Göttern sein. In diesem Moment, in dieser Stunde, nehme ich mein Schicksal selbst in die Hand und lehne jede weitere Berufung auf sichtbare oder unsichtbare Gottheiten ab. Ihr unsichtbaren Himmelsgötter! Ihr nennt euch selbst Götter der Gerechtigkeit. Aber wo ist eure Gerechtigkeit? Ihr nennt euch Götter der Wahrheit. Aber wo ist eure Wahrheit? Ihr behauptet, dass ihr die Bösen bestraft. Aber was ist eure Bestrafung? Ihr seid omnipotent. Aber wo ist eure Macht? Du hast die Gabe der Allgegenwärtigkeit. Aber wo bist du dann? Ihr seid allwissende Götter – ihr wusstet von diesen Verbrechen und habt sie zugelassen. Und jetzt, wo die Menschen zu Tausenden umkommen und die ganze Welt in Blut ertrinkt, versagt ihr, die allmächtigen Götter, diesem dramatischen Albtraum der Menschheit ein Ende zu setzen. Ihr habt die Gabe der Allgegenwärtigkeit – und ihr starrt schweigend auf das Meer der Tränen und die Flüsse des Blutes. Ihr habt nicht einen Funken Mitgefühl für die Menschen, die ihr geschaffen habt. Ihr segnet diese Orgie der tierischen Leidenschaften. Ihr lebt vom Blut. Ihr lebt vom Tod. Ihr freut euch über das Unglück der Menschen. Ihr seid Götter nicht des Lebens, sondern des Todes, nicht des Glücks, sondern des Elends, nicht der Freiheit, sondern der Unterdrückung. Ihr seid Despoten, Verbrecher, Tyrannen. Blutdürstige Götter. Eure göttlichen Machenschaften offenbaren sich in diesen törichten Wünschen: – Ich will – also schaffe ich. Ich will – also nehme ich. Ich will – für mich allein. Ich will – damit er im Nebel bleibt.

Erhebt euch! Steht auf, Leute! Verscheucht den Albtraum, der euch umgibt. Ergreift die Stimme der Wahrheit. Macht Schluss mit den törichten Begierden der irdischen und himmlischen Götter. Sagt: „Genug, ich bin aufgestanden!“ Und du wirst frei sein.

[Selitsky, „Prosnis“, in „Vol’nyi Kronštadt“, 12. Oktober 1917, S. 2].  

Atheistisches Manifest

Es ist schwer zu sagen, wann das menschliche Denken zum ersten Mal die Existenz Gottes erkannt hat. Aber nachdem er sie erkannt hatte, lehnte er sie ab. Wahrscheinlich folgte die Ablehnung Gottes unmittelbar auf seine Vorstellung, auf die erste Erkenntnis seiner Existenz. Auf jeden Fall ist sie sehr alt, und die Saat des Unglaubens geht schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte auf. Viele Jahrhunderte lang wurden diese bescheidenen Triebe des Atheismus jedoch von der giftigen Brennnessel des Theismus erstickt. Aber das Bedürfnis und die Vorstellung von Freiheit im menschlichen Denken sind zu stark, um sich nicht durchzusetzen. Und tatsächlich haben sie sich durchgesetzt. Unter ihrem Druck erweiterten alle Religionen ihren Horizont, gaben allmählich an allen Fronten nach und verwarfen, was noch eine Generation zuvor unverzichtbar schien. Im Kampf um das eigene Überleben ist die Religion viele Kompromisse eingegangen, hat Absurditäten akkumuliert und das Unvereinbare miteinander kombiniert.

Die naiven Legenden über den Ursprung der Erde, Legenden, die von einem Hirtenvolk zu Beginn des Lebens geschaffen wurden, wurden aufgegeben und in die Mythologie der „heiligen Texte“ verbannt. Unter dem Druck der Wissenschaft lehnte die Religion den Teufel und die Inkarnation der Gottheit ab. Gott offenbarte sich uns nun als Vernunft, Gerechtigkeit, Liebe, Frieden usw. Da es unmöglich war, den Inhalt der Religion zu retten, bewahrten die Menschen ihre Form, wohl wissend, dass sie jeden Inhalt, der ihr aufgezwungen wurde, formen würde.

Der sogenannte Fortschritt der Religion ist nichts anderes als eine Reihe von Zugeständnissen, um den Willen, das Denken und das Fühlen zu emanzipieren. Ohne ihre hartnäckigen Angriffe hätte die Religion noch heute ihren ursprünglichen, rohen und naiven Charakter. Das Denken hat jedoch andere Siege errungen. Sie zwang die Religion nicht nur auf den Weg des Progressivismus, oder genauer gesagt, sie zwang sie zu neuen Formen, sondern machte einen eigenständigen kreativen Schritt, indem sie sich immer mutiger auf einen offenen, militanten Atheismus zubewegte.

Und unserer ist ein militanter Atheismus. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, offen und rücksichtslos gegen alle religiösen Dogmen zu kämpfen, egal welche Konfession sie haben und welches philosophische System sich hinter ihrem religiösen Kern verbirgt. Wir werden jeden Versuch bekämpfen, die Religion zu reformieren oder anachronistische Konzepte aus der Vergangenheit in das geistige Gepäck der heutigen Menschheit zu schmuggeln. Für uns sind alle Götter gleichermaßen abstoßend, blutrünstig oder menschlich, neidisch oder gütig, rachsüchtig oder vergebend. Entscheidend ist nicht, was für Götter sie sind, sondern die Tatsache, dass sie Götter sind – also unsere Herren, unsere Herrscher – und dass wir unsere geistige Freiheit zu sehr lieben, um uns vor ihnen zu verneigen.

Deshalb sind wir Atheisten. Wir werden den Atheismus mutig unter den arbeitenden Massen propagieren, die ihn mehr als alle anderen brauchen. Wir haben keine Angst vor dem Vorwurf, dass wir den Menschen durch die Zerstörung ihres Glaubens auch die moralische Grundlage entziehen, auf der sie ihre Existenz aufbauen – ein Vorwurf, der von jenen selbsternannten „Freunden des Volkes“ erhoben wird, die Religion und Moral für untrennbar halten. Wir behaupten im Gegenteil, dass die Moral frei von jeder Verbindung mit der Religion sein kann und muss, und diese unsere Überzeugung beruht auf den Lehren der modernen Wissenschaft. Nur durch die Zerstörung alter religiöser Dogmen werden wir das große, positive Ergebnis erzielen, das Denken und Fühlen von ihren alten, rostigen Ketten zu befreien.

Und was kann am besten dazu dienen, diese Fesseln zu sprengen?

In diesem Universum oder in der Geschichte der Völker gibt es keine objektiven Ideen. Eine objektive Welt ist ein Unsinn. Wünsche und Bestrebungen gehören ausschließlich zur Persönlichkeit des Individuums und es ist das freie Individuum, das wir über alles stellen. Wir wollen die alte, abstoßende religiöse Moral zerstören, die verkündet: „Sei gut, oder Gott wird dich bestrafen“. Wir widersetzen uns dieser Erpressung und verkünden: „Tu, was sich für dich richtig anfühlt, ohne dich mit irgendjemandem abzusprechen und nur weil es sich für dich richtig anfühlt“. Ist das wirklich nur ein zerstörerisches Werk?

Unsere Liebe für die menschliche Persönlichkeit ist so groß, dass wir zwangsläufig die Götter hassen müssen. Deshalb sind wir Atheisten. Der uralte und schwierige Kampf der Arbeiterklasse, um in Freiheit arbeiten zu können, kann noch länger dauern als bisher. Die Arbeiter müssen vielleicht noch härter schuften als bisher und ihr Blut opfern, um ihre Errungenschaften durchzusetzen. Auf ihrem Weg werden die Arbeiter zweifellos weitere Niederlagen und – noch schlimmer – Enttäuschungen erleiden müssen. Deshalb müssen sie ein Herz aus Stahl und einen starken Geist haben, der den Schlägen des Schicksals standhalten kann. Aber kann ein Sklave ein Herz aus Stahl haben? In den Augen Gottes sind alle Sklaven nur Nullen. Und kann man einen starken Geist besitzen, wenn man auf die Knie fällt und sich niederwirft, wie es die Gläubigen tun?

Deshalb werden wir unter den Arbeitern gehen und versuchen, die Reste ihres Glaubens an Gott zu zerstören. Wir werden sie lehren, aufrecht und stolz als Menschen zu stehen, die der Freiheit würdig sind. Wir werden ihnen beibringen, keine Hilfe zu suchen, außer in sich selbst, in ihrem eigenen Geist und in der Kraft der freien Organisationen. Es ist eine Verleumdung zu behaupten, dass unsere besten Gefühle, Gedanken, Wünsche und Handlungen nicht unsere eigenen sind, nicht von uns erlebt werden, sondern von Gott sind, von Gott bestimmt werden und dass wir nicht wir selbst sind, sondern nur ein Vehikel für den Willen des Herrn oder des Teufels. Wir wollen alle Verantwortung übernehmen. Wir wollen frei sein. Wir wollen keine Marionetten oder Hampelmänner sein. Deshalb sind wir Atheisten. Die Religion erkennt ihre eigene Unfähigkeit, das Bild des Teufels im Menschen lebendig und glaubwürdig zu halten, und lehnt es nun selbst ab, weil es diskreditiert ist. Aber das ist absurd, denn die Existenz des Teufels ist genauso plausibel wie die Existenz Gottes – nämlich gar nicht. Einst war der Glaube an den Teufel sehr stark. Der Teufel hatte Einfluss auf die Seele des Menschen, doch heute ist aus dieser bedrohlichen Figur, diesem Versucher der Menschheit, ein Operettenteufel geworden, der eher komisch als furchterregend ist. Das gleiche Schicksal ist für seinen Blutsbruder reserviert: Gott.

Gott, der Teufel, der Glaube. Die Menschheit hat für diese schrecklichen Worte mit einem Meer von Blut, einem Fluss von Tränen und endlosem Leid bezahlt. Genug von diesem Albtraum! Der Mensch muss dieses Joch endlich abschütteln, muss die Freiheit erobern. Früher oder später werden die Arbeiter den Sieg davontragen. Aber der Mensch muss bereit und geistig frei sein, um die egalitäre Gesellschaft zu betreten, oder er muss sich zumindest von dem göttlichen Müll befreit haben, den er tausend Jahre lang mitgeschleppt hat. Wir haben diesen giftigen Staub von unseren Füßen geschüttelt und deshalb sind wir Atheisten. Kommt mit uns, alle, die ihr die Menschen und die Freiheit liebt und die Götter und die Sklaverei hasst. Ja, die Götter sind am sterben! Es lebe der Mensch!

Union der Atheisten

[Sojus Ateistow, „Atheisticheskii manifest“, in „Nabat“, Kharhov, 12. Mai 1919, S. 3].

Mein Gott

Ich verneige mich nicht vor dem Götzen Vor dem die Verwahrlosten der Erde, Die Kinder der Welt, zertrampelt und versklavt, Gaben bringen und Belohnungen erflehen. Ich finde keinen Trost bei einem Gott der die Reichen gegen die Armen ausspielt, Der den Menschen Leid und Mühsal zufügt und aus dem Leid einen Kult macht. Sein strenger Blick, Die Blässe seiner traurigen Stirn entflammen nicht meine Brust Noch erwärmen sie nachts meinen Geist. Mein Gott ist eine Idee: ein neues Leben, Die Morgendämmerung heiterer und glücklicher Tage, Zum Kampf, zu einem harten Kampf, ruft er alle Tapferen. Bringt den Unterdrückern Rache entgegen Die die Menschen behandeln, indem sie ihr Blut vergießen! Mein Gott ist die Freiheit, groß und glorreich, Selbstbewusstsein, Stärke und Liebe!

[E. Zaidner-Sadd, „Moi Bog“, in „Ekaterinoslavskii Nabat“, 7. Januar 1920, S. 3]


Antimilitarismus

Antwort auf das Manifest der Sechzehn

Fast zwei Jahre sind seit dem Beginn dieses schrecklichen Krieges vergangen, eines Krieges, wie ihn die Menschheit noch nie erlebt hat, dem Millionen namenloser Gräber, Millionen von Krüppeln, Millionen von Witwen und Waisen zum Opfer gefallen sind. Waren im Wert von Milliarden, das Produkt jahrelanger menschlicher Arbeit, wurden in die Flammen geworfen und von einem bodenlosen Abgrund verschluckt. Unmenschlicher Schmerz, furchtbares Leid, tiefe Verzweiflung über die Menschheit – das ist die Folge.

Jetzt, wo überall die Schreie der Verzweiflung zu hören sind – „Kein Blutvergießen mehr! Keine Zerstörung mehr!“ – blicken wir mit großer Traurigkeit auf diejenigen, die einst unsere Gefährten waren, P. Kropotkin, J. Grave, C. Cornelissen, P. Reclus, C. Malato und andere Anarchisten und Antimilitaristen, die in ihrem jüngsten Manifest erklärten: „Nein, es hat zu wenig Blutvergießen, zu wenig Zerstörung gegeben. Es ist noch zu früh, um von Frieden zu sprechen!“.

Im Namen welcher Prinzipien und zu welchem Zweck halten sie es für möglich, die Notwendigkeit des Brudermordes zu verkünden? Was hat diese glühenden Verfechter des Friedens dazu gebracht, bewaffnete Konflikte zu unterstützen? Wir können das nicht verstehen, denn wenn man ihr Manifest liest, wird man von der Erbärmlichkeit der Idee überrascht, in deren Namen sie die Fortsetzung des Krieges bis zum Ende fordern.

Die Autoren des Manifests erklären, dass die Schuld für den Konflikt bei Deutschland liegt, das Belgien und die nördlichen Departements Frankreichs annektieren will und von letzterem hohe Reparationszahlungen verlangt hat und beabsichtigt, ihm in Zukunft seine Kolonien zu entziehen. Sie beschuldigen das deutsche Volk, der Regierung zu gehorchen, und erklären, dass von Frieden keine Rede sein kann, solange Deutschland die Eroberungspläne seiner Herrscher nicht ablehnt. Im gesamten Manifest wird die einseitige Haltung gegenüber der Entente deutlich. Diese Voreingenommenheit, die auf einer groben Überschätzung der zweifelhaften Überlegenheit der demokratischen Regime beruhte, führte zwangsläufig dazu, dass die Verfasser des Manifests viele Dinge nicht erwähnten, die den alliierten Mächten ernsthaft schadeten, dass sie bei der Bewertung derselben Aktionen der Kriegsparteien unterschiedliche Kriterien anwandten und schließlich die Wünsche des Volkes mit denen der Regierung, der es unterworfen war, verwechselten.

Die Unterzeichner des Manifests waren der Ansicht, dass die germanische Regierung die größte Verantwortung für den Konflikt trug. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass sich alle Großmächte seit geraumer Zeit auf einen europäischen Krieg vorbereitet hatten. Und zwar nicht zu einem einfachen Verteidigungskrieg, nicht nur um sich vor einer deutschen Invasion zu schützen. Vielmehr bereiteten sie sich auf einen Eroberungskrieg, die Eroberung neuer Gebiete oder die ökonomische Beherrschung von Nachbarstaaten vor. War es nicht schon immer der Traum Englands, Deutschland als Rivalen auf den Meeren loszuwerden? Und ist der Wunsch Russlands, seine Souveränität an den Ufern des Bosporus auszuüben, nicht inzwischen allgemein bekannt? Blickt Russland nicht mit gierigem Blick auf Galizien? Und ist Frankreichs Traum, eine große Kolonialmacht zu werden, verflogen?

Alle Staaten bereiteten sich auf den Krieg vor. Und wenn er nicht vor 1914 ausbrach, dann nur, weil das Mordsprogramm in Deutschland noch nicht verbreitert, der Bau der britischen Flotte noch nicht abgeschlossen, die französische Armee noch nicht perfektioniert und in Russland noch keine neuen Divisionen aufgestellt worden waren. Und falls die deutschen gekrönten Piraten dank ihres organisatorischen Geschicks in der Lage waren, sich vor den anderen vorzubereiten, bevor diese beschlossen, Europa in Brand zu setzen, so schmälert dies in keiner Weise die moralische Verantwortung der englischen, russischen und anderen gekrönten Piraten für die hohe Zahl der Opfer, die auf dem Altar des Militarismus geopfert wurden.

Die Verfasser des Manifests protestierten gegen die mögliche Angliederung besetzter Gebiete an Deutschland ohne die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung. Aber warum protestierten sie nicht gegen die Annexion Ägyptens, die England bereits während des Konflikts ohne die Zustimmung der ägyptischen Bevölkerung durchgeführt hatte? Warum haben sie kein Manifest gedruckt, das die Arbeiter zum Aufstand gegen das sklavenhaltende England aufruft? Liegt es nicht daran, dass ein solcher Akt den Anarcho-Militaristen den Boden unter den Füßen wegziehen würde? Müssten sie nicht deutlich machen, dass dieser Krieg ein Krieg zwischen zwei Gruppen von Raubtieren ist, die gleichermaßen Feinde der Freiheit sind? Die Verfasser des Manifests sind sich sicher, dass es den Plänen der germanischen Kriegspartei Vorschub leisten würde, zu diesem Zeitpunkt von Frieden zu sprechen, was die Invasion der benachbarten Nationen einschließen würde, eine Invasion, die jede Hoffnung auf menschliche Befreiung und Fortschritt zunichte machen würde. Wir hingegen sind der Meinung, dass nicht die germanische Invasion, sondern der Krieg selbst, für den alle Nationen, die direkt oder indirekt an ihm beteiligt sind, gleichermaßen verantwortlich sind, eine Bedrohung für alle Hoffnungen auf Befreiung und menschlichen Fortschritt darstellt. Und wir fordern die Menschen auf, nicht nur gegen die germanische Regierung zu kämpfen, sondern sich gegen alle zu erheben, die sie versklaven wollen. Wir begrüßen mit Freude die Demonstration von Frauen vor dem Reichstagsgebäude zur Verteidigung von Frieden und Brot. Alles, was gesund und rein ist, hat sich in diesen, wenn auch schwachen, Protesten manifestiert. Wir rufen die Arbeiter aller Länder zu einem stürmischen Protest, zu einem populären Aufstand auf, denn nur so können wir hoffen, die Menschheit zu regenerieren, und nicht durch die Fortsetzung des Krieges. Die Verfasser des Manifests rufen nur das germanische Volk zum Aufstand auf und rufen gleichzeitig die Völker der verbündeten Staaten in die Schützengräben. Sie sollen konsequent sein und Antimilitarismus und Revolution gleichzeitig ablehnen. Denn der Antimilitarismus in Frankreich oder revolutionäre Entwicklungen in Russland oder England werden Deutschland nur begünstigen. Und jede Form von Antimilitarismus oder Revolution außerhalb Deutschlands wird die Pläne der germanischen Nation begünstigen. Doch genau das hat Kropotkin getan. Zu unserem Entsetzen mussten wir feststellen, dass er schon vor dem Krieg ein Gegner des Kampfes gegen das Gesetz zur Einführung der dreijährigen Wehrpflicht in Frankreich war.

Aber können die Verfasser des Manifests wirklich nicht verstehen, dass nicht nur in diesem Krieg, sondern in allen Kriegen – rein formal gesehen – ein vermutlich mehr oder weniger großer Prozentsatz der Demokratie schuld ist? So werden sie immer an die Unschuldigsten appellieren, sich zu verteidigen; sie werden immer Sklaven der schändlichen Parole bleiben: „Baut die Kanonen und stellt sie wieder an ihren Platz!“ Selbst jetzt, wo sie von allgemeinen Phrasen über den Fortschritt und die germanische Bedrohung zu konkreten Aussagen über die möglichen Folgen eines deutschen Sieges übergehen, befürchten sie nur, dass Deutschland sich der französischen Kolonien bemächtigt und seinen Nachbarn durch Handelsabkommen ökonomisch unterjocht. Und nach all dem bezeichnen sich Kropotkin und die anderen Autoren des Manifests immer noch als Anarchisten und Antimilitaristen! Diejenigen, die das Volk zum Krieg auffordern, können weder Anarchisten noch Antimilitaristen sein.

Sie verteidigen eine Sache, die den Arbeitern fremd ist. Sie wollen die Arbeiter nicht im Namen ihrer Emanzipation an die Front schicken, sondern zum Ruhme des fortschrittlichen nationalen Kapitalismus und des Staates. Sie möchten den Geist der Anarchie zerstören und seine Überreste den Dienern des Militarismus überlassen.

Wir bleiben jedoch auf unserem Posten. Wir fordern die Arbeiter der Welt auf, ihre ärgsten Feinde anzugreifen, wer auch immer ihre Anführer sein mögen – der Kaiser von Deutschland oder der türkische Sultan, der russische Zar oder der französische Präsident. Wir wissen, dass Demokratie und Autokratie einander in nichts nachstehen, wenn es darum geht, den Willen und das Gewissen der Arbeiter zu korrumpieren. Wir machen keinen Unterschied zwischen akzeptablen und inakzeptablen Kriegen. Für uns gibt es nur eine Art von Krieg, den sozialen Krieg gegen den Kapitalismus und seine Verfechter. Und wir wiederholen unsere Slogans, die die Verfasser des schändlichen Manifests verleugnet haben: Nieder mit dem Krieg!

Nieder mit der Macht der Autorität und des Kapitals! Es lebe die Bruderschaft des freien Volkes!

Gruppe der kommunistischen Anarchisten von Genf

(Otvet, in „Put’k Svobode“, Genf, Mai 1917, S. 10-11)


Anti-Intellektualismus

Proklamation

Sohn der Straße, obdachlos und heimatlos, fasziniert von der Glut des Herdes, der Wärme und Behaglichkeit eines Zuhauses, den weichen Teppichen unter deinen Füßen, den wohlklingenden Tönen eines Klaviers. Alle Tore sind für dich verschlossen. Die Türen werden dir vor der Nase zugeknallt. Steine und Eis schneiden sich in deine nackten Füße, das Heulen des Wachhundes und die Schreie der Pfleger zerren an deinen Ohren. Während andere sich auf seidenen Kissen hinlegen, streift der Wind scharf unter deinen Lumpen hindurch. Brennende Leidenschaften toben zwischen den warmen Decken – aber deine Lippen gefrieren, dein Herz wird zu Asche, deine Hände werden zu Eis. Resigniert kauerst du in irgendeiner Ecke an der Wand und döst vor Schmerzen. Nicht weit entfernt schlendert eine Prostituierte hin und her. Sie ist deine Tochter und verkauft ihre junge Leidenschaft an alte Herzen, die mit Gold bedeckt sind.

Blöde Bettlerin! Gleich da drüben ist ein Haus, Wärme, Komfort. Tritt ein und lass dich nieder. Lass die Besitzer von Häusern und Palästen durch die Straßen ziehen und mit den Zähnen klappern. Lass ihre Töchter diejenigen sein, die sich verkaufen, weil sie sich weigern, eine neue Ordnung auf der Erde aufzubauen. Schaffe Anarchie! Unterdrückte und Verwahrloste, schürt die Flammen der Anarchie. Lasst euer Blut, das jetzt gefroren ist, sich in Feuer verwandeln. Verbrennt alles um euch herum. Entfacht kühn die Flammen der Anarchie. Erschafft die Anarchie!

Ausgestoßene, Gefallene, Verachtete, erhebt euch und zerstört diese Gesellschaft der „Edlen“ und „Niedrigen“. Erhebt euch und zeigt uns, dass ihr über uns steht, dass wir eurer Gesellschaft nicht würdig sind, dass wir nicht einmal eurer Verachtung würdig sind. Alles, was über euch war, wird unter euch sein. Schafft Anarchie! Sklaven, öffnet eure Augen, um eure Freiheit zu sehen! Die Verräter fesseln euch mit neuen Ketten. Wirf sie dem Teufel zu! Gehorcht niemandem. Erniedrigt euch nicht vor irgendjemandem. Schafft euch eure eigene Freiheit, euer eigenes Glück. Erschafft die Anarchie!

Analphabeten, zerstört diese berüchtigte Kultur, die die Menschen in „Gebildete“ und „Ungebildete“ unterteilt. Sie wollen euch in der Dunkelheit halten. Sie haben euch die Augen ausgerissen. In dieser Dunkelheit, in der dunklen Nacht der Kultur, haben sie euch beraubt.

Die Menschen, die Priester und Wissenschaftler haben euch beraubt, sie haben euch all eurer Gedanken, eurer Einfachheit, eurer Spontaneität und eurer Gefühle beraubt. Die Religion belügt euch, Leute, die schlaue Wissenschaft belügt euch. Das Himmelreich verhöhnt euch; die Priester täuschen euch; die zukünftige Ordnung, der zukünftige Sozialismus, von dem sie zu euch sprechen, ist nur ein Trick. Wissenschaftler und Professoren täuschen euch. Glaubt ihnen nicht. Sie hypnotisieren euch und entkleiden euch. Sie überzeugen euch mit dem schillernden Glanz ihres Intellekts.

Leute, euer Glück liegt nicht im Himmelreich, sondern hier auf der Erde, nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Es liegt in euren Händen. Schafft Anarchie – vollständig, überall und jetzt. Zerstört die Kirchen, Nest der aristokratischen Lügen; zerstört die Universitäten, Nest der bourgeoisen Lügen. Vertreibe die Priester, die Wissenschaftler! Zerstört das falsche Paradies der Aristokraten und der Bourgeoisie. Stürzt ihre Peruns [Donnergott der slawischen Völker], ihre Götter, ihre Götzen. Es gibt nur einen Gott auf der Erde: Das bist du, das Volk, du, der Mensch. Menschen, ihr könnt glücklich sein, ihr müsst glücklich sein. Erschafft die Anarchie!

[Aus „Burevestnik“, Petersburg, 27. Januar 1918, S. 1]  

Pan-anarchistisches Manifest

Wörtlich bedeutet Pan-Anarchismus allumfassender Anarchismus, denn „pan“ bedeutet im Griechischen „alles“. Der Pan-Anarchismus ist eine allumfassende und artikulierte Form des Anarchismus. Neben dem Ideal der Abschaffung der Regierung, also dem eigentlichen Anarchismus, umfasst er vier weitere Ideale: den Kommunismus, demzufolge „alles allen gehört“; den Pädismus, d.h. die Befreiung von Kindern und Jugendlichen vom Laster der unterwürfigen Erziehung; den Kosmismus (Nationalkosmopolitismus), d.h. die vollständige Emanzipation der unterdrückten Nationen; und schließlich den Gyneanthropismus, d.h. die Emanzipation und Humanisierung der Frauen. Zusammengenommen bilden diese fünf Ideale die Essenz des so genannten Pan-Anarchismus.

Der Pan-Anarchismus setzt eine Synthese (Vereinigung) aller wichtigen Ideale, Bestrebungen und sozialen Aktionen voraus, die grundsätzlich auf den Umsturz und den ganzheitlichen Wiederaufbau der Gesellschaft abzielen – die Wirtschaft, die Familie, die Schule, die internationalen Beziehungen und die staatlichen Institutionen. Im ökonomischen Bereich zielt der Pan-anarchismus darauf ab, den Kapitalismus durch den Kommunismus zu ersetzen und das Privateigentum an Land, Produktionsmitteln und Konsumgütern abzuschaffen. Im Bereich der Familie strebt er die Wiedereinführung der Polygamie und des Frauentauschs auf der Grundlage wahrer Liebe zwischen männlichen und weiblichen Individuen an sowie die Abschaffung der männlichen Vorherrschaft in der Familienstruktur im Allgemeinen, sowohl rechtlich als auch de facto, die freie Teilnahme von Frauen in allen Arbeits- und Kunstbereichen und die gleiche Möglichkeit, die Vorteile der Gesellschaft zu genießen. Was die Schulbildung betrifft, so soll die heutige Indoktrination, die unsere Kinder mit religiösen und wissenschaftlichen Vorurteilen füllt, durch eine praktische Ausbildung auf technischer Grundlage ersetzt werden, die sich im Alltag als nützlich erweist und ihnen Freiheit, Selbstvertrauen und die Fähigkeit, selbst etwas Originelles zu schaffen, garantiert. Sie zielt auch darauf ab, das gegenwärtige territoriale System mit seinen Grenzen, Heimatländern, nationalem und privatem territorialem Eigentum durch eine national-kosmopolitische Ordnung ohne Heimatländer oder Grenzen zu ersetzen, sondern nur durch freie Zusammenschlüsse freier Völker, denen das ganze Land gemeinsam gehört. „Die ganze Erde gehört der ganzen Menschheit“ – das ist das Motto des Pan-anarchismus, im Gegensatz zum Territorialismus und Imperialismus der räuberischen Nationen, die erklären: „Die ganze Erde gehört mir“.

Im Bereich der staatlichen Organisation und ihrer Beziehung zum Individuum kämpft der Pan-anarchismus für die Abschaffung aller Formen von der Autorität, des Staates und des Zwanges – Gerichte, Gefängnisse, Armee usw. – und für die Verwaltung der Gesellschaft durch freiwillige Vereinbarungen und Konsultationen.

Der Pan-Anarchismus ist das Ideal der Union der Fünf Unterdrückten. Er ruft alle Unterdrückten dazu auf, eine weltweite Organisation zu gründen, eine Internationale der Unterdrückten, eine Weltunion der Fünf Unterdrückten zur Zerstörung der bestehenden Ordnung, die auf den fünf Formen der Unterdrückung beruht. Der Pan-anarchismus setzt sich für den Zusammenschluss aller fünf unterdrückten Gruppen in der heutigen Gesellschaft zu einer Internationale der Gelegenheitsarbeiter, einer Internationalen der Jugend, einer Internationalen der unterdrückten Nationalitäten, einer Internationalen der Frauen und einer Internationalen der Individuen sowie für die letztendliche Bildung einer einzigen Internationalen der Unterdrückten ein, die auf dem Prinzip der Gleichheit aller Unterdrückten beruht.

Der Pan-Anarchismus strebt nach Pan-Zerstörung, nach der Beseitigung aller fünf Arten von Unterdrückung in der Gesellschaft. Daher zielt der Pan-anarchismus nicht auf die Befreiung einer Gruppe von Unterdrückten durch die Unterdrückung anderer, wie z. B. durch die Errichtung der Diktatur des Proletariats, sondern auf die Befreiung aller Unterdrückten, der gesamten Menschheit, aller Ausgebeuteten. Außerdem steht der Pan-anarchismus für die Befreiung der Menschheit von den Fesseln des Kapitalismus, des Staates, der formalen Bildung, der Monotonie des häuslichen Lebens und des Nationalismus.

Der Pan-anarchismus wird alle fünf Formen der Unterdrückung in der heutigen Gesellschaft zerstören: (1) ökonomische, (2) politische, (3) nationale, (4) erzieherische und (5) häusliche. Vereinfacht ausgedrückt besagt der Pan-anarchismus, dass es weder Reiche noch Arme, weder Herrscher noch Untertanen, weder Sklavenlehrer noch Sklavenschüler, weder männliche Herrscher noch weibliche Sklaven geben sollte. Für den Pan-Anarchismus ist jede dieser Forderungen gleich wichtig. Jede Überlegenheit eines unterdrückten Elements über ein anderes, ob sie nun als Führung oder Herrschaft realisiert wird, ist für uns nichts anderes als eine Ausbeutung der Menschen durch eine bestimmte Klasse oder Gruppe.

Pan-Anarchismus bedeutet aber nicht nur die Emanzipation von den fünf Formen der Unterdrückung. Er bedeutet auch die Emanzipation der Menschheit, die durch zwei Formen der Täuschung unterdrückt wird: die Täuschung durch die Religion und die Täuschung durch die Wissenschaft, die im Grunde genommen nur zwei Varianten derselben Art von Täuschung sind, nämlich die der Unterdrückten durch die Unterdrücker. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass Religion und Wissenschaft als Mittel erfunden wurden, um von der Unterdrückung und der realen, greifbaren Welt abzulenken und sie durch eine nicht greifbare Welt zu ersetzen, die entweder übernatürlich (Religion) oder abstrakt (Wissenschaft) ist. Der Pan-Anarchismus betrachtet die Wissenschaft als eine reformierte Religion und die Natur als einen reformierten Gott. Die Wissenschaft ist die Religion der Bourgeoisie, so wie die Religion die Wissenschaft des Adels und der Sklavenhalter war.

Der Pan-Anarchismus verkündet die universelle Abschaffung des Staates, kosmische Anarchie, Anarchie überall. Alle Formen von Religion und Wissenschaft sind nicht nur Instrumente der bourgeoisen Unterdrückung, Netze und Fanfaren, Trugbilder und Köder für die Unterdrückten. Sie sind auch betrügerisch und barbarisch, begrenzt und dumm, naiv und komisch, verwirrend und widersprüchlich. Die Wissenschaft ist ein Aspekt der Dummheit des europäischen Wilden, so wie die Religion ein Aspekt der Dummheit des asiatischen Wilden ist. Beide bilden ein und dasselbe Netz aus Verwirrungen und Widersprüchen: Gott und Nicht-Gott, Ursache und Nicht-Ursache; Gott, der wahre Schöpfer, und Gott, der aus dem „Nichts“ erschafft, was bedeutet, dass er selbst das absolutste „Nichts“ ist, ein Nicht-Gott; die Ursache, die auf die Hauptursache zurückgeführt wird und zur Ursache ihrer selbst wird oder ganz aufhört, sie selbst zu sein.

Gott und die Natur sind nach dem Bild des Menschen geschaffen, sie sind anthropomorph. Der Eskimojäger stellt sie in Form des weißen Bären dar (die Welt ist aus dem weißen Bären entstanden); der Jude identifiziert sie mit den Berufen (Gott Zimmermann, Schneider). Newton, Kant und Laplace stellen die Natur nach der europäischen Mechanik dar, Darwin und Spencer nach der Pferdezucht in Großbritannien (die natürliche Auslese folgte dem Muster der künstlichen Auslese in der Pferdezucht in Großbritannien). Die himmlische Ordnung und die natürliche Ordnung – Engel, Geister, Dämonen, Moleküle, Atome, Äther, göttliche/himmlische Gesetze und die Gesetze der Natur, Kräfte, der Einfluss eines Körpers auf einen anderen – all das sind Erfindungen, Formen, Schöpfungen der Gesellschaft (soziomorph).

Gott ist das Abbild des absoluten asiatischen Monarchen. Die himmlischen Gesetze, die astralen Gesetze, die Astrologie der Assyrer und Babylonier – das sind die Gesetze der Herrscher. Die Naturgesetze sind die Gesetze des Staates; Naturgewalt ist Zwang. Die Kräfte der Natur erinnern an die konstitutionelle Monarchie und die Bürokratie, und manchmal erinnert die Natur sogar an den Präsidenten einer demokratischen Republik!

Der Pan-Anarchismus lehrt, dass das Universum weder Mensch noch Gesellschaft ist. Es hat weder Anfang noch Ende, weder Ursprung (Kosmogonie) noch Ursache, weder Gesetze noch rachsüchtige Kräfte. Das Universum ist, wie alle natürlichen Phänomene, immer „selbst“, anarcho-individualistisch oder anarcho-kommunistisch, wenn du so willst. Das Universum und alle seine Phänomene sind spontan. Im Universum und allen Phänomenen gibt es nichts Fremdes, es gibt keine Zwangsordnung, sondern Anarchie, d. h. eine innere (immanente), unabhängige und spontane Ordnung. Es gibt keine natürliche Kraft, sondern nur Handlungen und Affinitäten; und Dinge, Handlungen und Affinitäten sind identisch. Für den Pan-Anarchismus besteht der grundlegende Fehler von Religion und Wissenschaft darin, dass erstere ein Produkt der Vorstellungskraft und letztere ein Produkt des Intellekts (mentale Konfigurationen oder Abstraktionen) sind. Deshalb betrachtet der Pan-Anarchismus nur Gefühle, oder besser gesagt Muskeln und technische Fähigkeiten, als echt. Der Pan-Anarchismus behauptet, dass nur technische Fähigkeiten die Kultur des Volkes, der Arbeiter, der Unterdrückten ausmachen, technische Fähigkeiten im weitesten Sinne des Wortes, d. h. einschließlich aller Berufe, praktischen Künste usw., die er als pan-technisch bezeichnet.

Was die Analyse der Gesellschaft angeht, lehnt der Pan-Anarchismus alle soziologischen Gesetze oder die soziale Evolution und Entwicklung ab und ersetzt sie durch die Soziotechnik, den Aufbau der Gesellschaft mit dem ausdrücklichen Recht auf Experimentieren, Improvisation und soziale Erfindung. Der Pan-Anarchismus, der sich in Technizismus hüllt, bedeutet nicht nur universelle und totale Anarchie, sondern Anarchie jetzt. Statt sozialdemokratischer Evolution und Reform gibt er die Parole der sozialen Revolution aus und berücksichtigt dabei vor allem die goldene anarchistische Regel: Direkt auf das Ziel!

Und deshalb:

Es lebe der Pan-Anarchismus!

[A. L. und V. L. Gordin, Pananarchistisches Manifest, Moskau 1918, S. 3-6].  

Anarcho-Futuristisches Manifest

Ah-ah-ah, ha-ha, ho-ho!

Geht auf die Straße! Diejenigen, die noch frisch und jung und nicht entmenschlicht sind, auf die Straße! Der dickbäuchige Mörser des Lachens ist auf die Straße gegangen, trunken vor Freude. Lachen und Liebe sind gepaart mit Melancholie und Hass, gegeneinander gepresst in der mächtigen, krampfhaften Leidenschaft der bestialischen Lust. Lang lebe die Psychologie der Gegensätze. Berauschte und glühende Geister haben die flammende Fahne der geistigen Revolution gehisst. Tod den Kreaturen der Routine, den Philistern, den Gichtkranken! Zerschmettert mit ohrenbetäubendem Lärm den Kelch der rächenden Stürme! Reißt die Kirchen und Museen, ihre Verbündeten, nieder! Sprengt die zerbrechlichen Götzen der Zivilisation in die Luft! Hey, ihr dekadenten Architekten des Sarkophags des Denkens, Hüter des universellen Bücherfriedhofs: Tretet zur Seite! Wir sind gekommen, um euch aus dem Weg zu räumen! Alles Alte muss begraben werden, die staubigen Archive mit der vulkanischen Fackel des kreativen Genies verbrannt werden. Vor der flatternden Asche der Verwüstung der Welt, vor den verbrannten Leinwänden pompöser Gemälde, vor den großen, dickbäuchigen Bänden der Klassiker, die nun verbrannt sind, marschieren wir, die Anarcho-Futuristen! Stolz entrollen wir das Banner der Anarchie über der riesigen, verwüsteten Fläche unseres Landes. Die Schrift hat keinen Wert! Es gibt keinen Markt für Literatur! Es gibt keine Gefängnisse, keine Grenzen für subjektive Kreativität! Alles ist erlaubt! Nichts ist verboten!

Die Kinder der Natur empfangen mit freudiger Verzückung den ritterlichen goldenen Kuss der Sonne und den fetten, nackten, lasziven Bauch der Erde. Die Söhne der Natur, die aus der schwarzen Erde hervorgehen, verkörpern die Leidenschaften der nackten, lüsternen Körper. Sie komprimieren sie alle in einen generativen, schwangeren Kelch! Tausende von Armen und Beinen verschlingen sich zu einem erstickenden, erschöpften Haufen! Die Haut entzündet sich in warmen, unersättlichen, beißenden Liebkosungen. Zähne versenken sich hasserfüllt in das lauwarme, saftige Fleisch der Liebenden! Weit aufgerissene, staunende Augen verfolgen den brennenden, trächtigen Tanz der Lust! Alles ist fremd, ungehemmt, elementar. Erregung, Fleisch, Leben, Tod, alles! Alles! Das ist die Poesie unserer Liebe! Mächtig, unsterblich und schrecklich sind wir in unserer Liebe! Der Nordwind wütet in den Köpfen der Söhne der Natur. Etwas Schreckliches ist erschienen – ein Vampir der Melancholie! Das Verderben – die Welt liegt im Sterben! Fangt ihn! Töte ihn! Nein, warte! Verzweifelte, durchdringende Schreie zerreißen die Luft. Wartet! Melancholie! Schwarze, gähnende Geschwüre der Agonie bedecken das bleiche, erschrockene Gesicht des Himmels. Die Erde zittert vor Angst unter den mächtigen, hasserfüllten Schlägen ihrer Söhne! Oh verfluchte, verachtenswerte Dinge! Sie zerreißen ihr zartes und fettes Fleisch und begraben ihre eigene erschöpfende und hungrige Melancholie im Strom von Blut und frischen Wunden ihres Körpers. Die Welt liegt im Sterben! Ah! Ah! schreien Millionen von Giftstoffen. Ah! Ah! brüllt die riesige Kanone des Alarms! Zerstörung! Chaos! Melancholie! Die Welt liegt im Sterben!

Das ist die Poesie unserer Melancholie! Wir sind frei von Hemmungen! Die klagende Sentimentalität der Humanisten ist nichts für uns. Vielmehr wollen wir die triumphale geistige Bruderschaft der Völker schaffen, geschmiedet mit der ironischen Logik der Widersprüche, des Hasses und der Liebe. Wir werden unsere freie Union von Afrika bis zu den beiden Polen mit den Zähnen gegen jede sentimentale Freundschaft verteidigen. Alles gehört zu uns! Außerhalb von uns gibt es nur den Tod! Wir hissen die schwarze Fahne der Rebellion und rufen alle Menschen auf, die nicht vom giftigen Atem der Zivilisation entmenschlicht und betäubt wurden! Alle auf die Straße! Vorwärts! Zerstören! Tötet! Nur der Tod lässt keine Rückkehr zu! Löscht alles aus, was alt ist! Donner, Blitz, die Elemente – alle gehören uns! Vorwärts!

Es lebe die internationale intellektuelle Revolution!

Freie Bahn für Anarcho-Futuristen, Anarcho-Hyperboreaner und Neo-Nihilisten!

Tod der Weltzivilisation!

Gruppe der Anarcho-Futuristen

(„Shturmovoi, opustoshaiushchii manifest anarkho-futuristov“, in „K Svetu“, Kharkov, 14. März 1919, S. l)


Individualismus

Nichts ist vergessen worden und nichts ist gelernt worden

Die Tatsache, dass das gemeine Volk nur ungern über andere herrscht und im Gegenteil die Autorität abschaffen will; seine Weigerung zu gehorchen oder sich unterzuordnen; sein instinktiver Hang zur Anarchie, eine echte Diktatur des Proletariats zu errichten, statt einer fiktiven in Form des Exekutivkomitees der Sowjets, eine Diktatur, das heißt, des Volkes selbst, in der jeder Herr über sich selbst ist – das ist die wahre Diktatur des Individuums. Ich bin Minister, Gesetzgeber, Diktator, Autorität über mich selbst. Das ist die wahre Diktatur des Volkes, eine normale, natürliche, physiologische Diktatur. Für einen Menschen ist es die natürlichste Sache der Welt, eine Macht auszuüben, eine physiologische Diktatur über die Teile seines eigenen Körpers, über seine Arme und Beine, sein eigenes Verhalten durch die Macht zu bestimmen, frei zu handeln, zu tun, was er für notwendig hält. Das ist die physiologische Diktatur, die einzig gerechte, natürliche und wahre Diktatur der Aktionsfreiheit. Das ist das Ideal der Anarchie. Ich bin eine Person – und es gibt keine höhere Autorität als mein „Ich“!

[A. L. und V. L. Gordin, „Nichego ne zabyli i nichemu ne nauchilis“, in „Anarkhist“, Rostov am Don, 22. Oktober 1917, S. 1-2]  

Anarchistisches Manifest

Revolution und Freiheit sind immer aus Blut und Leid entstanden. Sie haben viele Opfer gefordert, sowohl bei den heldenhaften Kämpfern für eine neue Gesellschaft als auch bei den verzweifelten Verteidigern der alten. Aber diese Opfer dürfen nicht umsonst gefallen sein. Es wartet eine Aufgabe von solchen Ausmaßen auf uns, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat. Das Land muss von Grund auf neu aufgebaut werden, denn es wurde durch die Korruption des vergangenen Regimes, den Krieg und die „von oben nach unten“ durchgeführten Experimente der verschiedenen politischen Parteien zerstört. Dieser Wiederaufbau darf nicht die alte Routine, den anachronistischen Dogmatismus derjenigen etablieren, die sich von Berufs wegen gegen das Glück der Menschen verschworen haben, sondern etwas Neues und Kreatives, das direkt vom Leben inspiriert ist und den Wünschen und Interessen derjenigen entspricht, von denen und für die die Revolution gemacht wurde.

Es ist an der Zeit, jeder Art von Überwachung ein Ende zu setzen, ganz gleich wie gut sie gemeint ist. Es ist an der Zeit, sich nicht mehr vertreten zu lassen, egal von wem. Jedes Individuum muss für seine eigene Sache einstehen. Das ist es, wozu uns die Anarchie aufruft!

Der Anarchismus ist die Lehre des Lebens! Der Anarchismus wurde geboren und lebt in jedem von uns, aber er wird durch Armut, Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit gegenüber Männern und Theorien erstickt, die zu einem gewalttätigen und korrupten Leben tendieren. Was wir brauchen, ist ein wenig Mut, Aufklärung und Aktionsdrang, damit der Geist der Anarchie in jedem von uns geweckt wird, egal wie groß oder klein.

Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit! Keine abstrakte, illusorische Freiheit, sondern lebendige, echte Freiheit. Alle anarchistische Kreativität wurzelt in der freien Persönlichkeit, frei vom Spiel der Institutionen und der Autorität der von anderen erfundenen Gesetze. Die Freiheit des Anarchisten ist die Freiheit für alle. Wenn es auch nur einen Sklaven gibt, ist der Anarchist nicht frei. Der Anarchist muss dafür kämpfen, dass alle frei sind. Für den Anarchismus gibt es keine Idole, nichts Absolutes außerhalb des Menschen, seiner Freiheit und seines Rechts, sich ohne Einschränkungen zu entwickeln. Unabhängig von der bestehenden Gesellschaftsordnung wird der Anarchist weiterhin nach einer neuen, vollkommeneren, vollständigeren und reineren Ordnung streben, die ihm von seinem freiheitlichen Gewissen diktiert wird.

Der Anarchismus ist die Lehre der Gleichheit! Jeder ist in seiner Freiheit gleich. Jeder ist der Architekt seines eigenen Schicksals. Und die Sphäre der individuellen Freiheit ist unantastbar.

Der Anarchismus ist die Lehre von der Kultur! Denn er lehrt nicht nur, sich selbst und die eigene Freiheit zu lieben, sondern auch die anderen und die Freiheit für alle. Er ist ein Aufruf zur Aktion, um sicherzustellen, dass seine Früchte nicht nur von unseren Zeitgenossen, sondern auch von unseren Brüdern in einer noch fernen Zukunft genossen werden. Es ist eine Aufforderung, für die Zerstörung des Zwangssystems zu kämpfen, aber keine Aufforderung zu Rache oder Gewalt gegen eine bestimmte Person.

Der Anarchismus ist die Doktrin des Glücks! Denn er glaubt an den Menschen und seine unendlichen Möglichkeiten. Er glaubt daran, dass er durch sein Handeln zum Wohle aller alle Zeitalter und alle Menschen verbrüdern wird. So ist die Freude an der Schöpfung entstanden – die größte Freude, die ein Mensch erleben kann!

[A. A. Borovoi, „Anarkhistskii manifest“, in seinem Anarkhizm, Moskau 1918, S. 168-169]

  Die Anarchistische Jugend

Gefährten!

Mittwoch, 16. April 1919

Gefährten!

Die revolutionären Horizonte weiten sich. Die Unterdrückten werden auf ihrem Marsch zur Befreiung immer stärker. Ihre Ketten fallen, alle Fesseln werden gesprengt, alles, was veraltet und für das neue Leben untauglich ist, wird weggefegt.

Auf der Fahne der Befreiung steht geschrieben:

Kämpft gegen alle Unterdrücker.

Kämpfe gegen alle, die Bildung zu einem Privileg der Wenigen gemacht haben und sie mit Lügen zum Nutzen der Mächtigen durchtränkt haben.

Kämpfe gegen alle Institutionen, die uns in der Kindheit und Jugend verkrüppeln, die uns zu blutarmen, blassen und wackeligen Kreaturen machen, die sich an Körper und Geist niederwerfen.

Kämpfe gegen die Gesellschaft, die uns in Fabriken und Schulen gefangen hält.

Kämpfe gegen die heutige Familie, die uns zu heuchlerischen Lügnern gemacht hat, die mit dem Gift der Korruption gefüttert wurden.

Kämpfe gegen die Autorität des Staates, die Unterdrückung und Ungleichheit fördert.

Dies sind die grundlegenden Punkte des Aufrufs, den wir jungen Anarchisten machen. Viele junge Menschen, die vom Gift des bourgeoisen Philistertums genährt werden, halten ihre Situation für normal. Es ist unsere Pflicht, sie aus ihrem Winterschlaf zu wecken, damit sie sich uns bei der kreativen Arbeit anschließen können. Lasst uns daher unverzüglich mit der produktiven Arbeit beginnen. Wenden wir ohne zu zögern diese Ideale an, die das Leben selbst uns vorschlägt!

Wir, die in Kreisen organisierte Jugend der Ukraine, müssen uns zusammenschließen, um effizient und produktiv zu arbeiten. Im Namen der gegenseitigen Hilfe und der Solidarität – mächtige Motoren des menschlichen Fortschritts – ist diese Einigkeit unabdingbar. Und um sie zu erreichen, müssen wir einen Kongress aller anarchistischen Jugendgruppen in der Ukraine einberufen. Der Kongress wird sich mit einer Reihe von lebenswichtigen Problemen befassen müssen, deren Dringlichkeit keinen Aufschub duldet.

Möge die schwarze Flagge, unter der wir kämpfen, für die Zerstörung und den Tod all der alten und verrotteten Institutionen stehen, die uns versklavt haben! Mögen die Kraft unserer Worte und unsere gemeinsamen Bestrebungen alle jungen Menschen vereinen, die heute verstreut und isoliert von revolutionärer Kreativität sind.

Unser Weg soll der der kulturellen und sozialen Kreativität sein. Unsere Parole wird lauten: Junge Menschen auf der ganzen Welt, vereinigt euch in revolutionärem und kulturellem Engagement!

Tritt mit Begeisterung in Aktion!

Organisationsgruppe für die Einberufung eines pan-ukrainischen Kongresses der anarchistischen Jugend

[„Tovarishchi!“ in „Biulleten‘ Initsiativnoi gruppy anarkhistov molodezhi Ukrainy ‚Nabat’“, Kharkov, April 1919, S. 1]


Bildung

Thesen zur kulturellen Organisation Russlands

Im Bereich Bildung und Kultur schlug die zweite pan-russische Konferenz der Anarcho-Syndikalisten vor:

A. In den proletarischen Massen ein Interesse an Kunst, Studium und kulturellen Themen zu wecken.

B. Nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die Initiative und Kreativität der Massen zu entwickeln und so dazu beizutragen, ihre Bedingungen innerhalb der derzeitigen Struktur des bourgeoisen sozialistischen Staates zu verbessern. Außerdem soll das Proletariat die Möglichkeit erhalten, seine eigene sozialistische Kultur und Kunst – im Gegensatz zur bourgeoisen – zu schaffen, die die strahlende Schönheit und Großartigkeit des Sozialismus außerhalb des Staates widerspiegelt und der menschlichen Seele die weitesten Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet.

C. Die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit in all ihren verschiedenen Ausprägungen in jeder Hinsicht zu fördern, indem Vorurteile und vorgefasste Meinungen beseitigt werden und Fakten präsentiert werden, die dem Individuum helfen, sich seine eigene Meinung über die Dinge zu bilden.

D. Den proletarischen Massen den Gedanken eintrichtern, dass sie sich bei jeder Tätigkeit ausschließlich auf ihre eigene Kraft verlassen müssen, indem sie sich gewissenhaft an die denkwürdige und wertvolle Aussage der Ersten Internationale halten: „Die Befreiung der Arbeiter ist die einzige Aufgabe der Arbeiter“.

E. Alle Mittel einsetzen, um den proletarischen Massen die Gewohnheit zu vermitteln, unabhängig zu denken, denn die stärksten Überzeugungen sind die, zu denen wir aus eigener Kraft kommen.

F. Den Arbeitern zu helfen, sich selbst zu respektieren und von anderen respektiert zu werden, und zwar nicht nur ohne Gesetze, sondern trotz der Gesetze und trotz des „Universums der Macht“, das uns umgibt.

G. In der proletarischen Armee einen starken Willen und eine feste Intelligenz heranzuziehen; in den Arbeitern den Geist der Revolte zu nähren und sie zu bewussten, treuen, unermüdlichen und furchtlosen Kämpfern zu machen, im wahren Geist des Klassenkampfes ohne Rücksicht für eine großartige Zukunft, für den Anarchismus.

H. Alle proletarischen Organisationen zu vereinen und ihre Entwicklung auf jede Weise zu fördern.

I. Jeden Bedarf auf dem Gebiet der Kunst und Kultur durch die Organisation wahrhaft proletarischer Einrichtungen zu decken – Universitäten, Theater, Bibliotheken, Lesesäle, Schulen verschiedener Art, proletarische Paläste, Museen und Konservatorien usw.

J. Das Ziel des Anarcho-Syndikalismus muss daher die Abschaffung der Macht, aller Verpflichtungen und Autoritäten sein.

K. Die Entwicklung der oben genannten Institutionen zu fördern, durch die das Proletariat alle Bildungs- und Kulturfunktionen aus den Händen der Kirche und des Staates nehmen und zu seinen eigenen machen muss.

Folglich wird jede kulturelle und erzieherische Aktivität des Anarcho-Syndikalismus darauf beruhen:

A. Auf der Selbstdisziplin des Proletariats und nicht auf einer Disziplin, die durch Lügen und Verstellung vermittelt wird.

B. Auf der Abschaffung jedes obligatorischen Lehrplans, der individuelle Eigenschaften und persönliche Merkmale nivelliert und jeden Geist der Initiative, Selbstständigkeit und Verantwortung erstickt.

Bildung wird daher:

1. Vielfältig, aber ganzheitlich, da sie die Möglichkeit bietet, eine harmonische Entwicklung der gesamten Persönlichkeit zu erreichen und eine umfassende, vollständige Bildung zu garantieren, die alle Bereiche von Kunst und Wissenschaft abdeckt.

2. Rational, d. h. auf der Grundlage der Vernunft und der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und nicht auf blindem Glauben; auf der Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit und nicht auf dem Gefühl der Unterwerfung und des Gehorsams; auf der Abschaffung von Fabeln über Gott, die falsch und schädlich für die Sache der Befreiung der Bauern und Arbeiter sind.

3. Koedukation, eine einheitliche Erziehung für beide Geschlechter, um alle groben Vorstellungen zu beseitigen und eine höhere Moral zu gewährleisten, die die Sache der Frauen mehr voranbringen wird als alle Gesetze zusammen, Gesetze, die nie einen anderen Zweck hatten, als sie zu Sklaven zu machen.

4. Libertär, weil sie alle Machtideale zugunsten des Prinzips der Freiheit aufgeben wird. Das Ziel der kulturellen und erzieherischen Tätigkeit ist nichts anderes als die Entwicklung des freien Menschen, der nicht nur seine eigene Freiheit, sondern auch die der anderen will.

Damit dieses große Bildungs- und Erziehungswerk gelingt, damit es wirklich revolutionär ist und nicht nur kultureller Dilettantismus, ist es notwendig, allen bäuerlichen und arbeiterschaftlichen Kultur- und Bildungsorganisationen in ihrem Zuständigkeitsbereich volle Freiheit und Autonomie zu geben. Aber sie müssen ihrerseits offen sein für einen freien Zusammenschluss von städtischen, bezirklichen und provinziellen Zentren, die sich mit technischen, kulturellen und erzieherischen Problemen befassen, die aufgrund ihrer Bedeutung über die Reichweite des kleinen Kreises lokaler Organisationen hinausgehen und bäuerliche und Arbeiterbildungsorganisationen auf jeder Ebene betreffen: Stadt, Bezirk, Provinz, regional und national.

Diese Organisationen und Zentren müssen den derzeitigen Staatsapparat ersetzen, der alle Kultur- und Bildungsaktivitäten monopolisiert.

[Vmesto programmy: rezoliutsii I i II Vserossiiskikh konferentskii anarkho-sindikalistov, Berlin 1922, S. 23-25]


Die zukünftige Gesellschaft

Die freie Kommune und die freie Stadt

Jeden Tag gibt es neue Beweise für die kontinuierliche Zunahme von Bauernkommunen. Das ist völlig verständlich. In der Tat wurde das soziale Leben der Menschen bis heute von der Regierung und dem Kapitalismus gewaltsam und künstlich zerschlagen. Diese Tatsache, die durch die Zerstörungen, die durch die Massaker an den Völkern auf der ganzen Welt verursacht wurden, noch verstärkt wurde, hat die ärmsten Bauern gezwungen, Zuflucht in der gemeinsamen Ausbeutung des Landes zu suchen. Indem wir die Struktur der Agrarkommunen analysieren, die in einzelnen Bezirken zur Deckung der lebensnotwendigen Bedürfnisse geschaffen wurden, möchten wir den Arbeitern unsere Vorstellung von der anarchistischen freien Kommune in der zukünftigen Gesellschaft erläutern.

Die freie Kommune ist ein Zusammenschluss von Produzenten, Verbrauchern und Vertreibern, der durch ökonomische Bedürfnisse und manchmal auch durch gegenseitige Sympathien bestimmt wird. Darüber hinaus wird dieser Zusammenschluss, der sich durch unabhängige Aktivität und organisierte Kreativität auszeichnet, durch gegenseitige Bedürfnisse anderer Art bestimmt. Die anarchistische Kommune als autonome, selbstverwaltete Einheit der Arbeit und als Einheit der gesellschaftlichen Produktion geht enge Verbindungen mit den anderen freien Arbeitsgemeinschaften ein. Gemeinsam bilden sie in einem vertikalen Sinne eine Föderation von Kommunen. Alle Gemeinden, die zu diesem Verband gehören, organisieren einen Warenaustausch, bei dem jede Gemeinde die Produkte erhält, die sie im Austausch für ihre Überproduktion benötigt. All dies geschieht in freier Vereinbarung und gegenseitigem Einverständnis. Von einer Legislative für die Gemeinden oder ihren Verband kann keine Rede sein, denn das würde unweigerlich zum Niedergang und Bankrott der Gemeinden selbst führen.

Wir sind keine Sozialisten, keine Anhänger des Staates und auch keine bolschewistischen Kommunisten, die die Macht an sich reißen und von oben herab mit Gesetzen und Dekreten gewaltsam und künstlich den Kommunismus einführen und jede ihrer Entscheidungen (ob gut oder schlecht) mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt, untermauern. Die Kommunisten, die den Staat unterstützen, entgegnen: „Ja, das ist alles schön und gut. Aber wir kümmern uns wenig darum, was in der Zukunft passieren wird. Das ist eine Angelegenheit für zukünftige Generationen. Zeig uns, wie eine anarchistische Kommune heute, in der heutigen Zeit, organisiert werden kann, und sei es auch nur in begrenztem Umfang“. Darauf entgegnen wir, dass die anarchistische Kommune im wahrsten Sinne des Wortes heute unvorstellbar ist. Was jedoch möglich ist, ist, dass die Arbeiterorganisationen für den anarchistischen Kommunismus kämpfen, indem sie alle staatlichen Hindernisse für seine Verwirklichung niederreißen.

Sobald der Kampf beginnt, können wir damit beginnen, die freie Kommune zu organisieren, wenn auch nur rudimentär. Wir sagen, dass der Staatskommunismus nichts mit dem anarchistischen Kommunismus gemein hat, und behaupten daher kategorisch, dass die Verwirklichung der Freiheit durch den Staatssozialismus (wie die Sozialisten behaupten) undenkbar ist. Denn der Staatskommunismus ist autoritär und der Weg dorthin ist der der Verstaatlichung, was bedeutet, dass alle Produktions- und Tauschmittel nicht den autonomen Gewerkschaften/Syndikate der Arbeiter gehören, sondern dem Staat. Der Staat übernimmt alles, nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeiterorganisationen. Er monopolisiert alles auf die vollständigste Art und Weise, einschließlich Kunst und Literatur, und zielt nicht auf die Errichtung des Sozialismus, sondern des Staatskommunismus ab, der die kapitalistischen Ausbeuter durch eine gigantische, zerstörerische Faust, den Staat, ersetzt. Der Staatskommunismus will das staatliche Gewalt- und Zwangssystem nicht abschaffen, sondern nur umstrukturieren, indem er die alten Formen des bourgeoisen Staates durch eine neue Form, die einer kommunistischen Staatsordnung, ersetzt.

Wir Anarcho-Syndikalisten stellen dem Kollektivismus (Staatskommunismus) den freien anarchistischen Kommunismus gegenüber, der das Recht des Menschen auf sein eigenes Leben und die volle Befriedigung seiner Bedürfnisse anerkennt. Dieses Recht wird nicht als vulgäres Verhandlungsobjekt oder als Belohnung für ein bestimmtes Maß an geleisteter Arbeit gesehen, sondern als Teilhabe jedes Individuums entsprechend seiner Fähigkeiten am produktiven Leben. Dieser Anspruch kommt in der Formel zum Ausdruck, die der anarchistische Kommunismus zur Grundlage der freien Organisation macht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Kommunismus außerhalb des Staates bedeutet, dass alle Produkte und alle Produktions- und Tauschmittel in das gemeinsame Eigentum von Produktionsverbänden und Bauern- und Arbeitergemeinschaften übergehen.

Der anarchistische Kommunismus schafft alle Formen der Zentralgewalt ab und strebt eine Dezentralisierung an, indem er den Staat in eine Vielzahl von autonomen und unabhängigen Arbeitsgruppen und Kommunen zerschlägt, die bisher durch die Autorität des Staates künstlich zusammengehalten wurden. Für die Lösung von Problemen, die mehrere Gemeinden betreffen, wird die freie Gemeinde eine Delegation von Fachleuten ernennen, die Anweisungen von der gesamten Kommune erhalten. Die Kommune selbst wird die notwendigen Entscheidungen auf der Grundlage der Ergebnisse der Sitzungen dieser Spezialisten treffen.

Was die freie Stadt betrifft, so sind wir der Meinung, dass sie sich für die Zwecke der Produktion und Verteilung in Form einer kommunalen Vereinigung organisieren muss. In der freien Stadt wird sich eine Masse von Kommunen bilden, die sich in den Gewerkschaften/Syndikaten der nach den verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten organisierten Produzentengruppen zusammenschließen werden. Diese Gruppen werden über alle enteigneten Produktions- und Tauschmittel verfügen und in enger Harmonie miteinander arbeiten. Zum Zeitpunkt des entscheidenden Bruchs und während des Übergangs von der kapitalistischen Gesellschaft zum freien Kommunismus werden die Bauern- und Fabrikkomitees, flankiert von den Gewerkschaften/Syndikate, eine grundlegende Rolle bei der Organisation von Produktion und Vertrieb auf der Grundlage neuer Kriterien spielen. Wir Syndikalisten sehen in den revolutionären Gewerkschaften/Sydikat die Keimzelle der ersten Produzentengruppen. Zur Zeit des sozialen Aufstands (syndikalistische Revolution) und der Ausrufung der freien Stadt wird ihr Leben und ihre Tätigkeit durch die Neuorganisation der Produktion wesentlich erleichtert werden. Die Verteilung von Lebensmitteln wird von Genossenschaften und Organisationskomitees übernommen, die sich zu Straßenkomitees, Blockkomitees, Nachbarschaftskomitees und schließlich zu Stadtkomitees zusammenschließen werden. Diese organisieren die Verteilung der Grundbedürfnisse und lösen alle Probleme in Bezug auf Lebensmittel, Kleidung und Wohnraum.

In der Kommune oder freien Gruppe wird es keine Disziplin geben, die von irgendjemandem auferlegt wird, sondern bewusste Selbstdisziplin. Die Kommunen müssen lebendige Gebilde sein. Alle ihre Mitglieder müssen sich mit Begeisterung der produktiven Arbeit widmen, sich mit vollem Einsatz einsetzen und andere durch ihr Beispiel beeinflussen. Das Hauptziel jeder Kommune muss die volle und freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit sein. Innerhalb der Kommune muss jeder Aspekt des Lebens von gegenseitiger Solidarität geprägt sein: in der Produktion, bei der Verteilung, bei der Verteidigung gegen äußere Angriffe usw.

Die anarchistische Kommune ist völlig frei und wählt ohne Einfluss von außen ihren eigenen Rat oder ihre eigene Verwaltung, die als Exekutivkommission der Kommune dient, aber mehr nicht. Jede Kommune wird sich natürlich auf eigene Faust und unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen ihres Standorts organisieren und gegebenenfalls die Entscheidung treffen, sich aufzulösen.

[N. I. Pavlov, „Svobodnaia kommuna i vol’nyi gorod“, in „Vol’nyi Golos Truda“, Moskau, 16. September 1918, S. 2-3]  

Anarchistischer Kommunismus

Ihre Gegner werfen den Anarchisten vor, utopisch und abstrakt zu sein. Sie definieren das anarchistische Ideal als eine Utopie, die auf einer Rückkehr zur Produktion und zur natürlichen Ökonomie beruht. Zugegebenermaßen sind es oft die Anarchisten selbst, die den Vorwand für solche Angriffe liefern, Anarchisten, die die sozialen und ökonomischen Prinzipien noch nicht ganz verstanden haben, die die Grundlage für den Aufbau einer libertären Gesellschaft bilden. Aus den geflügelten Worten des Rebellen Bakunin – dass die Leidenschaft zu zerstören auch eine schöpferische Leidenschaft ist – haben viele Anarchisten von heute nur eine oberflächliche, zweidimensionale Vorstellung abgeleitet. Sie sind der Meinung, dass das derzeitige Produktionssystem mit seiner gigantischen Industrie und Millionen von Arbeitern – Sklaven der Maschine – zerstört und völlig erneuert werden muss. Aus ihren Angaben geht jedoch nicht hervor, inwieweit die mechanisierte Produktion, die sich in den Großstädten konzentriert, beseitigt werden soll und was in Zukunft an ihre Stelle treten wird. Wir werden versuchen, etwas Licht in diese Fragen zu bringen.

In der Sphäre der politischen Ideale bedeutet Anarchismus einfach Anarchie oder das Fehlen von Autorität. In der sozialen und ökonomischen Sphäre gehört dieses Ideal einer staatenlosen Gesellschaft zum Kommunismus. Die soziale und ökonomische Zelle, auf die sich die anarchistische Gesellschaft stützt, ist die freie und unabhängige Kommune. Aber was bedeutet es, die gesamte zukünftige Gesellschaft auf die Kommune zu gründen? Das erste Missverständnis, auf das man bei der Diskussion dieser Frage stößt, selbst bei Anarchisten selbst, ist die Identifizierung der Idee der „Kommune“ mit der einer sozialen Einheit, die an ein genau definiertes Territorium mit genau abgegrenzten territorialen Grenzen gebunden ist. Die Kommune ist also gleichbedeutend mit dem ländlichen Dorf, mit einer bestimmten landwirtschaftlichen oder ökonomischen Einheit, die von einer Gruppe von Menschen nach kommunistischen Kriterien organisiert wird.

Das zweite Missverständnis, das eng mit dem ersten zusammenhängt, besteht darin, die so territorial definierte Kommune als unabhängigen und autarken ökonomischen Organismus zu betrachten, der in der Lage ist, alle Bedürfnisse seiner Mitglieder (so weit wie möglich) selbständig zu befriedigen.

Das Ergebnis ist ein Bild der anarchischen Gesellschaft, in der die Menschheit – je nach den individuellen Eigenheiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen – in größere oder kleinere Gemeinschaften aufgeteilt ist, die völlig unabhängig voneinander sind und sich so weit wie möglich selbst versorgen. Eine solche Vorstellung des anarchistischen Ideals impliziert jedoch die Ablehnung bestehender Produktions- und Tauschformen, die Rückkehr zu einer natürlichen Ökonomie und einer parzellierten handwerklichen Produktion sowie die Beendigung der Verteilung von Industriegütern innerhalb der sozialen Struktur als Ganzes. Es ist kaum nötig zu sagen, dass eine solche Vorstellung von der anarchistischen Gesellschaft völlig falsch ist. Genau darauf beziehen sich die Gegner des Anarchismus, wenn sie den Anarchisten vorwerfen, Utopisten oder gar bourgeoise Idealisten zu sein. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass diese Interpretation der anarchistischen Gesellschaft zum Teil die Schuld der anarchistischen Theoretiker selbst ist, die das Problem der Rolle der Anarchisten in der postkapitalistischen Gesellschaft nicht ausreichend entwickelt haben. Eine besonders ungenaue Einschätzung der Bedeutung des kapitalistischen Erbes in einer zukünftigen Gesellschaft findet sich in Kropotkins Werk, in dem er vor allem die Tendenz zur Dezentralisierung des derzeitigen Produktionssystems betont. Was als Tatsache akzeptiert wurde, ist lediglich eine Tendenz. Die Tendenz zur Dezentralisierung wurde in der Industrie vorschnell erkannt und übertrieben, so dass der Eindruck entstand, dass in der zukünftigen Gesellschaft alles, was die Mitglieder der Kommune brauchen, vor Ort von der Kommune selbst produziert werden könnte. Der erste Irrglaube – die Bindung der Kommune an ein bestimmtes Gebiet – wird in anarchistischen theoretischen Werken häufig verwendet. Doch die Kommune, die die Grundlage der zukünftigen Gesellschaft bildet, ist nicht unbedingt an ein bestimmtes Gebiet gebunden. Die Kommune ist einfach ein Zusammenschluss von Individuen, die zusammenarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Jeder solche Zusammenschluss, egal wie groß oder unbedeutend er sein mag, wie umfangreich oder begrenzt seine Aktivitäten sind, stellt eine Kommune dar. Diese Gemeinschaft, die nicht durch eine genaue territoriale Grenze abgegrenzt ist, wird als extraterritoriale Gemeinschaft bezeichnet. Und es ist die extraterritoriale Kommune, die die soziale und ökonomische Grundlage der anarchistischen Gesellschaft bildet. Die Beziehungen dieser Kommunen zueinander sind komplex und eng miteinander verflochten, so dass die Kommunen in jedem Bereich miteinander in Beziehung stehen und ein einziges, unteilbares soziales Gefüge bilden.

Der zweite Irrglaube, der den oberflächlichen Kritikern des Anarchismus Auftrieb gegeben hat – die Verbindung zwischen dem anarchistischen sozialen Ideal und dem handwerklichen Produktionssystem – ist eng mit dem ersten verknüpft, aber um ihn zu klären, müssen wir ihn aus einem etwas anderen Blickwinkel analysieren. Um die Frage zu definieren, müssen wir das Problem unserer Haltung gegenüber der Autorität in einer postkapitalistischen Gesellschaft offen und klar diskutieren. Ist es wahr, dass Anarchisten durch die Zerstörung des bourgeoisen Systems auch das industrielle System der heutigen Gesellschaft verändern werden? Werden Anarchisten nach ihrem Sieg das Erbe des Kapitalismus berücksichtigen oder werden sie ihm den Rücken kehren und neue und andere Formen der Ökonomie schaffen? Werden sie diese menschlichen Ameisenhaufen, Fabriken und gigantischen Fabriken unangetastet lassen? Wird es in der anarchistischen Gesellschaft Unternehmen geben, in denen Zehntausende von Arbeitern unter einem Dach arbeiten? Werden diese städtischen Giganten weiterhin ihre Verführungskraft behalten und die Bevölkerung in ihre magnetischen Tentakel ziehen? Werden wir in der anarchistischen Gesellschaft die Arbeitsteilung und die mechanisierte Produktion in großem Maßstab beibehalten?

Das sind die Fragen, deren Antworten eine genaue Vorstellung von der zukünftigen Gesellschaft liefern werden. Zunächst einmal sei gesagt, dass es eine für den Anarchismus fatale Utopie wäre, alles, was der Kapitalismus im Bereich der Produktion und Verteilung geschaffen hat, pauschal abzulehnen. Im Bereich der Produktion und des Austauschs müssen wir die Fortsetzer des Kapitalismus sein. Wir dürfen das kapitalistische Erbe nicht ablehnen, sondern müssen es uns vollständig zu eigen machen. In dem vom Kapitalismus geschaffenen Produktionssystem gibt es viele positive, fortschrittliche Aspekte im Hinblick auf die Entwicklung der Menschheit. Wir werden unseren Sieg nicht dazu nutzen, die Menschheit in einen primitiven Zustand zurück zu versetzen. Wenn wir die Produktion übernehmen, werden wir keine einzige Maschine zerstören und keinen einzigen Hebel beschädigen. Wir werden weder unsere Fabriken und Anlagen aufgeben, noch werden wir sie durch ein idyllisches Leben in Hütten auf Wiesen und in Wäldern unter freiem Himmel ersetzen.

Im Gegenteil, wir werden unsere befreite Energie in die Fabriken bringen. Wir werden unseren Maschinen neue Kraft geben. Wir werden mit Beton, mit Glas und mit Stahl bauen wie Giganten, die es bisher noch nicht gegeben hat. Wir werden die Industrie zu neuen, noch nie dagewesenen Höhen führen. Unsere Städte werden nicht zertrümmert und verstreut sein. Stattdessen werden sie mit blühenden Gärten gefüllt sein und Millionen von Menschen werden sich freudig in den sonnigen Straßen tummeln.

Die anarchistische Gesellschaft wird die Produktion nicht zertrümmern, sondern zunehmend konsolidieren. Mit Stahlschienen und Dampfschiffen werden wir die entlegensten Winkel der Erde miteinander verbinden und dem Handel neue Ausdehnung und neuen Schwung verleihen. Wir werden neue Fabriken bauen, in denen Tausende von Arbeitern untergebracht werden können. So müssen diejenigen, die die Richtung der Gegenwart richtig erkannt und sich aus den Fängen der Vergangenheit befreit haben, die zukünftige Gesellschaft sehen. Aber welche Rolle wird die Kommune in der zukünftigen Gesellschaft spielen? Was wird sie werden? Welche Art von Organisation wird die Aufgabe übernehmen, die Bedürfnisse einer solchen Gesellschaft zu erfüllen? Liegt es nicht auf der Hand, dass die Produktionsgenossenschaften in einer solchen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen werden, indem sie nach vorne marschieren und nicht in die Vergangenheit? Das Fundament der gesamten Gesellschaft werden starke Produktionsgenossenschaften sein, die durch ökonomische Zwänge gebunden sind, die von den Bedürfnissen der Produktion selbst diktiert werden.

Die vage Vorstellung von der Kommune als sozialer und ökonomischer Grundlage der Gesellschaft erhält so einen klar definierten Inhalt. Die Kommune der zukünftigen Gesellschaft ist ein Zusammenschluss von Arbeitern zur Produktion oder Verteilung. Deshalb dürfen Anarcho-Kommunisten bei ihrer Arbeit die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Produktionsgenossenschaften der Arbeiter das Wesen eben jener Kommunen darstellen, auf denen das zukünftige Gebäude des Anarcho-Kommunismus errichtet werden wird.

[A. Grachev, „Anarkhicheskii kommunizm“, in „Golos Truda“, Petersburg, 15. September 1917, S. 3-4]

This entry was posted in Alfredo M. Bonanno, Anarchistische/Revolutionäre Geschichte, Kritik am Leninismus, Russische Revolution 1917, Texte. Bookmark the permalink.