Wie wir angekündigt hatten, hier der Text von Jaime Semprun der in der Kritik an ihn bei – Vom Situationismus zum Abgrund – erwähnt wird. Viel Spaß.
SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE – Die wirkliche Spaltung der Internationalen
»Eine Partei beweist sich erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt; denn darin zeigt sie das Prinzip, das sie bekämpfte, an ihr selbst zu besitzen und hiermit die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auftrat. Das Interesse, das sich zwischen ihr und der anderen teilte, fällt nun ganz in sie und vergißt der anderen, weil es in ihr selbst den Gegensatz fi ndet, der es beschäftigt. Zugleich aber ist er in das höhere siegende Element erhoben worden, worin er geläutert sich darstellt. So daß also die in einer Partei entstehende Zwietracht, welche ein Unglück scheint, vielmehr ihr Glück beweist. « Hegel, Phänomenologie des Geistes.
Thesen über die Situationistische Internationale und ihre Zeit
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Die Situationistische Internationale hat sich in einem Moment der Weltgeschichte als das Denken des Zusammenbruchs einer Welt durchgesetzt; ein Zusammenbruch, der jetzt unter unseren Augen begonnen hat.
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Der Innenminister Frankreichs und die Anarchistische Födertion Italiens sind darüber gleichermaßen aufgebracht: nie hat ein So extremistisches Projekt, das sich in einer Epoche ankündigte, die ihm so feindlich zu sein schien, in so kurzer Zeit seine Hegemonie im Kampf der Ideen demonstriert, als Produkt der Geschichte der Klassenkämpfe. Die Theorie, den Stil, das Beispiel der S.I. haben heute Tausende von Revolutionären in allen bedeutenden entwickelten Ländern angenommen, aber viel wesentlicher noch: die gesamte moderne Gesellschaft ist es, die sich von der Wahrheit der situationistischen Perspektiven überzeugt zu haben scheint, sei es, um sie zu verwirklichen oder sei es, um sie zu bekämpfen. Bücher und Texte der S.I. werden überall übersetzt und kommentiert. Ihre Forderungen werden in den Fabriken von Mailand wie in der Universität von Coimbra angeschlagen.
Ihre Grundthesen sickern, von Kalifornien bis Kalabrien, von Schottland bis Spanien, von Belfast bis Leningrad, im Untergrund ein oder werden in offenen Kämpfen proklamiert. Die unterwürfigen Intellektuellen, die heute am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen sich ihrerseits gezwungen, sich als gemäßigte oder halhe Situationisten zu verkleiden, nur um zu zeigen, daß sie befähigt sind, den letzten Moment des Systems zu begreifen, das sie beschäftigt. Wenn überall der diffuse Einfluß der S.I. aufgezeigt werden kann, dann deshalb, weil die S.I selbst nichts anderes ist als der konzentrierte Ausdruck einer geschichtlichen Subversion, die überall ist.
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Was die „situationistischen ldeen“ genannt wird, ist nichts anderes als die ersten Ideen der Periode, in der die moderne revolutionäre Bewegung wieder in Erscheinung tritt. Was an ihnen radikal neu ist, entspricht genau dem neuen Charakter der Klassengesellschaft, der wirklichen Entwicklung ihrer vorübergehenden Erfolge, ihrer Widersprüche, ihrer Unterdrückung. Was den ganzen Rest betrifft, so ist es offensichtlich das in den letzten zwei Jahrhunderten entstandene revolutionäre Denken, das in die gegenwärtigen Verhältnisse zurückgekehrt ist wie zu sich nach Hause; nicht auf der Grundlage seiner eigenen früheren, den Ideologen als Problem vermachten Positionen „revidiert“, sondern von der heutigen Geschichte verwandelt. Die S.I. war lediglich darin erfolgreich, daß sie „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ ausgedrückt hat, und daß sie sie auszudrücken verstanden hat: das heißt, daß sie es verstanden hat, damit zu beginnen, bei dem subjektiv negativen Teil des Prozesses, seiner „Schattenseite“, seiner eigenen unbekannten1 Theorie Gehör zu verschaffen, der Theorie, die diese Seite der sozialen Praxis hervorbringt, und die sie zunächst nicht kennt. Die S.I. gehörte selbst zu dieser „Schattenseite“. Letztlich handelt es sich daher nicht um eine Theorie der S.I, sondern um die Theorie des Proletariats.
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Jeder Moment dieses geschichtlichen Prozesses der modernen Gesellschaft, der die Welt der Ware vollendet und abschafft, und der auch den antigeschichtlichen Moment der als Spektakel konstituierten Gesellschaft enthält, hat die S.I. dazu gebracht, alles zu sein, was sie sein konnte. In dem, was die soziale Praxis wird, in dem Moment, der sich jetzt als eine neue Epoche manifestiert, muß die S.I. immer mehr ihre Wahrheit erkennen; muß sie wissen, was sie gewollt hat und was sie getan hat, und wie sie es getan hat.
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Die S.I. hat nicht nur die moderne proletarische Subversion kommen sehen; sie ist mit ihr gekommen. Sie hat sie nicht als ein äußeres Phänomen angekündigt, durch die starre Extrapolation der wissenschaftlichen Berechnung: sie ist ihr entgegengegangen. Wir haben durch keine fremde Beeinflussung „in alle Köpfe“ unsere Ideen gesetzt, wie es allein, aber ohne dauerhaften Erfolg, das bürgerliche oder bürokratisch-totalitäre Spektakel fertigbringt.
Wir haben die Ideen ausgesprochen, die gezwungenermaßen bereits in diesen proletarischen Köpfen vorhanden waren, und dadurch, daß wir sie ausgesprochen haben, haben wir dazu beigetragen, solche Ideen zu aktivieren und so die aktive Kritik mehr zu Theoretikern zu machen und entschlossener, die Zeit zu ihrer Zeit zu machen. Das, was zunächst in dem Geist der Leute zensiert wird, wird natürlich auch von dem Spektakel zensiert, sobald das gesellschaftlich zum Ausdruck kommen konnte. Diese Zensur findet sicher auch heute noch nahezu über die Totalität des revolutionären Projekts und des revolutionären Wunsches in den Massen statt. Doch schon haben die aktive Kritik und Theorie eine unvergeßliche Bresche in die spektakuläre Zensur geschlagen. Das Verdrängte der proletarischen Kritik ist an den Tag gekommen; es hat ein Gedächtnis und eine Sprache erworben. Es hat damit begonnen, die Welt zu richten, und da die herrschenden Bedingungen über nichts verfügen, was für seine Sache plädieren könnte, stellt das Urteil nur das Problem, das es lösen kann: das seines Vollzugs.
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Wie es sich allgemein in den vorrevolutionären Momenten ereignet hat, hat die S.I. offen ihre Ziele erklärt, und fast alle wollten glauben, daß es sich um einen Scherz handelte. Das in dieser Beziehung von den Spezialisten auf Beobachtungsposten der Gesellschaft und den Ideologen der Arbeiterentfremdung zehn Jahre lang bewahrte Schweigen – eine sehr kleine Zeitspanne, an der Größe solcher Ereignisse gemessen-‚ das allerdings zum Ende hin durch den Widerhall einiger Skandale gestört wurde, die zu Unrecht als peripher und folgenlos betrachtet wurden, hat das falsche Bewußtsein der unterwürfigen Intelligentsia nicht darauf vorbereitet, das, was in Frankreich im Mai 1968 hervorbrach, und was sich seitdem nur noch vertieft und verbreitet hat, vorauszusehen oder zu begreifen. Damals hat die Demonstration der Geschichte, und gewiß nicht die situationistische Redekunst, in diesem Punkt und in vielen anderen die Bedingungen der Unwissenheit und der künstlichen Sicherheit umgestoßen, die von der spektakulären Organisation des Scheins aufrechterhalten wurden.
Man kann auf keine andere Weise dialektisch beweisen, daß man Recht hat, als daß man sich in dem Moment der dialektische Vernunft manifestiert. Die Bewegung der Besetzungen ist, so wie sie sogleich ihre Anhänger in den Betrieben aller Länder rekrutiert hat, den Herrn der Gesellschaft und ihren ausführenden Intellektuellen im Augenblick als ebenso unbegreiflich wie erschreckend erschienen. Die Eigentümer zittern immer noch vor ihr, aber begreifen sie schon besser. Dem obskuren Bewußtsein der Spezialisten der Macht hat sich diese revolutionäre Krise auf Anhieb allein in der Gestalt der rein Negation ohne Denken präsentiert. Das Projekt, das sie zum Ausdruck brachte, die Sprache, die sie führte, waren unübersetzbar für sie, die Geschäftsführer des Denkens ohne Negation, das durch mehrere Jahrzehnte mechanischen Monologs bis zum äußersten verarmt ist; wo sich die Unzulänglichkeit von sich selbst imponieren läßt als das „non plus ultra“ wo die Lüge schließlich nur noch an sich selbst glaubt. Dem, der durch das und in dem Spektakel herrscht, das heißt mit der praktischen Macht der Produktionsweise, die „sich von sich selbst abgehoben und sich ein selbständiges Reich im Spektakel fixiert hat“, präsentiert sich die wirkliche Bewegung, die außerhalb des Spektakels geblieben ist, und die es zum erster Mal unterbricht, als die realisierte Irrealität selbst. Aber was in diesem Moment so laut in Frankreich gesprochen hat, war nichts anderes als die gleiche revolutionäre Bewegung, die sich überall anders im Stillen zu manifestieren begonnen hatte. Der französische Zweig der Heiligen Allianz der Besitzer der Gesellschaft hat in diesem Alptraum zunächst sein drohendes Ende gesehen; danach hat er sich endgültig gerettet geglaubt; dann hat er diese beiden Irrtümer eingesehen2. Für sie wie für ihre Teilhaber hat eine andere Zeit begonnen. Man entdeckt jetzt, daß die Bewegung der Besetzungen unglücklicherweise einige Ideen hatte, und daß es situationistische Ideen waren: gerade die, die sie nicht kennen, scheinen ihre Positionen auf ihrer Grundlage zu bestimmen. Die Ausbeuter rechnen noch damit, sie zurückhalten zu können, aber sie geben bereits die Hoffnung auf, sie vergessen zu können. Die Bewegung der Besetzungen war der Entwurf einer „situationistischen“ Revolution, aber sie war nur ihr Entwurf, sowohl als Praxis einer Revolution als auch als situationistisches Geschichtsbewußtsein. In diesem Moment hat eine Generation international begonnen, situationistisch zu sein.
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Die neue Epoche ist zutiefst revolutionär, und sie weiß, daß sie das ist. Auf allen Ebenen der Gesellschaft der ganzen Welt kann und will man nicht mehr so weitermachen wie bisher. Oben kann man nicht mehr friedlich den Lauf der Dinge lenken, weil man dabei entdeckt, daß die ersten Früchte der Aufhebung der Ökonomie nicht nur reif sind: sie haben zu faulen begonnen. An der Basis will man nicht mehr hinnehmen, was geschieht, und die Forderung des Lebens ist gegenwärtig ein revolutionäres Programm geworden. Die Entschlossenheit, seine Geschichte selbst zu machen, das ist das Geheimnis aller „wilden“ und „unverständlichen“ Negationen, die die alte Ordnung verhöhnen.
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Die Welt der Ware, die wesentlich unbewohnbar war, ist es sichtbar geworden. Diese Erkenntnis wurde durch zwei aufeinander einwirkende Bewegungen erzeugt. Einerseits will das Proletariat sein ganzes Leben besitzen, und es als Leben besitzen, als Totalität seiner möglichen Verwirklichung. Andererseits berechnet die herrschende Wissenschaft, die Wissenschaft der Herrschaft, künftig exakt das ständig beschleunigte Wachstum der inneren Widersprüche, die die allgemeinen Überlebensbedingungen in der Gesellschaft des Besitzentzuges aufheben.
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Die Symptome der revolutionären Krise häufen sich zu Tausenden und sie sind so schwerwiegend, daß das Spektakel jetzt gezwungen ist, von seinem eigenen Ruin zu sprechen. Seine falsche Sprache zeigt seine wirklichen Feinde und sein wirkliches Desaster3.
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Die Sprache der Macht ist jetzt mit aller Gewalt reformistisch. Sie zeigte bisher nur das Glück, das überall zur Schau gestellt und überall preisgünstig zu haben ist; sie erklärt jetzt die allgegenwärtigen Mängel ihres Systems. Die Besitzer der Gesellschaft haben plötzlich entdeckt, daß alles an ihr unverzüglich zu ändern ist, die Ausbildung wie der Städtebau, die Art, die Arbeit zu erleben genauso wie die Zielsetzungen der Technologie. Kurz, diese Welt hat das Vertrauen all ihrer Regierungen verloren; sie nehmen sich deshalb vor, sie aufzulösen und eine andere zu bilden. Sie machen lediglich darauf aufmerksam, daß sie eher als die Revolutionäre qualifiziert sind, eine solche Umwälzung zu unternehmen, die so große Erfahrung und so große Mittel verlangt; die eben sie besitzen und die sie gewohnt sind. Da haben wir also die Computer, die sich mit der Hand auf dem Herzen für die Programmierung des Qualitativen engagieren, und die Manager der Umweltverschmutzung, die sich als erste Aufgabe der Säuberung in ihren eigenen Reihen stellen. Aber schon vorher, gegenüber den früheren Fehlschlägen der Revolution, hat sich der moderne Kapitalismus als ein Reformismus präsentiert, der Erfolg gehabt hat. Er rühmte sich, die Freiheit und das Glück der Ware hergestellt zu haben. Eines Tages müßte es ihm gelingen, seine Lohnsklaven, wenn auch nicht von der Lohnarbeit, so doch von den von seiner Bildungsperiode hinterlassenen reichlichen Überresten von Entbehrungen und übermäßigen Ungleichheiten zu erlösen – oder genauer noch von den Entbehrungen, die er selbst als solche anerkennen zu müssen glaubte. Heute verspricht er, sie dazu noch von all den neuen Gefahren und Unannehmlichkeiten zu erlösen, die er gerade dabei ist, als wesentliches Merkmal der modernsten in ihrer Gesamtheit genommenen Ware massiv zu produzieren; und dieselbe, bisher so häufig als das von allem letzte Korrektiv gepriesene expandierende Produktion soll sich selbst korrigieren, stets unter der ausschließlichen Kontrolle derselben Bosse. Die Pleite der alten Welt erscheint voll in dieser lächerlichen Sprache der aufgelösten Herrschaft4.
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Die Sitten verbessern sich. Die Bedeutung der Worte nimmt daran teil. Überall ist der Respekt vor der Entfremdung verlorengegangen. Die Jugend, die Arbeiter, die Farbigen, die Homosexuellen, die Frauen und die Kinder kommen darauf, alles zu wollen, was ihnen verboten war; gleichzeitig mit der Ablehnung des Hauptteils der erbärmlichen Resultate, die ihnen die alte Organisation der Klassengesellschaft zu erreichen und zu ertragen gestattete. Sie wollen keine Chefs mehr, keine Familie, keinen Staat. Sie kritisieren die Architektur und lernen, miteinander zu sprechen. Indem sie sich gegen hundert einzelne Unterdrückungen wenden, rebellieren sie tatsächlich gegen die entfremdete Arbeit. Was jetzt auf die Tagesordnung kommt, das ist die Abschaffung der Lohnarbeit. Jeder Ort eines sozialen Raums, der immer direkter von der entfremdeten Produktion und ihren Planern gestaltet wird, wird daher ein neuer Kampfplatz, von der Grundschule über die Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel bis hin zu den psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen. Alle Kirchen lösen sich auf. Auf die alte Tragödie der Enteignung der Arbeiterrevolutionen durch die bürokratische Klasse, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren noch einmal als bloße exotische Komödie abgespielt hat, fällt der Vorhang inmitten allgemeinen Gelächters. Die Hanswürste geben ihre Abschiedsvorstellungen auf ihre Weise. Castro ist Reformist in Chile geworden, während er bei sich die Parodie der Moskauer Prozesse inszenierte, nachdem er 1968 die Bewegung der Besetzungen und die mexikanische Revolte verurteilt, aber nachdrücklich die Aktion der russischen Panzer in Prag gebilligt hatte; die burleske doppelköpfige Gang Mao und Lin Piao fällt gerade in dem Moment, wo ihre letzten treuen westlichen bourgeoisen oder Linksradikalen Zuschauer endlich die Vollendung ihres Triumphs in dem langen Kampf meldeten, der die Ausbeuter Chinas teilt5, wieder in die terroristische Unordnung dieser in Stücke gebrochenen Bürokratie zurück (es ging keineswegs darum, ob mit den Vereinigten Staaten verhandelt werden sollte oder nicht, sondern allein um die Frage, wer in Peking Nixon und seinen Beistand in Empfang nehmen sollte). Wenn sich so die Menschheit freudig von ihrer Vergangenheit trennen kann, dann deshalb, weil der Ernst wieder in die Welt gekommen ist mit der Geschichte selbst, die sie wieder in ihrer Wahrheit vereinigt.
Zweifellos besitzt die Krise der totalitären Bürokratie, als Teil der allgemeinen Krise des Kapitalismus, Merkmale, die ihr eigentümlich sind, infolge der besonderen sozial-rechtlichen Aneignungsweisen der Gesellschaft durch die als Klasse konstituierte Bürokratie, wie aufgrund ihres offensichtlichen Rückstandes in der Entwicklung der Warenproduktion. Die Bürokratie erhält ihren Platz in der Krise der modernen Gesellschaft hauptsächlich aufgrund der Tatsache, daß sie ebenfalls vom Proletariat zerschlagen werden wird. Die Drohung der proletarischen Revolution, die in Italien seit drei Jahren die gesamte Politik der Bourgeoisie und des Stalinismus beherrscht und zu einer offenen Verbindung ihrer gemeinsamen Interessen führt, hängt in demselben Moment auch über der als sowjetisch bezeichneten Bürokratie; die Stunde der Erhebung der Arbeiter Rußlands hinauszuzögern, ist die einzige wirkliche Sorge ihrer weltweiten Strategie – die von dem tschechoslowakischen Prozeß alles und von der Selbständigkeit der rumänischen Bürokratie nichts befürchtete wie die ihrer Polizisten und Psychiater. Entlang den baltischen Küsten haben die Matrosen und die Hafenarbeiter bereits begonnen, sich ihre Erfahrungen und ihr Projekt mitzuteilen. In Polen ist es den Arbeitern durch den aufständischen Streik vom Dezember 1970 gelungen, die Bürokratie ins Wanken zu bringen und den Handlungsspielraum der Ökonomen noch weiter einzuschränken: die Preiserhöhungen wurden rückgängig gemacht, die Löhne wurden erhöht, die Regierung ist gefallen, die Agitation ist geblieben6. Aber ebenso gut löst sich die amerikanische Gesellschaft auf, bis hin zu ihrer Armee in Vietnam, die zur „Drogenarmee“ geworden ist und die abgezogen werden muß, weil ihre Soldaten nicht mehr kämpfen wollen; sie werden dafür in den Staaten kämpfen. Die wilden Streiks gehen durch Europa, von Schweden bis Spanien, und jetzt sind es die Industriebosse und ihre Zeitungen, die den Arbeitern eine Lektion erteilen, um zu versuchen, sie von der Nützlichkeit der Gewerkschaften zu überzeugen. In diesem „bacchantischen Taumel des Wahren, in dem kein Glied nicht trunken ist“, ist die britische proletarische Revolution diesmal mit dabei; sie kann an der Quelle des Bürgerkriegs trinken, der von jetzt an die Rückkehr der irischen Frage kennzeichnet.
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Die Ausbeuter und viele ihrer Opfer, die endgültig auf ihr eigenes Leben verzichtet haben, indem sie der herrschenden Ordnung ein neurotisches Einverständnis erteilten, empfinden den Niedergang und den Fall dieser Ordnung mit Angst und Wut. Bei diesen Emotionen stehen im Vordergrund eine Furcht vor der und ein Haß auf die Jugend, die in diesem Ausmaß beispiellos sind. Aber im Grunde haben sie nur Angst vor der Revolution. Nicht die Jugend als vorübergehender Zustand ist es, die die gesellschaftliche Ordnung bedroht; es ist die, tätige und theoretische, moderne revolutionäre Kritik, die sich Jahr für Jahr erweitert, von einem geschichtlichen Ausgangspunkt aus, den wir eben erlebt haben. Sie beginnt in der Jugend eines Moments, aber sie altert nicht. Dieses Phänomen ist in keiner Weise zyklisch, es ist kumulativ. Noch vor kurzem hat die Jugend niemanden in Schrecken versetzt, als sich ihre Agitation auf das Studentenmilieu zu beschränken schien; und daraus rekrutiert sich in der Tat der neobürokratische Linksradikalismus, der lediglich die „nursery“ der alten Welt ist, wo man sich unter dem Waffenrock einiger Heldenväter versteckt, die tatsächlich zu den Begründern der bestehenden Gesellschaft zählen. Die Jugend ist furchterregend geworden, als man feststellte, daß die Subversion auf die Masse junger Arbeiter übergegriffen hatte; und daß sie sich von der hierarchischen Ideologie des Linksradikalismus nicht integrieren lassen würde. Diese Jugend ist es, die ins Gefängnis kommt; und die in den Gefängnissen rebelliert.
Es ist eine Tatsache, daß die Jugend, obwohl ihr noch viel zu begreifen und zu erfinden bleibt, und sie, vor allem unter den verschiedenen Arten von Lehrlingen einer Berufsrevolution, noch an zahlreichen Rückständigkeiten festhält, nie so intelligent, nie so entschlossen war, die etablierte Gesellschaft zu zerstören (die Poesie, die in der S.I. vorhanden ist, kann jetzt von einem jungen Mädchen von 14 Jahren herausgelesen werden, in diesem Punkt ist der Wunsch Lautreamonts voll erfüllt). Diejenigen, die die Jugend unterdrücken, wollen sich in Wirklichkeit gegen die proletarische Subversion verteidigen, mit der sie sich weitgehend identifiziert, und mit der sie sie noch weitgehender identifizieren, und gerade die, die diese Verbindung herstellen, fühlen, wie sehr sie sie verurteilt. Die Panik vor der Jugend, die man sich unter so vielen ungereimten Analysen und pompösen Beschwörungen zu verbergen bemüht, gründet sich auf dieses einfache Kalkül: in nur 12 bis 15 Jahren werden die jungen erwachsen, die Erwachsenen alt, die Alten tot sein. Die Verantwortlichen der Klasse an der Macht stehen daher vor der absoluten Notwendigkeit, in wenigen Jahren den tendenziellen Fall des Prozentsatzes ihrer Kontrolle über die Gesellschaft umzukehren, und sie haben allen Grund zu der Annahme, daß ihnen diese Umkehrung nicht gelingen wird.
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Während die Welt der Ware von den Proletariern in einem Grad von Gründlichkei angefochten wurde, den ihre Kritik niemals erreicht hatte, und der allein ihren Zwecken – einer Kritik der Totalität – gerecht wurde, hat das Funktionieren des ökonomischen Systems selbst, aus seiner eigenen Bewegung heraus, den Weg zur Selbstzerstörung eingeschlagen. Die Krise der Ökonomie, das heißt des gesamten ökonomischen Phänomens, eine Krise, die in den letzten Jahrzehnten immer handfester geworden ist, hat eine qualitative Schwelle überschritten Selbst die frühere Form der bloßen ökonomischen Krise, die es dem System in derselben Periode zu überwinden gelang – bekannt ist, wie -‚ erscheint von neuem als eine Möglichkeit der nahen Zukunft. Das ist die Auswirkung eines doppelten Prozesses. Einerseits setzen die Proletarier nicht nur in Polen, sondern auch in England7 oder in Italien, in der Gestalt von Arbeitern, die sich der Gewerkschaftskontrolle entziehen, Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durch, die an sich schon die Prognosen und Entscheidungen der Staatsökonomen, die für den störungsfreien Lauf des konzentrierten Kapitalismus sorgen, schwer beeinträchtigen. Die Ablehnung der heutigen Organisation der Arbeit in den Betrieben ist bereits eine direkte Ablehnung der Gesellschaft, die sich auf diese Organisation gründet, und mit dieser Bedeutung sind einige italienische Streiks gerade einen Tag, nach dem die Unternehmer sämtliche Forderungen akzeptiert hatten, ausgebrochen.
Doch die bloße Lohnforderung zeigt, wenn sie mit ziemlicher Häufigkeit erneut vorgebracht wird, und jedesmal, wenn sie für die Erhöhung einen ausreichenden Prozentsatz festsetzt, klar, daß sich die Arbeiter des Elends und der Entfremdung bewußt werden, die sich auf die Gesamtheit ihrer sozialen Existenz erstrecken, und die kein Lohn jemals kompensieren kann Da zum Beispiel der Kapitalismus ganz nach seinem Belieben das Wohnen der Arbeiter außerhalb der Stadt angeordnet hat, werden sich diese bald dazu veranlaßt sehen, die Bezahlung der beschwerlichen Fahrzeiten als das zu verlangen, was sie tatsächlich sind: wirkliche Arbeitszeit. In all diesen Kämpfen, die die Lohnarbeit noch anerkennen, muß die Gewerkschaft selbst in ihrem Prinzip noch akzeptiert werden; sie wird jedoch lediglich als eine Instanz akzeptiert, die augenscheinlich überfordert ist und immer wieder übergangen wird. In einer solchen, sozialpolitischen Konjunktur kann die Existenz der Gewerkschaften jedoch nicht von unendlicher Dauer sein; und sie fühlen, daß sie sich abnutzen. In den Reden der bourgeoisen Minister und der stalinistischen Bürokraten findet dieselbe Angst dieselben Worte: „Ich stelle die Frage: Wird das wieder anfangen wie in 1968? Ich antworte: Nein, das darf nicht wieder anfangen“ (Erklärung des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Frankreichs Georges Marchais in Straßburg am 25.2.1972). Andererseits verursachen die Proletarier der Gesellschaft des Warenüberflusses in der Gestalt von Konsumenten, die der armseligen beschränkt haltbaren Güter, die sie lange satt bekommen haben, überdrüssig werden, bedrohliche Schwierigkeiten für den Absatz der Produktion. So daß sich das einzige eingestandene Ziel der heutigen Wirtschaftsentwicklung, das tatsächlich für alle die einzige Überlebensbedingung im Rahmen des Systems bildet, das auf der Arbeit als Ware beruht, die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, auf das Unternehmen hinausläuft, Arbeitsplätze zu schaffen, die die Arbeiter nicht mehr einnehmen wollen; um diesen wachsenden Teil von Gütern zu produzieren, die sie nicht mehr kaufen wollen. Doch es gilt zu begreifen, dass die Warenwirtschaft mit ihrer präzisen Technologie, deren Entwicklung untrennbar von der ihrigen ist, aus sehr viel tieferen Gründen jetzt im Todeskampf liegt. Daß jüngst im Spektakel eine Flut von moralisierenden Reden und von Versprechen auf Abhilfe im Detail zu einem Thema erscheint, das die Regierungen und ihre „mass media“ Umweltverschmutzung nennen, soll diese eindeutige Tatsache verschleiern und muß sie Zugleich enthüllen: der Kapitalismus hat schließlich den Beweis erbracht, daß er die Produktivkräfte nicht mehr entwickeln kann.
Nicht quantitativ, wie ihn viele begreifen zu müssen geglaubt haben, sondern qualitativ wird er sich unfähig erweisen, diese Entwicklung fortzusetzen. Jedoch ist die Qualität hier keineswegs eine ästhetische oder philosophische Forderung: sie ist eine geschichtliche Frage „par excellence“, die Frage nach den Möglichkeiten selbst des Weiterlebens der Art. Das Wort von Marx: „Das Proletariat ist revolutionär oder nichts“ findet in diesem Moment seine letztliche Bedeutung; und das Proletariat, das vor dieser konkreten Alternative anlangt, ist wirklich die Klasse, die die Auflösung aller Klassen verwirklicht. „Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur, um zu ihrer Selbstbestätigung zu kommen, sondern schon überhaupt, um ihre Existenz sicherzustellen.“ (Deutsche Ideologie)
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Die Gesellschaft, die alle technischen Mittel besitzt, um die biologischen Grundlagen auf der ganzen Erde anzugreifen, ist ebenso die Gesellschaft, die durch dieselbe getrennte technischwissenschaftliche Entwicklung über alle Mittel der Kontrolle und mathematisch unzweifelhafter Vorausberechnung verfügt, um exakt zu bestimmen mit welchem Vorsprung vor welcher Aufl ösung des menschlichen Milieus – und zu welchem Zeitpunkt je nachdem, ob eine optimale Fortführung möglich ist oder nicht – das Wachstum der entäußerten Produktivkräfte der Klassengesellschaft ihr Ziel erreichen kann. Ob es sich um die chemische Verseuchung der Atemluft oder um die Verfälschung von Lebensmitteln handelt, um die nicht rückgängig zu machende Akkumulierung der Radioaktivität durch die industrielle Nutzung nuklearer Energie oder um die Verschlechterung der Regenerationsfähigkeit des Wasserkreislaufs vom Grundwasser zu den Ozeanen, um die urbanistische Lepra, die sich immer weiter an der Stelle dessen ausbreitet, was einst Stadt und Land waren, oder um die „Bevölkerungsexplosion“, die Zunahme der Selbstmorde und der Geisteskrankheiten8 oder die Schwelle, der sich die Gesundheitsgefährdung durch den Lärm nähert, überall zeigen die partiellen Kenntnisse der entsprechend den Umständen mehr oder weniger drängenden und mehr oder weniger tödlichen Unmöglichkeit, noch weiterzugehen, als spezialisierte wissenschaftliche Schlußfolgerungen, die einfach nur nebeneinandergestellt bleiben, ein Bild des allgemeinen Verfalls und der allgemeinen Ohnmacht. Diese klägliche Aufnahme der Karte des Territoriums der Entfremdung kurz vor seinem Untergang wird natürlich in derselben Weise vorgenommen, in der das Territorium selbst errichtet wurde: nach getrennten Sektoren. Ohne Zweifel müssen diese Kenntnisse des Stückweisen aufgrund des unglücklichen Zusammentreffens all ihrer Beobachtungen künftig notgedrungen wissen, daß jede wirksame und kurzfristig rentable Modifi zierung in einem bestimmten Punkt Rückwirkungen auf die Totalität der Kräfte hat, die im Spiel sind, und in der Folge zu einem entscheidenderen Verlust führen kann. Eine solche Wissenschaft, wie sie der Produktionsweise und den von ihr produzierten Aporien des Denkens dient, kann sich jedoch keine wirkliche Umkehrung des Laufs der Dinge vorstellen. Sie kann nicht strategisch denken, was im übrigen niemand von ihr verlangt; und sie besitzt auch nicht die praktischen Mittel zur Intervention. Sie kann daher lediglich den Fristablauf diskutieren, und die besten Linderungsmittel, die, würden sie streng angewandt, diesen Fristablauf verzögern würden. Diese Wissenschaft zeigt so auf höchst karikaturale Weise die Nutzlosigkeit des unbrauchbaren Denkens und die Nichtigkeit des nicht dialektischen Denkens in einer Epoche, die von der Bewegung der geschichtlichen Zeit davongetragen wird. Das alte Schlagwort „die Revolution oder der Tod“ ist daher nicht mehr der lyrische Ausdruck des revoltierenden Bewußtseins, sondern das letzte Wort des wissenschaftlichen Denkens unseres Jahrhunderts. Aber dieses Wort kann nur von anderen gesagt werden; und nicht von diesem alten wissenschaftlichen Denken der Ware, das die ungenügend rationalen Grundlagen seiner Entwicklung in dem Moment enthüllt, wo sich alle Anwendungsweisen in der Macht der sozialen Praxis entfalten, die vollständig irrational ist. Das Denken der Trennung ist es, das unsere materielle Beherrschung nur auf den methodologischen Wegen der Trennung vergrößern konnte, und das am Ende diese vollendete Trennung in der Gesellschaft des Spektakels und in ihrer Selbstzerstörung findet.
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Da die Klasse, die den wirtschaftlichen Profit hamstert, kein anderes Ziel hat, als die Diktatur der unabhängigen Wirtschaft über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, mußte sie bisher die unaufhörliche Vervielfachung der Produktivität der industriellen Arbeit so betrachten und steuern, als handele es sich immer noch um die agrarische Produktionsweise. Sie hat ständig das rein quantitative Produktionsmaximum in der Art der früheren Gesellschaften verfolgt, die, tatsächlich unfähig, jemals die Grenzen der wirklichen Knappheit hinauszuschieben, in jeder Saison alles ernten mußten, was geerntet werden konnte. Diese Identifizierung mit dem Agrarmodell kommt in dem pseudo-zyklischen Modell der Überflußproduktion der Waren zum Ausdruck, bei dem absichtlich in die produzierten Gegenstände und in ihre spektakulären Bilder der Verschleiß eingebaut wurde, um künstlich den saisonalen Charakter des Konsums aufrechtzuerhalten, der die unaufhörliche Wiederaufnahme der produktiven Anstrengung rechtfertigt und die Nähe zur Knappheit aufrechterhält. Doch die kumulative Wirklichkeit dieser Produktion, die der Nützlichkeit und der Schädlichkeit gegenüber gleichgültig ist, die tatsächlich ihrer eigenen Macht gegenüber gleichgültig ist, die sie ignorieren will9, hat sich nicht vergessen lassen und kehrt in der Form der Umweltverschmutzung zurück. Die Umweltverschmutzung ist daher ein Unglück des bürgerlichen Denkens; das die totalitäre Bürokratie lediglich bescheiden imitieren kann. Sie ist die höchste Stufe der materialisierten Ideologie, der tatsächlich verseuchte Überfluß der Ware und der elende wirkliche Niederschlag des illusorischen Glanzes der spektakulären Gesellschaft.
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Die Umweltverschmutzung und das Proletariat sind heute die beiden konkreten Seiten der Kritik der politischen Ökonomie. Die universelle Entwicklung der Ware hat sich ganz und gar als Vollendung der politischen Ökonomie erwiesen, d. h. als „Verzicht auf das Leben“! In dem Moment, wo alles in die Sphäre der Wirtschaftsgüter geraten ist, sogar das Quellwasser und die städtische Luft, ist alles das ökonomische Übel geworden. Bereits die bloße unmittelbare Empfi ndung der „Beeinträchtigungen“ und der Gefahren, die jedes Trimester bedrückender werden, und die zunächst und hauptsächlich die große Mehrheit, das heißt die Armen attackieren, bildet einen ungeheuren Faktor der Revolte, eine vitale Forderung der Ausgebeuteten, die ebenso materialistisch ist, wie es der Kampf der Arbeiter des 19. Jahrhunderts für die Möglichkeit zu essen war. Schon sind die Heilmittel für die Gesamtheit der Krankheiten, die die Produktion auf dieser Stufe ihres Warenreichtums erzeugt, zu teuer für sie. Die Produktionsbeziehungen und die Produktivkräfte haben schließlich einen Punkt radikaler Unvereinbarkeit erreicht, denn das bestehende Gesellschaftssystem hat sein Schicksal mit der Fortsetzung einer buchstäblich unerträglichen Verschlechterung aller Lebensbedingungen verknüpft.
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Mit der neuen Epoche erscheint dieses bewundernswerte Zusammentreffen: die Revolution wird in einer totalen Form gewollt, gerade in dem Moment, wo sie nur in einer totalen Form durchgeführt werden kann, und wo die Totalität des Funktionierens der Gesellschaft absurd und außerhalb dieser Durchführung unmöglich wird. Die grundlegende Tatsache besteht nicht mehr so sehr darin, daß alle materiellen Kräfte für die Konstruktion des freien Lebens einer klassenlosen Gesellschaft zur Verfügung stehen; sie besteht viel eher darin, daß die blinde Unterbeschäftigung dieser Kräfte durch die Klassengesellschaft weder aussetzen noch weitergehen kann. Nie hat es in der Geschichte der Welt eine solche Verbindung gegeben.
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Die größte Produktivkraft ist die revolutionäre Klasse selbst. Die zurzeit größtmögliche Entwicklung der Produktivkräfte ist ganz einfach der Gebrauch, den die Klasse des geschichtlichen Bewußtseins in der Produktion der Geschichte als Raum der menschlichen Entwicklung von ihnen machen kann, indem sie sich die praktischen Mittel dieses Bewußtseins gibt: die künftigen revolutionären Räte, in denen die Totalität der Proletarier über alles zu entscheiden hat. Die notwendige und ausreichende Definition des modernen Rats – um ihn von seinen schwachen primitiven Ansätzen zu unterscheiden, die stets vernichtet wurden, bevor sie der Logik ihrer eigenen Macht folgen und sie dadurch kennenlernen konnten – ist die Erfüllung des Minimums seiner Aufgaben; dieses Minimum ist nichts weniger als die definitive praktische Regelung aller Probleme, die die Klassengesellschaft gegenwärtig nicht zu lösen fähig ist. Der brutale Sturz der vorgeschichtlichen Produktion, wie ihn allein die soziale Resolution erreichen kann, von der wir sprechen, ist die notwendige und ausreichende Bedingung für den Beginn einer Ära der großen geschichtlichen Produktion; die unentbehrliche und dringende Produktion des Menschen durch ihn selbst. Das Ausmaß der gegenwärtigen Aufgaben der proletarischen Revolution kommt gerade in der Schwierigkeit zum Ausdruck, auf die sie stößt, die ersten Mittel der Formulierung und der Kommunikation ihres Projekts zu erobern: sich auf autonome Weise zu organisieren und durch diese bestimmte Organisation die Totalität ihres Projekts zu begreifen und ausdrücklich in den Kämpfen zu formulieren , die sie bereits führt10. Denn in diesem zentralen Punkt des spektakulären Monopols des sozialen Dialogs und der sozialen Aufklärung, der als letzter fallen wird, gleicht die ganze Welt Polen: wenn sich die Arbeiter frei und ohne Vermittler versammeln können, um ihre wirklichen Probleme zu erörtern, beginnt der Staat sich aufzulösen. Die Kraft der proletarischen Subversion, die seit vier Jahren überall wächst, läßt sich auch an dieser negativen Tatsache ablesen: sie bleibt weit unterhalb der ausdrücklichen Forderungen, die einst proletarische Bewegungen aufstellten, die weniger weit gingen, und die ihre Programm zu kennen glaubten, sie jedoch als geringere Programme kannten. Nicht irgendein intellektuelles Talent oder irgendeine ethische Berufung oder die Lust an der Verwirklichung der Philosophie bringt das Proletariat dazu, die „Klasse des Bewusstseins“ zu sein, sondern ganz einfach die Tatsache, daß es keine andere Lösung hat, als sich der Geschichte in der Epoche zu ermächtigen, in der sich die Menschen „gezwungen sehen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (Kommunistisches Manifest).Was die Arbeiter zu Dialektikern macht, ist nichts anderes als die Revolution die sie diesmal selbst führen müssen.
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Richard Gombin stellt in „Les Origines du gauchisme“ (Die Ursprünge des Linksradikalismus) fest, „das sich die marginalen Sekten der jüngsten Zeit zu einer sozialen Bewegung auswachsen“ die jedenfalls bereits demonstriert hat, dass der „organisierte Marxismus-Leninismus“ nicht mehr die revolutionäre Bewegung ist. Gombin lehnt es folglich legitimer weise ab, zu dem, was er mit dem sehr unangemessenen Begriff des „gauchisme“ bezeichnet, die neubürokratischen Wiederauflagen, von den zahlreichen Trotzkismen bis hin zu den verschiedenen Maoismen, zu zählen. Obwohl er sich so wohlwollend wie möglich gegenüber den paar halben Kritiken zeigt, die einen Augenblick lang in der unterwürfigen lntelligentsia der letzten dreißig Jahre hervorgestottert wurden, findet Gombin im Ursprung der neuen revolutionären Bewegung, mit Ausnahme der Rückkehr der pannekoekistischen Tradition des Rätekommunismus, lediglich die Situationistische Internationale.11 Obwohl es schon „ihre ungeheuren Ambitionen verdienen, daß man von ihr spricht“‚ ist es doch, nach Gombin, offenbar keineswegs sicher, daß die gegenwärtige Subversion zur Beherrschung der Gesellschaft der ganzen Welt gelangen wird. Er erwägt die Möglichkeit, dass auch das Gegenteil eintreten könnte, nämlich die absolute Perfektionierung der „Ära des Managements, so daß diese Subversion lediglich als letztes Aufflammen einer vergeblichen Revolte gegen „ein Universum, das zur rationellen Organisation aller Aspekte des Lebens tendiert“, geschichtlich in Erscheinung treten würde. Da sich jedoch, überall anders als in dem Buch von Gombin, leicht feststellen läßt, daß dieses Universum, trotz seiner edlen Absichten und seiner trügerischen Rechtfertigungen, unaufhörlich den Weg zu einer galoppierenden Irrationalisierung verfolgt, die in der gegenwärtigen Erstickung kulminiert, besitzt die Endalternative, die dieser Soziologe formuliert, kein einziges bißchen Wirklichkeit. Man kann kaum, wenn man solche Themen behandelt, gemäßigter sein als Gombin; und nur das Unglück der Zeit konnte die Soziologie dazu zwingen, darüber Untersuchungen anzustellen. Und dennoch gelingt es Gombin, aufgrund seiner Ungeschicklichkeit, seinen Lesern keine andere mögliche Schlußfolgerung zu lassen, als eine kühne Versicherung der Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution.
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Wenn sich alle Bedingungen des sozialen Lebens verändern, sieht die S.I., im Zentrum dieser Veränderung, die Bedingungen, unter denen sie gehandelt hat, schneller verwandelt als alles übrige. Keines ihrer Mitglieder konnte das übersehen oder dachte daran, das zu leugnen, aber tatsächlich wollten viele von ihnen „nicht an der S.I. rühren“. Es war nicht einmal die vergangene situationistische Aktivität, die sie bewahren wollten, sondern ihr Bild.
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Ein unvermeidlicher Teil ihres geschichtlichen Erfolgs hat die S.I. dahin gebracht, ihrerseits angeschaut zu werden, und in dieser Anschauung ist die konzessionslose Kritik alles Bestehenden dahin gekommen, von einem stets ausgedehnteren Sektor der prorevolutionär gewordenen Ohnmacht selbst positiv bewertet zu werden. Auch die gegen das Spektakel ins Feld geführte Kraft des Negativen fand sich von Zuschauern knechtisch bewundert. Das vergangene Verhalten der S.I. war ganz und gar von der Notwendigkeit beherrscht gewesen, in einer Epoche zu handeln, die zunächst nichts von ihr hören mochte. Von Schweigen umgeben hatte die S.I. keinerlei Stütze, und zahlreiche Elemente ihrer Arbeit wurden nach und nach ständig gegen sie integriert. Sie mußte den Moment erreichen, wo sie beurteilt werden konnte, nicht „auf den Grundlage der oberflächlich skandalösen Aspekte einiger Demonstrationen, sondern aufgrund ihren wesentlich skandalösen zentralen Wahrheit“ („I.S.“ Nr. 11, Oktober 1967). Die ruhige Behauptung des allgemeinsten Extremismus, wie die zahlreichen Ausschlüsse unwirksamer oder nachsichtigen Situationisten, waren die Waffen der S.I. für diese Schlacht; und nicht, um eine Autorität oder eine Macht zu werden. So war der stolze schneidende Ton legitim, der in einigen Formen der situationistischen Ausdrucksweise hinreichend verwandt wurde, sowohl aufgrund den Tatsache der Ungeheuerlichkeit der Aufgaben als auch insbesondere deswegen, weil er seine Funktion erfüllt hat, indem er ihre Weiterentwicklung und ihren Erfolg gestattete. Er wurde jedoch unangemessen, seit sich die S.I. einer Epoche zu erkennen geben konnte, die ihr Projekt keineswegs mehr als eine Unwahrscheinlichkeit betrachtet12; und gerade deshalb, weil der S.I. das gelungen war, ist dieser Ton für uns, wenn auch nicht für die Zuschauer, unmodern geworden. Zweifellos ist der Sieg der S.I. dem Anschein nach genauso diskutabel, wie es derjenige sein kann, den die proletarische Bewegung schon einzig aufgrund der Tatsache errungen hat, daß es den Klassenkrieg wieder aufgenommen hat – der sichtbare Teil der Krise, die im Spektakel zum Vorschein kommt, ist unvergleichbar mit seiner Tiefe -‚ und er wird, wie auch dieser Sieg, solange unentschieden bleiben, bis die vorgeschichtlichen Zeiten ihr Ende gefunden haben; aber für den, der „das Gras wachsen hören kann, ist er auch indiskutabel. Die Theorie der S.I. hat Eingang in die Massen gefunden. Sie läßt sich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Einsamkeit liquidieren. Gewiss kann sie noch verfälscht werden, aber unter sehr veränderten Bedingungen. Kein geschichtliches Denken kann sich von vornherein gegen jedes Unverständnis und jede Verfälschung absichern. Sie beansprucht schon nicht, ein für alle Zeiten zusammenhängendes und vollendetes System hervorzubringen; um so weniger kann sie hoffen, sich als das, was sie ist, auf so vollkommen rigorose Weise zu präsentieren, dass sich die Dummheit und die Hinterhältigkeit bei jedem von denen ausgeschlossen fände, die mit ihr zu tun haben werden, derart, daß eine wahrhaftige Lektüre universell geboten sei. Ein solcher idealistischer Anspruch hält sich nur durch einen Dogmatismus, der stets zum Scheitern verurteilt ist. Der Dogmatismus ist bereits die beginnende Niederlage eines solchen Denkens. Die geschichtlichen Kämpfe, die jede Theorie dieser Art berichtigen und verbessern, sind ebenfalls der Boden herabsetzender Interpretationsfehler wie – häufig eigennütziger – Weigerungen, den eindeutigsten Sinn zuzugeben. Hier kann sich die Wahrheit nur durchsetzen indem sie zur praktischen Kraft wird. Sie manifestiert, daß sie Wahrheit ist, erst dadurch, daß sie nur ganz geringe praktische Kräfte braucht, um sehr viel größere zur Auflösung zu bringen. So daß die Theorie der S,I., auch wenn sie künftig noch oft mißverstanden oder verfälschend übersetzt werden kann wie es bisweilen mit den Theorien von Marx und Hegel geschehen ist, ohne weiteres in aller ihrer Echtheit jedesmal dann wiederkehren wird, wenn geschichtlich ihre Stunde gekommen ist, von heute angefangen. Wir haben die Epoche verlassen, wo wir ohne Berufung verfälscht oder ausgestrichen werden konnten, denn unserer Theorie ist künftig, auf Gedeih und Verderb, die Mitarbeit der Massen gewiß.
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Jetzt wo die revolutionäre Bewegung überall allein dabei ist, ernsthaft von der Gesellschaft zu sprechen, muß sie in sich selbst den Krieg finden, den sie vorher – einseitig – an der enfernten Peripherie des sozialen Lebens führte, wobei sie auf den ersten Blick allen Ideen vollständig fremd gegenüberzustehen schien, die diese Gesellschaft damals über das vorbringen konnte, was sie zu Sein glaubte. Wenn die Subversion auf die Gesellschaft übergreift und ihren Schatten im Spektakel größer werden läßt, manifestieren sich die spektakulären Kräfte der Gegenwart auch im inneren unserer Partei – „die Partei im großen historischen Sinn“ -‚ weil sie effektiv die Totalität der bestehenden Welt auf sich nehmen mußte, und damit auch ihre Unzulänglichkeiten, ihre Unwissenheit und ihre Entfremdungen. Sie erbt das ganze Elend, das intellektuelle Elend mit eingeschlossen, das die alte Welt erzeugt hat; denn letztlich ist das Elend ihr wahres Anliegen, obwohl sie für ein solches Anliegen mit Größe eintreten mußte.
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Unsere Partei betritt das Spektakel als Feind, aber als Feind, der jetzt bekannt ist. Der frühere Gegensatz zwischen der kritischen Theorie und dem apologetischen Spektakel „ist in das höhere siegende Element erhoben worden, worin er geläutert sich darstellt.“ Diejenigen, die die revolutionären Ideen und Aufgaben, und ganz besonders die S.I., nur anschauen, in dem Fanatismus einer puren wehrlosen Billigung, bringen hauptsächlich diese Tatsache zum Ausdruck, daß in einem Moment, wo die Gesamtheit der Gesellschaft gezwungen ist, revolutionär zu werden, ein großer Sektor es noch nicht zu sein Versteht.
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Begeisterte Zuschauer der S.I. hat es von 1960 an gegeben, aber zunächst in sehr kleiner Zahl. In den letzten fünf Jahren sind sie eine Menge geworden. Dieser Prozeß hat in Frankreich begonnen, wo sie sich volkstümlich als Prosituationisten bezeichnet sehen, aber diese neue „französische Krankheit“ hat auf sehr viele andere Länder übergegriffen. Ihre Zahl vervielfacht nicht ihre Leere: alle lassen wissen, daß sie vollständig der S.I. beipflichten, und daß sie nichts anderes zu tun wissen. Obwohl sie zahlreich werden, bleiben sie identisch: wer einen von ihnen gelesen oder gesehen hat, hat sie alle gelesen und hat sie alle gesehen. Sie sind ein bezeichnendes Produkt der gegenwärtigen Geschichte, aber sie produzieren sie in keiner Weise ihrerseits. Das prosituationistische Milieu stellt anscheinend die zur Ideologie gewordene Theorie der S.I. dar – und die passive Welle einer solchen absoluten und absolut unbrauchbaren Ideologie bestätigt durch das Absurde die offensichtliche Tatsache, daß die Rolle der revolutionären Ideologie mit den bürgerlichen Revolutionen zu Ende ist -‚ in Wirklichkeit aber drückt dieses Milieu den Teil der wirklichen modernen Revolution aus, der noch ideologisch bleiben mußte, Gefangener der spektakulären Entfremdung und nur in ihren Begriffen unterrichtet. Der Druck der Geschichte ist heute so stark geworden, daß die Träger einer Ideologie der geschichtlichen Gegenwart gezwungen sind, vollkommen abwesend zu bleiben.
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Das prosituationistische Milieus besitzt nichts als seine guten Absichten, rind möchte sofort illusorisch von deren Zinsen leben, in der alleinigen Form der Stellung seiner gehaltlosen Ansprüche. Dieses prosituationistische Phänomen wurde in der S.I. von allen mißbilligt, insofern als in ihm eine subalterne äußere Imitation gesehen wurde, aber es wurde nicht von allen begriffen. Es kann nicht als ein oberflächlicher und paradoxer Vorfall erkannt werden, sondern nur als die Manifestation einer tiefen Entfremdung des unaktivsten Teils der modernen Gesellschaft, die undeutlich revolutionär wird13. Wir mußten diese Entfremdung als eine wirkliche Kinderkrankheit des Erscheinens der neuen revolutionären Bewegung kennen lernen; zunächst deswegen, weil die S.I., die in keiner Weise außerhalb oder überhalb dieser Bewegung stehen kann, von dieser Art von Mangel nicht unbetroffen sein konnte und nicht beanspruchen konnte, der Kritik zu entgehen, die sie erfordert. Hätte andererseits die S.I., unter anderen Umständen, ihr Spiel weiterhin so getrieben wie zuvor, hätte sie zu der letzten spektakulären Ideologie der Revolution werden, und eine solche Ideologie garantieren können. Die S.I. hätte dann riskiert, die wirkliche situationistische Bewegung zu behindern: die Revolution.
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Das Anschauen der S.I. ist nur eine zusätzliche Entfremdung der entfremdeten Gesellschaft; aber allein die Tatsache, daß es möglich ist, bringt umgekehrt die Tatsache zum Ausdruck, daß sich gegenwärtig eine wirkliche Partei im Kampf gegen die Entfremdung bildet. Die Prosituationisten zu begreifen, d. h. sie zu bekämpfen, anstatt sich darauf zu beschränken, sie abstrakt zu verachten, wegen ihrer Nichtigkeit und weil sie keinen Zugang zur situationistischen Aristokratie hatten, war für die S.I. eine Notwendigkeit von größter Wichtigkeit. Wir mußten gleichzeitig begreifen, wie das Bild dieser situationistischen Aristokratie entstehen konnte, und welche untere Schicht der S.I. sich damit begnügen konnte, sich nach außen hin diesen Anschein hierarchischer Aufwertung zu geben, der ihnen lediglich aufgrund eines Titels zukam: diese Schicht sollte selbst die allein durch das Diplom der Zugehörigkeit zur S.I. angereicherte Nichtigkeit sein. Und solche Situationisten gab es nicht nur offenkundig; sie erwiesen sich auch in der Erfahrung als diejenigen, die nichts anderes wollten, als an ihrer diplomierten Unzulänglichkeit festhalten. Sie kommunizierten mit den Prosituationisten, obwohl sie sich als hierarchisch stark unterschieden definierten, in dem egalitären Glauben, nach dem die S.I. ein idealer Monolith sein könnte, wo jeder auf Anhieb über alles denkt wie alle anderen und ebenso meisterhaft handelt: diejenigen, die in der S.I. weder dachten noch handelten, forderten so ein mystisches Statut, und an dieses Statut waren die prosituationistischen Zuschauer bestrebt heranzukommen. Alle, die die Prosituationisten verachten, ohne sie zu begreifen – angefangen bei den Prosituationisten selbst, unter denen sich jeder den anderen gegenüber als gewaltig überlegen hinstellen möchte -‚wollen einfach sich und anderen vormachen, daß sie durch irgendeine revolutionäre Vorherbestimmung erlöst worden sind, die es ihnen erläßt, ihre eigene geschichtliche Wirksamkeit unter Beweis zu stellen. Die Teilnahme an der S.I. war ihr Jansenismus, wie die Revolution ihr „heimlicher Gott“ ist. Solchermaßen vor der geschichtlichen Praxis geschützt und im Glauben, durch wer weiß was für eine weltliche Gnade dem Elend der Prosituationisten enthoben zu sein, sahen sie in diesem Elend nur das Elend, anstatt in ihm auch den winzigen Teil einer tiefen Bewegung zu sehen, die die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird.
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Die Prosituationisten haben in der S.I. nicht eine bestimmte kritisch-praktische Aktivität gesehen, die die sozialen Kämpfe einer Epoche erklärten oder ihnen vorausgingen, sondern bloß extremistische Ideen; und nicht so sehr extremistische Ideen als die Idee des Extremismus; und letztlich weniger die Idee des Extremismus als das Bild extremistischer Helden, die in einer triumphierenden Gemeinschaft versammelt sind. Bei „der Arbeit des Negativen“ fürchten die Prosituationisten das Negative, und auch die Arbeit. Nach ihrem Plebiszit für das Geschichtsdenken bleiben sie trocken, weil sie nicht die Geschichte begreifen, und das Denken auch nicht. Um zur Behauptung, die sie sehr reizt, einer autonomen Persönlichkeit zu gelangen, fehlt ihnen nur die Autonomie, die Persönlichkeit, und das Talent, auch nur irgendetwas zu behaupten.
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Die Prosituationisten haben, in ihrer Masse, gelernt, daß es keine revolutionären Studenten mehr geben kann, und bleiben Studenten der Revolutionen. Die Ehrgeizigsten verspüren die Notwendigkeit zu schreiben und ihre Schriften sogar zu veröffentlichen, um abstrakt ihre abstrakte Existenz bekannt zu geben, wobei sie glauben, ihr dadurch einigen Bestand zu verleihen. Aber auf diesem Gebiet muß man, um schreiben zu können, gelesen haben, und um lesen zu können, muß man zu leben verstehen: das ist es, was das Proletariat in einer einzigen Operation lernen muß, im revolutionären Kampf. Der Prosituationist kann jedoch das wirkliche Leben nicht kritisch betrachten, weil seine ganze Haltung gerade bezweckt, illusorisch seinem trübsinnigen Leben zu entgehen, indem er es sich zu verheimlichen versucht, und besonders indem er vergeblich versucht, die anderen diesbezüglich irrezuführen. Er muß postulieren, daß sein Verhalten wesentlich gut ist, weil „radikal“, ontologisch revolutionär. Mit dem Blick auf diese eingebildete zentrale Garantie hält er seine tausend gelegentlichen Irrtümer und belustigenden Unzulänglichkeiten für unwesentlich. Er erkennt sie bestenfalls aufgrund des Ergebnisses an, zu dem sie zu seinem Nachteil geführt haben. Darüber tröstet er sich hinweg und entschuldigt sich, indem er versichert, daß er diese Irrtümer nicht wiedermachen wird, und daß er sich prinzipiell unaufhörlich verbesserte. Aber mit der gleichen Blöße steht er den folgenden Irrtümern gegenüber, d.h. der praktischen Notwendigkeit, das, was er tut, in dem Moment zu begreifen, wo er es tut: die Lage einzuschätzen, zu wissen, was man will und wofür man sich entscheidet, welche Konsequenzen sich daraus ergeben können und wie sie sich am besten meistern lassen. Der Prosituationist sagt, daß er alles will, weil er in Wirklichkeit, ohne jede Hoffnung, das geringste wirkliche Ziel zu erreichen, nicht mehr will als wissen zu lassen, daß er alles will, in der Hoffnung, daß jemand auf Anhieb seine Versicherung bewundert und seine schöne Seele. Er braucht eine Totalität, die, wie er, ohne jeden Inhalt ist. Er ignoriert die Dialektik, weil er indem er sich weigert, sein eigenes Leben zu sehen, sich weigert, die Zeit zu begreifen. Die Zeit macht ihm Angst, denn die Zeit machen qualitative Sprünge aus, Entscheidungen, die sich nicht rückgängig machen lassen, Gelegenheiten, die nie wiederkehren. Der Prosituationist tut so als sei die Zeit bloßer gleichförmiger Raum, durch den er von Irrtum zu Irrtum, von Unzulänglichkeit zu Unzulänglichkeit geht und sich dabei ständig bereicherte. Da der Prosituationist stets die Anwendung der kritischen Theorie auf seinen eigenen Fall befürchtet, ist sie ihm jedesmal verhaßt, wenn sie sich in konkrete Tatsachen einmischt, d. h. jedesmal, wenn sie tatsächlich existiert: alle Beispiele erschrecken ihn, denn gut kennt er nur sein eigenes, und das will er verstecken. Der Prosituationist möchte originell sein, indem er wiederholt bestätigt, was er, zugleich mit zahlreichen anderen, als künftig offenkundig erkannt hat; nie hat er daran gedacht, was er in verschiedenen konkreten Situationen tun könnte, die ihrerseits jedes mal originell sind. Der Prosituationist der sich an die Wiederholung einiger Allgemeinplätze hält und damit rechnet, daß seine Irrtümer dadurch weniger genau sind und seine sofortigen Selbstkritiken leichter fallen, behandelt mit Vorliebe das Organisationsproblem, weil er den Stein des Weisen sucht, der die Verwandlung seiner verdienten Einsamkeit in „revolutionäre Organisation“ bewerkstelligt, die für ihn brauchbar ist. Da er überhaupt nicht weiß, worum es geht, sieht der Prosituationist die Fortschritte der Revolution nur in dem Maße, wie sie sich mit ihm beschäftigt. So daß er allgemein glaubt sagen zu müssen, daß die Mai-Bewegung von 1968 seitdem „zurückgegangen“ ist. Aber dennoch will er gerne wiederholen, daß die Epoche von mal zu mal revolutionärer ist, damit man glaubt, er sei wie sie. Die Prosituationisten erheben ihre Ungeduld und ihre Ohnmacht zu Kriterien der Geschichte und der Revolution; so sehen sie fast nichts vorankommen außerhalb ihres fest geschlossenen Gewächshauses, wo sich wirklich nichts ändert. Letzten Endes sind alle Prosituationisten von dem Erfolg der S.I. berauscht, der für sie wahrlich eine spektakuläre Sache ist, und um den sie sie bitter beneiden. Natürlich wurden alle Prosituationisten, die sich uns anzunähern versuchten, so schlecht behandelt, daß sie sich darauf selbst Subjektiv gezwungen sehen, ihre wahre Natur als Feinde der S.I. zu enthüllen; doch das kommt aufs gleiche heraus, denn sie bleiben in dieser neuen Position ebenso wenig. Diese zahnlosen Kläffer möchten gerne herausfinden, wie es der S.I. gelungen ist, und sogar, ob die S.I. nicht in irgendeiner Weise schuldig ist, eine solche Leidenschaft hervorgerufen zu haben; und dann würden sie das Rezept für sich benutzen. Der Prosituationist, ein Karrieremacher, der sich mittellos weiß, sieht sich veranlaßt, auf Anhieb den totalen Erfolg seiner Ambitionen kundzutun, die durch Postulat an dem Tag erreicht sind, wo er sich der Radikalität gewidmet hat: der schwachsinnigste Scheißer wird versichern, daß er, seit einigen Wochen, bestens das Fest kennt, die Theorie, die Kommunikation, die Ausschweifung, die Dialektik; ihm fehlt nur noch eine Revolution, um sein Glück vollständig zu machen. Daraufhin beginnt er, auf einen Bewunderer zu warten, der nicht kommt. Man kann hier auf eine besondere Form der Arglist aufmerksam machen, die sich in der Beredsamkeit offenbart, mit der sich diese Plattheit brüstet. Zunächst spricht sie dort, wo sie am wenigsten praktisch ist, am meisten von Revolution; dort, wo ihre Sprache am Leblosesten und am Zähflüssigsten ist, benutzt sie am häufigsten die Worte „erlebt“ und „leidenschaftlich“; dort, wo sie die größte Selbstgefälligkeit und eitelstes Erfolgsstreben manifestiert, führt sie die ganze Zeit das Wort „Proletariat“ im Mund. Das heißt mit anderen Worten, daß die revolutionäre Theorie, die eine Kritik des gesamten Lebens vornehmen mußte, unter den Händen derjenigen, die sie aufnehmen wollen, ohne zu wissen, wie man sie praktiziert, nur zu einer totalen Ideologie geraten kann, die an keinem einzigen Aspekt ihres armen Lebens auch nur irgendetwas Wahres läßt.
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Während es die S.I. stets verstanden hat, unbarmherzig die Unschlüssigkeit, die Schwäche und das Elend ihrer ersten Versuche zu verspotten, indem sie in jedem Moment die Hypothesen die Gegensätze und die Brüche aufzeigte, die ihre Geschichte selbst bildeten – insbesondere indem sie 1971 der Öffentlichkeit die ungekürzte Neuherausgabe der Revue Internationale Situationniste vorlegte, in der dieser ganze Prozeß festgehalten ist -, haben dagegen die absolut untereinander gespaltenen Prosituationisten alle ständig wie ein Block beansprucht, die S.I. bewundern zu dürfen. Sie hüten sich, in die überall lesbaren Details der Auseinandersetzungen und der Entscheidungen zu gehen, um sich darauf zu beschränken, vollständig dem zuzustimmen, was geschehen ist. Und gegenwärtig gehen alle Prosituationisten, obwohl sie alle etwas zutiefst Vaneigemistisches haben, dem am Boden liegenden Vaneigem den Eselsfußtritt, wobei sie vergessen, daß sie niemals auch nur den hundertsten Teil seines früheren Talents bewiesen haben; und sie Sabbern auch noch angesichts der Kraft, die sie nicht besser verstehen. Doch die geringste wirkliche Kritik dessen, was sie sind, löst die Prosituationisten auf indem sie die Natur ihrer Abwesenheit erklärt, denn sie selbst haben bereits unablässig ihre Abwesenheit offensichtlich gemacht, indem sie versucht haben, gesehen zu werden: sie haben niemanden interessiert. Was die Situationisten betrifft, die selbst nur beschaulich – oder, bei einigen, hauptsächlich beschaulich – waren, und die sich als Mitglieder der S.I. eines gewissen Interesses erfreuen konnten, so haben sie in der Stunde, wo sie die S.I. verlassen mußten, die Härte einer Welt entdeckt, in der sie künftig gezwungen sind, persönlich zu handeln; und fast alle erreichen, indem sie auf identische Bedingungen stoßen, die Bedeutungslosigkeit der Prosituationisten.
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Wenn sich die S.I. anfänglich dafür entschieden hat, den Akzent auf den kollektiven Aspekt ihrer Aktivität zu legen und den größten Teil ihrer Texte relativ anonym zu präsentieren, dann deswegen, weil wirklich ohne diese kollektive Aktivität nichts von unserem Projekt hätte formuliert und ausgeführt werden können, und weil es die Herausstellung einiger persönlicher Berühmtheiten unter uns zu verhindern galt, die das Spektakel dann gegen unser gemeinsames Ziel hätte manipulieren können: das ist gelungen, weil keiner unter denen, die die Mittel besaßen, eine persönliche Berühmtheit zu erwerben, sie gewollt hat, zumindest solange er in der S.I. war; und weil die, die sie wollen konnten, nicht die Mittel dazu besaßen. Doch dadurch wurde zweifellos die Grundlage dafür geschaffen, dass später in der Mystik der Situphilen, die Gesamtheit der S.I. zum kollektiven Star erhoben wurde. Diese Taktik war indessen richtig, denn das, was sie uns zu erreichen gestattete, war unendlich viel wichtiger als die Unannehmlichkeiten, denen sie in dem folgenden Stadium Vorschub leistete. Als die revolutionäre Perspektive der S.I. anscheinend nur in unserem gemeinsamen Projekt bestand, galt es zunächst, die Möglichkeiten selbst ihrer Existenz und ihrer Entwicklung zu verteidigen. Heute, wo sie das gemeinsame Projekt so vieler Leute geworden ist, werden die Bedürfnisse der neuen Epoche von selbst, über die Wand irrealer Konzeptionen hinweg, die sich nicht in Kräften – und nicht einmal in Sätzen – niederschlagen können, die präzisen Werke und Taten wiederfinden, die der heutige revolutionäre Kampf sich aneignen und überprüfen muß; und die er aufheben wird14.
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Der wahre Grund für das Unglück der Zuschauer der S.I. liegt nicht in dem, was die S.I. getan oder nicht getan hat; und selbst der Einfluß einiger stilistischer oder theoretischer Vereinfachungen des situationistischen Primitivismus spielt dabei nur eine ganz geringe Rolle. Die Prosituationisten und Vaneigemisten sind vielmehr das Produkt der allgemeinen Schwäche und Unerfahrenheit der neuen revolutionären Bewegung, der unvermeidlichen Periode scharfen Kontrastes zwischen der Größe ihrer Aufgabe und der Beschränkung ihrer Mittel. Die Aufgabe, die man sich stellt, sobald man begonnen hat, der S.I. wirklich zuzustimmen, ist an sich erdrückend. Für den einfachen Prosituationisten aber ist sie es absolut. Daher ihr sofortiges Auseinanderlaufen. Die Länge und die Härte dieses geschichtlichen Wegs sind es, die bei dem schwächsten und dem anspruchsvollsten Teil der heutigen prärevolutionären Generation, diejenige, die, mit anderen Worten, immer noch nur den Grundmodellen der herrschenden Gesellschaft gemäß zu denken und zu leben vermag, das Trugbild einer Art touristischer Abkürzung zu ihren unendlichen Zielen erzeugt. Als Kompensation für seine wirkliche Unbeweglichkeit und sein wirkliches Leiden konsumiert der Prosituationist die unendliche Illusion, nicht nur auf dem Weg zum, sondern buchstäblich stets kurz vor dem Betreten des gelobten Landes der glücklichen Versöhnung mit der Welt und ihm selbst zu sein, wo seine unerträgliche Mittelmäßigkeit in Leben, in Poesie, in Bedeutung verwandelt wird. Was heißt, daß der spektakuläre Konsum der ideologischen Radikalität, in seiner Hoffnung, sich hierarchisch von seinen Nachbarn abzuheben und in seiner fortwährenden Enttäuschung, mit dem effektiven Konsum aller spektakulären Waren identisch ist15, und wie er verurteilt ist.
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Diejenigen, die das echt soziologische Phänomen der Prosituationisten als etwas Unerhörtes beschreiben, das vor der verblüffenden Existenz der S.I. sogar unvorstellbar war, sind recht naiv. Jedesmal, wenn extreme revolutionäre Ideen von einer Epoche anerkannt und aufgenommen worden sind, hat sich ihnen ein Teil einer bestimmten Jugend in einer in allen Punkten vergleichbaren Weise angeschlossen, namentlich unter deklassierten Intellektuellen oder Halbintellektuellen, die eine privilegierte gesellschaftliche Hölle anstreben, eine Kategorie, deren Zahl der moderne Unterricht vervielfacht wie er ihre Qualität noch vermindert hat. Zweifellos sind die Prosituationisten sichtbarer unzulänglich und unglücklich, weil die Forderungen der Revolution heute komplexer sind und die Krankheit der Gesellschaft schwerer zu ertragen ist. Doch der einzige grundlegende Unterschied zu den Perioden, in denen sich die Blanquisten, die Marxisten genannten Sozialdemokraten oder die Bolschewisten rekrutiert haben, liegt in der Tatsache, daß diese Art von Leuten zuvor von einer hierarchischen Organisation angeworben und eingesetzt wurden, während die S.I. die Prosituationisten massenhaft draußen gelassen hat.
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Um die Prosituationisten zu begreifen, muß man ihre soziale Basis und ihre sozialen Absichten begreifen. Die ersten Arbeiter, die sich den situationistischen Ideen anschlossen – die im allgemeinen von der alten Ultralinken kamen und somit von der Skepsis gezeichnet waren, die aus ihrer langen Unwirksamkeit folgte, die anfänglich in ihren Fabriken sehr isoliert waren und sich infolge ihrer ohne Gebrauch gebliebenen, wenn auch manchmal recht subtilen Kenntnis unserer Theorien verhältnismäßig gekünstelt gaben -‚ haben in dem infra-intellektuellen Milieu der Prosituationisten verkehren können, nicht ohne es zu verachten, und dabei einige seiner Mängel übernehmen können; doch insgesamt werden die Arbeiter, die seitdem in wilden Streiks oder in jeder anderen Form der Kritik ihrer Existenzbedingungen kollektiv die Perspektiven der S.I. entdecken, in keiner Weise Prosituationisten. Und im übrigen sind, außerhalb der Arbeiter, alle diejenigen, die eine konkrete revolutionäre Aufgabe übernommen haben oder effektiv mit der herrschenden Lebensart gebrochen haben, ebensowenig Prosituationisten: der Prosituationist definiert sich zunächst durch seine Flucht vor solchen Aufgaben und vor einem solchen Bruch. Die Prosituationisten sind nicht alle Studenten, die in Wirklichkeit irgendeine beliebige Qualifizierung durch die Examina an der gegenwärtigen Subuniversität erstreben; und sie sind „a fortiori“ nicht alle Bürgersöhne. Aber alle sind sie mit einer bestimmten Gesellschaftsschicht verknüpft, ob sie sich nun vornehmen, wirklich deren Status zu erwerben, oder sich darauf beschränken, die ihr eigentümlichen Illusionen im voraus zu konsumieren. Diese Schicht ist die der Kader oder der Führungskräfte. Obwohl sie im sozialen Spektakel gewiß die Schicht ist, die am stärksten in Erscheinung tritt, scheint sie für die Denker der linksradikalen Routine unbekannt zu bleiben, die ein unmittelbares Interesse daran haben, sich an die verarmte Zusammenfassung der Klassendefinition des 19. Jahrhunderts zu halten: sie wollen entweder die Existenz der bürokratischen Klasse, die herrscht oder die totale Herrschaft ansteuert, verschleiern, oder sie wollen, oft gleichzeitig, ihre eigenen Existenzbedingungen verschleiern, und ihre eigenen Bestrebungen als geringfügig privilegierte Führungskräfte in den von der heutigen Bourgeoisie beherrschten Produktionsbeziehungen.
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Mit der Umwandlung der globalen gesellschaftlichen Arbeit hat der Kapitalismus fortlaufend die Klassenzusammensetzung modifiziert. Er hat Klassen geschwächt oder neu zusammengesetzt, abgeschafft oder gar geschaffen, die in der Produktion der Welt der Ware lediglich eine sekundäre Funktion haben. Allein die Bourgeoisie und das Proletariat, die ursprünglichen geschichtlichen Klassen dieser Welt, machen weiter ihr Geschick unter sich aus, in einer Auseinandersetzung, die im wesentlichen die gleiche bleibt. Doch die Umstände, der Dekor, die Komparsen und selbst der Geist der Hauptakteure haben sich mit der Zeit geändert, die uns zum letzten Akt geführt hat. Das Proletariat war nach Lenin, dessen Definition in der Tat diejenige von Marx korrigierte, die Masse der Arbeiter der Großindustrie; die fachlich Qualifiziertesten unter ihnen fanden sich sogar unter dem Begriff der „Arbeiteraristokratie“ in eine suspekte Grenzsituation verwiesen. Zwei Generationen von Stalinisten und Dummköpfen haben auf dieses Dogma gestützt den Arbeitern, die an der Pariser Kommune teilgenommen hatten, und die sich noch in großer Nähe zum Handwerk und zur Kleinindustrie befanden, die Anerkennung als vollwertige Proletarier verweigert. Die gleichen Leute fragen sich auch nach dem Sein des heutigen Proletariats, das in vielfältig abgestuften Schichten verloren ist, vom „spezialisierten“ Arbeiter der Montagebänder und dem „Gastarbeiter“ am Bau bis hin zum Facharbeiter und zum Techniker oder zur technischen Hilfskraft; das geht so weit, daß spitzfindig untersucht wird, ob der Lokomotivführer persönlich Mehrwert produziert. Lenin hatte indessen darin recht, daß sich das Proletariat Rußlands zwischen 1890 und 1917 wesentlich auf die Arbeiter einer modernen Großindustrie reduzierte, die in der gleichen Periode mit der in dieses Land importierten jüngsten kapitalistischen Entwicklung auftrat. Außerhalb dieses Proletariats war in Rußland als städtische revolutionäre Kraft nur noch der radikale Teil der Intelligentsia vorhanden, während in den Ländern, wo der Kapitalismus mit der Bourgeoisie der Städte auf natürliche Weise gereift und auf ursprüngliche Weise aufgetreten war, alles sehr viel anders verlaufen war. Diese russische Intelligentsia, wie die ihr entsprechenden gemäßigteren Schichten überall anderswo, versuchte politische Kader für die Arbeiter zu bilden. Die russischen Verhältnisse begünstigten die Bildung von Kadern unmittelbar politischer Natur in den Betrieben: die Berufsvereinigungen wurden von einer Art „Arbeiteraristokratie“ beherrscht, die der sozialdemokratischen Partei angehörte, und zwar häufiger der menschewistischen als der bolschewistischen Fraktion, während beispielsweise in England die gleichbedeutende Schicht der TradeUnionisten apolitisch oder reformistisch bleiben konnte. Daß es die Ausplünderung des Planeten dem Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium gestattet, eine große Zahl von besser bezahlten Facharbeitern zu unterhalten, ist eine Feststellung, die, unter einem moralischen Deckmantel, ohne jegliche Tragweite für die Bewertung der revolutionären Politik des Proletariats ist. Auch der letzte „spezialisierte Arbeiter“ der heutigen französischen oder deutschen Industrie kommt, selbst wenn er ein besonders schlecht behandelter und bedürftiger „Gastarbeiter“ ist, in den Vorteil der planetarischen Ausbeutung des Jute- oder Kupferproduzenten in den unterentwickelten Ländern, und ist nichtsdestoweniger ein Proletarier. Die Facharbeiter, die über mehr Zeit, Geld und Ausbildung verfügen, haben in der Geschichte der Klassenkämpfe mit ihrem Los zufriedene Wähler abgegeben, aber häufi g auch extremistische Revolutionäre, im Spartakus wie in der iberischen Anarchistenföderation. Indem allein die Anhänger und Beschäftigten der reformistischen Gewerkschaftsführer als „Arbeiteraristokratie“ betrachtet wurden, wurde durch eine pseudo-
wirtschaftswissenschaftliche Polemik die wirkliche wirtschaftspolitische Frage nach der äußeren Kaderbildung für die Arbeiter verdeckt. Die Arbeiter haben für ihren unerlässlichen ökonomischen Kampf ein unmittelbares Bedürfnis nach Zusammenhalt. Die Erfahrung, wie sie diesen Zusammenhalt selbst herstellen können, beginnen sie in den großen Klassenkämpfen zu machen, die für alle im Konflikt befindlichen Klassen immer zugleich auch politische Kämpfe sind. In den täglichen Kämpfen jedoch – dem „primum vivere“ der Klasse -‚ die lediglich Kämpfe wirtschaftlicher oder ökonomischer Natur zu sein scheinen, haben die Arbeiter diesen Zusammenhalt zunächst durch eine bürokratische Führung erhalten, die sich in diesem Stadium in der Klasse selbst rekrutiert hat. Die Bürokratie ist eine alte Erfindung des Staates. Die Bourgeoisie hat, als sie sich des Staates bemächtigte, zunächst die staatliche Bürokratie in ihren Dienst gestellt und erst später die Bürokratisierung der Industrieproduktion durch Manager entwickelt, diese beiden Formen der Bürokratie gehörten zu dem ihr eigenen Bereich, dienten ihr direkt. Erst in einem späteren Stadium ihrer Herrschaft benutzte die Bourgeoisie auch die untergeordnete, rivalisierende Bürokratie, die sich auf der Grundlage der Arbeiterorganisationen gebildet hatte, und sogar, auf der Ebene der Weltpolitik und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der heutigen Aufgabenteilung des Kapitalismus, die totalitäre Bürokratie, die in mehreren Ländern die Wirtschaft und den Staat zu eigen besitzt. Von einem bestimmten Punkt der allgemeinen Entwicklung eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes und seines Vorhersehungs-Staates an, betrauen selbst die in der Auflösung befindlichen Klassen, die sich mit keiner Bürokratie ausstatten konnten, weil sie sich aus isolierten unabhängigen Produzenten zusammensetzten und lediglich die begabtesten ihrer Söhne in die niederen Grade der Staatsbürokratie entsandten – Bauern, handeltreibende Kleinbourgeoisie -‚ mit ihrer Verteidigung, angesichts der allgemeinen Bürokratisierung und Verstaatlichung der konzentrierten modernen Wirtschaft, einige besondere Bürokratien: Gewerkschaften „junger Landwirte“, landwirtschaftliche Kooperativen, Verteidigungsbündnisse der Händler. Indessen bleiben die Arbeiter der Großindustrie – diejenigen, die, wie Lenin sich freute, die Disziplin der Fabrik auf mechanistische Weise auf militärischen Gehorsam, auf die Disziplin der Kaserne präpariert hätte, ein Weg, auf dem er selbst den Sozialismus in seiner Partei und in seinem Land zum Triumph verhelfen wollte, die Arbeiter, die dialektisch auch das ganze Gegenteil kennen gelernt haben -‚ sicherlich, auch ohne das ganze Proletariat zu sein, sein Zentrum selbst: weil in ihren Händen der wesentliche Teil der sozialen Produktion liegt, und weil sie sie am ehesten auf dem reinen Tisch der aufgehobenen ökonomischen Entfremdung neu aufbauen können. Jede lediglich soziologische Definition des Proletariats, ob sie nun konservativ oder linksradikal ist, verbirgt eine politische Entscheidung. Das Proletariat kann nur geschichtlich definiert werden, durch das, was es tun kann, und durch das, was es wollen kann und muß. Ebenso ist auch die marxistische Definition des Kleinbürgertums, die seitdem so häufig als blöder Witz gebraucht wurde, zunächst eine Definition, die auf der Stellung des Kleinbürgertums in den geschichtlichen Kämpfen seiner Zeit beruht, im Gegensatz zu derjenigen des Proletariats beruht sie jedoch auf dem Verständnis des Kleinbürgertums als schillernde und zerrissene Klasse, die nur nacheinander einander widersprechende Ziele wollen kann und die ständig nur den Umständen folgend von einem Lager in das andere wechselt. Das in seinen geschichtlichen Absichten zerrissene Kleinbürgertum war auch soziologisch die von allen am wenigsten definierbare und am wenigsten homogene Klasse: zu ihr konnte man einen Handwerker und einen Universitätsprofessor zählen, einen kleinen wohlhabenden Händler und einen armen Arzt, einen glücklosen Offizier und einen Briefträger, den niederen Klerus und den Schiffsführer. Heute aber ist das Kleinbürgertum, auch ohne daß all diese Berufe „en bloc“ im Industrieproletariat verschmolzen sind, von der geschichtlichen Bühne abgetreten, um sich in den Kulissen aufzuhalten, wo sich die letzten Verteidiger des vertriebenen Kleinhandels Schlagen. Es fristet nur noch ein museums-wissenschaftliches Dasein, als ritualer Fluch, den jeder Arbeiterbürokrat gewichtig all den Bürokraten entgegenschleuderte, die nicht in seiner Sekte arbeiten.
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Die Führungskräfte sind heute die Metamorphose des städtischen Kleinbürgertums unabhängiger Produzenten, das lohnabhängig geworden ist. Auch diese Führungskräfte sind untereinander sehr verschiedenartig, die wirkliche Schicht der oberen Führungskräfte jedoch, die für die anderen das illusorische Modell und das illusorische Ziel bildet, ist auf tausendfache Weise mit der Bourgeoisie verknüpft, in der sie häufiger noch aufgeht als dass sie von ihr herkommt. Die große Masse der Führungskräfte besteht aus mittleren und unteren Führungskräften, deren reale Interessen noch weniger von denen des Proletariats entfernt sind als es die des Kleinbürgertums waren – denn die Führungskraft ist nie im Besitz des Werkzeugs ihrer Arbeit-, deren gesellschaftliche Konzeptionen und deren Aufstiegsträume sich jedoch eng an die Werte und Perspektiven der modernen Bourgeoisie anlehnen. Ihre ökonomische Funktion ist wesentlich mit dem tertiären Sektor verknüpft, mit den Dienstleistungen, und ganz besonders mit dem eigentlich spektakulären Bereich des Verkaufs, der Instandhaltung und der Lobpreisung der Waren, zu denen auch die Arbeitsware selbst zählt. Das Bild der Lebensart und der Geschmacksrichtungen, die die Gesellschaft ausdrücklich für sie, ihre Mustersöhne, fabriziert, beeinflußt weitgehend die Schichten kleiner Angestellter oder Kleinbürger, die nach ihrer Umwandlung in Führungskräfte streben; und ist nicht ohne Wirkung auf einen Teil der heutigen mittleren Bourgeoisie. Die Führungskraft sagt stets „einerseits; andererseits“, denn sie weiß, daß sie als Arbeiter unglücklich ist, aber sie möchte sich vormachen, daß sie als Konsument glücklich ist. Mit Inbrunst glaubt sie an den Konsum, eben weil sie gut genug bezahlt wird, um etwas mehr zu konsumieren als die anderen, wenn auch die gleiche serienmäßige Ware: selten sind die Architekten, die die rückständigen Hochhäuser bewohnen, die sie gebaut haben, aber zahlreich sind die Verbkäuferinnen von Boutiquen des nachgemachten Luxus, die die Kleidung kaufen, für deren Vertrieb sie zu sorgen haben. Die repräsentative Führungskraft steht zwischen diesen beiden Extremen; sie bewundert den Architekten, und sie wird von der Verkäuferin imitiert. Die Führungskraft ist der Konsument „par excellence“, das heißt der Zuschauer „par excellence“. Die Führungskraft steht daher, immer unsicher und immer enttäuscht, im Zentrum des modernen falschen Bewußtseins und der gesellschaftlichen Entfremdung. Im Gegensatz zum Bourgeois, zum Arbeiter, zum leibeigenen, zum Feudalherrn fühlt sich die Führungskraft nie an ihrem Platz. Immer strebt sie danach, mehr zu sein als sie ist, und als sie sein kann. Sie ist zielstrebig und zugleich voller Zweifel. Sie ist der Mensch des Unbehagens, nie ihrer selbst sicher, was sie jedoch vortäuscht. Sie ist der absolut abhängige Mensch, der meint, er müsse die Freiheit selbst fordern, die in ihrem in mäßigem Überfluß vorhandenen Konsum idealisiert wird. Sie ist der Ehrgeizige, der ständig seiner im übrigen erbärmlichen Zukunft zugewendet ist, während sie bereits bezweifelt, ob sie ihren gegenwärtigen Platz gut genug ausfüllt. Es ist kein Zufall (vgl. „De da misre en milieu etudiant, in deutsch in „Das Elend der Studenten und der Beginn einer Epoche“), daß die Führungskraft immer ehemaliger Student ist. Die Führungskraft ist der Mensch des Mangels: ihre Droge ist die Ideologie des reinen Spektakels, des Spektakels des Nichts. Ihretwegen wird heute der Dekor der Städte geändert, für ihre Arbeit und ihre Freizeit, von den Bürohochhäusern bis zu der faden Küche der Restaurants, in denen sie laut spricht, um ihren Nachbarn zu verstehen zu geben, daß sie ihre Stimme an den Lautsprechern der Flughäfen ausgebildet hat. Sie kommt zu allem zu spät, und massenweise, und möchte doch einzig und erster sein. Diese Führungskraft ist, genau wie der Mann, und sogar häufiger noch, die Frau, die die gleiche Funktion in der Wirtschaft hat, und den dementsprechenden Lebensstil annimmt. Die alte Entfremdung der Frau, bei der von Befreiung mit der Logik und der Betonung der Sklaverei die Rede ist, wird dadurch noch von der ganzen extremen Entfremdung des Endes des Spektakels verstärkt. Die Führungskräfte tun immer so, als ob sie gewollt haben, was sie gehabt haben, ob es sich dabei um ihren Beruf oder um ihre Verbindungen handelt, und ihre versteckte angstvolle Unzufriedenheit bringt sie dahin, nicht mehr zu wollen, sondern mehr zu haben, von dem gleichen „reicher gewordenen Entzug“. Da die Führungskräfte Leute sind, die zutiefst getrennt sind, findet der Mythos vom glücklichen Paar in diesem Milieu einen fruchtbaren Boden, obwohl er, wie alles andere auch, von der drückendsten unmittelbaren Wirklichkeit widerlegt wird. Die Führungskraft beginnt im wesentlichen von neuem die traurige Geschichte des Kleinbürgers, denn sie ist arm, und möchte anderen vormachen, daß sie bei den Reichen zu Gast ist. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse unterscheidet sie jedoch diametral in mehreren Punkten, die in ihrer Existenz von erstrangiger Bedeutung sind: der Kleinbürger wollte genügsam sein, die Führungskraft muß zeigen, daß sie alles konsumierte. Der Kleinbürger fühlte sich eng den traditionellen Werten verbunden, die Führungskraft muß laufend mit den wöchentlichen Pseudo-Neuheiten des Spektakels Schritt halten. Der platte Unverstand des Kleinbürgers gründete sich auf die Religion und die Familie; derjenige der Führungskraft ist in der Strömung der spektakulären Ideologie verwässert, die ihr keine Ruhe läßt. Sie kann so weit mit der Mode gehen, daß sie das Bild der Revolution beklatscht – viele waren einem Teil der Atmosphäre der Bewegung der Besetzungen zugetan -‚ und manche unter ihnen meinen sogar heute, mit den Situationisten einverstanden zu sein.
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Das Verhalten der Prosituationisten entspricht vollständig den Strukturen dieser Existenz der Führungskräfte, und wie jenen gehört ihnen diese Existenz zunächst viel eher als ein anerkanntes Ideal anstatt als wirkliche Lebensart. Die moderne Revolution befindet sich, da sie die Partei des geschichtlichen Bewußtseins ist, im direktesten Konflikt mit diesen Anhängern und Sklaven des falschen Bewußtseins. Sie muß sie zunächst zur Verzweiflung bringen, indem sie die Schmach noch schmachvoller macht! Die Prosituationisten sind in einem Moment in Mode, wo jeder X-beliebige dafür ist, Situationen zu schaffen, die jede Umkehr unmöglich machen, und wo das Programm einer lächerlichen „sozialistischen“ westlichen Partei keck behauptet, „das leben ändern“ zu wollen. Der Prosituationist wird sich niemals scheuen zu sagen, daß er Leidenschaften erlebt, transparente Dialoge, daß er das Fest und die Liebe radikal erneuert, genauso wie die Führungskraft direkt beim Winzer ihren Wein kaufte den sie selbst auf Flaschen zieht, oder Station in Katmandu macht. Für den Prosituationisten wie für die Führungskraft sind Gegenwart und Zukunft allein vom Konsum ausgefüllt, der revolutionär geworden ist; hier handelt es sich vor allein um die Revolution der Waren, um die Anerkennung einer unaufhörlichen Reihe von Putschs, durch die die herrlichen Waren und ihre Forderungen ersetzt werden, dort handelt es sich hauptsächlich um die herrliche Ware der Revolution selbst. Überall dieselbe Einbildung der Echtheit in einem Spiels dessen von der ohnmächtigen Betrügerei noch erschwerten Bedingungen selbst von vornherein auch das geringste bisschen Echtheit absolut ausschließen. Dieselbe Künstlichkeit des Dialogs, dieselbe Pseudo-Kultur, die man sich schnell und von weitem anschaut. Dieselbe Pseudo-Befreiung der Sitten, die mit demselben Kneifen vor der Lust zusammentrifft: auf der Grundlage derselben radikalen kindischen, aber verschleierten Unwissenheit etabliert und institutionalisiert sich zum Beispiel die ständige tragikkomische Wechselwirkung von männlicher Einfältigkeit und weiblicher Verstellung. Aber über alle besonderen Fälle hinausgehend ist die allgemeine Vortäuschung ihr gemeinsames Element. Die Besonderheit des Prosituationisten liegt in der Hauptsache darin, daß er durch reine Ideen den Ramsch ersetzt, den die vollendete Führungskraft effektiv konsumiert. Den bloßen Klang der spektakulären Münze glaubt der Prosituationist leichter nachmachen zu können als diese Münze selbst; doch er wird in dieser Illusion durch die wirkliche Tatsache bestärkt, dass auch diese Waren, die der heutige Konsum zu bewundern vorgibt, mehr Lärm als Freude machen. Der Prosituationist möchte alle Eigenschaften des Horoskops besitzen: Intelligenz und Mut, Verführung und Erfahrung, etc., und wundert sich, er, der nie daran gedacht hat, diese Eigenschaften zu erlangen oder zu benutzen, daß die geringste Praxis immer noch seine märchenhafte Erzählung durch den traurigen Zufall über den Haufen wirft, daß er es nicht einmal verstanden hat, sie vorzutäuschen. Ebensowenig hat die Führungskraft jemals irgend einem Bourgeois oder irgendeiner Führungskraft weismachen können, daß sie mehr ist als eine Führungskraft.
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Der Prosituationist kann natürlich die Wirtschaftsgüter nicht verschmähen, über die die Führungskraft verfügt, da sich sein gesamtes Alltagsleben nach demselben Geschmack richtet. Er ist darin revolutionär, daß er sie ohne zu arbeiten haben möchte; oder sie eher noch sofort haben möchte, indem er in der antihierarchischen Revolution „arbeitet“, die die Klassen abschaffen wird. Von der leichten Entwendbarkeit der mageren Zuschüsse zum Studium getäuscht, mit deren Hilfe die heutige Bourgeoisie gerade ihre unteren Führungskräfte in den verschiedenen Klassen rekrutiert – wobei sie den Teil dieser Subsidien, der dem zeitweiligen Unterhalt von Leuten dient, die einmal aufhören, den vorgeschriebenen Weg zu gehen, ohne Schwierigkeitcn in die Gewinn- und Verlustrechnung einsetzt -‚ denkt der Prosituationist schließlich insgeheim, daß die gegenwärtige Gesellschaft ihn ganz gut ernähren müßte, obwohl er ohne Arbeit, Geld und Talent ist, allein aufgrund der Tatsache, daß er erklärt hat, ein reiner Revolutionär zu sein. Und er glaubt ferner, Anerkennung als Revolutionär zu finden, – weil er erklärt hat, Revolutionär im Reinzustand zu sein. Diese Illusionen vergehen schnell: sie dauern nur die zwei oder drei Jahre, in denen die Prosituationisten glauben können, daß sie, obwohl sie nicht wissen wie, irgendein wirtschaftliches Wunder als Privilegierte am Leben erhalten wird. Sehr wenige werden die Energie und die Fähigkeiten aufbringen, um so auf die Vollendung der Revolution zu warten, die sie unweigerlich zu einem Teil enttäuschen würde. Sie werden arbeiten gehen. Manche werden Führungskräfte sein, die meisten schlecht bezahlte Arbeiter. Von denen werden viele resignieren. Andere werden revolutionäre Arbeiter.
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In dem Moment, wo die S.I. einige Aspekte ihres eigenen Erfolgs zu kritisieren hatte, der ihr zugleich gestattete und sie verpflichtete, weiter voranzugehen, war sie besonders schlecht zusammengesetzt und kaum zur Selbstkritik in der Lage. Viele ihrer Mitglieder enthüllten sich als unfähig, wenigstens an der einfachen Fortsetzung ihrer vorangegangenen Aktivitäten persönlich teilzunehmen: für sie war es daher näherliegend, die vergangenen Verwirklichungen schon recht beachtlich zu finden, die für sie bereits unerreichbar waren, anstatt sich in der Aufhebung noch schwierigere Aufgaben zu stellen. Von 1967 an war unsere Präsenz in verschiedenen Ländern vorrangig, in denen die praktische Subversion begann, die unsere Theorie suchte, und insbesondere waren wir vom Herbst 1968 an tätig, um die Erfahrung der Bewegung der Besetzungen16 und die wichtigsten Folgerungen aus ihr im Ausland ebenso bekannt zu machen wie sie es in Frankreich waren. Diese Periode hat die Zahl der Mitglieder der S.I. erhöht, aber keineswegs ihre Qualität. Von 1970 an wurde der wesentliche Teil dieser Aufgabe glücklicherweise von autonomen revolutionären Elementen aufgenommen und stark erweitert. Die Anhänger der S. I. befanden sich – fast überall – dort, wo die autonomen und extremistischen Arbeiterkämpfe begannen, eben in den Ländern, wo die Unruhe am größten ist. Den Mitgliedern der S. I. blieb jedoch die Aufgabe, die Verantwortung für die Position der S.I. selbst zu übernehmen; und aus der neuen Epoche die notwendigen Folgerungen zu ziehen.
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Viele Mitglieder der S.I. kannten in keiner Weise die Zeit, in der wir sagten, daß „seltsame Boten durch Europa reisen und weiter; sich treffen, unglaubliche Instruktionen überbringen“ – („I. S.“, Nr. 5, Dezember 1960). Jetzt, wo solche Instruktionen nicht mehr unglaublich sind, sondern komplexer und präziser werden, scheiterten diese Genossen fast überall dort, wo sie sie zu formulieren und zu verteidigen hatten; und mehrere zogen es sogar vor, es darauf erst gar nicht ankommen zu lassen. Neben denjenigen, die in der Tat niemals wirklich in die S.I. eingetreten waren, gab es zwei oder drei andere, die sich in ärmeren, aber ruhigeren Jahren verdient gemacht hatten, die, von dem Erscheinen selbst der von ihnen gewünschten Epoche völlig verbraucht, in der Tat aus der S.I. ausgetreten waren, aber ohne es eingestehen zu wollen. Somit mußten wir feststellen, daß mehrere Situationisten sich nicht einmal vorstellen konnten, was es hieß, neue Ideen in die Praxis einzuführen, und umgekehrt die Theorien an Hand der Tatsachen neu zu schreiben; das war es jedoch, was die S.I. fertiggebracht hatte.
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Daß einige der ersten Situationisten es verstanden haben, zu denken, Risiken auf sich zu nehmen und zu leben, oder daß unter den vielen, die verschwunden sind, mehrere durch Selbstmord oder in den Heilanstalten geendet sind, konnte sicher nicht durch Erbfolge auf jeden derjenigen, die zuletzt gekommen waren, den Mut, die Originalität und den Sinn für das Abenteuer übertragen. Die mehr oder weniger vaneigemistische Idylle – „Et in Arcadia situ ego“ – deckte durch eine Art juristischen Formalismus der abstrakten Gleichheit das Leben derjenigen, die ihre Qualität weder in der Teilnahme an der S.I. noch in irgendetwas ihrer persönlichen Existenz bewiesen haben. Indem sie diese noch bourgeoise Konzeption der Revolution aufnahmen, waren sie nichts als die Bürger der S.I. Sie waren in Wirklichkeit in allen Lagen ihres Lebens die Männer der Zustimmung; in der S.I. glaubten sie ihr Heil dadurch zu finden, daß sie alles in das schöne Zeichen der geschichtlichen Negation stellten; doch sie hatten sich damit begnügt, diese Negation selbst stillschweigend gutzuheißen. Die, die nie „ich“ und „du“ sagten, sondern immer „wir“ und „man“, befanden sich häufig noch unterhalb des politischen Aktivismus, während die S.I. von Anfang an ein sehr viel weitergestecktes und tiefergehendes Projekt war als eine bloß politische revolutionäre Bewegung. Zwei Wunder trafen zusammen die ihnen der Ordnung der Welt gemäß in ihrer diskreten, aber stolzen Ausdruckslosigkeit begründet erschienen: die S.I. sprach, und wurde von der Geschichte bestätigt. Die S.I. mußte alles für diejenigen sein, die in ihr tatenlos waren; und die selbst anderswo nicht viel erreichten. So stützten einander sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formen des Nichtvorhandenseins in der beschaulichen Einheit, die auf der Exzellenz der S.I. basierte; und die auch die Exzellenz dessen garantieren sollte, was an ihrer übrigen Existenz am deutlichsten mittelmäßig war17. Die Trübsinnigsten sprachen von Spiel, die Resigniertesten sprachen von Leidenschaft. Dies wenn auch kontemplative, Zugehörigkeit zur S.I. sollte als Beweis genügen, denn anders wäre niemand auf die Idee gekommen, ihnen Glauben zu schenken. Obgleich viele Beobachter, Polizisten oder anderes die die unmittelbare Präsenz der S.I. bei Hunderten von Störaktionen meldeten, die sich überall in der Welt sehr gut ganz allein entwickeln, den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Mitglieder der S.I. zwanzig Stunden am Tag gearbeitet, um den Planeten zu revolutionieren, müssen wir die Falschheit dieses Bildes unterstreichen. Die Geschichte wird im Gegenteil die bedeutsame Ökonomie der Kräfte verzeichnen, durch die es die S.I. verstanden hat, zu tun, was sie tut. Wenn wir also sagen, daß manche Situationisten wirklich zu wenig taten, so ist darunter zu verstehen, daß diese Leute buchstäblich fast nichts taten. Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die gut die dialektische Existenz der S.I. bestätigt: in ihr gab es keinerlei Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der Revolution oder irgendetwas anderem. Die besten Theoretiker unter uns waren stets die besten in der Praxis, und die, die als Theoretiker die traurigste Figur abgaben, standen auch am hilflosesten vor jeder praktischen Frage.
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Die Kontemplativen in der S.I. waren die vollendeten Prosituationisten, denn sie sahen ihre eingebildete Aktivität von der S.I. und von der Geschichte bestätigt. Die Analyse, die wir von dem Prosituationisten, und von seiner sozialen Stellung gemacht haben, trifft voll auf sie zu, und aus denselben Gründen: Träger der Ideologie der S.I. sind alle die, die es nicht verstanden haben, selbst die Theorie und die Praxis der S.I. zu leiten. Die 1967 ausgeschlossenen „Garnautins“ stellten den ersten Fall des prosituationistischen Phänomens in der S.I. selbst dar; aber dieses Phänomen hat sich in der Folge noch verbreitet. Die neidvolle Unruhe des vulgären Prosituationisten ersetzten unsere Kontemplativen anscheinend durch den ungestörten Genuß. Doch die Erfahrung ihres eigenen Njchtvorhandenseins, die in Widerspruch zu den Forderungen nach geschichtlicher Aktivität tritt, die in der S.I. vorhanden sind – nicht allein in ihrer Vergangenheit, sondern auch vervielfacht durch die Ausweitung der gegenwärtigen Kämpfe führte zu ihrer ängstlichen Verstellung; bewirkte, daß sie noch übler dran waren als die Prosituationisten draußen. Die Rangordnung, die in der S.I. existierte, war von einem neuen Typ, war verkehrt: die, die sich ihr fügten, verschleierten sie. Sie hofften, in Angst und Sorge vor ihrem drohenden Ende, sie solange wie möglich dauern zu lassen, in fälschlicher Leichtfertigkeit und scheinbarer Unschuld, denn mehrere glaubten auch zu spüren, daß die Zeit für einige geschichtliche Belohnungen kommt; und sie haben sie nicht gehabt.
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Wir waren da, um das Spektakel zu bekämpfen, nicht um es zu regieren. Die Verschlagensten unter den Kontemplativen glaubten, daß die Verbundenheit aller mit der Soiree verlangte, daß ihre Zahl oder, in ein oder zwei Fällen, ihr Ansehen geschont würde. Da, wie überall anders, haben sie sich getäuscht. Dieser „Parteipatriotismus“ hat in der wirklichen revolutionären Aktion der S.I. keine Grundlage. – „Die Situationisten sind keine besondere Partei. (…) Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.“ („Avviso al proletariato italiano sulle possibilita presenti della rivolutione Soziale“, 19. November 1969) -‚und nie ist die S.I. etwas gewesen, das der Schonung bedarf18; um so weniger in der gegenwärtigen Epoche. Die Situationisten haben sich in einem sehr rauhen Jahrhundert frei eine sehr harte Spielregel gegeben; und sie haben sich ihr normalerweise gefügt. Es galt daher die unnützen Schwätzer hinauszuwerfen, die nur zu sprechen wußten, um über das zu lügen, was sie waren, und um gloriose Versprechen über das zu wiederholen, was sie niemals sein konnten.
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Wenn es der S.I. passiert ist, daß sie als revolutionäre Organisation an sich angeschaut wurde, die die geisterhafte Existenz der reinen Idee der Organisation besitzt, und die für viele ihrer Mitglieder eine äußere Einheit bildete, gesondert von dem, was die S.I. tatsächlich erreicht hat, und zugleich gesondert von dem, was sie persönlich nicht erreicht haben, aber von hoch oben diese widersprüchlichen Wirklichkeiten überdeckte, dann offensichtlich deswegen, weil solche Schauleute weder begriffen haben noch wissen wollten, was eine revolutionäre Organisation sein kann, und nicht einmal, was die ihrige hätte sein können. Dieses Unverständnis wurde seinerseits durch die Unfähigkeit erzeugt, in der Geschichte zu denken und zu handeln, und durch den individuellen Defätismus, der eine solche Unfähigkeit beschämt anerkennt und sie nicht überwinden, sondern verschleiern möchten Diejenigen, die anstatt ihre wirklichen Persönlichkeiten in der Kritik und der Entscheidung über das, was die Organisation in jedem Moment tut und tun könnte, zu behaupten und zu entwickeln, faul die systematische Zustimmung wählten, haben nichts anderes gewollt, als diese Äußerlichkeit durch ihre eingebildete Identifizierung mit dem Ergebnis zu verbergen.
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Die Unwissenheit über die Organisation ist die zentrale Unwissenheit über die Praxis; und wenn sie gewollte Unwissenheit ist, drückt sie lediglich die ängstliche Absicht aus, sich aus dem geschichtlichen Kampf herauszuhalten und dabei trotzdem mit Vorliebe an den Sonn- und Urlaubstagen als unterrichtete und anspruchsvolle Zuschauer abseits spazieren zu gehen. Der Irrtum über die Organisation ist der zentrale praktische Irrtum. Wenn er beabsichtigt ist, zielt er darauf ab, die Massen zu benutzen Wenn nicht, ist er zumindest vollständiger Irrtum über die Bedingungen der geschichtlichen Praxis. Er ist folglich grundlegender Irrtum in der Theorie selbst der Revolution.
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Die Theorie der Revolution ist sicher nicht die alleinige Domäne wissenschaftlicher Kenntnisse im eigentlichen Sinn, und noch weniger hat sie es mit der Herstellung eines spekulativen Werks oder der Ästhetik der Brandrede zu tun, die sich in dem Schein ihrer Lyrik selbst beschaut und findet, daß es bereits wärmer ist. Diese Theorie hat effektive Existenz nur durch ihren praktischen Sieg: hier „müssen die großen Gedanken große Wirkungen haben; sie müssen wie das Licht der Sonne sein, das erzeugt, was es bescheint“. Die revolutionäre Theorie ist die Domäne der Gefahr die Domäne der Ungewißheit; sie ist denen verwehrt, die die beruhigenden Gewißheiten der Ideologie wollen, einschließlich der offiziellen Gewißheit, standhafte Feinde jeder Ideologie zu sein. Die Revolution, um die es geht, ist eine Form menschlicher Beziehungen. Sie nimmt teil an der sozialen Existenz. Sie ist ein Konflikt von universellen Interessen, die die Totalität der sozialen Praxis betreffen, und darin allein unterscheidet sie sich von den anderen Konflikten. Die Gesetze des Konflikts sind ihre Gesetze, der Krieg ist ihr Weg, und ihre Operationen lassen sich eher mit einer Kunst als mit einer wissenschaftlichen Untersuchung oder einer Bestandsaufnahme guter Absichten vergleichen. Die Theorie der Revolution wird nach diesem einzigen Kriterium beurteilt, daß ihr Wissen eine Macht werden muß.
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Die revolutionäre Organisation der proletarischen Epoche wird von den verschiedenen Momenten des Kampfs definiert, in dem sie, jedesmal, erfolgreich sein muß; und sie muß auch, in jedem dieser Momente, darin erfolgreich sein, daß sie keine getrennte Macht wird. Man kann von ihr nicht sprechen, wenn man von den Kräften abstrahiert, die sie hier und jetzt einsetzt, oder von der umgekehrten Aktion ihrer Feinde. Jedesmal, wenn sie zu handeln versteht, vereint sie die Praxis und die Theorie, die ständig auseinander hervorgehen, aber nie glaubt sie, das durch einfache voluntaristische Proklamation der Notwendigkeit ihrer totalen Fusion bewerkstelligen zu können. Wenn die Revolution noch sehr weit entfernt ist, ist die schwierige Aufgabe der revolutionären Organisation vor allem die Praxis der Theorie. Wenn die Revolution beginnt, ist ihre schwierige Aufgabe, mehr und mehr, die Theorie der Praxis; dann aber hat die revolutionäre Organisation ein ganz anderes Gesicht. Dort sind nur wenige Individuen Avantgarde, und das müssen sie durch den Zusammenhang ihres allgemeinen Projekts beweisen und durch die Praxis, die es ihnen gestattet, es zu kennen und mitzuteilen; hier gehen die Arbeitermassen mit ihrer Zeit, und sie müssen sich in ihr als ihre alleinigen Besitzer behaupten, indem sie den Gebrauch der Totalität ihrer theoretischen und praktischen Waffen beherrschen, insbesondere dadurch, daß sie es ablehnen, irgendeine Macht an eine getrennte Avantgarde zu delegieren. Dort können zehn wirksame Leute für den Beginn der Selbst-Erklärung einer Epoche genügen, die in sich eine Revolution enthält, die sie noch nicht kennt, und die ihr nirgends gegenwärtig und möglich erscheint; hier muß die große Mehrheit der proletarischen Klasse alle Macht innehaben und ausüben, indem sie sich in Form von beschließenden und ausführenden permanenten Versammlungen organisiert, die nirgends auch nur irgendetwas von der Form der alten Welt und den Kräften, die sie verteidigen, fortbestehen lassen.
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Dort, wo sie sich als die Form selbst der sich revolutionierenden Gesellschaft organisieren, sind die proletarischen Versammlungen egalitär, nicht weil sich in ihnen alle Individuen mit dem gleichen Grad geschichtlicher Intelligenz befänden, sondern weil sie gemeinsam wirklich alles zu tun haben, und weil sie gemeinsam alle Mittel dazu besitzen. Die totale Strategie eines jeden Moments ist ihre unmittelbare Erfahrung: dabei haben sie alle ihre Kräfte einzusetzen und sofort auch alle Risiken auf sich zu nehmen. In den Erfolgen und Mißerfolgen des konkreten gemeinschaftlichen Unternehmens, indem sie gezwungen waren, ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen, zeigt sich die geschichtliche Intelligenz ihnen allen.
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Die S.I. hat sich nie als ein Modell der revolutionären Organisation präsentiert, sondern als eine bestimmte Organisation, die sich in einer genau umrissenen Epoche mit genau umrissenen Aufgaben beschäftigt hat; aber selbst insoweit hat sie nicht alles zu sagen gewußt, was sie warm und wußte sie nicht alles zu Seine was sie sagte. Die organisatorischen Irrtümer der S.I. in ihren eigenen konkreten Aufgaben hatten ihre Ursache in den objektiven Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Epoche, und auch in den Subjektiven Unzulänglichkeiten bei unserem Begreifen der Aufgaben einer derartigen Epoche, der Grenzen, auf die wir stießen, und der Kompensationen, die sich viele Individuen auf halbem Weg zu dem geschaffen haben, was sie tun möchten und was sie tun können. Die S.I., die die Geschichte besser als irgendwer sonst in einer anti-geschichtlichen Epoche begriffen hat, hat dennoch die Geschichte zu wenig begriffen.
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Die S.I. war immer anti-hierarchisch gewesen, hat es jedoch fast nie verstanden, egalitär zu sein. Sie hat insofern recht gehabt, als sie ein anti-hierarchisches Organisationsprogramm vertrat und beständig selbst formell egalitäre Regeln befolgte, durch die allen Mitgliedern ein gleiches Entscheidungsrecht zuerkannt wurde und durch die sogar ein heftiger Druck auf sie ausgeübt wurde, von diesem Recht in der Praxis Gebrauch zu machen; aber sie hat insofern sehr unrecht gehabt, als sie die in diesem Bereich angetroffenen, teilweise unvermeidlichen und teilweise auf die Umstände zurückzuführenden Hindernisse nicht besser gesehen und nicht besser zum Ausdruck gebracht hat.
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Die Gefahr der Hierarchie, die in jeder wirklicher Avantgarde zwangsläufig präsent ist, läßt sich geschichtlich am ehesten an den Beziehungen einer Organisation nach außen ermessen, zu den Individuen oder den Massen, die diese Organisation dirigieren oder manipulieren kann. In diesem Punkt gelang es der S.I. in keiner Weise eine Macht zu werden: indem sie Hunderte ihrer erklärten oder möglichen Anhänger draußen ließ, sie oft genug zur Autonomie zwang. Wie bekannt ist, wollte die S.I. stets nur eine sehr kleine Anzahl von Individuen zulassen. Die Geschichte hat gezeigt, daß das nicht genug war, um bei allen ihren Mitgliedern im Stadium einer so weitgehenden Aktion „die Beteiligung an ihrer totalen Demokratie (…)‚ die Erkenntnis und die Selbstaneignung des Zusammenhangs ihrer Kritik (…) in der kritischen Theorie im eigentlichen Sinn und in der Verbindung dieser Theorie mit der praktischen Aktivität“ („ Minimumdefinition revolutionärer Organisationen“, angenommen von der 7. Konferenz der S.I., Juli 1966) zu garantieren. Diese Beschränkung sollte jedoch vielmehr dazu dienen, die S.I. gegen die verschiedenen Möglichkeiten der Kommandogewalt zu garantieren, die eine revolutionäre Organisation, wenn sie Erfolg hat, außerhalb ausüben kann. Die S.I. mußte sich also weniger deswegen auf eine sehr kleine Zahl von Individuen, deren Gleichheit vermutet wurde, beschränken, weil sie anti-hierarchisch ist; vielmehr war die S.I. gerade deswegen, weil sie nicht mehr als diese sehr kleine Anzahl unmittelbar in ihrer Aktion zum Einsatz bringen wollte, im wesentlichen ihrer Strategie tatsächlich anti-hierarchisch.
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Was die Ungleichheit betrifft, die sich so häufig in der S.I. manifestiert hat, und mehr als je zuvor, als sie ihre jüngste Säuberung nach sich zog. So gerät sie einerseits zur Anekdote, da es sich traf, daß eben die Situationisten, die faktisch eine hierarchische Position akzeptierten, die schwächsten waren: dadurch, daß wir in der Praxis ihr Nichts aufdeckten, haben wir noch einmal den triumphalistischen Mythos der S.I. bekämpft und ihre Wahrheit bestätigt. Andererseits muß daraus eine Lektion gezogen werden, die allgemein für die Perioden avantgardistischer Aktivitäten gilt – die wir gerade erst verlassen -, Perioden, wo die Revolutionäre sich, selbst wenn sie es ignorieren wollen, gezwungen sehen, mit dem Feuer der Hierarchie zu spielen, und nicht alle wie die S.I. die Kraft haben, sich dabei nicht zu verbrennen: die geschichtliche Theorie ist nicht der Boden der Gleichheit, die Perioden der Gleichheit sind leere Blätter in ihr.
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Künftig sind die Situationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall. Alle diejenigen, die es zu sein denken, brauchen lediglich den Beweis für „die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit“ ihres Denkens anzutreten, vor der Gesamtheit der proletarischen revolutionären Bewegung, überall dort, wo sie ihre Internationale zu schaffen beginnt; und nicht mehr allein vor der S.I.. Was uns betrifft, so brauchen wir in keiner Weise mehr zu garantieren, daß solche Individuen Situationisten sind oder daß sie keine sind; denn das haben wir nicht mehr nötig‚ und das war niemals nach unserem Geschmack. Doch die Geschichte ist ein noch strengerer Richter als die S.I. Dagegen können wir garantieren, dass diejenigen keine Situationisten mehr sind, die gezwungen waren, die S.I. zu verlassen, ohne in ihr das gefunden zu haben, was sie in ihr zu finden lang und breit versichert haben – die revolutionäre Verwirklichung ihrer selbst -, und die in ihr folglich ganz normal lediglich den Knüppel gefunden haben, um von ihm geschlagen zu werden. Der Begriff selbst des „Situationisten“ wurde von uns lediglich deshalb verwandt, um bei der Wiederaufnahme des sozialen Kriegs eine gewisse Anzahl von Perspektiven und Thesen durchzubringen. Jetzt, wo das geschehen ist, mag dieses situationistische Etikett in einer Zeit, die noch Etiketten braucht, gut für die Revolution einer Epoche bleiben, aber auf ganz andere Weise. Wie im übrigen eine gewisse Anzahl von Situationisten Veranlassung finden mag, sich unmittelbar untereinander zu assoziieren – und zwar zunächst für die aktuelle Aufgabe des Übergangs aus der ersten Periode der von den Massen aufgenommenen revolutionären Parolen zu dem geschichtlichen Begreifen der Gesamtheit der Theorie, und zu ihrer notwendigen Entwicklung -, das werden die Modalitäten des praktischen Kampfes bestimmen, und kein organisatorischer Apriorismus.
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Die ersten Revolutionäre, die zu der jüngsten Krise in der S.I. intelligent geschrieben und sich dem Begreifen ihrer geschichtlichen Bedeutung am besten angenähert haben, haben bisher eine grundlegende Dimension des praktischen Aspekts der Frage vernachlässigt: die S.I. besitzt tatsächlich, aufgrund dessen, was sie getan hat, eine gewisse praktische Stärke, die sie immer nur für ihre Selbstverteidigung benutzt hat, die jedoch, falls andere sie für sich ausnutzen, unser Projekt verderben könnte. Die Anwendung der Kritik, die die S.I. so treffend auf die alte Welt angewandt hat, auf sie selbst ist ebensowenig allein eine Sache der Theorie auf einem Boden, wo unsere Theorie zudem keine Gegner fand: sie ist eine präzise kritisch-praktische Aktivität, die wir unternommen haben, indem wir die S.I. zerschlagen haben. Eine sehr kleine Anzahl von Erfolgsjägern konnte sich beispielsweise, indem sie sich die routinemäßige Unterstützung einiger redlicher Genossen sicherte, die sich allerdings von ihrer Schwäche selbst geleitet wenig scharfsichtig und wenig anspruchsvoll zeigten, daran versuchen, eine Zeitlang die Kontrolle über die S. I. zu behalten, zumindest als Gegenstand eines Prestige, mit dem sich handeln läßt. Diejenigen, die überall anderswo so wehrlos und unbedarft waren, fanden da ihre einzige Waffe und ihre einzige Bedeutung. Nur das Bewußtsein des Übermaßes ihrer Unfähigkeit hielt sie davon ab, sich ihrer zu bedienen; doch sie konnten sich dazu letzten Endes gezwungen fühlen.
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Die Orientierungsdebatte des Jahres 1970, ebenso wie die praktischen Fragen, die gleichzeitig zu lösen waren, hatten gezeigt, daß die Kritik der S.I., die bei allen eine sofortige prinzipielle Zustimmung fand, nur dadurch wirkliche Kritik werden konnte, daß sie bis zum praktischen Bruch ging, denn der absolute Widerspruch zwischen dem wiederholt bekräftigten Einverständnis und der Paralyse vieler in der Praxis -einschließlich der minimalsten Praxis der Theorie – war das Zentrum selbst dieser Kritik. Nie war in der S.I. ein Bruch so sehr vorauszusehen. Und deshalb war dieser Bruch dringend geworden. Im Verlauf der Entwicklung dieser Debatte sahen sich diejenigen, die die damals vorhandene Mehrheit der Mitglieder der S.I. bildeten eine Mehrheit, die im übrigen formlos, uneinig, untätig und ohne nennenswerte Perspektive war, von einer extremen Minderheit sehr schlecht behandelt. Auf diese Leute konnte man keine große Rücksicht mehr nehmen, ohne Lügen zu müssen. Und bekanntlich muß man „die Menschen sehr rücksichtsvoll behandeln oder beseitigen, denn sie rächen sich für leichte Beleidigungen und für schwere können sie es nicht mehr.“
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Es genügte danach zu erklären, daß eine Spaltung notwendig geworden war. Jeder hatte sich für seine Partei zu entscheiden; und jeder hatte übrigens seine Chance, denn das zu lösende Problem lag unendlich tiefer als die ins Auge springende Unzulänglichkeit des einen oder anderen Genossen. Die Tatsache, daß diese erzwungene Spaltung auf der anderen Seite keinen einzigen Spalter erzeugt hat, der sich halten konnte, ändert nichts an ihrem Charakter einer wirklichen Spaltung; sondern bestätigt ihren Inhalt selbst. In der S.I. nahm in dem Maße, wie die Zahl schrumpfte, die Handlungsfähigkeit derjenigen ab, die gerne etwas vom Status quo beibehalten hätten. Die Tatsache selbst, daß das Programm dieser Spaltung darin bestand, nicht mehr die Bequemlichkeit der Situationisten zuzulassen, die nichts von dem durchführten, was sie vorbrachten oder gegenzeichneten, machte es den anderen immer unmöglicher, in derselben Art des Bluffs weiterzumachen, ohne daß sogleich daraus die Schlüsse gezogen wurden. Diejenigen, die nicht die Mittel haben, um für das zu kämpfen, was sie wollen, oder gegen das, was sie nicht wollen, können nur kurze Zeit zahlreich sein.
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Im Gegensatz zu den vorangegangenen Säuberungen, die, unter weniger günstigen geschichtlichen Umständen, bezwecken sollten, die S.I. zu stärken, und die sie jedesmal stärker gemacht haben, bezweckte diese, sie zu schwächen. Es gibt keinen Erlöser: noch einmal war es an uns, das zu zeigen. Die Methode und die Ziele dieser Säuberung wurden natürlich von den revolutionären Elementen Außerhalb gebilligt, und zwar ohne jede Ausnahme. Man wird schnell verstehen, daß das was die S.I. in der jüngsten Zeit getan hat, während der sie ein relatives Schweigen bewahrt hat, und was in den vorliegenden Thesen erklärt wird, einen ihrer wichtigsten Beiträge zur revolutionären Bewegung bildet. Nie hat man uns in die Angelegenheiten, die Rivalitäten und den Umgang der linksradikalsten Politiker und der progressivsten Intelligentsia verwickelt gesehen. Und jetzt, wo wir uns schmeicheln können, unter diesem Gesindel die empörendste Berühmtheit erlangt zu haben, werden wir noch unzugänglicher werden, noch untergründiger. Je bekannter unsere Thesen werden, um so obskurer werden wir selbst sein.
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Die wirkliche Spaltung in der S.I. war eben die, die sich jetzt in der weiten und formlosen Bewegung der heutigen Rebellion vollziehen muß: die Spaltung zwischen einerseits der ganzen revolutionären Wirklichkeit der Epoche und andererseits allen Illusionen über sie.
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Weit davon entfernt, auf andere die ganze Verantwortung für die Fehler der S.I. zu schieben, oder sie mit Hilfe der psychologischen Besonderheiten einiger unglücklicher Situationisten erklären zu wollen, akzeptieren wir diese Fehler als einen Teil des geschichtlichen Unternehmens, das die S.I. geführt hat. Wer die S.I. schafft, wer Situationisten schafft, hat auch ihre Fehler erzeugen müssen. Wer der Epoche zu entdecken hilft, was sie vermag, ist nicht vor den Mängeln der Gegenwart sicherer und an dem unschuldig, was an Verhängnisvollem noch kommen kann. Die ganze Wirklichkeit der S.I. erkennen wir an, und insgesamt freuen wir uns, daß sie das ist.
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Man möge aufhören, uns zu bewundern, als könnten wir über unserer Zeit stehen und möge die Epoche vor sich selbst erschrecken, indem sie sich für das bewundert, was sie ist.
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Wer das Leben der S.I. betrachtet, findet darin die Geschichte der Revolution. Nichts hat sie schlecht machen können.
Guy Debord, Gianfranco Sanguinetti
1„Chotard! Begreifst Du jetzt, daß Du ein Scheißer und ein politisches Würstchen bist? (…). Wirst Du begreifen, daß es nur eine Theorie und eine Praxis des Proletariats selbst gibt; daß eine Theorie in dem Maße situationistisch ist, wie Situationisten ihre Momente und ihre Grundgedanken darlegen? (…) Die, die denken, daß die Theorie eine Zusammenstellung von Konzepten, ihren Kon zepten ist, können lediglich gegen die ‚Konzepte’ der anderen opponieren. Würde ihre Propaganda und ihre Lüge bei den Massen Erfolg haben, würden sie sich stets fragen, wie sich ein solches Phänomen ereignen konnte. Niemals wüßten sie, wem sie diesen Erfolg zuzuschreiben hätten oder gar worin dieser Erfolg besteht. (…) Niemand wird darüber erstaunt sein, daß das Proletariat die situationistische Theorie verwirklicht, wenn das für das Proletariat heißt, die Welt zu verwandeln, und das Wissen. Auch Chotard wird darüber im äußersten Fall nichterstaunt sein. Aber, was ihn erschreckt, ist, das Proletariat die situationistische Theorie verwirklicht, und nicht die seinige.”
2„Das Bewußtsein, das sich bildete (und das Wort, das ergriffen wurde), hat seinen Ursprung in den intellektuellen (und auch praktischen) Aktivitäten einer Minderheit anmaßender, aber weitblickender Rebellen: der Situationistischen Internationalen. Durch ein scheinbares Paradox, dessen Geheimnis nur die Geschichte kennt, ist, die S.I. zehn Jahre und einiges lang in unserem Land praktisch unbekannt geblieben. Das könnte die folgende Reflexion Hegels rechtfertigen: ‘Allen bedeutenden Revolutionen, die ins Auge springen, geht notwendig im Geist der Epoche eine verborgene Revolution voraus, die nicht für alle sichtbar ist und die noch weniger von den Zeitgenossen wahrgenommen werden kann und die ebenso schwer durch Worte auszudrücken wie zu begreifen ist’.” Pierre Hahn, ‚Les situationnistes‘ (Le Nouveau Planète, Nr. 22, Mai 1971).
3„’Die Gesellschaft des Spektakels’ (…) hat seit der Publizierung im Jahr 1967 bei der gesamten Ultralinken zu anhaltenden Diskussionen geführt. Dieses Werk, das den Mai 1968 voraussagte, wird von einigen als ‘Das Kapital’ der neuen Generation betrachtet.» Le Nouvel Observateur, 8. November 1971.
4„An der Werbung von heute überrascht mich, wi e sehr die Sprache, die sie benutzt, überholt ist. Sie stammt noch aus der Zeit vor dem großen Sprung der seit 1968, mehr oder weniger unter dem Gestrüpp verborgen, im Zick-Zack durch die Gesellschaft geht.(…) Die Werbung muß die Probleme der Zivilisation einbeziehen, wenn sie wirklich rentabel sein will, das heißt sie darf ,ich nicht damit zufrieden geben, kurzfristig zu verkaufen sie muß die Verbraucher mittel- und langfristig unterstützen.(…) Die Motivationsstudien – die ich als erster in Frankreich eingeführt habe – haben uns die Mittel zu einer soliden Kenntnis des Verbrauchers gegeben; sie werden jedoch im allgemeinen nur dazu benutzt, um zu dem Verbraucher in einer Weise zu sprechen, die immer noch einseitig ist. Die Werbung von morgen wird gezwungen sein, den Weg zu einer wirklichen Kommunikation zu beschreiten, wo jeder der beiden Gesprächspartner den Einfluß des anderen zuläßt und auf ihn Wert legt, in einem Dialog mit soweit wie möglich gleichen Waffen.“ Marcel Bleustein-Blanchet (Le Monde, 9.12.1971).
5Unter der Uniform unabhängiger ‚kommunistischer’ Generäle tauchten bereits wieder die Seigneurs des Krieges auf, die direkt mit der Zentralgewalt verhandeln und ihre eigene Politik machen, besonders in den Randgebieten.(…) In der Aufsplitterung der Macht in unabhängige Provinzen reproduziert sich in diesem Moment auf chinesischer Ebene der weltweite Zerfall der bürokratischen Internationalen.(…) Das Mandat des proletarischen Himmels ist ausgelaufen. ‚Internationale Situationniste‘, Nr.11 (Oktober 1967)
6„Genossen! Nur eine Bemerkung. Ich hoffe, daß uns der Genosse Gierek wirklich eine Neuerung ankündigt. In dem Fall muß er unterstützt werden. Wie? Dadurch, daß wir reden. Denn unsere einzige Waffe ist, die Wahrheit zu sagen. Von den Lügen haben wir gar nichts. Wir müssen die Diskussion weiter in diese Richtung lenken. Die Arbeiter wissen sehr gut, daß sich in unseren Führungsklassen zwei Strömungen gebildet haben. Die beiden können sich nicht ausstehen. Wenn die Strömung, die die alte Politik betrieb, wieder an Boden gewinnt, dann landen wir alle, die wir gestreikt haben, im Kittchen.“ „Wenn uns der Genosse Gierek sagt, wir sollen das Geld sparen, dann möchte ich ihm sagen, daß bei uns das Geld kostbar ist. Wir sind uns dessen bewußt. Es ist unser Blut, das an ihm klebt. Aber wir können uns von denen Geld nehmen, die zu gut leben. Genossen! Ich werde ganz klar sagen: unsere Gesellschaft teilt sich in Klassen.“ Intervention zweier Bezirksdelegierter der Schiffswerften ‚A,Warski‘ in Stettin am 24.1.71 (veröffentlicht in ‚Gierek face aux grévistes de Szczecin‘, Editions S.E.L.I.O., Paris 1971).
7„Die Bergarbeiter haben eindeutig einen fast totalen Sieg errungen.(…) Den Streikenden, die gerade noch innerhalb der Grenzen der Legalität operierten, gelang es, die Auslieferung der bereits geförderten Kohle sowie der zum Ersatz für die Kraftwerke bestimmten Heizmaterialien zu verhindern.(…) Die gewährten Lohnerhöhungen variieren zwischen 15 und 31 % und gehen daher weit über die 8 % hinaus, die die Regierung erfolgreich als Plafond gegenüber den Lohnforderungen des öffentlichen und privaten Bereichs durchgesetzt hatte.(…) Kurz, die Vereinbarung darf nicht die Bedeutung eines Präzedenzfalles haben, auf den sich andere Arbeitnehmerkategorien berufen könnten. Die Regierung hofft daher, trotzdem noch ihre Lohnpolitik retten zu können, aber qualifizierte Beobachter der ökonomischen Szene vermögen kaum zu sehen, wie Heath sich jetzt den Eisenbahnern, den Autobusfahrern, den Lehrern, den Krankenschwestern widersetzen kann, deren Forderungen zwischen 15 und 20 % und manchmal darüber liegen.“ Le Monde, 20-21. 2. 1972.
8 „In zwanzig Jahren (1950 – 1970) haben sich in Frankreich die Arbeitsunfähigkeitserklärungen wegen Geistesstörungen vervierfacht; gegenwärtig beruhen im Gebiet von Paris ein Viertel (24 %) aller Fälle von Invalidität auf solchen Leiden. (…) Eine derartige Zunahme, die in ähnlichem Ausmaß in allen sogenannten industrialisierten Ländern festgestellt wird, kann offensichtlich nicht das Resultat irgendeiner rapiden Degenerierung der Erbanlagen ihrer Bürger sein. Sie ist auch nicht, wie das in anderen Bereichen der Pathologie der Fall ist, auf einen merklichen Fortschritt in den Mitteln zur Aufdeckung von Geistesstörungen zurückzuführen. (…) Die Rolle der Psychiater besteht darin, geistigen Störungen vorzubeugen und sie zu behandeln. Sie besteht nicht darin, schlecht und recht Abhilfe in solchen kollektiven Notlagen zu schaffen, seitdem die Zahl der Fälle nicht die individuelle Störung zum Ausdruck bringt, sondern die Tatsache, daß die sozialen Strukturen dem Temperament der Mehrheit der Menschen nicht angemessen sind.“ Dr. Escoffier-Lambiotte (Le Monde, 9.2.1972).
9„Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr Verlust sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die feststehende Grundlage der früheren Gesellschaften war. (…) Doch die autonome Wirtschaft trennt sich für immer von dem Grundbedürfnis in dem Maße selbst, wie sie aus dem gesellschaftlich Unbewußten heraustritt, das von ihr abhing, ohne es zu wissen. (…) In dem Moment, wo die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die wuchs, bis sie souverän in Erscheinung trat, hat auch ihre Macht verloren.» ‘Die Gesellschaft des Spektakels’.
10„Diese Theorie erwartet keine Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet die neue Formulierung und die Verwirklichung der proletarischen Forderungen als langwierige Aufgabe.“ ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘.
11„Doch sie erheben keinen Anspruch darauf, die einzige gute Exegese von Marx zu machen: in Wirklichkeit ‚heben’ sie Marx ‚auf’ und sind, in der geläufigen Bedeutung des Wortes, keine Marxisten.(…) Es ist klar, wie sehr diese Konzeption radikal ist; der scharfe Bruch, den sie mit der gesamten linken Bewegung dieses halben Jahrhunderts vornimmt, gibt ihr einen millenaristischen, einen ketzerischen Anstrich. Von der Mitte der sechziger Jahre an, wenn nicht schon früher, wird ’der zweite proletarische Sturm gegen die Klassengesellschaft’ von den Situationisten vorausgesehen und angekündigt. ( …) In dem von ihnen erarbeiteten Stil finden sich einige Verfahren wieder, die von Hegel und dem jungen Marx benutzt wurden, wie die Umkehrung des Genitivs (Waffen der Kritik, Kritik der Waffen), sowie von dem Dadaismus (Sprechweise mit schnell aufeinanderfolgenden Verben, Worte, die in einem von der klassischen Bedeutung abweichenden Sinn gebraucht werden, etc.). Aber vor allem ist es ein Stil, der voller Ironie ist. (…) Am Vorabend des Monats Mai 1968 glauben die Situationisten, daß der entscheidende geschichtliche Moment kommt. (…) Im Verlauf der ‚Ereignisse’ der Monate Mai und Juni 1968 hatten die Situationisten die Gelegenheit, ihre Ideen bezüglich des Inhalts wie auch der Organisation anzuwenden, zunächst in dem ersten Besetzungskomitee der Sorbonne und danach in dem Komitee für die Aufrechterhaltung der Besetzungen (C.M.D.O.).“ Richard Gombin, ‚Les Origines du gauchisme‘ (Editions du Seuil, Paris, 1971).
12„Jedesmal, wenn man die Nummern der Revue ‘Internationale Situationniste’ durchliest stellt man erstaunt von neuem fest, inwieweit und wie häufig diese Besessenen Urteile gefällt und Gesichtspunkte dargelegt haben, die sich in der Folge konkret bestätigt haben.» Claude Roy ‚Les Desesperados de l‘espoir’ (Nouvel Observateur. 8. Februar 1971).
13„Die prosituationistische Rückentwicklung wurde als eine Verirrung, als der Abfall einer Bewegung, als mondän betrachtet, und nie als das, was sie wirklich war: die qualitative Schwäche der Gesamtheit, ein für der globalen Fortschritt des revolutionären Projekts notwendiger Moment, Der Situationismus ist die Jugendkrise der situationistischen Praxis, die den entscheidenden Moment einer ersten bedeutsamen extensiven Entwicklung erreicht hat, der Moment, wo sie praktisch das Spektakel beherrschen muß, das sich ihrer bemächtigt. Diese komfortable Einrichtung im Positiven ist es, die die situationistische Rolle charakterisiert; je effektiver in der Tat der objektive Platz der S.I. in der gegenwärtigen Geschichte wurde (und das gleiche gilt für alle zukünftigen revolutionären Organisationen), desto gefährlicher wurde es für jedes ihrer Mitglieder, ihre Erbschaft zu übernehmen, (…)Mai1968 war die Verwirklichung der modernen revolutionären Theorie, ihre gewichtige Bestätigung, wie er teilweise die Verwirklichung der Individuen war, die an der S.I. teilnahmen, insbesondere aufgrund des revolutionären Weitblicks, den sie in der Bewegung selbst bewiesen, Die Bewegung der Besetzungen ist jedoch für die S.I. die Folgerung aus ihrer langen praktischen Suche geblieben, ohne ihre Aufhebung zu sein, ( . ..) Während die Situationisten, die der Strömung, die sie hervorgebracht hatten, lediglich als Modell dienten, sich selbst erneut in Frage stellten, mit einer ‚Orientierungsdebatte’ begannen, die zu der Bestimmung der höheren Bedingungen ihrer Existenz führen sollte, bildeten sich die weit hinterher hinkenden Satellitengruppen allein auf der unangemessenen Basis der beschränkten Umsetzung einiger der vorangegangenen Erfahrung der S.I. entnommenen Gewißheiten in die Praxis,“ ‚Pour l‘tintelligence de quelques aspects du moment’ (anonyme Broschüre, Paris, Januar 1972).
14„Die wirkliche Kraft der situationistischen Theorie liegt darin, daß sie einsickert, wie Schweres Wasser. Machen wir weiter, aber bleiben wir dabei nicht stehen. Von neuem stellt sich die Frage der nicht dialektischen Aufhebung. Die Politik gibt keine Antwort. Das Gelände ist vermint. Sie schiebt die Frage nur hinaus. Deshalb muß alles neu begonnen werden, und insofern bin ich 1971 Situationist. Was heißt es denn, in der Internationalen zu sein! Die Arbeit der Unterwanderung der Situationisten von 1957 wiederaufnehmen. Darin besteht die Aufgabe. Das ist das, was von der S.I. bleibt. (…) Die S.I. hat recht, eine Epoche ist vorbei, vielleicht bereits das 20. Jahrhundert, und in der Tat ‚ist ihr Vorgehen das Beste, was bisher unternommen wurde, um aus dem 20. Jahrhundert herauszukommen’ ‚I.S.‘, Nr. 9). Ich bin der Überzeugung, daß die praktische und theoretische Distanz, die zwischen der Ersten Internationalen und der Situationistischen Internationalen herge stellt wurde, die gleiche ist, die es zwischen der Situationistischen Internationalen und dem herzustellen gilt, was zu tun ist. Hat sie nicht auch das Gefühl?“ Bartholomé Béhouir ‚De la conciergerie inter nationale des situationnistes‘ (Paris, August 1972)
15In dem Bild der glücklichen Vereinigung ist die wirkliche Teilung lediglich bis zur-nächsten Nicht-
Erfüllung im Konsumierbaren zurückge stellt.“ ‚Die Gesellschaft des Spektakels‘.
16„Der Beobachter kann nur über die Geschwindigkeit staunen, mit der der Funke auf die gesamte Universität und außerhalb der Universität auf die Jugend im allgemeinen übergesprungen ist. Es scheint, daß die von der kleinen Minorität echter Revolutionäre formulierten Parolen was weiß ich für undefi nierbare Wirkungen in der Seele der neuen Generation ausgelöst haben.(…) Eine Tatsache verdient besondere Beachtung: wir erleben wieder, wie schon vor fünfzig Jahren, Gruppen junger Leute, die sich ganz und gar der Revolution widmen, die mit Hilfe einer erprobten Technik die günstigen Momente abwarten können, um von ihnen beherrschte Unruhen auszulösen oder zu radikalisieren, um danach in den Untergrund zurückzukehren, die Arbeit der Unterwanderung fortzusetzen und weitere vereinzelte oder anhaltende Erschütterungen vorzubereiten, um das soziale Gebäude allmählich zum Einsturz zu bringen.“ Julien Freud, ‚Guerres et paixs‘, Nr. 4 (1968).
17„Die bewundernden oder in der Folge feindseligen Exzesse derer, die von uns als unzeitgemäß begeisterte Zuschauer sprechen, dürfen nicht durch situationistische Prahlerei verbürgt werden, die dazu beitragen würde, uns einzureden, daß die Situationisten wahre Wunder sind, die tatsächlich alles in ihrem Leben besitzen, was sie als Theorie und revolutionäres Programm angegeben oder einfach nur angenommen haben, (…) die Situationisten haben kein Monopol zu verteidigen und keine Belohnung zu erwarten. Wir haben uns an eine Aufgabe gemacht, die uns gemäß war, sie über die Jahre mal besser mal schlechter und im ganzen korrekt mit dem, was da war, fortgeführt,» Guy Debord, Nachsatz zu ‚La question de l‘organisation pour l’I.S.’ (‚Internationale Situationniste‘, Nr. 12, September 1969).
18„Die Theorie wird das fortwährende Kennen des geheimen Elends, des Geheimnisses des Elends. Sie ist deshalb auch für sich allein schon das Aufhören der Wirkung des Spektakels. (…) Die Theorie ist , wenn sie existiert, folglich sicher, daß sie sich nicht irrt. Die Theorie ist ein Subjekt, das frei von Irrtum ist. Sie läßt sich von nichts täuschen. Ihr einziger Gegenstand ist die Totalität. Die Theorie kennt das Elend als insgeheim publik. Sie kennt die geheime Publizität des Elends. Alle ihre Hoffnungen sind berechtigt. Der Klassenkampf existiert.“