Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel

Gefunden auf archives autonomies, die Übersetzung ist von uns. Eine Kritik von Cajo Brendel an „nationalen Befreiungsbewegungen“.


Dritte-Weltismus und Sozialismus, Cajo Brendel

In den zwei Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg wurde die politische Bühne von den antiimperialistischen Kämpfen der kolonialisierten Völker beherrscht. Die chinesische Revolution ist nur der prominenteste Fall eines Kolonialvolkes, das in sehr harte Kämpfe gegen einen viel mächtigeren imperialistischen Feind verwickelt ist – Kuba, Algerien und Vietnam sind ebenfalls Beispiele unter vielen.

Während diese antiimperialistischen Kämpfe tobten, führte die metropolitane Arbeiterklasse nur wenige politisch bemerkenswerte Schlachten gegen ihre eigenen Herren; in keinem der Industrieländer erhob sich das Proletariat gegen die Bourgeoisie, um deren politische Macht in Frage zu stellen. Der ungarische Aufstand von 1956 war wie der Kronstädter Aufstand 1921 in Russland1 von politischer Bedeutung, aber da er in einem Land stattfand, in dem das Privateigentum an Produktionsmitteln bereits abgeschafft worden war, passte er nicht in die orthodoxe marxistische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik, und seine tiefere Bedeutung blieb unbeachtet. Unter diesen Umständen entstanden die „Dritte-Weltismus“-Theorien.

Diese Theorien konzentrierten sich hauptsächlich auf die folgenden Punkte:

1.) Das Proletariat der Industrieländer revoltiert nicht, weil es von den Brosamen der Ausplünderung der kolonialen Welt gesättigt ist. Dieser Umstand erstickt seine revolutionäre Initiative. Das Proletariat in diesen Ländern ist korrupt und in die bourgeoise Ordnung integriert.

2.) Die Bevölkerung der kolonialen Länder, deren Arbeit die Rohstoffe liefert, die der Imperialismus benötigt, bildet ein Weltproletariat“ (auch wenn es sich um Bauern handelt, die nicht in eine industrielle Tätigkeit eingebunden sind). Im Weltmaßstab sind sie die revolutionäre Klasse. Und sie sind es, die sich in bewaffneten Aufständen gegen den Imperialismus erhoben haben. Die antikoloniale Revolution ist daher die sozialistische Revolution unserer Zeit.

3. Bauern auf der ganzen Welt werden den bewaffneten Kampf aufnehmen und die städtischen Zentren einkreisen (genau wie in China und Kuba). Außerdem werden diese Zentren in einer ökonomischen Krise zusammenbrechen (da ihnen die Rohstoffquellen, Märkte und Arbeitskräfte entzogen wurden). Das städtische Proletariat wird sich in dieser Phase der siegreichen Revolution der kolonialen Bauern anschließen.

Die drei oben genannten Punkte, die vielleicht bis zu einem gewissen Grad vereinfacht sind, stellen dar, was wir unter der Theorie des „Dritte-Weltismus“ verstehen. Wie jede andere Orthodoxie hat sie viele Varianten, von denen jede für sich beansprucht, die einzig authentische zu sein. Auf jeden Fall bilden diese drei Punkte den gemeinsamen Nenner derjenigen, die der „Dritte-Weltismus“-Ideologie anhängen.

Der „Dritte-Weltismus“-Marxismus ignoriert die grundlegenden Annahmen der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Nach Marx ist eine Revolution nicht nur ein Aufstand gegen das Elend. Sie ist die Legitimation eines neuen Ensembles von sozialen Beziehungen, die vor der Revolution aufgrund einer neuen Produktionstechnologie entstanden sind. Nach Marx ist es nicht die Revolution, die eine neue Gesellschaft hervorbringt, sondern ein neues Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, das eine Revolution hervorbringt und ihr dann die Möglichkeit gibt, sich zu entwickeln. So konnten die großen Revolutionen in England (1640) und Frankreich (1789) nur die Gesellschaftsordnung legitimieren, die die Bourgeoisie jahrzehntelang hervorgebracht hatte.

Welche Art von Gesellschaft reifte in den Kolonialländern vor ihrer Unabhängigkeit heran? Das Industrieproletariat in diesen Ländern war fast nicht existent und konnte keine entscheidende Rolle spielen. Der Kampf der Kolonialvölker war in erster Linie eine Bauernrevolte. Revolutionen, die von halbmilitärischen Parteien angeführt und durch militärische Kämpfe vollendet wurden, brachten Regime hervor, die zutiefst von ihren Ursprüngen geprägt waren. Die neuen politischen Strukturen sind ein Abbild der Formen des Machtkampfes: reglementiert, autoritär, doktrinär, bürokratisch. Neue Regime dieser Art können die Millionen von Menschen, die in den modernen Industrieländern leben, nicht inspirieren. Alle Revolutionen in einem unterentwickelten Land haben die absolute Herrschaft einer politischen oder militärischen Bürokratie hervorgebracht. Selbst wenn sie von ihrer eigenen Bevölkerung toleriert werden (oft nach der Inhaftierung oder Hinrichtung jeglicher Opposition – einschließlich der Linken), können diese Regime nicht als Modell oder Ziel für die Menschen in einer modernen Industriegesellschaft dienen.

Das bedeutet nicht, dass diese Revolutionen wertlos waren. Wo Tausende von Menschen verhungern, ist man fehl am Platz, wenn man sich über den Mangel an Demokratie beschwert. Selbst wenn die chinesischen, kubanischen oder algerischen Revolutionen nichts weiter getan hätten, als das Elend in diesen Kolonialländern zu verringern, wären sie nicht nutzlos gewesen. In Wirklichkeit haben sie mehr getan, als nur hungrige Bäuche zu füllen: Sie haben das Analphabetentum beseitigt, das Privateigentum an Land abgeschafft, die Industrialisierung eingeleitet und so weiter. Aber nichts davon kann weder implizit noch explizit so verstanden werden, dass es auch nur das Geringste mit Sozialismus zu tun hätte: Die fortgeschrittenen Länder haben viel mehr als das produziert, und wir kritisieren sie immer noch gnadenlos. Beim Sozialismus geht es um eine grundlegende Veränderung der Produktionsverhältnisse: die Abschaffung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten in den Produktionskräften und in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens. Die Revolten in der Dritten Welt bringen keine neue Art von Gesellschaftsordnung hervor, die für die Industriegesellschaft gültig ist.

Darüber hinaus ist der Spielraum für nationale politische Autonomie, der in solchen Staaten existiert, oft sehr begrenzt. Ökonomische und militärische Hilfe, allgegenwärtige „Berater“, das Erbe besonderer politischer Strukturen und etablierter Handelsströme neigen dazu, solche Staaten in einer Situation der Abhängigkeit von ihren früheren imperialistischen Herren zu belassen: siehe die Beziehungen Algeriens zu Frankreich. Wo die Revolte tiefer ging, entstehen neue politische Strukturen und neue Handelsströme, und in der Regel findet sich das Land zunehmend unter dem Einfluss anderer Supermächte wieder. Die kubanische Unterstützung für den russischen Einmarsch in die Tschechoslowakei zeigte, wie sehr Castro davon abhängig war, dass die Russen die Zuckerernte aufkauften – der Handel mit Prinzipien steht in direktem Zusammenhang mit dem Prinzip des Handels. Selbst wenn echte „politische“ Unabhängigkeit erlangt wird, wie im Fall Chinas, werden die Prinzipien den durch den Handel vermittelten Vorteilen geopfert. 1964 sabotierte die maoistische KP Japans einen Generalstreik im Zusammenhang mit ihren Bemühungen, den chinesisch-japanischen Handel zu fördern, und zwei Jahre später wurde bekannt, dass die Chinesen die USA mit Flach- und Rundstahl belieferten, der für ihre Kriegsanstrengungen in Vietnam unerlässlich war.

Auch wenn die „ökonomische Katastrophe“ der Ballungszentren nicht eintritt – wie jeder, der mit dem Primat des internen Marktes im modernen Kapitalismus vertraut ist, leicht hätte vorhersehen können – ist es so, dass die Industrieländer weniger von den unterentwickelten Ländern abhängig sind als diese von den Industrieländern. Nicht nur, dass Kunstfasern die Baumwolle ersetzen können, sondern auch, dass die baumwollproduzierenden Länder sehr arme Märkte für z.B. Autos oder Computer darstellen. Moderne Industrieländer sind im Vergleich zu früher immer weniger von ihren ehemaligen Kolonien abhängig, sowohl was Rohstoffe als auch was Märkte betrifft. Holland hat Indonesien verloren, Belgien den Kongo, die USA wurden aus Kuba hinausgeworfen, ohne dass ihre Ökonomien zusammengebrochen wären.

Dennoch haben die Kämpfe der Kolonialvölker etwas zur revolutionären Bewegung beigetragen. Die Tatsache, dass schlecht bewaffnete Bauernvölker den enormen Kräften des modernen Imperialismus entgegentreten konnten, erschütterte den Mythos der Unbesiegbarkeit der militärischen, technologischen und wissenschaftlichen Macht des Westens. Ihr Kampf hat auch Millionen von Menschen die Brutalität und den Rassismus des Kapitalismus vor Augen geführt und viele, vor allem junge Menschen und Studenten, dazu gebracht, den Kampf gegen ihre eigenen Regime aufzunehmen. Die Unterstützung der kolonialen Völker gegen den Imperialismus bedeutet jedoch nicht die Unterstützung irgendeiner der Organisationen, die an diesem Kampf beteiligt sind.

Unsere Weigerung, politische Organisationen zu unterstützen, die nationalistische, bourgeoise oder staatskapitalistische Programme verfolgen, ist nicht nur eine Frage der Treue zu revolutionären, moralischen und ideologischen Prinzipien. Es ist auch eine Frage der politischen Solidarität. In vielen Fällen kommt es vor, dass es in großen, reichen und lauten Organisationen kleine Gruppen von Militanten gibt, revolutionäre Internationalisten, die in einem sehr scharfen Konflikt nicht nur mit dem Imperialismus, sondern auch mit ihren eigenen nationalistischen „Partnern“ stehen. In China wurden z. B. sowohl Anarchisten als auch Trotzkisten auf dem Weg der KP zum Sieg zerschlagen. Die Anwälte des „Realismus“, die ihre Unterstützung mehr nach Größe als nach Programm, nach objektiven Bedingungen als nach subjektivem Bewusstsein gewähren, verraten nicht nur ihre revolutionären Prinzipien, sondern auch diejenigen, die in den betreffenden Ländern für dieselben Prinzipien kämpfen. Es ist die Politik derer, die sich den „objektiven Bedingungen“ anpassen, anstatt die Politik derer, die es wagen, sie herauszufordern und zu verändern.


1Vgl. Ungarn, 1956 von Andy Anderson; und Ida Mett, La Commune de Cronstadt, Crépuscule sanglant des Soviets (Die Kronstädter Kommune, Blutige Dämmerung der Sowjets), Spartacus Hefte. (A.d.Ü., Ida Mett, Kommune von Kronstadt, auch auf unseren Blog veröffentlicht)

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