Dieser Text der vor einigen Jahren von Mutines Séditions veröffentlicht wurde, übt sich in der Kritik an den Ideen des Toni Negri´s und seinen Aposteln. Die Übersetzung ist von uns und es war keine leichte.
„Negrismus und Tute Bianche: eine linke Konterrevolution“ (Hrsg. Mutines Séditions, 36 S., August 2004).
Wenn du glaubst, dass „der nächste Streik der Streik im Internet sein wird“, dass „die ökonomische Demokratie zweifellos das „am wenigsten schlechte“ Akkumulationsregime ist“, dass das Bedingungslose Grundeinkommen für Staatsbürger endlich „sektorale Mobilität, „Flexibilität“ bei Unternehmensgründungen, Investitionen in Hochtechnologiesektoren“ ermöglichen würde, dass sich in Genua „die Vielzahl der Fotos als eine viel schärfere Waffe als ein Schlagstock erweist“, dass Chirac durch „die Stimme der Multitude“ gewählt wurde, dann bist du vielleicht ein Negrist (A.d.Ü., ein Anhänger von Toni Negri), der es nicht wusste.
Wenn du glaubst, dass die Tute bianche (heute Disobbedienti) sympathische Jugendliche aus italienischen Sozialen Zentren sind, die dafür kämpfen, die Welt zu verändern, und keine Spitzel, Rekuperatoren und Friedensstifter ; wenn du der Meinung bist, dass Toni Negri ein großer Denker ist, der versucht, antagonistische Perspektiven für die Bewegung zu entwerfen, und nicht, dass er der Theoretiker der politischen Dissoziation, der Unterwerfung unter die kapitalistische Ordnung und Schädlichkeit oder der Apostel der Kollaboration mit den Institutionen ist, dann bist du sicherlich ein nicht unwissender Negrist.
Für alle anderen bieten wir einen kurzen Überblick, der von Barbares (Analyse und Kritik von Empire) über die Praktiken der Tute bianche in Rom oder Genua bis hin zu einem Porträt Negris, Auszügen aus Texten seiner französischen Epigonen und einem Überblick über ihre Ideen als Einleitung reicht.
Die negristische Konterrevolution in Frankreich
Warum sollte man eine Broschüre über die Theorien von Antonio Negri , seiner aktivistischen Branche in Italien (die Tute bianche, die nach Genua im Juli 2001 zu Disobbedienti wurden) und seinen französischen Gefolgsleuten veröffentlichen? Der Autor von Empire ist hierzulande kaum bekannt, obwohl sich einige seiner Konzepte wie eben Empire oder das Bedingungslose Grundeinkommen immer mehr verbreiten. Tatsache ist, dass dieser alte Hase in den akademischen Zirkeln derzeit mit all seinen Schülern, Partnern und Propagandisten das linke Programm des Kapitals ausarbeitet, indem er ein äußerst lehrreiches Alternativpaket zur Subversion anbietet, da er uns sowohl von den Ängsten vor der Herrschaft als auch von konterrevolutionären Reformen erzählt, die eine Revolte eindämmen können, die es schafft, ansteckend zu werden, bevor es zu spät ist.
Auch wenn wir uns nicht der Illusion hingeben, dass Theorien Bewegungen einseitig beeinflussen können, glauben wir doch, dass Negris Theorien den Interessen der Herrschaft entsprechen, d.h. diesem „überall bedrohten Imperium“ wieder Stabilität zu verleihen. Durch neue Vermittlungen (die verfassungsgebende Gewalt und ihre Mediensprecher), eine verfeinerte soziale Kontrolle (garantiertes Einkommen und neue Technologien), ökonomische (ein neuer New Deal) und politische Reformen (eine „europäische Demokratie“, „neue universelle Staatsbürgerrechte“) versuchen die Negristen in der Tat, trotz ihres abstrusen Sprachgebrauchs, neue präventive Instrumente zur Sicherung der sozialen Ordnung zu schmieden.
Die Texte in dieser Broschüre wurden alle von italienischen Gefährten verfasst und entweder direkt dort veröffentlicht oder als Notizen, die die vorgetäuschte Radikalität, die die Negristen manchmal jenseits der Alpen verbreiten, präzisieren sollen: das „Ebenbild“ von Negri wurde anlässlich der Veröffentlichung der Übersetzung von Barbari (ein italienisches Buch, das Empire analysiert, kritisiert und beantwortet) in den USA verfasst, wo seine Jahre im Gefängnis der Figur eine Aura verliehen, und der Artikel über die Praktiken der Tute bianche bei einer Demonstration in Rom wurde für eine Pariser Zeitung für Prekäre geschrieben, zu einem Zeitpunkt, als diese Kasper in Weiß – echte para-institutionelle Spitzel – einen Ruf als Radikale genossen, der insbesondere durch das libertoide1 antifaschistische Netzwerk No Pasarán2 geschmiedet wurde. Wir haben diesen verschiedenen Texten lediglich eine Sammlung von Zitaten französischer Negristen aus Publikationen hinzugefügt, die sich hier in den guten Universitätsbibliotheken und in den Taschen der Anhänger des intelligenten Konfektionsgedankens etabliert haben.
Es gibt noch viel mehr zu tun, um die praktischen Auswirkungen des Negrismus in Italien zu untersuchen (u. a. die Verbreitung der politischen Dissoziation, die Rolle der Sozialen Zentren bei der sozialen Befriedung in den Städten, die Schaffung einer Wählerbasis für die bankrotte italienische Linke und die Rolle der Hilfspolizisten bei Demonstrationen), aber lasst uns jetzt auf die französischen Epigonen des Theoretikers aus Padua zurückkommen.
Wie in Italien, wo die Negristen politisch aus den Gruppen der Arbeiterautonomie der späten 70er Jahre hervorgegangen sind3, war ein Teil der französischen Negristen bereits zur gleichen Zeit in der Pariser Autonomiesphäre aktiv.
Wenn man zum Beispiel dem roten Faden der Forderung nach „einem garantierten Mindesteinkommen“ folgt, dann ist ein Laurent Guilloteau (heute Aktivist bei AC! in der Koordination Ile-de-France der Intermittents du spectacle und Mitglied des Redaktionskomitees von Multitudes) oder ein Yann Moulier-Boutang (heute bei den Grünen, Professor in sciences-po und Herausgeber von Multitudes) waren bereits 1978-794 gemeinsam in den ersten Arbeitslosenkollektiven aktiv, bevor sie das Bedingungslose Grundeinkommen in der Zeitschrift CASH (1984-1989) und dann im Collectif d’agitation pour un revenu garanti optimal (CARGO, 1994 gegründet, heute aufgelöst) propagierten und sich an der Redaktion von Dossiers zu diesem Thema in Vacarme, Chimères oder Multitudes beteiligten. Es war also eine langwierige Arbeit, die unternommen wurde, um es zu fördern, sowohl theoretisch, indem alle möglichen Argumente ausgeschöpft wurden – bis hin zur Verteidigung der Wiederbelebung des Konsums5 – als auch praktisch, indem man sich in den Kämpfen der Arbeitslosen engagierte – bis hin zur Unterzeichnung eines Aufrufs für ein Bedingungslose Grundeinkommen, in dem festgelegt wurde, dass jeder Empfänger sich verpflichten sollte, nicht mehr als zwei Arbeitsangebote abzulehnen (CASH) oder zur Infiltration von AC! in Paris durch einen forcierten neo-leninistischen Aktivismus (CARGO) -.
Schließlich hat dieser lange Marsch der kleinen Soldaten des Neo-Keynesismus und der zunehmenden Kontrolle des Staates dazu geführt, dass ein Teil der organisierten libertären Bewegung kleine Löffelchen des Bedingungslosen Grundeinkommens platziert hat, immer auf der Suche nach konkreten Maßnahmen, die sie verteidigen können, anstatt in den subversiven Revolten zu zerfließen/verschmelzen oder in den Grünen, bevor sie von einer bis dahin undankbaren Multitude wieder vereinnahmt werden. Denn es war vor allem die Übernahme des Slogans „Un revenu c’est du dû – Ein Einkommen ist fällig „ durch einen Teil der Bewegung der Arbeitslosen und Prekären Ende 1997, die ihr größter Erfolg war, (die Besetzung der Ecole Normale Supérieure am 14. Januar 1998, die in die erste Vollversammlung in Jussieu am 19. Januar mündete, erfolgte ebenfalls unter der Schirmherrschaft eines großen, an das Dach genieteten Banners mit der Aufschrift „arbeitslose prekäre beschäftigte Studentenarbeiter / Vollversammlung der Kämpfe / Bedingungsloses Grundeinkommen für alle“), denn trotz ihrer wiederholten Appelle an die Linke wurden sie immer noch nicht gehört. Die Regierung Jospin hatte die Frage 1998 mit Knüppeln und Krümeln gelöst, aber es ist nicht gesagt, dass das Reservoir an Alternativen, das die Negristen darstellen, immer so unausgeschöpft bleibt. Die „Dialektik mit den Institutionen“ kann manchmal etwas länger dauern als erwartet, bevor das Pendel zurückschlägt.
Aber die mutigen Förderer der Multitude verlieren nicht alles und treiben ihre Selbstverleugnung so weit, dass sie mit der Formel experimentieren, da der Staat, gutmütig wie er ist, ihnen manchmal ein Einkommen garantieren will. Einige bilden beispielsweise die Führungskräfte von morgen aus: Yann Moulier-Boutang ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Compiègne und an der Sciences-Politiques Paris, wenn er nicht gerade an der ENA in einem „Seminar über soziale Bewegungen und Terrorismus“ (1985), an der Architekturhochschule Versailles (1993) und der Kunsthochschule Bourges (2000) als Referent tätig ist oder als Berater für das Internationale Arbeitsamt (1981-82), die EWG (1986) oder die OECD (1993-94) arbeitet. Für seine Forschungen wurde er von den Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten, für Soziale Angelegenheiten, für Industrie und für Ausrüstung unter Vertrag genommen6. Um dies zu vervollständigen und sicherlich die Bewegung des Kapitals zu beschleunigen, das nichts von den Reformen versteht, die ihm die Negristen so freundlich vorschlagen, war er Berater der Modernisierungskommission des marokkanischen Unternehmerverbands und Redner bei deren Tagung vom 11. Dezember 1997 zum Thema „Management des marokkanischen Unternehmens, Realitäten und Herausforderungen“. In jüngerer Zeit (2004) nahm er an einem Treffen des Arbeitgeberverbands Centre des Jeunes Dirigeants (CJD) teil, der ihn eingeladen hatte, um „auf das Thema ihres Berichts zu reagieren, der sich mit dem flüssigen Menschen7 befasst“.
Ein weiteres Beispiel ist Anne Querrien, Mitglied des Redaktionskomitees von Multitudes und Chimères, die nicht nur Mitglied der CFDT ist, sondern auch Stadtsoziologin an der Universität und Chefredakteurin der Annales de la Recherche Urbaine, die vom französischen Ministerium für Infrastruktur herausgegeben wird.
Diese Art von Karriere als Berater des Prinzen und offizieller Mitarbeiter der Bosse oder des Staates findet ihr Vorbild im Meister selbst, denn die Qualen des Exils in Frankreich zwischen 1983 und 1997 wurden für Negri durch Seminare an der Ecole Normale Supérieure, den Universitäten Paris VII und VIII oder dem Collège International de Philosophie gemildert, parallel zur soziologischen Forschungsarbeit im Auftrag verschiedener Ministerien und Institutionen. Seit seiner Halbfreiheit im Jahr 1999 und der Veröffentlichung von Empire im Jahr 2000 hat er nicht weniger als vier Bücher auf Französisch veröffentlicht und unterrichtet wieder in Paris, diesmal an der Sorbonne: Das Seminar 2004-2005 hat die „Transformation der Arbeit, der Macht(en) und die Krise der nationalen und Unternehmensbuchhaltung“ zum Thema. Schließlich wird sein Theaterstück Essaim (A.d.Ü., Schwarm) im Juni 2005 im Théâtre de la Colline in Paris aufgeführt. Man versteht daher besser ihren analytischen Begriff, der der Forderung nach einem „garantierten Soziallohn“ zugrunde liegt, die „immaterielle Arbeit“, die besagt, dass das Kapital uns auch dann voll ausbeutet, wenn wir ihm nicht direkt als Lohnabhängige unterworfen sind: Die gesamte Zeit, die sie nicht damit verbringen, dem Staat direkt als Beamte der Herrschaft zu dienen, wird trotzdem dazu verwendet, diese zu konsolidieren.
All diese Bemühungen werden dann regelmäßig belohnt, da die Nr. 15 ihrer Zeitschrift Multitudes sur l’Art von der regionalen Direktion für kulturelle Angelegenheiten (Drac) des Kulturministeriums eine Subvention erhalten hat, die sogar verdoppelt werden könnte „auf eine Sonderausgabe, die der Architektur und den Medien gewidmet sein könnte“ (Protokoll der Generalversammlung des Vereins Multitudes vom 17. Januar 2004) und dass „Yann [Moulier-Boutang] von einem Projekt zur Erweiterung und Neugestaltung der Website berichtet, für das wir die Unterstützung der Direktion für bildende Künste des Kulturministeriums erhalten würden“ (Protokoll der Generalversammlung vom 24. März 2004). Auch der Bär der Zeitschrift Alice (Nr. 2, Winter 1999), einer der Vorläufer von Multitudes, kündigte an, dass er eine Unterstützung von der Nestlé-Stiftung erhalten würde.
Auch die Begriffe „Gegenmacht“ oder „verfassungsgebende Macht“, die in den Ausgaben von Multitudes (gegründet im März 2000 und Nachfolger von Futur Antérieur, 1989-1998), „Teil des weltweiten Netzwerks um Toni Negri und Michael Hardt und ihre Bücher: Empire und Multitude“8, verbreitet werden, sind jetzt besser verständlich: es geht darum, ganz gegen die Macht zu sein, um sie nicht mehr zu ersetzen, wie zu der Zeit, als Negri nur auf Lenin schwor, sondern sie mit reichhaltigen Überlegungen zur Bewegung zu versorgen (so konnte man beispielsweise dem aktivistischen Zweig von Multitudes in den Kämpfen der Arbeitslosen begegnen, der Intermittierenden, um die Persichetti- oder Battisti-Komitees herum), zwischen der Multitude und den Ministerien der Unterwerfung zu vermitteln, ein einsatzbereites Gegenfeuer zu bilden, um zu helfen, nicht integrierbare Revolten gegen dieses „Imperium“ niederzuschlagen. Kurz gesagt, sie sind Hilfskräfte, die im Bedarfsfall durch Repression unterhalten werden, falls euch Genua etwas sagt.
Einige, die zweifellos naiver waren, mussten sich jedoch mehr als nötig exponieren, um die Ordnung des Bestehenden besser mitverwalten zu können. Das gilt zum Beispiel für Giuseppe Caccia (einer der Sprecher der Sozialzentren im Nordosten Italiens und gewählter Grüner im Stadtrat von Venedig) oder Yann Moulier-Boutang (Direktor von Multitudes und Mitglied des Wirtschaftsausschusses der französischen Grünen). Der italienische Professor, der gestern die Dissoziation theoretisiert hat, braucht keine derartige Politikerei, sondern stellt seine linke Konterrevolution direkt den Leitern multinationaler Unternehmen und Staatschefs in den Spalten ihres Magazins, dem des Weltwirtschaftsforums in Davos (WEF)9, vor:
„32. Die Multitude liefert eine zweite Quelle für die Orientierung der Stimmen, die gegen den gegenwärtigen Kriegszustand und die gegenwärtige Form der Globalisierung protestieren. Diese Demonstranten auf den Straßen, in den Sozialforen und bei den NGOs bringen nicht nur Beschwerden über das Versagen des gegenwärtigen Systems vor, sondern auch zahlreiche Reformvorschläge, die von institutionellen Vorschlägen bis hin zur Wirtschaftspolitik reichen.
33. Es ist klar, dass diese Bewegungen immer antagonistisch zu den imperialen Aristokratien bleiben werden, und aus unserer Sicht ist das auch gut so. Dennoch wäre es im Interesse der Aristokratien, diese Bewegungen als potenzielle Verbündete und als Ressource für die Formulierung der heutigen globalen Politik zu betrachten.
34. Eine Version der von diesen Bewegungen geforderten Reformen und einige Mittel, um die globale Multitude als aktive Kraft einzubinden, sind für die Wohlstandsproduktion und die Sicherheit unbestreitbar unerlässlich“.
Es ist daher nicht mehr nötig, viel über die Absichten dieser kleinen Machiavelli zu sagen, die, wenn sie für die Multitude theoretisieren, ihr alle Herrschaft und Entfremdung als Frucht ihrer eigenen Eroberungen präsentieren (siehe „Barbaren“, der erste Text in dieser Broschüre), und den Mächtigen auf der anderen Seite raten, in ihr „potenzielle Verbündete“ zu sehen, die sie „eingliedern“ sollten, um sich selbst zu stärken. Sie empfehlen den einen Resignation und die Verteidigung der Gesellschaftsordnung, da der Kapitalismus bereits den Kommunismus in sich trage, und den anderen eine bessere Ausbeutung dieser gewaltigen „Ressource“, wobei sie sich selbst als die besten Agenten der Befriedung und als Garanten für „Wohlstandsproduktion und Sicherheit“ darstellen.
In einer Zeit, in der diese technisch-industrielle Welt der Ausbeutung, Domestizierung und Kontrolle mehr denn je zerstört werden muss – mit all ihren Schädlichkeiten, die bis zu den biologischen Grundlagen unserer Existenz erschüttern, von der Genetik über die Umweltverschmutzung bis hin zur Atomenergie -, in einer zeit, in der die Macht unaufhörlich mehr individuelle und kollektive teilnahme an ihrer eigenen freiwilligen Knechtschaft fordert, in einer zeit, in der man keine andere Freiheit hätte als die, die am wenigsten schlimme art zu sterben zu wählen, wird der Negrismus und seine garantisten, staatsbürgerlichen oder kollaborationistischen avatare als das identifiziert, was er selbst behauptet zu sein: eine Ideologie, die Herrschaftstheoretiker und Sozialpolizisten vereint, deren Schicksal nur das sein kann, was die Aufständischen diesen Sklaven aller Macht vorbehalten werden.
August 2004
Einleitung von Barbaren Unordentlicher Aufruhr
Jemand hat einmal bemerkt, dass einer von Marx’ größten Tricks war, den Marxismus als lingua franca10 erfunden zu haben. Seit der Antike ist bekannt, dass die Überredungskunst in der Fähigkeit besteht, beim Sprechen und Schreiben in dem, der zuhört oder liest, einen präzisen, psychologischen Effekt hervorzurufen, der weit über die in dem Argument ausgearbeiteten Inhalte hinausgeht. Die Griechen sagten, dass Überredung bedeute, „den Verstand zu sich selbst zu führen“. Viele Marx’sche Ausdrücke und man könnte sagen, der „subtile Lärm“ seiner Prosa haben tausende Leser fasziniert, terrorisiert und zu Nacheiferern gemacht. Ausdrücke in der Art wie “historisch determinierte, soziale Bedingungen, Mehrwertgewinnung, objektiv konterrevolutionäre Elemente”, bestimmte journalistische Techniken und schließlich die berühmten genitiven Umkehrungen (“Philosophie des Elends, Elend der Philosophie”): Dieser Jargon hat viele hochstrebende Bürokraten und leibhaftige Diktatoren mit einem Arsenal an vorgefertigten Ausdrücken ausgestattet, um ihre Macht zu rechtfertigen. Und es hat ebensoviele Sozialdemokraten mit einem Rauchvorhang versorgt, womit ein jeder ruhig gestellt wird der sich damit zufrieden gibt, dass die Kapitulation in der Praxis von einer Radikalität des Stils begleitet wird. Das Wichtigste war und ist, die Haltung von jemandem einzunehmen, der mit wissenschaftlicher Präzision weiß, wovon er spricht.
Wenn man so will, dann spielen Antonio Negris Texte heute dieselbe Rolle. Tatsächlich gibt es zwei „theoretische Zentralen“ von dem, was die journalistische Neusprache als Anti-Globalisierungs Bewegung bezeichnet: das Le Monde Diplomatique Kollektiv und unseren Paduaner Professor, um genau zu sein. Die nach dem Kollektiv benannte, monatliche Publikation, die Organisation von Konferenzen und Seminaren, die Publikation von Büchern und die Kreation der sogenannten Bewegung für die Tobin- Steuer11 (Attac); verschiedene heute bestehende italienische Sektionen verdanken ihre Existenz des Ersten. Vom Zweiten, der einer der Begründer der Arbeitermacht (Potere Operaia) und dann Arbeiterautonomie (Operaia Autonomia) ist, kam viel von der italienischen Arbeiterideologie und nun die Theorie, für welche die Tute bianche (Weisse Overalls), die Disobbedienti (die Ungehorsamen) und so viele andere Weltbürger kleine Soldaten darstellen. Liest man irgendein Flugblatt irgendeines Sozialforums, wird man zweifellos die folgenden Ausdrücke darin finden: Zivilgesellschaft, Multitude, Bewegung der Bewegungen, Einkommen der Bürgerschaft, Diktatur des Marktes, Exodus, Ungehorsam (zivil oder bürgerlich), Globalisierung von unten und so weiter. Mit einer mehr oder weniger umfassenden Geschichte bilden diese Konzepte auf unterschiedliche Weise zusammengestellt, die gegenwärtigen Nachschlagewerke für den alternativen Rekuperateur und die idealen Reformisten. Einer der Manager dieser “ontologischen Fabrik”, einer der Techniker dieser “linguistischen Maschine”, ist einmal mehr Toni Negri.
Wir werden nicht dem banalen Fehler verfallen, zu glauben, dass bestimmte Theorien die Bewegung einseitig beeinflussen. Die Theorien verbreiten sich insofern, als dass sie bestimmten Interessen dienen und auf bestimmte Bedürfnisse antworten. Empire von Negri und Hardt ist, in diesem Sinne, ein beispielhaftes Buch. Zusammen mit den (Weiter-) Entwicklungen ihrer “diplomatischen”, französischen Cousins, bieten dessen Seiten die intelligenteste Version des linken Flügels des Kapitals. Die Gruppen, die sich darauf beziehen, sind die globalisierte Version der alten Sozialdemokratie und die gasförmigen Varianten der stalinistischen Bürokratie, die die starre Hierarchie der Funktionäre mit den Modellen des Netzwerks (oder des Rhizoms) ersetzt haben, in denen die Macht des Führers flüssiger erscheint. Kurz gesagt, die kommunistische Partei des dritten Jahrtausends, die Befriedung der Gegenwart, die Konterrevolution der Zukunft. Aufbauend auf dem Verfall der Arbeiterbewegung und ihren Repräsentationsformen, hat diese neue Methode Politik zu machen keine privilegierten Interventionsfelder mehr (wie die Fabrik oder das Viertel) und bietet den Begierden von ehrgeizigen Managern ein unmittelbareres Terrain, als das der alten Partei-Sekretäre: die Beziehung zu den Massenmedien. Das ist der Grund, weshalb die Parteien und Gewerkschaften der Linken als Verbündete dieser “neuen” Bewegung posieren und im Schlepptau ihrer Initiativen gehen, wohl wissend, dass jenseits der Durchbrüche, von egal wie kleinen Führern, und bestimmter Slogans von rhetorischen Guerillas, die ungehorsame Politik die Basis (auch für Wahlen) der künftigen demokratischen Macht repräsentiert. Sie erhält die stalinistische Rolle aufrecht, wobei ihre Zukunft jedoch vor allem in ihrer Kapazität liegt, sich selbst als eine Mediationskraft zwischen den subversiven Spannungen und den Erfordernissen der sozialen Ordnung aufzustellen, sowie die Bewegung in das institutionelle Flussbett zu führen und die Funktion zu erfüllen, Elemente, die sich ihrer Kontrolle entziehen, zu denunzieren.12
Auf der anderen Seite gelang es dem Staat, jegliche Kreativität unter der institutionellen Last zu ersticken, nachdem er das Soziale zunehmends absorbiert hatte; als er gezwungen war, es wieder auszustoßen, nannte er diesen Ausschuss Zivilgesellschaft und verzierte ihn mit all den Ideologien der Mittelklasse: Humanismus, Freiwilligendienst, Umweltschutz, Pazifismus, demokratischer Antirassismus. In überlaufender Passivität braucht der Konsens kontinuierliche Injektionen von Politik. Dazu dienen die ungehorsamen Politiker mit ihren Bürgern. Tatsächlich ist es die abstrakte Figur des Bürgers, die für die Waisenkinder der Arbeiterklasse nun alle Tugend besitzt. Geschickt mit den Bedeutungen des Wortes spielend (der Bürger ist zugleich Subjekt des Staates, Bourgeois, citoyen der französischen Revolution. Subjekt der polis, sowie Unterstützer der direkten Demokratie), richten sich diese Demokraten an alle Klassen. Die Bürger der Zivilgesellschaft widersetzen sich der Passivität der Konsumenten, ebenso, wie der offenen Revolte der Ausgebeuteten gegen die Verfassungsordnung. Sie sind das gute Gewissen der staatlichen (oder öffentlichen, wie sie es zu sagen vorziehen) Institutionen und diejenigen, die in jedem Genua aus bürgerlicher Pflicht stets die Polizei einladen werden, um die “Gewalttätigen” zu isolieren. Mittels der Komplizenschaft der demokratischen Mobilisierungen der “Ungehorsamen”, kann der Staat seinem Ultimatum größere Kraft und Glaubwürdigkeit verleihen: entweder man tritt in Dialog mit den Institutionen oder man ist ein “Terrorist”, der zur Strecke gebracht werden muss (die verschiedenen Vereinbarungen, die seit dem 11. September unterzeichnet wurden, sind so zu interpretieren). Die “Bewegung der Bewegungen” ist eine verfassunggebende Macht, d.h., ein sozialer Mehrwert in Befolgung der verfassungsgebenden Macht, eine institutionalisierende, politische Kraft, die auf etablierte Politik trifft und dort interveniert, in Negris Idee, die militante Version von Spinozas Konzept der Macht13. Seine Strategie ist die progressive Eroberung der institutioneilen Räume, eines zunehmends breiteren, politischen und gewerkschaftlichen Konsens, einer Legitimität, die erlangt wird, indem er seine Fähigkeit zur Mediation und seine moralischere Garantie von Macht anbietet.
In der Negri’schen Darstellung ist das wahre Subjekt der Geschichte ein seltsames Wesen von tausend Metamorphosen (zuerst Massen-Arbeitskraft, dann sozial-Arbeiter, jetzt Multilude-Menge) und tausend Tricks. Genaugenommen ist dieses Wesen an der Macht, auch wenn alles das Gegenteil zu bezeugen scheint. In Wirklichkeit ist all das, was die Herrschaft aufbürdet, wonach es ihm verlangt und was es erreicht hat. Der technologische Apparat verkörpert sein kollektives Wissen (nicht seine Entfremdung). Die politische Macht begünstigt seine Vorstöße von unten (nicht seine Rekuperation). Das legale Recht formalisiert seine Machtbeziehung mit den Institutionen (nicht seine repressive Integration). In dieser erbaulichen, historischen Vision findet alles gemäß den Schemata eines zutiefst orthodoxen Marxismus statt. Die Entwicklung der Produktivkräfte, ein wirklicher Faktor des Fortschritts, gelangt immer wieder mit den sozialen Beziehungen in Wiederspruch und modifiziert dabei die Gesellschaftsordnung im emanzipatorischen Sinne. Die Anordnung ist dabei dieselbe, wie in der klassischen, deutschen Sozialdemokratie, der wir das unanfechtbare Privileg verdanken, einen revolutionären Angriff in Blut ertränkt und dann das Proletariat in die Hände der Nazis geworfen zu haben. Und es ist eine sozialdemokratische Illusion, der Macht der Multinationalen jene der politischen Institutionen gegenüberzustellen, eine Illusion, die Negri mit den linken Statistikern der Le Monde Diplomatique teilt. Wenn beide den “wilden Kapitalismus”, die “Steuerparadiese”, die “Diktatur der Marktes” so oft verurteilen, dann ist das, weil sie eine neue politische Ordnung wollen, eine neue Regierung der Globalisierung, einen weiteren New Deal. In diesem Sinne ist der Vorschlag für ein universales Bürgerschaftseinkommen zu lesen. Somit haben die weniger “dialektischen” Negrianer keine Skrupel, diese Forderung offen, als ein Wiederbeleben des Kapitalismus zu präsentieren.
Trotz zwei Jahrzehnten schwerer sozialer Konflikte gelang es dem Kapitalismus mit der Zerlegung der Produktionszentren und deren Verteilung über das Territorium und mit der völligen Unterwerfung der Wissenschaft durch die Macht, die revolutionäre Bedrohung durch einen Prozess zu überlisten, der Ende der 1970er Jahre seine Vollendung erreichte. Diese Eroberung des gesamten sozialen Raumes entspricht, als die letzte zu überschreitende Grenze, dem Eintritt des Kapitals in den menschlichen Körper durch die Beherrschung des Lebensprozesses der Spezies selbst: Die Nekrotechnologie ist das jüngste Beispiel seines Wunschtraumes von einer vollständig künstlichen Welt. Doch für Negri aber ist all dies der Ausdruck der Kreativität der Multitude. Die totale Unterwerfung der Wissenschaft durch das Kapital, das Investieren in Dienstleistungen, das Wissen und die Kommunikation (die Geburt der “menschlichen Ressourcen” laut Managersprache) drücken für ihn das “Frau-Werden” der Arbeit aus, d.h., die Produkivkraft der Körper und der Sensibilität. In der Epoche der “immateriellen Arbeit” sind die Produktionsmittel, die die Multitude für sich als allgemeines Eigentum sichern muss, die Gehirne. In diesem Sinne demokratisiert die Technologie die Gesellschaft zunehmends, da das Wissen, das sich der Kapitalismus auf sein eigenes Konto leitet, jeglichen Lohnbereich übersteigt. Tatsächlich entspricht das der eigentlichen Seinsbedingung des Menschen. Die Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen bedeutet also folgendes: wenn uns das Kapital jeden Moment produzieren lässt, dann sollte es uns auch bezahlen, wenn wir nicht als Lohnarbeiter angestellt sind, und wir werden ihm durch unseren Konsum Geld einbringen.
Die Schlussfolgerungen von Negri und seinen Kollegen sind die genaue Umkehrung der Vorstellung von jenen, die bereits in den Siebzigern verfochten, dass die Revolution durch den Körper geht, dass die proletarischen Lebensbedingungen immer universaler sind, und dass das tägliche Leben der wahre Ort des Klassenkrieges sind. Das Ziel der Rekuperateure ist immer dasselbe. In den 70ern sprachen sie von Sabotage und Klassenkrieg, um ihren Platz an der Sonne zu erobern; heute schlagen sie die Errichtung von Bürgerlisten vor, die Übereinkunft mit den Parteien, den Eintritt in die Institutionen. Ihr Jargon und ihre linguistische Akrobatik zeigen, dass die marxistische Dialektik jeglicher Heldentat fähig ist; indem sie von Che Guevara zu Massimo Cacciari14, von den Bauern in Chiapas bis zu den kleinen venetischen Betrieben springt, rechtfertigt sie heute Verrat, genauso wie sie gestern Dissoziation theoretisierte. Im Übrigen sind, wie sie selbst erkennen, weder die Ideen, noch die Methoden, wichtig, sondern „das endgültige Machtwort“.
Für die “ungehorsamen” Theoretiker sind die politischen Institutionen Geiseln des multinationalen Kapitals, bloße Registrierungskammern für globale, wirtschaftliche Prozesse. Von der Atomkraft bis zur Kybernetik, von der Untersuchung neuer Materialien zum genetischem Ingenieurswesen, von der Elektronik zur Telekommunikation ist in Wahrheit die Entwicklung der technologischen Macht – die materielle Basis für die Sache, die als Globalisierung definiert wird – in Wirklichkeit mit der Fusion des industriellen und wissenschaftlichen Apparates mit dem Militärapparat verknüpft. Wie könnte ein globaler Markt ohne den Luftraumsektor, ohne die Hochgeschwindigkeitszüge, ohne die Verbindungen durch Glasfaserkabel, ohne die Häfen und Flugplätze existieren? Fügen wir dem die fundamentale Rolle der Kriegsoperationen, den stetigen Datenaustausch zwischen Banken, Versicherungen, Medizin-, und Polizeisystemen, die staatliche Verwaltung der Umweltverschmutzung und die immer dichtere Überwachung hinzu, und man wird begreifen, dass es eine Mystifizierung ist, vom Verfall des Staates zu sprechen. Was sich verändert hat, ist schlichtwegs eine bestimme Form des Staates.
Im Unterschied zu anderen Sozialdemokraten ist für Negri die Verteidigung des “sozialen” Nationalstaates nicht mehr möglich, da es sich um eine politische Verfassung handelt, die nunmehr veraltet ist. Das aber eröffnet eine noch ehrgeizigere Perspektive: die europäische Demokratie. Auf der einen Seite, stellt sich die Macht tatsächlich dem Problem, wie sie die sozialen Spannungen befrieden kann, die durch die Krise der repräsentativen Politik verursacht wurden. Auf der anderen Seite suchen die “Disobbedienti” nach neuen Wegen, um die Institutionen demokratischer zu machen, womit die Bewegungen zunehmends institutionalisiert werden. Hier die mögliche Entgegnung: „Wer hat also Interesse an einem politisch vereinten Europa? Wer ist das europäische Subjekt? Es sind jene Bevölkerungen und jene sozialen Schichten, die eine absolute Demokratie auf dem Niveau des Empires errichten wollen. Was sie vorschlagen ist ein Gegen-Empire. […] Das neue europäische Subjekt verweigert demnach nicht die Globalisierung, sondern errichtet vielmehr das politische Europa, als einen Ort, von wo in der Globalisierung gegen die Globalisierung gesprochen werden kann, sich selbst (ausgehend vom europäischen Raum) als Gegenmacht bezüglich der kapitalistischen Hegemonie des Empires bezeichnend.“ (von Politisches Europa: Gründe für eine Notwendigkeit, herausgegeben von H. Friese, A. Negri, P. Wagner, 2002).
Wir sind am Ende angelangt. Unter einem dichten Rauchvorhang von Slogans und beeindruckenden Phrasen, unter einem Jargon, der flirtet und auch terrorisiert, wird hier ein Programm definiert, das schlicht für das Kapital und großartig für die Menge ist. Versuchen wir zusammenzufassen. Dank eines garantierten Grundeinkommens könnten die Armen in der Produktion von Reichtum und in der Reproduktion des Alltagslebens flexibel sein und so die Wirtschaft ankurbeln; Dank des Allgemeineigentums der neuen Produktionsmittel (des Verstandes), kann das “immaterielle Proletariat mit einem zapatistischen Marsch der intellektuellen Arbeitskraft durch Europa beginnen”. Dank neuer, universaler Bürgerrechte kann die herrschende Macht die Krise des Nationalstaates überwinden und die Ausgebeuteten sozial einbeziehen. Die Bosse wissen es nicht, aber, endlich freigestellt sich selbst zu entwickeln, werden die neuen Produktionsmittel tatsächlich das verwirklichen, was sie schon jetzt potentiell beinhalten: den Kommunismus. Man muss bloss mit bornierten Kapitalisten rechnen, Reaktionären und Neoliberalen (kurzum mit der “schlechten” Globalisierung). All dies scheint eigens entworfen zu sein, um das zu bestätigen, was Walter Benjamin vor mehr als siebzig Jahren, einige Wochen nach dem Nicht-Angriffspakt zwischen Stalin und Hitler, festgestellt hat: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte.“
Aber die durch die Strömung aufgewühlten Gewässer verbergen gefährliche Fallen, worauf selbst Negri hinweist: „Jetzt befinden wir uns in einer imperialen Verfassung. worin sich Monarchie und Aristokratie gegenseitig kämpfen, aber die plebejischen Versammlungen fehlen. Das führt zu einer Situation der Ungleichheit, da die imperiale Form nur auf friedliche Weise existieren kann, wenn diese drei Elemente untereinander ausgeglichen sind“ (aus MicroMega, Mai 2001). In einem Wort: Liebe Senatoren, Rom ist in Gefahr. Ohne “Dialektik” und sozialen Bewegungen und Institutionen, sind die Regierungen “nicht legitim” und somit unsicher. Wie schon erst Titus Livius und dann Machiavelli wunderbar aufgezeigt haben, diente die Institution des plebejischen Tribunals dazu, die fortwährende Ausdehnung des römischen Imperiums mit der Illusion auszugleichen, das Volk nehme an der Politik teil. Aber die berühmte Legende von Menenius Agrippa der sich an die meuternden Plebejer wandte und mit ihnen sagt, dass Rom nur dank ihrer am Leben sei, sowie auch ein Körper nur dank seiner Gliedmaßen lebe, droht tatsächlich ein Ende zu nehmen. Das Empire scheint diese Armen, die es produziert, anscheinend immer weniger zu gebrauchen und lässt sie in den Reservaten des Warenparadieses zu Millionen verfaulen. Andererseits könnten die Plebejer so gefährlich wie eine Horde Barbaren werden und von den Hügeln in die Stadt herunterkommen, aber mit den schlimmsten Absichten. Für die unruhigen und unvernünftigen Ausgebeuteten könnte die Mediation der neuen Manager so hassenswert sein, wie die Macht im Amt. und so wirkungslos wie eine Lehrstunde in Bürgerlichkeit für jemanden, der bereits seine Füße auf den Tisch legte. Eine Polizei, wenn auch in weißen Overalls könnte nicht ausreichend sein.
Eine biographische Anmerkung zu Antonio Negri
(für diejenigen, die ihn nicht kennen, von den Autoren zur Verfügung gestellt)
Antonio Negri wurde am 1. August 1933 in Padua, Italien, der kulturellen Hauptstadt der traditionell bigotten, petite bourgeoise Region Venetien, geboren. Der junge Toni Negri war gläubig und entdeckte die Militanz, als er sich der religiösen Jugendorganisation „Azione Catolica“ anschloss. Die 50er Jahre waren in Italien die Jahre der Wiederbelebung der Ökonomie, ein gewaltiges kapitalistisches Phänomen, das für immer in den Augen und im Herzen von Negri blieb, der, nachdem er Gott durch Marx ersetzt hatte, begann, sich im Umfeld der Neuen Linken zu bewegen. In den 60er Jahren beteiligte sich Toni Negri aktiv an der Ausarbeitung des Operaismus, zunächst als Herausgeber der „Quaderni rossi“ und später der „Classe operaia“ („Arbeiterklasse“). Was ist der Operaismus? Es ist die Ideologie, nach der die Fabrik das Zentrum des Klassenkampfes ist und die Arbeiter die einzigen Erbauer der Revolution sind, weil sie mit ihrem Kampf das Kapital zwingen, sich in eine befreiende Richtung zu entwickeln. Die Operaisten nehmen die Parteien und Gewerkschaften/Syndikate ins Visier, aber diese werden nicht so sehr kritisiert als vielmehr getadelt, weil sie ihre vermeintliche Aufgabe nicht effektiv erfüllen. Alle Formen des Kampfes, die außerhalb der Fabrik stattfinden, werden entweder verurteilt oder brüskiert. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass keiner der verschiedenen Intellektuellen, die dem Operaismus Leben eingehaucht haben, in der Regel Aussteiger aus der Sozialistischen und Kommunistischen Partei, auch nur einen einzigen Tag in einer Fabrik gearbeitet hat. Negri zum Beispiel zog es bei weitem vor, an der Universität von Padua „Staatslehre“ zu lehren und das zweifelhafte Vergnügen des Fließbandes den Proletariern zu überlassen. Die Strategie der Arbeiterbewegung bestand, abgesehen von einer bisweilen extremistischen Phraseologie, in dem Wunsch, „einen positiven Mechanismus der kapitalistischen Entwicklung wieder in Gang zu setzen“, in dessen Rahmen „die Forderungen nach einer stärkeren Arbeitermacht“ durch „die revolutionäre Nutzung des Reformismus“ ins Spiel gebracht werden sollten.
1969 gehörte Negri zu den Gründern von „Potere Operaio“, einer Organisation, die die übliche Entschuldigung für das Bestehende („die gesamte Geschichte des Kapitals, die gesamte Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft ist in Wirklichkeit die Geschichte der Arbeiter“) mit einem erklärten hegemonialen Ziel gegenüber dem Rest der Bewegung verband, das sich in der Verurteilung des „Spontanismus“ im Namen einer effizienteren Zentralisierung der Kämpfe herauskristallisierte („die Hegemonie der Arbeiterkämpfe über die studentischen und proletarischen Kämpfe in Taten zu sichern … um die Massenkämpfe der Arbeiter zu planen, zu führen und zu leiten“). „Potere Operaio“ löste sich 1973 auf, ohne dass es ihr gelungen wäre, irgendetwas zu lenken, und aus ihrer Asche entstand der politische Bereich bekannt als „Autonomia Operaia“, der ebenfalls von leninistischen Phantasmen der Machteroberung heimgesucht wurde. Wir befinden uns zu Beginn der 1970er Jahre, als die revolutionäre Bewegung als Ganzes beginnt, sich das Problem der Gewalt zu stellen. In seinen Büchern verherrlicht Toni Negri die Figur des „kriminellen Arbeiters“, rechtfertigt den Rückgriff auf Sabotage und bewaffneten Kampf, aber immer im Rahmen einer marxistisch-leninistischen Vision des sozialen Konflikts. Bei Negri ist eine bedingungslose Akzeptanz und Rechtfertigung des Kapitalismus immer präsent, da, wie er in seinem 1977 erschienenen Buch schreibt, „der Kommunismus in erster Linie vom Kapital als Produktionsbedingungen aufgezwungen wird… Nur die Konstruktion des Kapitalismus kann uns wirklich revolutionäre Bedingungen geben“, eine Identifikation, die seiner Meinung nach bis zu extremen Konsequenzen geführt werden muss: „Die fortgeschrittenste kapitalistische Form, die Form der Fabrik, wird in die Arbeiterorganisation selbst aufgenommen.“ Doch auch wenn seine theoretische Produktion recht ergiebig ist, kann man nicht sagen, dass dies mit einem gleichwertigen praktischen Einfluss einhergeht. Die Tausenden von Revolutionären, die sich an dem bewaffneten Angriff auf den Staat beteiligten, der um 1977-78 seinen Höhepunkt erreichte, wussten nicht, was sie von den philosophischen Analysen des Professors aus Padua halten sollten.
Es wurde jedoch von einem Richter seiner Stadt, Guido Calogero, ernst genommen, demzufolge Negri dann der wahre Führer der Roten Brigaden gewesen wäre. Eine völlig absurde Hypothese, die jedoch den Bedürfnissen des Staates entsprach: einen Teil der Bewegung, den offensichtlichsten Teil, ins Rampenlicht zu stellen, um die Bewegung in ihrer Gesamtheit zum Schweigen zu bringen. In der Sphäre der Aktionen, die bereits mit den Roten Brigaden geschehen waren, deren Taten ein solches Medienecho hervorriefen, dass die Tausenden von kleinen Angriffsaktionen, die in jenen Jahren durchgeführt wurden, verborgen blieben. Warum nicht die gleiche Operation auf dem Gebiet der Ideen wiederholen, unter dem hochtrabenden Namen des paduanischen Professors? Und vor allem, warum nicht die beiden Aspekte miteinander verbinden? So beginnt die juristische Odyssee von Toni Negri am 7. April 1979, als er zusammen mit Dutzenden von anderen Militanten bei einer Polizeirazzia gegen das Milieu der Autonomia Operaia verhaftet wird. Die Anklage lautet auf subversive Vereinigung und bewaffnete Gruppe, aber im Laufe weniger Monate vervielfachen sich die Anklagen gegen Negri bis hin zum bewaffneten Aufstand gegen die Staatsgewalt, zur Entführung und Ermordung des christdemokratischen Anführers Aldo Moro und zu 17 weiteren Morden (Anklagen, von denen er im Laufe der folgenden Jahre entlastet werden sollte). In dieser Zeit füllen sich die Gefängnisse aufgrund der „Geständnisse“ von Reuigen (A.d.Ü., pentitos) und der von Innenminister Cossiga gewünschten Sondergesetze mit Tausenden von Militanten, was zu starken sozialen Spannungen führt. Im Dezember 1980 kommt es zu einer Revolte im Gefängnis von Trani, wo Negri inhaftiert ist. Negri, der dem Medienbild des „bösen Lehrers“ zum Opfer fällt, wird beschuldigt, einer der Anstifter gewesen zu sein (fünf Jahre später, am Ende des Prozesses, wird er freigesprochen). In Wirklichkeit ist Negri, der weiterhin Bücher schreibt, viel mehr an der Konsolidierung des Staates interessiert als an dessen Umsturz. In seinen Schriften beginnt er, die abwegige Hypothese der Dissoziation zu formulieren. Der Würde beraubt und an den schlimmsten Opportunismus gewöhnt, schlägt Negri dem Staat vor, denjenigen politischen Gefangenen, die sich öffentlich von der Gewaltanwendung distanzieren und erklären, dass der Krieg gegen den Staat objektiv beendet ist, Rechtshilfe zu gewähren. Es versteht sich von selbst, dass der Staat gegenüber denjenigen Gefangenen, die ihre Entscheidungen nicht verleugnen, mit eiserner Faust vorgehen darf. Die Ideen von Negri beginnen sich in den Gefängnissen zu verbreiten, die ferne Illusion einer durch Verzicht erlangten Freiheit findet ihre Widersacher. 1982 wird ein von 51 politischen Gefangenen unterzeichnetes Dokument verbreitet, in dem die Epoche des bewaffneten Aufstands gegen den Staat für beendet erklärt wird, die erste in einer langen Reihe. Im Februar 1983 beginnt der Prozess gegen Negri und die anderen Angeklagten, die während der Razzia vom 7. April 1979 verhaftet wurden. Die Radikale Partei, die die „aufrichtig demokratischen“ bourgeoisen Lobredner der Gewaltlosigkeit und des Pazifismus vertritt, profitiert vom Lärm des Prozesses und schlägt Negri vor, auf ihrer Liste für die kommenden Wahlen zu kandidieren. Im Falle einer Wahl würde er aufgrund der parlamentarischen Immunität die Freiheit erlangen und aus dem Knast entlassen werden. Die Radikalen verlangen jedoch, dass Negri in Italien bleibt und den Kampf für seine Befreiung aus dem Gefängnis fortsetzt, falls das Parlament seine Immunität aufhebt. Negri nimmt die Kandidatur an und verspricht den Radikalen, dass er auf keinen Fall ins Ausland fliehen wird. Am 26. Juni in die Abgeordnetenkammer gewählt, wird Negri am 8. Juli 1983 aus dem Gefängnis entlassen. Seine Freilassung provoziert die Reaktion der konservativen politischen Kräfte, die den ganzen Sommer über daran arbeiten, die Abstimmung über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Toni Negri am 20. September vorzubereiten. Am Vorabend der Abstimmung, dem 19. September, flüchtet Negri nach Frankreich. Am nächsten Tag hebt das Parlament seine Immunität mit 300 zu 293 Stimmen auf. Am 26. September endet der „7. April“-Prozess mit der Verurteilung von Negri.
Man kann nicht behaupten, dass Negri das harte Leben des Exils in Frankreich lange kannte. Als Universitätsprofessor von internationalem Ruf wurde er bereits im November 1983 als ausländisches Mitglied in den Rat des Internationalen Kollegs für Philosophie berufen. Von 1984 bis 1997 lehrte Toni Negri an der Universität Paris-VIII und am normalen Gymnasium in der Rue d’Ulm. In der Zwischenzeit hat der italienische Staat seine Anregung aufgegriffen und ein Gesetz verabschiedet, das die Dissoziation belohnt. Außerdem forschte er im Auftrag einiger Ministerien und anderer französischer Regierungsinstitutionen. In dieser Zeit veröffentlichte Negri verschiedene Bücher und entdeckte seine Verwandtschaft mit dem französischen poststrukturalistischen Intellektuellen, mit dem er beispielsweise die Leugnung der individuellen Autonomie teilt. Unter seinen Interventionen in diesen Jahren erinnern wir uns an sein Festhalten an der Forderung nach einer Amnestie, die das Ende der Kämpfe der 70er Jahre dekretierte, an seine Sympathie für die neue Partei der Liga (rassistische Partei, Verteidigerin der Interessen der kleinen und mittleren Geschäftsleute, nicht zufällig in Venetien geboren), an seine öffentliche Versöhnung mit dem ehemaligen Innenminister Cossiga, dem Hauptverantwortlichen für die Unterdrückung der Bewegung der 70er Jahre.
Am 1. Juli 1997 kehrte Toni Negri freiwillig nach Italien zurück und wurde in das römische Gefängnis von Rebibbia eingeliefert, wo er die ihm zur Last gelegten Strafen verbüßen muss (die vor allem durch zwei allgemeine Amnestien in den Jahren 1986 und 1988 reduziert wurden). Im Juli 1998 nimmt Negri eine Arbeit außerhalb des Gefängnisses bei einer Genossenschaft für Freiwilligenarbeit auf, die mit den Wohlfahrtsverbänden verbunden ist; im August 1999 erhält er teilweise Freiheit (er verlässt das Gefängnis am Morgen und kehrt am Abend zurück). Im Jahr 2000 kehrt Negri mit der Veröffentlichung des Buches Empire, das er in Zusammenarbeit mit Michael Hardt geschrieben hat und das einen enormen Erfolg hat, ins Rampenlicht zurück. In Italien, wo sein Name unangenehme Erinnerungen weckt und er daher Opfer einer Verlagsindustrie ist, die der konservativsten politischen Macht unterworfen ist, wird sein Buch erst 2002 veröffentlicht. Toni Negri ist heute der politische Bezugspunkt der Disobbedienti (ehemals Tute Bianche – Weiße Latzhosen), deren Sprache, auch wenn sie manchmal extrem ist, sie nicht daran gehindert hat, sich voll in die institutionelle Linke einzubringen.
Barbarians. The disordered insurgence, pp. 4-8
Venomous Butterfly Publications, 2003
(P.O. Box 31098 — Los Angeles — CA 90 031 — Vereinigte Staaten)
Die französischen Epigonen des Negrismus
Wie in der Einleitung zu dieser Broschüre ausführlicher dargelegt wird, trieb der französische Zweig des Negrismus vor allem in den Zeitschriften Futur Antérieur und später Multitudes sein Unwesen. In anderen Zeitschriften wie Chimères oder Vacarme kommen sie regelmäßig zu Wort, wodurch sich der Einflussbereich auf eine etwas breitere Leserschaft ausdehnt. Wir haben dort einige Auszüge rund um die theoretischen Konzepte (Bedingungsloses Grundeinkommen, neuer New Deal, Multitude, Computertechnologie als Instrument der Befreiung, verfassungsgebende Macht) entnommen, die sie hier einzuführen versuchen, wobei sie auf jeder „sozialen Bewegung“ oder jedem Kampf surfen, der ihnen angemessen erscheint. Wir konnten nicht widerstehen, zwei Auszüge aus Petitionen beizufügen, die mit der Parteilinken unterzeichnet wurden, insbesondere von Yann Moulier-Boutang, der seit Anfang der 90er Jahre gemeinsam mit Negri Bücher verfasst und Herausgeber der führenden Zeitschrift des Negriismus in Frankreich, Multitudes, ist, sowie einen weiteren vom Propheten selbst über die Unruhen in Genua im Juli 2001.
– Es ist diese mögliche Flexibilität des Netzes, die durch die Erfahrungen vom November/Dezember letzten Jahres [1995] offenbart wurde. Alles wird nun auf die Fähigkeit ankommen, die politischen Fragen der Kommunikation zu stellen und alternative Praktiken hervorzubringen… Wege, die neue Projekte bereits zu erproben und zu vertiefen versuchen. Eines ist sicher: Die kollektive Wiederaneignung der Kommunikation und ihrer Werkzeuge, ihrer Netzwerke und ihrer Funktionen durch die Akteure der sozialen Konflikte, d.h. die Erfindung der Instanzen einer autonomen Kommunikation, wird eine Antwort auf all diese Fragen liefern. In der Zwischenzeit geht das Abenteuer weiter… Dann wird vielleicht das Bonmot „Dieser Streik war der Fax-Streik, der nächste wird der Streik im Internet sein“ Wirklichkeit werden… Aber das ist eine andere Geschichte, und sie wird in der Gegenwart geschrieben.
Aris Papatheodorou,
„Dieser Streik war der Fax-Streik, der nächste wird der Streik im Internet sein“,
Futur Anterior Nr. 33-34, 1996/1.
– Liberale verkünden, dass die Freiheit des Einzelnen auf der Seite des Marktes liegt, Keynesianer und Marxisten, dass die Gleichheit sozialer Gruppen auf der Seite der administrativen Ressourcenallokation liegt. Wir würden dazu neigen, die Begriffe des Problems radikal umzukehren, indem wir in der öffentlichen Intervention die Möglichkeit sehen, das produktive Potenzial, das das Individuum aus der immateriellen Arbeit mitbringt, freizusetzen, und in der Organisation des politischen Marktes den Kontrollmechanismus für die Gleichheit und Fairness zwischen sozialen Gruppen und Gemeinschaften, um eine echte Schlankheitskur der staatlichen Rente, die den fordistischen Konzernen serviert wird, zu erreichen. Nur mit diesem ikonoklastischen Doppelprogramm kann man sich der ökonomischen Demokratie annähern, die zweifellos das „am wenigsten schlechte“ Akkumulationsregime ist.
Yann Moulier-Boutang,
Die Rache der Externalitäten,
Futur Antérieur Nr. 39-40, September 1997.
– Das Genie von Toni Negri und seinen Freunden bestand damals [Italien von 1973 bis 1977] darin, vorwegzunehmen, was zu einem Glaubensartikel der 90er Jahre geworden ist: Es ist die Zugehörigkeit zu einer großen Metropole, zu einem Beschäftigungs- und Lebensraum, aus dem die Unternehmen nach Belieben schöpfen, die den jungen postfordistischen Arbeiter qualifiziert, die ihn zu Momenten der Arbeitslosigkeit verurteilt, ihm aber auch Momente des Rückzugs aus der Sphäre der direkt produktiven Arbeit ermöglicht, in einem autonomen Verhältnis zur Arbeit als Werk, als eigene subjektive Aktivität.
(…)
Es ist eine zugleich verzweifelte und freudige Energie, die sich damals [Italien von 1973 bis 1977] gegen alle Verfechter des bestehenden Staates entwickelte, um auf die Existenz einer neuen konstituierenden Macht hinzuweisen, die in den Fabriken, an den Universitäten, in den Stadtvierteln entsteht und nur auf eine politische Organisation wartet, um sie zu formalisieren und ihr Erfolg zu verschaffen, was keine der Gruppen, die die Bewegung mit ihren Analysen und ihrer Agitationspraxis begleiteten, zu tun vermochte.
Maurizzio Lazzarato und Anne Querrien,
„Die Zukunft dauert lange“, sagte Louis Althusser,
heute ist Toni Negri erneut aufgebrochen, um sie zu erobern,
Futur Antérieur Nr. 30-40, September 1977.
– Die offizielle Linke wird die [Präsidentschafts-] Wahlen nicht ohne uns gewinnen. Denn wir sind die wirkliche Linke. (…) Und wir werden hinter ihr stehen, weil sie uns braucht, die neuen Formen der Staatsbürgerschaft, die wir dort erfunden haben, wo es ihr an Vorstellungskraft gefehlt hat, und die Forderungen, die wir dort stellen, wo sie geschwiegen hat. Wenn die offizielle Linke dies nicht will, werden wir alles tun, um sie zu zwingen, es zu wollen, denn wir sind eine echte Opposition. Wie uns unser jeweiliges Engagement lehrt, müssen wir uns entscheiden zwischen denen, gegen die man sich stellen will und kann, und denen, mit denen man nicht einmal mehr reden kann, weil sie so unbeliebt geworden sind. Wir sind linke Wähler, aber wir wollen es nicht mehr aus Mangel sein.
Aufruf Wir sind die Linke, unterzeichnet von einer ganzen Reihe von Schurken, le journal Vacarme, la revue Chimères, Yann Moulier-Boutang, 1997.
– Aber wenn man Frankreich nicht zu einem Land der Vollbeschäftigung mit Hungerlöhnen machen will (was auf englische Art die Armut schwindelerregend vergrößern und das nachhaltige Wachstum begrenzen wird), ist [das universelle Grundeinkommen der Staatsbürger] genau das, was die Ökonomie braucht: einen heilsamen Schock, der das verfügbare Einkommen der ausgebenden Haushalte erhöht. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der das universelle Grundeinkommen der Staatsbürger zum Schlüssel für die Transformation der Ökonomie nach oben und nicht nach unten macht. Es wird keine sektorale Mobilität, keine „Flexibilität“ bei Unternehmensgründungen und keine Investitionen in Hightech-Sektoren geben, wenn es kein neues Sicherheitsnetz gibt, das die immaterielle Arbeit schützt, jene Arbeit, die von der Gesellschaft nicht voll anerkannt wird und die derzeit von Pionierunternehmen schamlos ausgebeutet wird. All diejenigen, die arbeitend mal als Selbstständige, des sich zu Tode schuften und in unregelmäßigen Abständen arbeiten, brauchen eine Einkommensgarantie, um ihre Erfindungskraft zu entfalten. Alle, die zur kollektiven Produktivität, zur Schaffung neuer produktiver Gebiete, zur nachhaltigen Entwicklung, zur Lebensqualität und zur Gesundheit der Bevölkerung beitragen, sind heute genauso produktiv wie der Lohnabhängige im Marktsektor. (…) Wenn es der Linken gelingen soll, die Arbeit umzugestalten, das Arbeitsrecht neu zu definieren, die Arbeit anders zu verteilen und den Weg zur Entwicklung zurückzufinden, muss sie diesen Weg gehen. Wir fordern sie nicht auf, das Unmögliche aus dem Nichts zu schmieden. Wir fordern sie auf, ihre Augen für diese grundlegende Bewegung zu öffnen.
Yann Moulier-Boutang,
Für einen neuen New Deal,
Chimères Nr. 33, Frühjahr 1998.
– Ich hatte die millenaristische Poesie ihrer [der Tute bianche] Proklamationen vor dem G8-Gipfel bewundert, die von Luther Blisset und den Zapatisten inspiriert war, die taktische Geschicklichkeit ihres Umgangs mit den Medien, ihre Suche nach einer Einigung innerhalb der GSF, ihre Art, ihre eigenen Prinzipien durchzusetzen, indem sie die der anderen respektierten.
(…)
Heute scheint sich eine Protestbewegung gegen die Weltregierung anzubahnen, deren Interesse unendlich viel weiter reicht als die Befriedigung des legitimen, aber elenden Bedürfnisses, alles kaputt zu machen. Authentizität ihrer Rebellion, Dummheit der meisten ihrer Ziele: Diese doppelte Feststellung muss als Grundlage für den notwendigen Dialog dienen, der mit dem BB [Black Bloc] geführt werden muss.
Serge Quadruppani,
Die vielen Gesichter der globalen Revolte und die mörderische Seite von Big Brother, 28. Juli 2001.
in samizdat.net & complices,
Genova 19-20-21 July 2001 multitudes en marche contre l’Empire,
Ed. Reflex, Juni 2002
– Die prekäre Multitude in Genua war weiblich; jene Multitude, die die Gewalt des Staates und die Arroganz der G8 in einer Orgie der Repression eingeschlossen hat. Es war daher weiblich, die Konfrontation zu vermeiden. Agnoletto und Casarini griffen diese Sensibilität bei der Vollversammlung im Stadion von Genua auf, als sie sich weigerten, die Konfrontation in der Nacht nach der Ermordung von Carlo Giuliani fortzusetzen… Die Losung der Mehrheit der Demonstranten in Genua war also, sich der Gewalt zu entziehen: Ausdruck des Wunsches des sozialen und prekären Proletariats, sich der Ausbeutung zu entziehen.
(…)
Aber die Menge ist singulär und jedes singuläre Wesen hatte eine Kamera: Die Vielzahl der Fotos erweist sich somit als eine viel schärfere Waffe als ein zum Folterinstrument umfunktionierter Schlagstock. In Genua schauten alle zu, aber es gab nicht den geringsten Voyeur. In Genua befreite sich Big Brother von seinen Herren, den Spiegeln, dem Narzissmus und der Perversion. Zuschauen hieß Widerstand leisten, ein Bild gegen die Kontrolle produzieren, ein Wort gegen die Sprache der Macht.
Antonio Negri,
So begann der Untergang des Empires,
Multitudes Nr. 7, Dezember 2001.
– Heute geben sich diejenigen, die versuchen, gegen die Einstellung von Sozialleistungen, erzwungene Beschäftigung, nicht gewählte Ausbildungen und Streichungen vorzugehen, nicht mit dieser sozialen Selbstverteidigung zufrieden. Solche Praktiken benötigen, um sich entwickeln zu können, einen allgemeinen Horizont. Die Ablehnung geht nicht ohne Formen der Affirmation, die uns von dem katastrophalen „die Revolution oder nichts“ wegführen. Das Bedingungsose Grundeinkommen ist ein Mittel, um kollektiven Egoismus aufzubauen. Zu sagen, dass es den Staat stärkt, ist eine Verhöhnung der Welt, da der Staat bereits (sehr hierarchisch) diesen „kleinen Kreislauf“ des Lohns verwaltet, es geht gerade darum, Gegenmacht auf diesem Gebiet aufzubauen. Das Bedingungsose Grundeinkommen ist kein zukünftiges Paradies, seine gegenwärtigen Formen bestimmen bereits die Existenz. Es geht darum, den gesamten Raum des Möglichen schon jetzt für die freie Tätigkeit zu öffnen. Gegen die Arbeit, gegen ihre Messung durch den Lohn und gegen den (Waren-)Reichtum, den sie verspricht, wird man sagen, dass eine andere Welt möglich ist.
Laurent Guilloteau,
Wir müssen das Prekariat bezwingen!
Multitudes Nr. 8, März-April 2002.
– Die Bewegung vom November/Dezember 1995 hatte ihre Kraft aus dem Fax und den Anfängen des Internets gezogen. Seit dem 21. April ermöglichen Internet und Handy den „Stämmen“ und „Nomaden“, die von den Mobilfunkanbietern in ihren Werbekampagnen so gepriesen werden, in Massen auf den Kriegspfad hinabzusteigen, den Krieg gegen Hass und Intoleranz. Die pluralistische Linke hat das Recht, in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen anzutreten, verloren, indem sie den politischen Diskurs auf die Kommunikation beschränkt hat, die in ihrer Ausarbeitung der Parteielite vorbehalten ist. Das linke Volk bemächtigt sich der Kommunikationswerkzeuge, um die Revolte zu entwickeln, auf der Straße zu denken, die Antwort zu organisieren, sich mit seinen Nachbarn zu unterhalten, mit Fremden zu sprechen. Die direkte Massenkommunikation innerhalb der Multitude verzehnfacht die Kräfte, die sie in sich trägt, wie es bei Seattle und allen darauf folgenden weltweiten Demonstrationen der Fall war. (…) Der 5. Mai wird die Wahl der Multitude sein, eine Wahl, bei der kein Stimmzettel die gleiche Bedeutung hat, selbst wenn er den gleichen Namen trägt. Was kommt danach? Das werden wir sehen.
Anne Querrien, François Rosso,
21. April 2002: Die Revolte der Multitude,
hns-info.net, 28. April 2002.
– Eine Mobilisierung der gesamten Linken und insbesondere der Jugend hat das katastrophale Risiko des Le Pen-Abenteuers gebannt. Weil wir daran voll beteiligt waren, sagen wir entschieden, dass wir es nicht bei dieser einen antifaschistischen Ablehnung belassen können… Deshalb rufen wir unmissverständlich dazu auf, die Rechte bei den Parlamentswahlen zu schlagen. Es geht um den Raum der öffentlichen Freiheiten für alle und insbesondere für Minderheiten, es geht um den Willen zu einer tiefgreifenden zivilen und brüderlichen Umgestaltung der Gesellschaft. (…) Die Linke muss neue soziale und kulturelle Rechte einführen, die allein das Leben in der Stadt lebenswert machen können. Sie muss eine verfassungsgebende Debatte über grundlegende institutionelle Veränderungen anstoßen, die das politische Leben auf die Bewegungen der Gesellschaft aufmerksam machen und die dauerhaften Bedingungen für eine vollständig partizipative Demokratie schaffen würden. (…) Wir rufen unsere Mitstaatsbürger dazu auf, die Räume für Debatten und Initiativen, die im Zuge der Präsidentschaftswahlen eröffnet wurden, nicht zu schließen, sondern neue zu schaffen. Diese Initiativen sind in ihrer Existenz konstituierend. Ohne sie ist die Linke nicht die ganze Linke und nicht mehr wirklich links.
Aufruf Alle Linken, um die Linke zu verändern, 3. Juni 2002, bei der Veröffentlichung des Aufrufs gemeinsam unterzeichnet von gewählten Schurken der PS (Sozialistische Partei), PC (Kommunistische Partei), die Grünen und insbesondere die Zeitschriften Chimères, Multitudes, Vacarme.
Neue Sozialarbeiter in Rom
Am Dienstag, den 7. März 2000, fand in Rom eine Demonstration mit dem Titel „Reclaim carnival, reclaim the street“ statt, an der fast 10.000 Menschen teilnahmen. An einer Stelle des Tanzzuges – der für alle „antagonistischen Realitäten“ offen war und keinen Ordnungsdienst hatte – griffen mehrere wütende Tänzer die Fensterscheiben von Banken und einem Ministerium an und verbrannten dann, um sich vor der Polizei zu schützen, Mülltonnen. Der Tränengaseinsatz und die Angriffe der Bereitschaftspolizei nahmen zu, die Tänzer antworteten mit brennenden Barrikaden, die wenigen Festgenommenen wurden von den Polizisten verprügelt. Das große Polizeiaufgebot – das Zentrum von Rom ist für das Jubiläum gepanzert – kann die Luxushotels und Autohändler nicht schützen.
Die Alternativen der sozialen Zentren versuchen erfolglos, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Ihre Bemühungen waren jedoch nicht ganz umsonst, denn das Innenministerium erklärte gegenüber der Presse, dass es „den Bürgersinn der Jugendlichen in den sozialen Zentren“ zu schätzen wisse.
Am nächsten Tag verfassten sechs soziale Zentren (Centro sociale Corto circuito, Csoa Villagio globale, CS la Strada, CS la Torre, Scola occupata, Spazio sociale 32) eine Pressemitteilung, in der sie erklärten: „Wir weisen die provokativen Anschuldigungen zurück, die in der Presse über die Verantwortung der sozialen Zentren, einschließlich Villagio globale und Forte Prenestino, für die Ereignisse zirkulieren. Der Vandalismus hat nichts mit der Geschichte und der Praxis der selbstverwalteten sozialen Zentren zu tun. […] Videos, Fotos und Zeugenaussagen werden dazu dienen, das Geschehene sorgfältig zu rekonstruieren“. Selbst der Kommissar ist zufrieden. Andere verurteilen „unverantwortliche Individualitäten“ und erklären sogar gegenüber der Presse, dass die sozialen Zentren eine „Kontrolle über das jugendliche Unbehagen“ ausüben. Einige schlagen sogar vor, Spendenaktion zu starten, um für die durch den Demonstrationszug verursachten Schäden aufzukommen.
Wenn all dies ekelhaft ist, kann man nicht sagen, dass es überraschend ist. Die sozialen Zentren (d. h. die legalisierten besetzten Häuser) haben sich längst für den offenen Weg der Politik und der Co-Verwaltung entschieden (Absprachen mit den Ministerien, Propaganda für einige Kandidaten aus dem linken, Mitte-Links- und …Nicht-Rechts-Lager, Aufstellung von Bürgerlisten, Bündnisse mit Rifondazione comunista und den Grünen, Zuschüsse von den Rathäusern usw.). Der Großteil der ehemaligen Arbeiterautonomie – Autonomia Operaia (die heute das Adjektiv „autonom“ ablehnt) steht auf eindeutig institutionellen Grundlagen. Ihr Ziel ist es, ohne subversive Brüche immer mehr demokratische Räume zu erobern, da die Entwicklung der Produktivkräfte und der neuen Technologien bereits dabei ist, die Gesellschaft zu revolutionieren (wie uns der unsägliche Toni Negri seit Jahren erklärt). Für die Ex-Autonomen ist das historische Subjekt – nach den mysteriösen Metamorphosen des Massenarbeiters – zum diffusen Kleinunternehmen geworden. Das Bedingungslose Grundeinkommen und die Kontrolle der neuen Kommunikationsmittel von unten sind die Instrumente einer neuen Staatsbürgerschaft, die die revolutionäre Gewalt obsolet macht. Für diese Zauberer der Dialektik kann man ruhig von Verhandlungen zu Straßenschlachten übergehen, die mit Zustimmung der Polizei inszeniert werden (wie im Fall der berühmten Tute bianche, dem Ordnungsdienst des Leoncavallo und der anderen sozialen Zentren im Nordosten). In der Politik ist bekanntlich alles möglich. Staatliche Subventionen werden zu „durch Kampf errungenen Garantien“, die Legalisierung von Hausbesetzungen zu einer „wichtigen öffentlichen Anerkennung“, die Verlegung eines Lagers für illegale Einwanderer zu einem „Sieg der Zivilisation“. Für diejenigen, die die Aufführung dieser unbeweglichen Ballette des sozialen Friedens stören, steht der Schlagstock immer bereit. So erklärt man sich unter anderem das harte Vorgehen der letzten Jahre in Italien gegen all jene, die sich der Normalisierung verweigern.
Wenn einem „das eigene „einkommensschaffende Kulturunternehmen“ wichtiger ist als die Wünsche der Klasse“ – wie Anarchisten, Vandalen und Randalierer schrieben -, ist der Weg geradeaus. Bis hin zur Denunziation.
Griphos
Artikel erschienen in Karoshi Nr. 2, Sommer 2000, S. 25.
Die Tute bianche in Genua
Was sich als das große Spektakel in Genua ankündigte, musste mit einem erstklassigen Akteur rechnen: dem simulierten Protest. Monate vor den Julitagen 2001 hatte das Genoa Social Forum (GSF) lange Verhandlungen mit der Stadtverwaltung, der Regierung und den Führungskräften der Ordnungskräfte über die Finanzierung und die Orte des „Gegengipfels“, aber auch über die Modalitäten des Protests begonnen. Ab April inszenierten die verschiedenen Teile der GSF (die zukünftigen „Themenbereiche“) vor Journalisten in sozialen Zentren, Turnhallen und Kirchengemeinden in wöchentlichem Rhythmus wiederholte Darstellungen der Auseinandersetzungen. Den verschiedenen „Seelen der Bewegung“ entsprach eine Vielzahl von Beratern und Spezialisten, die das richtige Handwerkszeug lieferten und die passenden Verhaltensdekalogien destillierten. Natürlich hatten diejenigen, die die Logik der Hierarchie und der Verhandlungen ablehnten, kein Mitspracherecht bei Entscheidungen, die von den sogenannten Vertretern der Bewegung getroffen wurden (die, nachdem alles geregelt war, ein Computerreferendum vorschlugen, das nur von Polizisten und Journalisten beantwortet wurde). Innerhalb der GSF, einer Art Kartell, das ein breites Spektrum an Demokraten vereinte, von den Basiskatholiken von Lilliput bis zu Rifondazione comunista, von Teilen der Grünen bis zu den Tute Bianche, wurde ein Pakt geschlossen, in dem sich die Teilnehmer im Verlauf der Proteste verpflichteten, „Menschen und Dinge zu respektieren“. In Koordination mit der GSF, aber auf unabhängiger Basis, gab es auch das Network per i diritti globali [Netzwerk für globale Rechte], das sich aus den Cobas [Basisgewerkschaften] und einigen sozialen Zentren zusammensetzte. In diesen Anmerkungen werden wir uns vor allem mit den Tute Bianche beschäftigen. Es erscheint uns in der Tat nützlicher, die geschickten Friedensstifter in ihrer Verkleidung als Rebellen zu entlarven. Die Priester der klassischen Politik entlarven sich selbst.
Um das „Medienereignis“ zu schaffen, reichten die Abschirmung der Stadt und die Schaffung eines echten Kriegsgebiets nicht aus. Man wollte die schnarrenden Erklärungen der Protestierenden. Genau das war die Rolle der Tute bianche, die mit einer ganz bestimmten Werbestrategie gespielt wurde. So waren die Wochen vor dem Gipfel eine Abfolge von Kriegsrhetorik, die hauptsächlich mit einigen von Subcomandante Marcos inspirierten Slogans aufgebaut wurde. Am 20. Juni inszenierten im Palazzo Ducale in Venedig einige Tute Bianche in zapatistischer Tracht mit ebenso vielen Sturmhauben eine kleine Show vor den Fernsehkameras und verlasen eine Art Kriegserklärung, die von den Kommuniqués der EZLN abgeschrieben worden war. Zur gleichen Zeit simulierten sie auf der Hydrobase in Mailand mit Zodiacs die „Einkreisung“ der „Herren der Erde“ durch das Meer. Auch in diesem Fall vergaßen die zukünftigen Disobbedienti nicht, die unvermeidlichen Erklärungen für die Journalisten zu lesen. Von einer Proklamation zur nächsten gelangte man zu den Genueser Tagen.
Gleichzeitig mit diesen effektvollen Sätzen legten Casarini [Sprecher der Tute bianche] und Co. bei wiederholten Treffen mit der Polizei im Detail die Modalitäten eines simulierten Konflikts nach einem bereits mehrfach erprobten Szenario fest. Das Interview, das Luigi Manconi am 14. Juli 2001 in La Repubblica gab, ist in dieser Hinsicht beispielhaft15. Durch präventive Vereinbarungen mit der Polizei und durch eine „Kontaktgruppe“ („bestehend aus Anwälten, Parlamentariern, Sprechern von Vereinen und sozialen Zentren“), die „offen ihre eigenen Absichten und Ziele“ verkünden sollte, hätten die „Zusammenstöße“ zu einer perfekten Medieninszenierung werden sollen, die für die Tute bianche Eigenwerbung und für die Ordnungskräfte eine willkommene Abwechslung darstellte. Aber damit eine Show funktioniert, muss sichergestellt werden, dass keine Störenfriede das Ganze ruinieren. In diesem Zusammenhang erklärte der damalige Präfekt von Genua am 28. August 2001 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss: „Ich würde mehr sagen: Ein Beamter meiner Abteilung hatte direkten Kontakt zu Casarini. Ihm wurde am Abend des 20. auf den 21. Juli die Aufstellung der Container gewährt, weil er wusste, dass die tute bianche zwar zum Genoa social forum gehörten, aber nicht mit dem network und den cobas einverstanden waren: Er hatte also Angst, dass die anderen mit einem extremistischen Rand seinen Demonstrationszug, der über Tolemaide führen sollte, stören könnten. Daraufhin hatten wir dann diese Mauer aus Containern errichtet, die die Repubblica in ihrem Artikel gut beschrieben hat. Die Konfrontation sollte auf der Piazza Verdi mit der berühmten „kleinen Inszenierung“ stattfinden, die der Bewegung der tute bianche“ Sichtbarkeit verlieh. Die Worte des Folterers und Mörders Colucci, des großen Verantwortlichen für die Straßen von Genua, wurden nie widerlegt. Nur die Daten sind falsch: Es handelt sich um den Abend vom 19. auf den 20. Juli. „Casarini hat die Kontakte bestätigt. Und er bestätigte auch ein späteres Detail: Bereits am Abend des 19. Juli war ihm bewusst, dass einige Elemente des sogenannten network (zu dem auch einige Cobas gehörten) Gewaltgesten vollziehen wollten. Es war gerade in Erwartung dieses Notfalls, wie auch Quellen des Viminale [italienisches Elysium] bestätigen, dass das Viertel Foce von Abend bis Morgen mit Containern übersät war (…). Gerade von der Seite der Disobbedienti soll in einer engen Reihe von Kontakten und Telefonaten mit einigen Referenten der örtlichen Digos die Dringlichkeit bezüglich der Gewalt, die ein Teil der Protestierenden vorbereitete, ausgegangen sein“ (‚Digos e disobbedienti uniti contro i black bloc‘, Il Secolo XIX, 30. Januar 2003).
Trotz alledem wurden die Vereinbarungen gesprengt und die geplante Show beendet. Am späten Vormittag des 20. Juli begannen mehrere hundert anonyme Rebellen damit, die Strukturen des Kapitalismus – Banken, Büros multinationaler Konzerne, Kasernen und ein Gefängnis – anzugreifen, wobei sie sich nicht um die „rote Zone“ scherten und einer direkten Konfrontation mit der Polizei nicht aus dem Weg gingen. Der Demonstrationszug der Disobbedienti (so heißen sie jetzt: Im letzten Moment zogen Casarini und Co. die weißen Latzhosen aus, um sich „mit der Multitude der Bewegung“ zu vermischen) startet um 13.30 Uhr vom Carlini-Stadion. Der Demonstrationszug bewegt sich sehr langsam bergab und macht viele Pausen. Im ersten Licht der Brände in der Ferne redet ein Sprecher auf die Journalisten ein und verbietet ihnen, diese Aktionen den Disobbedienti zuzuschreiben. Der Demonstrationszug setzt seinen Weg vorsichtig fort, indem er sich in Schildkrötenform aufstellt, um den vorgetäuschten Zusammenstößen zu begegnen. Doch über Tolemaide greifen die Carabinieri gewaltsam an. Alle Vorschläge für den virtuellen Angriff werden gesprengt. Nach diesem Angriff geben viele Demonstranten alle friedlichen Absichten auf und kämpfen entschlossen. Trotz wiederholter Aufforderungen der Anführer, nichts gegen die Carabinieri zu unternehmen, beginnt die Basis, der sich verschiedene Gruppen des Schwarzen Blocks und der Autonomen anschließen, eine Schlacht, die bis 17.30 Uhr andauert. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen ermordete dieser Abschaum von Placanica Carlo Giuliani. Bis zum Abend herrschte selbst auf Seiten der Disobbedienti eine totale Befehlsverweigerung. Was Carlo betrifft, so wird ein Sprecher der Tute bianche aus Genua, bevor die Geier der Politik über seinem Leichnam zu schweben beginnen, folgendes sagen: „Wir kannten ihn kaum, wir trafen ihn manchmal in der Bar Asinelli. Er war ein Punkabbestia [„crusty“, „chamard“], einer von denen, die keine Arbeit haben, aber viele Ohrringe tragen, einer, der rein will, ohne zu bezahlen, einer, den die Wohlgesinnten Parasit nennen. Die Welt ging ihm auf die Nerven und er hatte nichts mit uns, den sozialen Zentren, zu tun, er sagte, wir seien zu diszipliniert“ (Matteo Jade, Radiodirektübertragung, 20. Juli 2001).
Warum griffen die Carabinieri 500 Meter früher als geplant an, mit einer Gewalt und in einem Gebiet (ohne Fluchtwege), das nichts anderes als einen zarten Widerstand der Demonstranten zuließ? Weil die Repression geplant war, weil der Sicherheitsapparat ein Experiment durchführte (gemäß einer Konstante der technologischen und militärischen Expansion: Alles, was getan werden kann, muss getan werden). Das Gejammer über die Sicherheitskräfte, die sich nicht an die Vereinbarungen gehalten haben, ist dann sowohl abscheulich als auch erbärmlich, würdig nur für diejenigen, die mit dem Feind kollaborieren und – wie wir gesehen haben – bereit sind, andere Gefährten an die Repression zu verkaufen, um sich ein elendes Theater der vorgetäuschten Radikalität zu sichern. An allem sind die Carabinieri schuld … („Sie wussten, was wir vorhatten, und sie hätten uns erlauben können, die rote Zone zu verletzen. Die Wahrheit ist jedoch, dass es die Carabinieri waren, die alles in die Luft gesprengt haben“, Luca Casarini, Il Nuovo, 27. August 2001). Was die Praxis der Angriffe auf Banken und Kasernen betrifft, so hat man sich zunächst über die Anarchistinnen und Anarchisten echauffiert und dann die unvermeidliche Figur des bezahlten Provokateurs hervorgeholt, um die Bewegung zu diskreditieren. Und nun kommt, um sich von einem krassen Misserfolg zu erholen, die – typisch stalinistische – Verleumdung des „vom Geheimdienst infiltrierten und manipulierten schwarzen Blocks“. Derselbe schwarze Block, den die Tute bianche zu schätzen vorgaben, als dieser in der Ferne, einen Ozean entfernt, agitierten. Genau das sagte einer von ihnen, aus Bologna, vor Genua (lista movimento@ecn.org): „Es ist schade, dass der Schwarze Block aufgrund seiner eigenen ideologischen Entscheidungen keinen Anführer, keinen charismatischen Anführer, keinen Sprecher hat und nur in kleinen, selbstorganisierten Affinitätsgruppen agiert. Diese Herren sind Hardcore-Anarchisten und jede Figur, selbst wenn sie nur ein bisschen hierarchisch ist, geht ihnen auf den Keks“. Was für Weichlinge, diese Anarchistinnen und Anarchisten. Unmittelbar danach hingegen wurden sie zu „wendigen und schnellen Moskitos, denen es an Konsens mangelt und die ein Unglück für alle darstellen“ (Marco Beltrami, Sprecher des „Laboratorio del Nord-Ovest“). Und weiter, mit bemerkenswertem politischen Gespür: „[…] in dem Moment, in dem die Praktiken des SB gegen uns verwendet wurden, müssen wir mit Nachdruck sagen, dass diese Menschen politisch tot sind. Und wenn sie ein Minimum an Intelligenz hätten, sollten sie die ersten sein, die ihr Gewissen prüfen und einer Erfahrung Selbstmord begehen, die in Genua de facto tot ist“ (Roberto Bui, aufstrebender Anführer der Tute bianche, movimento@ecn.org, 23. Juli 2001). Sicherlich ist es viel besser, hetzerische Erklärungen zum Sturm auf die „rote Zone“ abzugeben und dann diejenigen, die zum Sturm aufbrechen, als „Moskitos“, „politisch tot“ und „Provokateure“ zu definieren. Zu der abscheulichsten Verleumdung (die vor allem von Rifondazione comunista und den Grünen, von Il Manifesto und Gruppen wie Attac verbreitet wurde) über einen Schwarzen Block, der aus verdeckten Ermittlern (oder Neonazis) geschaffen wurde und aus ihnen bestand, kommt eine andere, subtilere und listigere hinzu: „[…. …] um am Freitag zu handeln, gab es sechs oder sieben verdeckte Ermittler der Carabinieri, die den (gerechten, sehr gerechten, aber vielleicht etwas zu blinden) Zorn von ein paar hundert Anarchisten kanalisierten und koordinierten, die sich versammelten, ohne zu verstehen, wie sie instrumentalisiert werden würden. Ich denke, das Gleiche geschah am Samstag“ (Anton Pannekoek alias Roberto Bui). Anarchistinnen und Anarchisten sind, kurz gesagt, keine Provokateure, sondern nur nützliche Idioten, die unfreiwillig der Macht in die Hände spielen. Stellen wir zum Problem der verdeckten Ermittler und der angeblichen Komplizenschaft der Polizei diese einfachen Fragen: Welches Bedürfnis hätten die Hunde in Undercover gehabt, die Strukturen des Staates und des Kapitals anzugreifen, wenn es Hunderte von Gefährtinnen und Gefährten gab, die gerade dafür nach Genua gekommen waren…? Ist es für die Polizisten einfacher, unbewaffnete Demonstranten oder vielmehr kleine Gruppen, die schnell zuschlagen, Barrikaden errichten und bereit sind, sich zu verteidigen, zu verprügeln? Ist es für die Beamten einfacher, in kleine Gruppen von Affinitätsgruppen oder in Teile eines großen Demonstrationszuges einzudringen? In Wirklichkeit gibt es bei Demonstrationen immer Polizisten in Zivil, und in Genua wurden viele von ihnen von Gefährtinnen und Gefährten entlarvt und verjagt (wie es auch am 4. Oktober 2003 bei der Demonstration in Rom gegen den Europäischen Konvent geschah). Ihre Rolle besteht in der Regel darin, die Widerspenstigsten zu identifizieren oder – was niemand an ihrer Stelle tun kann – andere, friedliche Demonstranten zu verprügeln, um Angst und Verwirrung zu stiften. Was die berühmten „Beweise“ gegen einen „von der Polizei manipulierten schwarzen Block“ angeht, so sind die Bilder nach Jahren der Verleumdung hingegen immer noch dieselben: ein paar Polizisten mit Tuch vor dem Gesicht, die neben einem Demonstrationszug herumfuchteln, ein paar Carabinieri in Zivil, die mit Stöcken in der Hand aus einer gestürmten Kaserne kommen… Und das würde einen Aufstand erklären, an dem Tausende von Menschen beteiligt waren, einige organisiert, aber auch so viele andere, die sich spontan zusammenschlossen… Wenn es eine Ideologie gibt, die in Genua Selbstmord begangen hat, dann ist es die, die mit folgenden Worten zusammengefasst wird: „[…] Es scheint vielen, dass der geschützte zivile Ungehorsam dazu beigetragen hat, große Teile der Bewegung von nihilistischen und destruktiven Protestformen in eine dennoch radikale, aber eminent politische Praxis einzubinden. Darüber hinaus eröffnet die Vorankündigung all dessen, was getan wird, an sich schon einen Raum für eine politische Vermittlung „vor Ort“, wenn die Verantwortlichen für die öffentliche Ordnung den Willen dazu haben“ (Luca Casarini, Anhörung vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 6. September 2001). Auf den Pflastersteinen von Genua, zwischen den kleinen Gassen und der Strandpromenade, hat der „geschützte zivile Ungehorsam“ überhaupt nichts an Bord gebracht. Er trieb Tausende von (geistig und körperlich) unbewaffneten Demonstranten in die Arme der Polizei, während viele Passanten meuterten, um sich selbst und ihre Gefährtinnen und Gefährten zu verteidigen. Angesichts der Razzien, Schläge und Folterungen verloren sich diejenigen, die nicht nur Schakale waren, sondern sich auch als dumm genug erwiesen, um den Ordnungskräften zu vertrauen, in leerem Gejammer („Die Abkommen! Die Abkommen!“). Kurzum, während die Bühne für die fiktive Konfrontation um die rote Zone aufgebaut wurde, brach die tatsächliche Revolte abseits des Scheinwerferlichts aus. Während diejenigen, die der Polizei vertrauten, ihre Hände hoben und andere dazu aufforderten, ihre Hände zu heben, weigerten sich Tausende von Demonstranten, sich auf ein Massaker einzulassen, und schlugen der Gewalt der uniformierten Hunde ins Gesicht. Die Ungehorsamkeit, diese nicht vorhergesehene Variable, begann, ihr Feuer zu justieren… „Die Polizeibeamten sagten mir, dass alles vorbei sei (wir sahen es selbst) und dass es sinnvoll sei, sich nach Sturla zu begeben, wo ihrer Meinung nach ein Angriff auf eine Kaserne der Carabinieri stattfand. Wir fuhren über Caprera, wo wir auf einige Tausend Menschen trafen, die die Straße blockierten. Wir fragten, wo wir durchfahren könnten, aber als wir den Hinweisen der Sicherheitskräfte folgten, wurden wir von einer Gruppe von Personen angegriffen, die unter dem Ruf „Spitzel“ gegen mich selbst alles, was sie um sich herum fanden, und gegen das Auto warfen“ (Vittorio Agnoletto, Anhörung vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 6. September 2001).
Doch zurück zu den Tute bianche, deren Geschichte gewiss nicht in Genua begann. Um ihre Rolle während dieser Tage zu verstehen, ist es hilfreich, ein paar Schritte zurückzugehen. Die Tute bianche entstanden innerhalb des Vereins Ya Basta, der 1996 durch den Zusammenschluss einiger sozialer Zentren gegründet wurde, die die Carta di Milano [Charta von Mailand] unterzeichnet haben: Pedro in Padua und Rivolta in Mestre, Leoncavallo in Mailand, Corto Circuito und Forte Prenestino in Rom, Zapata und Terra di Nessuno in Ligurien und andere mehr. Es handelt sich um soziale Zentren, die ab 1994 die Legalisierung (auf Vorschlag des Grünen Falqui) der besetzten Räume und eine staatliche Finanzierung akzeptiert haben. Diese Perspektive, die von einem ganzen Bereich der ehemaligen Autonomia Operaia eingenommen wurde, führte zu immer institutionelleren Positionen, mit ebenso vielen Wahlbeteiligungen oder der Zusammenarbeit mit verschiedenen Ministerien (ein Beispiel von vielen: Casarini war bezahlter Berater von Livia Turco, der Sozialministerin der Regierung Amato, und zusammen mit Napolitano auch Autorin des Gesetzes, das in Italien die Lager für illegale Einwanderer einführte). Das ist der Weg, der zu den Vereinbarungen mit der Polizei in Genua führen wird (und dann, da sich die Disobbedienti und das Social Forum beim Gipfeltreffen in Riva del Garda im September 2003 erneut an einen Tisch mit… Colucci, dem Schlächter von Genua, der mittlerweile Präfekt von Trento geworden ist). Einer der widerlichsten Aspekte dieser Praxis der Zusammenarbeit mit Institutionen ist, dass sie im Namen der „Gewaltlosigkeit“ gerechtfertigt wird, obwohl die Methoden dieser historischen Leninisten gegen diejenigen, die ihre Entscheidungen nicht teilen (d.h. alle, die ihren Spektakel stören), mehr als bekannt sind. Ihre Flugblatt-Dekalog mit dem Titel Disobbedienza civile. Istruzioni per l’uso [Ziviler Ungehorsam. Anleitung zum Gebrauch], das im Vorfeld des G8-Gipfels bei verschiedenen Gelegenheiten verteilt wurde, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Doch die grundlegende Frage ist in Wirklichkeit eine ganz andere. Können wir wirklich „gewaltfrei“ sein und mit dem Staat, dem maximalen Ausdruck von Gewalt, zusammenarbeiten? Werden aus Respekt vor der „Gewaltlosigkeit“ Menschen angegriffen und verleumdet, die direkte Aktionen gegen die todbringenden Strukturen des Kapitalismus durchführen? An wen will man seine „gewaltfreie“ Botschaft richten, wenn man, wie Casarini es tat, zur Beerdigung eines Knechtes der Bosse wie D’Antona [von den Roten Brigaden am x erschossen] geht? Hier spielt Ethik keine Rolle mehr, es geht nur noch um politischen Opportunismus. Dekalog für Dekalog, lest, was Gandhi über Gewaltlosigkeit gegen Unterdrückung sagte: „1. Auf jeden Ehrentitel verzichten. 2. Keine staatliche Finanzierung annehmen. 3. Anwälte und Richter sollen ihre Tätigkeit aussetzen. 4. Boykott der Regierungsschulen durch die Eltern. 5. Keine Beteiligung an Regierungsparteien und anderen politischen Ämtern“. Das genaue Gegenteil von dem, was die Disobbedienti und alle anderen Bewegungen, die mit Parteien und Gewerkschafts und Syndikatsbürokratien verbunden sind, tun: den Staat um Geld bitten, um … dem Imperium nicht zu gehorchen. Kurz gesagt, wie jemand schrieb, nützt es wenig, die roten Zonen der Macht herauszufordern, wenn man nicht die grauen Zonen der Kollaboration desertiert. All dies zeigt, dass „der wichtige Unterschied nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit besteht, sondern zwischen Machthunger oder nicht“ (G. Orwell). Und wenn man sich im Spiegel der Macht spiegelt, wird jede Methode legitim. Umso mehr, als es bekanntlich nie an brillanten Linguisten mangelt, die Kompromisse in Beweise für „taktische Intelligenz“ umwandeln können.
Die 1998 entstandenen Tute bianche wurden 2001 in Genua zu den Disobbedienti [Ungehorsamen]. Aber was ist Ungehorsam für sie? Sicherlich nicht die mutige Wahl von Henry David Thoreau, dem Vater des zivilen Ungehorsams, von dem sich Gandhi inspirieren ließ. Thoreau war eigentlich kein „Gewaltloser“ – wie sein Plädoyer für John Brown zeigt, dessen Entscheidung, gegen die Sklavenhalter zu den Waffen zu greifen, er verteidigte – und hasste den Konformismus der Zivilisation. Vom Einzelgänger von Walden übernehmen die Disobbedienti nur einen Aspekt: die Akzeptanz von Autorität. Doch lassen wir einen Disobbediente selbst zu Wort kommen: „Zunächst einmal setzt der Ungehorsam eine dialektische Ebene voraus. Eine Entität, die Normen produziert, wird anerkannt, und dann wird eine dialektische Interaktion mit dieser Entität vorgesehen. Man ist ungehorsam, damit das Subjekt, das Normen einer bestimmten Art herausgegeben hat, seine Positionen überdenkt, und man bereitet sich darauf vor, eine Norm auf andere Weise zu schaffen. Auf diese Weise werden die Legitimität und die Funktionsweise der normativen Funktion sowie der komplexe rechtliche Rahmen, in den sie eingebettet sind, nicht zur Diskussion gestellt, sondern vielmehr bestätigt“. Und kurz darauf: „Paradoxerweise, wenn und sobald die imperiale Verfassung sich aus dem Chaos speist, wenn – um es anders zu sagen – es das Imperium selbst ist, das ungehorsam ist, wird vielleicht die Pflicht der cives [Staatsbürger], der Untertanen, die ihm entgegenwirken, diejenige, auf eine neue Art und Weise zu normieren, ausgehend von neuen Institutionen, anstatt die Pflicht, ungehorsam zu sein“ (Federico Cartelloni, Il tempo della disobbedienza, in Controimpero. Per un lessico dei movimenti globali, Manifestolibri, 2002). Wir könnten es nicht besser ausdrücken. Die Illusion, die Herrschaft zu reformieren, indem man mit ihren Institutionen und ihrer Polizei zusammenarbeitet, wurde in Genua zu Grabe getragen. Die Aufständischen haben nichts bereut.
1A.d.Ü., im Originaltext libertoïde, also bezeichnet sich selbst als libertär (anarchistisch) ist es aber nicht.
2Dies täuschte sogar die Herausgeber der Zeitung „Cette Semaine“, die damals auf der Suche nach Texten aus der radikalen Bewegung waren und ein Kommuniqué von „Genossen aus Mailand“ veröffentlichten, in Wirklichkeit vom Sozialzentrum Leoncavallo und Ya Basta! (Diese Woche Nr. 76, Januar/Februar 1999, S. 7).
3Für eine detaillierte Analyse siehe Claudio Albertani, Toni Negri et la déconcertante trajectoire de l’opéraïsme italien, A contretemps n°13, September 2003, S. 3-18 (bei Fernand Gomez, 55 rue des Prairies, 75020 Paris).
4Zitiert von Moulier-Boutang während eines Interviews in L’art de la fugue, Vacarme n°8, Mai 1999.
5Yann Moulier-Boutang, Pour un nouveau New-Deal, erschienen u. a. in Chimères Nr. 33, Frühjahr 1998, und Alice Nr. 1, Herbst 1998.
6Informationen aus der Matisse-Datenbank (Universität Paris 1/CNRS).
7A.d.Ü., der hier verwendete Begriff ist von Zygmunt Bauman beeinflusst. Je nach Fall, Ausgabe oder Übersetzung, ist die Rede von flüchtige, liquide oder flüssige Gesellschaft, Moderne und/oder Mensch. Bauman der ein Verfechter der (Post-)Moderne war, er ist schon tot, vertrat dass das Individuum der Gesellschaft zwar ausgeliefert war, dennoch ein freies Individuum war, da der Staat, bzw., die Herrschaft nicht mehr so existieren würde wie es mal der Fall gewesen sein soll. Wiederrum ist die Gesellschaft flüchtig, liquide und flüssig weil alles sehr schnell passiert und der Mensch in diesen Strom nicht zurechtkommt und überfordert ist, weil eben die altertümlichen Macht und Herrschaftsverhältnisse nicht mehr existieren. Wieder einmal ein Apostel des sozialen Friedens im Dienste der Herrschaft des Kapitalismus und des Staates.
8 „Was ist Multitudes?“, Selbstdefinition auf http://multitudes.samizdat.net/.
9Antonio Negri und Michael Hardt, Why we need a multilateral Magna Carta [Warum wir eine multilaterale „Magna Charta“ brauchen], Global agenda, 2004.
http://www.globalagendamagazine.com/2004/antonionegri.asp
10Eine lingua franca ist eine hybride Sprache, wie sie sich oft an Plätzen des internationalen Handels, wie etwa Hafenstädte entwickelt, um Kommunikation zu ermöglichen. – Anm. engl. Übersetzer
11eine internationale Steuer auf Währungspekulation. – Anm. engl. Übersetzer
12Ya Basta!, die Tute Bianche und die Disobbedienti – alle Negri’schen „Radikale“ – haben diese Funktion in einer Vielzahl von Demonstrationen in Italien erfüllt, indem sie diejenigen, die Banken, multinationale Unternehmen, etc. angriffen, bei den Bullen denunzierten. – Anm. engl. Übersetzer
13das italienische Wort potenza kann als Macht, Gewalt, Kraft, Herrschaft oder Imperium – Empire übersetzt werden. – Anm. engl. Übersetzer
14ein linker Politiker, früher in der kommunistischen Partei Italiens, jetzt Teil der Linken Demokratischen Partei, die von den Tute Bianche bis zu den Faschisten mit allen spricht. – Amn. engl. Übersetzer
Massimo Cacciari war einer der Mitglieder von Potere operaio, die nach der Auflösung der linken Organisation in die KP zurückgekehrt waren. Als Philosoph, der das „Denken in der Krise“ (linker Heideggerismus) zum Ausdruck brachte, verfolgte er alle Entwicklungen in der Partei während der großen Repression in den 1980er Jahren. Mitte der 1990er Jahre, während er eine Debatte mit der Neuen Rechten eröffnete, wurde er in der reformistischen Strömung der ehemaligen KP zum Bürgermeister von Venedig gewählt. In dieser Zeit schlug er Wahlabkommen mit den „Autonomen“ im Nordosten Italiens vor. (A.d.Ü., aus der italienischen Ausgabe)
15„Die „tute bianche“ und jene Sektoren von Demonstranten, die mit einer „Selbstverteidigungsausrüstung“ an den Demonstrationszügen teilnehmen, physischen Druck ausüben und auf kontrollierte Gewaltanwendung zurückgreifen, spielen eine zweideutige Rolle. Es handelt sich jedoch um eine, meiner Meinung nach, positiv zweideutige Rolle. Sie bietet der Aggression einen Kanal, durch den sie sich ausdrücken kann, und gleichzeitig ein (rituelles und kämpferisches) Schema, das sie verwaltet. Er bietet einen Ausweg […], übt aber auch Kontrolle aus und setzt (oder versucht zu setzen) Grenzen. Die Tätigkeit der „tute bianche“ ist daher wörtlich eine sportliche Übung (und Sport ist klassischerweise die Fortsetzung der Kodifizierung des Krieges mit unblutigen Mitteln), die Gewalt entlastet und entschärft […]. Das setzt zwar eine Sicht der Straßengewalt als eine Art vorhersehbaren, lenkbaren, kontrollierbaren Strom voraus: Aber genau mit diesen Begriffen wird sie von vielen Verantwortlichen für öffentliche Ordnung und von vielen Anführern der Bewegung behandelt. […] Und hier können direkte Zeugenaussagen hilfreich sein. Vor anderthalb Jahren, bei einem Treffen in der Präfektur einer Stadt im Norden, diskutierten die Verantwortlichen für die öffentliche Ordnung und einige Anführer der Bewegung pingelig und einigten sich schließlich minutiös sowohl auf die Route als auch auf das Endziel des Demonstrationszuges. Und wir einigten uns darauf, dass es eine Grenze gab, die durch eine Hausnummer markiert war und mit dem Konsens der Ordnungskräfte erreicht werden konnte, und eine andere Grenze, die durch eine höhere Hausnummer markiert war und nicht „genehmigt“, sondern „toleriert“ wurde. Der Raum zwischen diesen beiden aufeinanderfolgenden Grenzen – etwa 100 Meter – war dann das „Schlachtfeld“ einer unblutigen und fast vollständig simulierten (aber in den Fernsehübertragungen nicht als solche erscheinenden) Konfrontation zwischen Demonstranten und der Polizei.“
Luigi Manconi (ehemaliges Mitglied von Lotta Continua, derzeit Senator der Mitte-Links-Partei und Soziologe), La Repubblica, 14. Juli 2001.