Eine Kritik des deutschen sozialdemokratischen Programms – Mikhail Bakunin

Gefunden auf libcom, die Übersetzung ist von uns. Wir haben diesen Text von Bakunin auf deutscher Sprache nicht gefunden und daher übersetzt, hier handelt es sich um einen schon fast ‚prophetischen‘ Text, selbstverständlich in keiner Weise, eher ‚cum grano salis‘, der über den eingeschlagenen Werdegang der (fast) gesamten Sozialdemokratie, die hohe Wahrscheinlichkeit vorraussah, dass diese auf der Seite der Bourgeoisie in den Krieg werden müsste.

Was dann beim Ersten Weltkrieg dann auch passierte und in einer perversen Abänderung auch jetzt in der Ukraine passiert. Bakunin selbst sagte „Solange die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter versuchen, einen Nationalstaat zu errichten – und sei es der freieste Volksstaat -, werden sie unweigerlich und vollständig die Freiheit des Volkes dem Ruhm des Staates, den Sozialismus der Politik, die Gerechtigkeit und die internationale Brüderlichkeit dem Patriotismus opfern.“ Wie wahr, wie wahr und trotzdem haben die meisten nichts aus der Geschichte gelernt.


Eine Kritik des deutschen sozialdemokratischen Programms – Mikhail Bakunin

Bakunin übt schon früh eine starke Kritik an den etatistischen, reformistischen, klassenkollaborierenden und konterrevolutionären Tendenzen der entstehenden Sozialdemokratie.

Bakunins Aufsatz widerlegt die Behauptungen einiger Marxisten, damals wie heute, dass die frühe Sozialdemokratie eine weitgehend fortschrittliche Rolle innerhalb der Arbeiterbewegung spielte. In diesem speziellen Fall sind Bakunins Kommentare auch viel radikaler als alles, was Marx und Engels damals öffentlich zu diesem Thema zu sagen bereit waren.

… alle geschichtliche Erfahrung zeigt, dass ein Bündnis, das zwischen zwei verschiedenen Parteien geschlossen wird, immer der rückständigeren Partei zugute kommt – die fortschrittlichere Partei wird unweigerlich geschwächt, weil das Bündnis ihr Programm schmälert und verzerrt und ihre moralische Stärke und ihr Selbstvertrauen zerstört; während eine rückständige Partei, wenn sie lügt, ihrer eigenen Wahrheit immer näher ist als je zuvor … Ich zögere nicht zu sagen, dass alle marxistischen Liebäugeleien mit dem bourgeoisen Radikalismus – ob reformistisch oder revolutionär – kein anderes Ergebnis haben können als die Demoralisierung und Desorganisation der aufkeimenden Macht des Proletariats und damit die weitere Festigung der Macht der Bourgeoisie.“ (Bakunin, 1870er Jahre.)

Text aus: Bakunin on Anarchism, Black Rose Books, übersetzt und herausgegeben von Sam Dolgoff, 1971.

=============

Eine Kritik des deutschen sozialdemokratischen Programms

(1870, Michael Bakunin)

Schauen wir uns die Situation in Ländern außerhalb Frankreichs an, in denen die sozialistische Bewegung zu einer echten Macht geworden ist… Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) und der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV) sind beide sozialistisch in dem Sinne, dass sie die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit auf sozialistische Weise verändern [den Kapitalismus abschaffen] wollen. Sowohl die Lassalleaner als auch die Eisenacher Partei [benannt nach dem Kongress, der vom 7. bis 9. August 1869 in Eisenach stattfand] sind sich einig, dass es für diese Veränderung absolut notwendig ist, zuerst den Staat zu reformieren, und wenn dies nicht durch eine weit verbreitete Propaganda und eine legale, friedliche Arbeiterbewegung erreicht werden kann, dann muss der Staat mit Gewalt reformiert werden, d.h. durch eine politische Revolution.

Alle deutschen Sozialisten glauben, dass die politische Revolution der sozialen Revolution vorausgehen muss. Das ist ein fataler Irrtum. Denn jede Revolution, die vor einer sozialen Revolution gemacht wird, ist zwangsläufig eine bourgeoise Revolution – die nur zum bourgeoisen Sozialismus führen kann – eine neue, effizientere, raffinierter versteckte Form der Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie. [Mit „bourgeoisen Sozialismus“ meinten sowohl Bakunin als auch Marx eine Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit, der „Öffentlichkeit“ und dem Staat. – Er wurde in Deutschland von Bismarck eingeführt und wird in unserer Zeit von rechtsgerichteten demokratischen Sozialisten, „aufgeklärten Kapitalisten“ und Liberalen im Allgemeinen vertreten].

Dieses falsche Prinzip – die Idee, dass eine politische Revolution einer sozialen Revolution vorausgehen muss – ist in der Tat eine offene Einladung an alle deutschen bourgeois-liberalen Politiker, die SDAP zu unterwandern. Und diese Partei wurde bei vielen Gelegenheiten von ihren Anführern – nicht von den radikal gesinnten Mitgliedern – dazu gedrängt, sich mit den bourgeoisen Demokraten der Volkspartei zu verbrüdern, einer opportunistischen Partei, die sich nur mit Politik beschäftigt und die Prinzipien des Sozialismus vehement ablehnt. Diese Feindseligkeit wurde durch die bösartigen Angriffe ihrer patriotischen Redner und offiziellen Zeitungen gegen die revolutionären Sozialisten in Wien deutlich demonstriert.

Diese Angriffe gegen den revolutionären Sozialismus erregten die Empörung und den Widerstand fast aller Deutschen und brachten Liebknecht und die anderen Anführer der SDAP ernsthaft in Verlegenheit. Sie wollten die Arbeiter beruhigen und so die Kontrolle über die deutsche Arbeiterbewegung behalten und gleichzeitig mit den Anführern der bourgeoisen Demokraten der Volkspartei befreundet bleiben, die bald erkannten, dass sie einen schwerwiegenden taktischen Fehler begangen hatten, indem sie sich die deutsche Arbeiterbewegung zum Feind machten, ohne deren Unterstützung sie nicht hoffen konnten, politische Macht zu erlangen.

In dieser Hinsicht folgte die Volkspartei der Tradition der Bourgeoisie, niemals selbst eine Revolution zu machen. Ihre Taktik, so raffiniert sie auch sein mag, basiert immer auf diesem Prinzip: die mächtige Hilfe des Volkes in Anspruch zu nehmen, um eine politische Revolution zu machen, aber den Nutzen für sich selbst zu ernten. Es war diese Art von Überlegung, die die Volkspartei dazu veranlasste, ihre antisozialistische Haltung zu ändern und zu verkünden, dass auch sie jetzt eine sozialistische Partei ist… Nach einem Jahr der Verhandlungen verabschiedeten die Anführer der Arbeiter- und der bourgeoisen Partei das berühmte Eisenacher Programm und schlossen sich unter Beibehaltung des Namens SDAP zusammen. Dieses Programm ist in Wirklichkeit eine seltsame Mischung aus dem revolutionären Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (der Internationale) und dem bekannten opportunistischen Programm der bourgeoisen Demokratie…

Artikel 1 des Programms steht in der Tat im Widerspruch zur grundlegenden Politik und zum Geist der Internationale. Die SDAP will einen freien Volksstaat errichten. Aber die Worte frei und Volksstaat werden durch das Wort Staat außer Kraft gesetzt und bedeutungslos gemacht; der Name Internationale impliziert die Negation des Staates. Sprechen die Verfasser des Programms von einem internationalen oder universellen Staat oder wollen sie nur einen Staat errichten, der alle Länder Westeuropas umfasst – England, Frankreich, Deutschland, die skandinavischen Länder, Holland, die Schweiz, Spanien, Portugal und die slawischen Nationen, die Österreich unterstehen? Nein. Ihre politischen Mägen können so viele Länder auf einmal nicht verdauen. Mit einer Leidenschaft, die sie nicht einmal zu verbergen versuchen, verkünden die Sozialdemokraten, dass sie das große pan-germanische Vaterland errichten wollen. Und deshalb ist das einzige Ziel der SDAP, die Errichtung eines gesamtdeutschen Staates, der allererste Artikel ihres Programms. Sie sind vor allem deutsche Patrioten.

Anstatt sich der Schaffung eines gesamtdeutschen Staates zu widmen, sollten sich die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren ausgebeuteten Brüdern in der ganzen Welt zusammenschließen, um ihre gemeinsamen ökonomischen und sozialen Interessen zu verteidigen; die Arbeiterbewegung eines jeden Landes muss allein auf dem Prinzip der internationalen Solidarität beruhen… Würden die Arbeiterinnen und Arbeiter im Falle eines Konflikts zwischen zwei Staaten nach Artikel 1 des sozialdemokratischen Programms handeln, würden sie sich wider besseres Wissen auf die Seite ihrer eigenen Bourgeoisie gegen ihre Arbeitskollegen in einem fremden Land stellen. Sie würden damit die internationale Solidarität der Arbeiter dem nationalen Patriotismus des Staates opfern. Genau das tun die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt im französisch-preußischen Krieg. Solange die deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter versuchen, einen Nationalstaat zu errichten – und sei es der freieste Volksstaat -, werden sie unweigerlich und vollständig die Freiheit des Volkes dem Ruhm des Staates, den Sozialismus der Politik, die Gerechtigkeit und die internationale Brüderlichkeit dem Patriotismus opfern. Es ist unmöglich, gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen zu gehen. Sozialismus und soziale Revolution beinhalten die Zerstörung des Staates: – konsequenterweise müssen diejenigen, die einen Staat wollen, die ökonomische Emanzipation der Massen dem politischen Monopol einer privilegierten Partei opfern.

Die SDAP würde die ökonomische und damit auch die politische Emanzipation des Proletariats – oder besser gesagt, seine Emanzipation von Politik und Staat – dem Triumph der bourgeoisen Demokratie opfern. Das geht eindeutig aus dem zweiten und dritten Artikel des sozialdemokratischen Programms hervor. Die ersten drei Klauseln von Artikel 2 entsprechen in jeder Hinsicht den sozialistischen Grundsätzen der Internationale: Abschaffung des Kapitalismus, volle politische und soziale Gleichheit, jeder Arbeiter soll das volle Produkt seiner Arbeit erhalten. Aber die vierte Klausel, in der erklärt wird, dass die politische Emanzipation die Vorbedingung für die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse ist, dass die Lösung der sozialen Frage nur in einem demokratischen Staat möglich ist, hebt diese Grundsätze auf und macht ihre Umsetzung unmöglich. Die vierte Klausel läuft darauf hinaus zu sagen:

„Arbeiterinnen und Arbeiter, ihr seid Sklaven, Opfer der kapitalistischen Gesellschaft. Wollt ihr euch aus dieser ökonomischen Zwangsjacke befreien? Natürlich wollt ihr das, und ihr habt absolut Recht. Aber um eure berechtigten Forderungen zu erfüllen, müsst ihr uns zuerst bei der politischen Revolution helfen. Danach werden wir euch helfen, die soziale Revolution zu machen. Lasst uns zuerst mit eurer Kraft den demokratischen Staat errichten, einen guten demokratischen Staat, wie in der Schweiz: und dann versprechen wir, euch die gleichen Vorteile zu geben, die die Schweizer Arbeiter jetzt genießen… . (Siehe die Streiks in Basel und Genf, die von der Bourgeoisie rücksichtslos unterdrückt wurden.)“

Um sich davon zu überzeugen, dass diese unglaubliche Wahnvorstellung die Tendenzen und den Geist der deutschen Sozialdemokratie genau widerspiegelt, muss man sich nur Artikel 3 ansehen, in dem alle unmittelbaren und nahen Ziele aufgelistet sind, die in der legalen und friedlichen Propaganda und im Wahlkampf der Partei vorangebracht werden sollen. Diese Forderungen wiederholen lediglich das bekannte Programm der bourgeoisen Demokraten: allgemeines Wahlrecht mit direkter Gesetzgebung durch das Volk; Abschaffung aller politischen Privilegien; Ersetzung des ständigen stehenden Heeres durch Freiwilligen- und Staatsbürgermilizen; Trennung von Kirche und Staat und der Schulen von der Kirche; freie und obligatorische Grundschulbildung; Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; und Ersetzung aller indirekten Steuern durch eine einzige, direkte und progressiv höhere Einkommenssteuer auf der Grundlage des Einkommens.

Beweist dieses Programm nicht, dass die Sozialdemokraten ausschließlich an der politischen Reform der Institutionen und Gesetze des Staates interessiert sind und dass der Sozialismus für sie nur ein leerer Traum ist, der bestenfalls in ferner Zukunft verwirklicht werden kann?

Wäre es nicht so, dass die wahren Bestrebungen und radikalen Gefühle ihrer Mitglieder, der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, viel weiter gehen als dieses Programm, könnten wir dann nicht mit Fug und Recht behaupten, dass die SDAP nur zu dem Zweck gegründet wurde, die arbeitenden Massen als unbewusstes Werkzeug zu benutzen, um die politischen Ambitionen der deutschen bürgerlichen Demokraten zu fördern?

Es gibt nur zwei Punkte in diesem Programm, die den Kapitalisten des freien Unternehmertums nicht gefallen werden. Der erste findet sich in der zweiten Hälfte von Paragraph 8, Artikel 3; er fordert die Einführung eines normalen Arbeitstages (Begrenzung der Arbeitszeit), die Abschaffung der Kinderarbeit und die Begrenzung der Frauenarbeit; Maßnahmen, die die freien Unternehmer erschaudern lassen. Als leidenschaftliche Liebhaber aller Freiheiten, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können, fordern sie das uneingeschränkte Recht, das Proletariat auszubeuten, und lehnen staatliche Eingriffe erbittert ab. Für die armen Kapitalisten sind jedoch schlechte Zeiten angebrochen. Sogar in England, das bei weitem keine sozialistische Gesellschaft ist, sind sie gezwungen, staatliche Eingriffe zu akzeptieren.

Der andere Punkt – Klausel 10, Artikel 3 – ist sogar noch wichtiger und sozialistischer. Er fordert staatliche Hilfe, Schutz und Kredite für Arbeitergenossenschaften, insbesondere für Erzeugergenossenschaften, mit allen notwendigen Garantien, d.h. mit der Freiheit zu expandieren. Das freie Unternehmertum hat keine Angst vor der erfolgreichen Konkurrenz der Arbeitergenossenschaften, denn die Kapitalisten wissen, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren mageren Einkommen allein nie in der Lage sein werden, genug Kapital anzuhäufen, um mit den immensen Ressourcen der Arbeitgeberklasse mithalten zu können … aber das Blatt wird sich wenden, wenn die Arbeitergenossenschaften, unterstützt durch die Macht und den nahezu unbegrenzten Kredit des Staates, den Kampf aufnehmen und nach und nach sowohl privates als auch Unternehmenskapital (Industrie und Handel) absorbieren. Der Kapitalist wird nämlich mit dem Staat konkurrieren, und der Staat ist natürlich der mächtigste aller Kapitalisten. [Aus dem Kontext des nächsten Absatzes wird ersichtlich, dass Bakunin die staatliche Subventionierung von Arbeitergenossenschaften als Teil des Übergangs vom Kapitalismus zum Staatssozialismus betrachtet.]

Arbeit, die vom Staat beschäftigt wird – das ist das grundlegende Prinzip des autoritären Kommunismus, des Staatssozialismus. Nachdem der Staat zum alleinigen Eigentümer geworden ist – am Ende einer Übergangsphase, die notwendig ist, damit die Gesellschaft ohne allzu große Verwerfungen von der gegenwärtigen Organisation der bourgeoisen Privilegien zur zukünftigen Organisation der offiziellen Gleichheit für alle übergehen kann – wird der Staat dann der einzige Bankier, Kapitalist, Organisator und Direktor der gesamten nationalen Arbeit und der Verteiler aller ihrer Produkte sein. Das ist das Ideal, das Grundprinzip des modernen Kommunismus.

This entry was posted in Anarchistische/Revolutionäre Geschichte, Krieg, Kritik am Nationalismus, Kritik am Reformismus, Kritik an der (radikalen) Linke des Kapitals, Texte. Bookmark the permalink.