Gefunden auf der Seite der Anarchistischen Buchmesse Berlin-Kreuzberg 2024
Wenn die Entleerung von Begriffen um sich greift
Da wir ja leider immer wieder mit Gruppen konfrontiert werden, die aus einer vorgeblich „anarchistischen“ Position heraus die ukrainische Seite im Krieg zwischen Russland und der Ukraine unterstützen, und im April ein Artikel (When ideology gets in the way of solidarity) erschien, in welchem sich ABC-Belarus darüber verwundert, dass sie von uns als Unterstützer des Krieges bezeichnet und deshalb nicht zur Buchmesse eingeladen wurden, nun ein paar Worte von uns dazu. Wir hatten schon mehr als einmal das fragwürdige Vergnügen mit Menschen in Diskussionen verwickelt zu werden, die sich selbst „Anarchist*Innen“ nennen und Unterstützer*Innen der ukrainischen Seite im russisch-ukrainischen Krieg, von einigen auch als Anarcho-Militarist*Innen, Anarcho-Nationalist*Innen, NATO-Anarchist*Innen und ähnliches bezeichnet – konkret ist hier die Rede von ABC-Belarus, ABC-Dresden, Operation Solidarity/Solidarity Collective und allen Gruppen, die den Krieg unterstützen –, wobei anzumerken ist, dass wir persönlich ihnen das anarchistische selbstverständlich absprechen. Dabei hat sich neben anderen Dingen gezeigt, dass sie entgegen ihrer Behauptung, die Auseinandersetzung zu suchen, dies nicht tun, sondern eben jedes Gegenargument gekonnt ignorieren und sich gewandt auf einem Niveau, das sich bisweilen getrost als populistisch und etatistisch bezeichnen lässt, bewegen. Was sie suchen, ist Zustimmung und wer die ihnen nicht gibt, wird dann des Putinismus, Westplaining etc. bezichtigt. Und auch wenn sich im Laufe der Zeit und sicherlich auch durch den Verlauf des Krieges in der Ukraine bedingt, deren Argumentation gewandelt haben, wiederholen sie sich doch im Großen und Ganzen immer wieder. Im Folgenden werden wir auf diese Argumente, so wie sie uns gegenüber geäußert und teilweise auch veröffentlicht wurden, eingehen und noch einmal verdeutlichen, warum diese Gruppen den Krieg unterstützen und trotz aller lobenswerten und wichtigen Arbeit, die sie im Bereich der Gefangenenunterstützung leisten und geleistet haben, von uns nicht als anarchistische Gefährt*Innen betrachtet werden.
Auffallend ist, dass von Seiten dieser Nationalisten im anarchistischen Gewand ständig emotional argumentiert wird. Ausgiebig wird das Leid der ukrainischen Bevölkerung und die tragischen Einzelschicksale von gefallenen Soldaten (vielleicht auch Soldat*innen, bisher haben wir nur Berichte über männlich gelesene Soldaten gehört oder gelesen), die irgendwann in ihrem Leben auch mal Anarchisten gewesen sein sollen, geschildert, überprüfen lässt sich das alles nur schwer und spielt im Grunde auch keine Rolle. Der Punkt ist vielmehr, dass hier die grauenhafte Realität des Krieges geschildert wird und zwar eines jeden Krieges. Mit Sicherheit ließen sich auch tragische Erzählungen über russische Gefallene finden, die aus Armut heraus in den Kriegsdienst getreten sind oder von russischstämmigen Bewohnern der Ukraine (die es einigen dieser Leute nach ja gar nicht geben soll, auch wenn die ukrainische Regierung 2001 immerhin noch 17,2% Russen in der Gesamtbevölkerung gezählt hat1 – also entweder liegt hier einfach bedenkliche Ignoranz oder ein Ignorieren der Fakten vor oder werden sie womöglich auch solche Quellen als russische Propaganda und Desinformation bezeichnen?), die als vermeintliche Spione und Kollaborateure massakriert, gefoltert und getötet wurden. Sind deren Leben weniger wertvoll? Oder fangen wir jetzt an in Kriegen die Toten zu zählen und auf welcher Seite mehr gezählt werden, dass sind dann die Guten, die unterstützenswerte Seite? Und wollen sie uns ernsthaft glauben machen, dass die ukrainische Armee die einzige Armee auf der Welt ist, die nur aus Saubermännern und -frauen besteht? Gut, zumindest bei der Asow-Brigade scheinen sie deren faschistische Ausrichtung nicht zu leugnen, aber zu relativieren und ihre Ausbildungslager waren ja die einzigen zu denen man leicht Zugang erhielt, weshalb sie ja doch eigentlich voll okaye Kameraden und Kameradinnen sind, mit denen man Seite an Seite kämpfen kann. Immerhin haben sie die gleichen nationalistischen Ziele und wie bei jedem Nationalismus muss man natürlich die andere Nation abwerten, in diesem Fall den „faschistischen“ Aggressor Russland und somit in einem Atemzug gleich alle Russ*Innen mit. So viel zur Solidarität, die von diesen Leuten so lautstark eingefordert wird, aber an den nationalen Grenzen haltmacht. Und das Schweigen bzw. Leugnen von Faschisten in der ukrainischen Regierung, spricht auch für sich…
Darüber hinaus wird die Grausamkeiten der russischen Soldat*Innen hervorgehoben, die alle nur skrupellose Mörder, Sadisten und Faschisten seien, deren einziges Ziel es sei, alle Ukrainer*Innen zu töten. So würde in Russland keine Zwangsrekrutierung stattfinden, weil diese gar nicht vonnöten sei, denn die russischen SoldatInnen würden alle freiwillig in den Krieg ziehen, weil sie dafür Geld bekämen. Da es diesen selbsternannten „Anarchist*Innen“ noch nicht bewusst geworden zu sein scheint und nur um das klarzustellen: Die meisten Menschen üben den widerwärtigen Beruf des Soldaten aus, weil es dafür Kohle gibt. Man muss kein Professor der Linguistik sein, um erkennen zu können, dass Soldat sich von Sold ableitet (was sich wiederum von solidus, einer byzantinischen Münze, ableitet) und Sold ist bekanntlich einfach nur ein anderes Wort für Bezahlung oder Entgelt eines bestimmten Dienstes. Allein in der Berufsbezeichnung liegt also schon die Bedeutung, dass hier jemand etwas tut, für das er oder sie Geld bekommt. Und dass in allen Armeen vor allem die aus ärmsten Verhältnissen kommenden Schichten diejenigen sind, die, keine andere Möglichkeit sehend auf legale Weise Geld zu verdienen, einen Großteil der einfachen Soldat*innen stellen, diejenigen, die dann auch als erste draufgehen, sollte einen merken lassen, dass man hier nur bedingt von Freiwilligkeit sprechen kann. Dass sich die russische Armee auch aus Migrant*Innen, die sich eine Verbesserung ihres Aufenthaltsstatus bzw. Einbürgerung erhoffen, und aus Knackis, was auch in der ukrainischen Armee der Fall ist, rekrutiert, spielt ebenfalls eine nicht unwichtige Rolle bei dieser Frage.
Und bei alldem scheint es ihnen auch gar nicht darum zu gehen, dass Leid der Menschen in den Kriegsgebieten zu lindern, wie sie vordergründig gerne behaupten. Wäre dies der Fall, dann müssten sie konsequent auch anarchistische Hilfsbataillone für alle Kriegsgebiete in der Welt fordern, denn solidarisch sollten wir mit allen unterdrückten Menschen sein, nicht zuletzt mit denen, die unter den barbarischen Kriegen des Kapitals direkt zu leiden haben. Aber nein, für sie zählt nur das Leid auf ukrainischer Seite. Besonders absurd wird es dann, wenn sogar inzwischen zugegeben wird, dass sich dieser Krieg vermutlich für die Ukraine nicht mehr gewinnen lasse und sich der Rekrutierung auf ukrainischer Seite immer mehr widersetzt werde (denn obwohl die Ukrainer*Innen angeblich alle freiwillig für die Freiheit in den Krieg ziehen, gibt es trotzdem eine Zwangsrekrutierung und entsprechenden Widerstand dagegen), alle „Anarchist*Innen in der Ukraine jedoch fest davon überzeugt seien, dass jetzt weiterkämpfen müsse, weil wenn Russland diesen Krieg gewänne, dann bedeute dies den Tod der anarchistischen Bewegung in der Region. Diese Logik von es steht so oder so der Untergang bevor und deshalb unterstützt man jetzt noch so eine Art Selbstmordaktion, in deren Folge nur noch Menschen sterben und ihre Kinder, Eltern, und Freund*Innen verlieren werden, lehnen wir ab. Denn ein regionales Ende von anarchistischen Bewegungen ist historisch schon öfter vorgekommen und weder ein neues Phänomen noch der totale Untergang, in solchen Fällen müssen diese Bewegungen dann wieder aufgebaut werden, wie es auch historisch immer wieder geschehen ist. Die Menschlichkeit, an die sie appellieren und die sie von Anarchist*Innen in aller Welt vor allem in Form von Geldspenden einfordern, zeigen sie nur sehr selektiv, die russischen Soldat*Innen, vom Kapitalismus zu Mördern und Mörderinnen gemacht, scheinen für sie keiner Menschlichkeit würdig, deren Tod belanglos. Die Russen hätten die Ukrainer schon immer gehasst schon seit Jahrhunderten… manchmal wissen selbst wir vor lauter Staunen über so viel Undifferenziertheit im Denken nicht mehr, was wir dazu noch schreiben sollen.
Am 1. Mai 2023 in Dresden konnte man unter anderem Folgendes hören: „Wir sollten dazu aufrufen, die ukrainische Bevölkerung bis an die Zähne zu bewaffnen, damit aus jedem Fenster oder jeder Tür Tausende von Kugeln gegen die Besatzer und ihre Kollaborateur*innen abgefeuert werden. Wenn viele im Westen nicht dazu bereit sind, für die Freiheit zu kämpfen – dann soll es so sein, aber zumindest die Menschen zu unterstützen, die bereit sind, es zu tun, ist eine Pflicht, die auf den Schultern aller in der so genannten ersten Welt liegt.“2 Und nach diesem martialischen Kriegsgebrüll, das wir so und in ähnlicher Form schon zu oft von Kriegstreibern zu allen Zeiten und allen Orten dieser Welt gehört haben, sind sie tatsächlich noch verwundert darüber, dass wir schreiben, dass sie den Krieg unterstützen? Und welch sinnentleerte und nur rein agitatorischen Zwecken dienende Verwendung des Begriffs Freiheit. Für welche Freiheit wird denn da gekämpft? Die kapitalistische Freiheit? Die Freiheit für den scheinbar gütigeren, menschlicheren oder gar „anarchistischeren“, um die Entleerung von Begriffen auf die Spitze zu treiben, Unterdrücker zu sterben? Dafür wollen sie, wenn man davon ausgeht, dass die Tausenden Kugeln auch treffen, „Kollaborateure“ und „Besatzer“ töten. Wer gilt denn als Kollaborateur? Menschen, die desertieren, sich der Rekrutierung entziehen? Alle Menschen, die nicht die Ukraine unterstützen? Die nationalistische Komponente trieft hier wieder einmal aus dem Wort Besatzer. Aber da Handlungen ja nicht von Bedeutung sind, sondern nur Bezeichnungen, können sie behaupten sie seien keine Nationalist*Innen, weil sie sich nicht so nennen. Und das Ganze dann noch gepaart mit Bannern und Slogans, die verdammt nach Ruhm und Ehre den Gefallenen und Märtyrerkult stinken.
Wir wissen bis heute nicht, weshalb sie denken, dass es irgendetwas mit Anarchismus zu tun hätte, eine Seite in einem Krieg zwischen zwei kapitalistischen Staaten zu unterstützen oder sein Heimatland, was auch immer das nun wieder genau sein soll, zu verteidigen. Das Proletariat hat keine Heimat, und schon gar keine, die es gegen einen anderen Nationalstaat verteidigen sollte. Auch in dem oben genannten Artikel finden wir keine Antwort auf die von ihnen selbst formulierte Frage „Unterstützt ABC-Belarus den Krieg in der Ukraine?“, es ist nur die Rede von der Ignoranz mit der ihnen begegnet werde und es werden angeblich nicht die spezielle Situation, die regionale Geschichte und die Bedingungen ausreichend in Analysen einbezogen. Was aber nun diese Besonderheiten sind, die dazu führen, dass sie denken, dass es so etwas wie eine „anarchistische Pflicht“ sei, die Ukraine in diesem Krieg zu unterstützen, darüber schweigen sie sich aus. Und wie konnte es dazu kommen, dass all diese „Anarchist*Innen“ so plötzlich über Nacht zu blühenden Patriot*Innen geworden sind? Wir wissen es nicht und kriegen auch keine Antwort darauf, aber es spielt auch keine Rolle, wie oder warum es dazu kommen konnte. Viel ausschlaggebender und bedenklicher ist es, dass es dazu kam und nun so ist. Denn allen anderen anarchistischen und revolutionären Gruppen in der Ukraine und in Osteuropa, die einen anderen Standpunkt und eine andere Haltung als diese säbelrasselnden Kriegsbefürworter haben, all denen könne man ja nicht trauen. Gut das ist schwer zu überprüfen, aber zumindest in einigen Fällen, scheint uns das alles mehr in Richtung Diffamierung und Denunziation (sollen die auch alle abgeknallt werden?) zu gehen, als dass es ein ernstgemeinter Ratschlag und Hinweis ist. Zumal ja inzwischen einige Dinge, die von diesen Gruppen veröffentlicht wurde, auch von Seiten der „anarchistischen“ Militaristen übernommen oder bestätigt wurden… Auf das Argument, dass man nun darauf setze, dass in der Armee ein revolutionäres Potential schlummere, wie es sich historisch ja in den Bildungen von Soldatenräten gezeigt habe, wollen wir gar nicht großartig eingehen. Dass eine Handvoll Anarchist*Innen dieses Potential, sofern es denn überhaupt vorhanden ist, wecken könnte, erscheint uns illusorisch und diese Illusion ist geradezu gefährlich, wenn wir den Preis, der dafür gezahlt wird, in Betracht ziehen. Wir wollen nur kurz daran erinnern, was die Ziele dieser historischen Soldatenräte waren, nämlich den kapitalistischen Krieg und den kapitalistischen Frieden revolutionär zu beenden und nicht selbstorganisiert Krieg auf Seiten eines Nationalstaates zu führen und dabei drauf zu gehen.
Für uns als Anarchist*Innen sind alle Kriege kapitalistische Kriege und Kriege des Kapitals. Das Einzige, was Kriege erzeugen, sind Verlierer, Tod, Elend und ein Haufen Profit in den Taschen der Kapitalisten. Es gilt sowohl den kapitalistischen Krieg als auch den kapitalistischen Frieden zu bekämpfen, denn beides sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Denn für was wollen denn diese „anarchistischen“ Krieger in der Ukraine kämpfen? Den kapitalistischen Normalzustand verteidigen, weil es so viel besser ist, von Ukrainerinnen und Ukrainern ausgebeutet und unterdrückt zu werden, als von Menschen, die sich als Russinnen und Russen sehen? Wir sagen dazu klar nein, das ist nicht wofür kämpfen und wenn andere das tun wollen, weil sie es für richtig halten, sollen sie es tun, aber wir werden sie dabei nicht unterstützen oder ihnen eine Plattform bieten, denn sie handeln entgegen grundlegender anarchistischer Prinzipien. Denn der Konflikt ist keiner zwischen rechts und links, sondern zwischen „für den Staat“ und „gegen den Staat“ und als Anarchist*Innen ist für uns dabei ganz klar auf welcher Seite wir stehen. Das macht uns nicht zu Ideolog*Innen oder Sektierer*Innen, wie uns so gerne vorgeworfen wird, sondern zu Verfechtern eines klaren und konsequenten Anarchismus, der nicht durch Entleerung von Begriffen und Beliebigkeit verwässert werden darf, ansonsten verliert fatalerweise auch schlussendlich der Anarchismus all seine Bedeutung und wird somit nicht nur endgültig in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, sondern nimmt eben solche pervertierten Formen und Auswüchse an, wie wir sie bei Gruppen wie ABC-Belarus, -Dresden etc. beobachten können.
Lang lebe der Verrat am Vaterland! Für die Anarchie
1https://web.archive.org/web/20111217151026/http://2001.ukrcensus.gov.ua/eng/results/general/nationality/; Das World Fact Book des CIA gibt übrigens ebenfalls die selbe Zahl an.
2https://abcdd.org/2023/05/02/1-mai-in-dresden-internationale-solidaritat/