Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels
Guy Debord
Paris, Februar-April 1988
Wie heikel eure Lage und die Umstände in denen ihr euch befindet auch immer sein mögen,verzweifelt nicht.In Umständen, wo alles zu fürchten gilt, heisst es nichts zu fürchten.Ist man von zahllosen Gefahren umgeben, so heisst es , keine zu fürchten.Ist man gänzlich ohne Mittel, so heisst es, auf alle zu zählen.Ist man überrascht , so heisst es den Feind selber zu überraschen
Sun Tse
Die Kunst des Krieges
I
Diese Kommentare werden mit Gewißheit sogleich fünfzig oder sechzig Personen zur Kenntnis gelangen, nicht wenigen angesichts der Zeiten, in denen wir leben, und bei der Behandlung von so schwerwiegenden Fragen. Aber auch, weil ich in gewissen Kreisen den Ruf eines Kenners genieße. Ebenfalls in Betracht gezogen werden muß, daß von der Elite, die sich dafür interessieren wird, die Hälfte oder annähernd die Hälfte aus Leuten besteht, denen um die Aufrechterhaltung des Systems der spektakulären Herrschaft zu tun ist, und die andere Hälfte aus solchen, die sich hartnäckig um das Gegenteil bemühen. Da ich somit äußerst aufmerksamen und unterschiedlich einflußreichen Lesern Rechnung zu tragen habe, kann ich selbstverständlich nicht in aller Offenheit sprechen. Vor allem muß ich mich in acht nehmen, nicht zu sehr irgendwen zu instruieren.
Das Unglück der Zeiten zwingt mich denn, erneut und auf eine andere Art zu schreiben. Bestimmte Elemente werden bewußt ausgelassen und der Plan recht unklar bleiben müssen. Man wird darin, wie die Unterschrift der Epoche, ein paar Köder ausgelegt finden. Unter der Bedingung, hier und da ein paar Seiten einzufügen, mag der Gesamtsinn erscheinen: so sind recht häufig dem, was Verträge offen festsetzten, Geheimklauseln hinzugefügt worden. Auch kommt es vor, daß chemische Stoffe einen unbekannten Anteil ihrer Eigenschaften erst in Verbindung mit anderen enthüllen. Im übrigen werden in dieser kurzen Abhandlung nur allzuviele Dinge zu finden sein, die zu verstehen leider ein Leichtes ist.
II
1967 habe ich in einem Buch, Die Gesellschaft des Spektakels gezeigt, was das moderne Spektakel bereits im wesentlichen war: die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen. Da den 68er Unruhen, die sich in verschiedenen Ländern in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt haben, nirgends ein Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnung gelungen ist, hat sich das Spektakel, das gleichsam spontan aus dieser hervorspringt, allenthalben weiter verstärkt. Das heißt, es hat sich nach allen Seiten bis zu den äußersten Enden hin ausgebreitet und dabei seine Dichte im Zentrum erhöht. Sogar neue Defensivtechniken hat es erlernt, wie dies gewöhnlich bei angegriffenen Mächten der Fall ist. Als ich mit der Kritik der spektakulären Gesellschaft begann, war, in Anbetracht des Augenblicks, vor allem der revolutionäre Inhalt ins Auge gefallen, den man in dieser Kritik ausmachen konnte, und natürlich wurde dieser als ihr verdrießlichstes Element empfunden. Was die Sache selber anbetrifft, so hat man mich manchmal bezichtigt, sie aus der Luft gegriffen zu haben, stets jedoch, mich bei der Einschätzung der Tiefe und Einheit dieses Spektakels und seiner tatsächlichen Aktion in Maßlosigkeit gefallen zu haben. Ich muß gestehen, daß die anderen, die im nachhinein neue Bücher zum gleichen Thema veröffentlichten, bestens gezeigt haben, das soviel gar nicht hätte gesagt werden brauchen. Sie hatten lediglich das Ganze und seine Bewegung durch ein einzelnes, statisches Detail von der Oberfläche des Phänomens zu ersetzen, wobei es der Originalität eines jeden Autors beliebte, ein verschiedenes und daher umso weniger beunruhigendes auszuwählen. Niemand hat der wissenschaftlichen Bescheidenheit seiner persönlichen Auslegung durch Hinzumengen kühner historischer Urteile Abbruch tun wollen.
Doch hat die Gesellschaft des Spektakels ihren Marsch fortgesetzt. Sie schreitet schnell voran; denn 1967 hatte sie kaum mehr als etwa vierzig Jahre hinter sich, diese aber voll ausgenutzt. Durch ihre eigene Bewegung, die zu studieren sich niemand mehr die Mühe machte, hat sie seitdem mit erstaunlichen Leistungen gezeigt, daß ihre tatsächliche Natur die war, die ich aufgezeigt hatte. Dieser Feststellung kommt freilich nicht nur ein akademischer Wert zu; denn es ist zweifellos unerläßlich, die Einheit und Artikulation dieser handelnden Kraft, die das Spektakel ist, erkannt zu haben, um von da aus suchen zu können, in welche Richtung sie sich hat verlagern können, angesichts dessen, was sie ist. Diese Fragen sind von großem Interesse: unter diesen Bedingungen wird sich zwangsläufig die Folge des Konflikts innerhalb der Gesellschaft abspielen. Das Spektakel ist heute mit Gewißheit stärker als zuvor. Was tut es mit dieser zusätzlichen Stärke? Bis zu welchem, zuvor von ihm nicht erreichten Punkt ist es vorgedrungen? Welches sind, mit einem Wort, zur Zeit seine Operationslinien? Das unbestimmte Gefühl, daß es sich hierbei um eine Art Blitzinvasion handelt, die die Leute dazu zwingt, ein äußerst verschiedenes Leben zu rühren, ist mittlerweile weit verbreitet, wird aber eher wie eine unerklärte Veränderung des Klimas oder eines anderen natürlichen Gleichgewichts empfunden; eine Veränderung angesichts derer die Ignoranz lediglich weiß, daß sie nichts zu sagen hat. Hinzu kommt, daß viele darin eine, im übrigen unvermeidbare, zivilisatorische Invasion sehen und sogar Lust haben, daran teilzunehmen. Wozu genau diese Eroberung dient und welchen Weg sie geht, wollen sie lieber nicht wissen.
Ich werde auf einige, noch wenig bekannte, praktische Konsequenzen zu sprechen kommen, die aus der schnellen Entfaltung des Spektakels während der letzten zwanzig Jahre hervorgehen. Nicht um Polemik ist es mir zu tun, bei keinem Aspekt des Problems. Diese ist nur allzu leicht und allzu unnütz geworden. Noch weniger will ich überzeugen. Auch am Moralisieren ist den vorliegenden Kommentaren nicht gelegen. Sie fassen nicht ins Auge, was wünschenswert oder schlicht vorzuziehen ist. Sie begnügen sich damit zu zeigen, was ist.
III
Nun da niemand mehr ernsthaft Existenz und Macht des Spektakels bezweifeln kann, ließe sich dagegen bezweifeln, ob man im Ernst etwas zu einer Frage hinzufügen kann, über die die Erfahrung ein so drakonisches Urteil gesprochen hat. In ihrer Ausgabe vom 19. September 1987 illustrierte die Tageszeitung Le Monde auf das Trefflichste das Motto »über das, was einmal da ist, wird nicht geredet«, regelrechtes Grundgesetz dieser spektakulären Zeiten, die, wenigstens in dieser Hinsicht, kein Land im Rückstand gelassen haben: »Daß die moderne Gesellschaft eine Gesellschaft des Spektakels ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bald wird es die zu bemerken gelten, die sich nicht bemerkbar machen. Zahllos sind die Bücher, die ein Phänomen beschreiben, das nunmehr alle Industrieländer charakterisiert, ohne die Länder zu verschonen, die der Zeit hinterherlaufen. Spaßeshalber sei hier erwähnt, daß die Bücher, die dieses Phänomen analysieren, in der Regel, um es zu beklagen, ebenfalls dem Spektakel opfern müssen, um bekannt zu werden.« Freilich wird die spektakuläre Kritik des Spektakels, die spät kommt und, zu allem Hohn, noch auf demselben Terrain »bekannt werden« möchte, es zwangsläufig bei Phrasendrescherei oder heuchlerischen Bedauernsbekundungen belassen, ebenso leer wie jene blasierte Weisheit, die in einer Zeitung den Hanswurst spielt.
Die inhaltsleere Diskussion über das Spektakel, das heißt über das, was die Eigner dieser Welt treiben, wird so durch das Spektakel selber organisiert: man legt Nachdruck auf die enormen Mittel des Spektakels, um nichts über deren umfassende Verwendung zu sagen. So wird der Bezeichnung Spektakel oft die des Mediensektors vorgezogen. Damit will man ein einfaches Instrument bezeichnen, eine Art öffentlichen Dienstleistungsbetrieb, der mit unparteiischen »Professionalismus« den neuen Reichtum der Kommunikation aller mittels Mass Media verwaltet, der Kommunikation, die es endlich zur unilateralen Reinheit gebracht hat, in der sich selig die bereits getroffene Entscheidung bewundern läßt. Kommuniziert werden Befehle, und in bestem Einklang damit sind die, die sie gegeben haben, und auch die, die sagen werden, was sie davon halten.
Die Macht des Spektakels, so wesentlich unitär, zwangsläufig zentralisierend und in seinem Geist von Grund auf despotisch, entrüstet sich des öfteren darüber, daß sich unter seiner Herrschaft eine Politik des Spektakels bildet, eine Justiz- und eine Medizin des Spektakels oder weitere, ebenso erstaunliche »Medienauswüchse«. Das Spektakel sei somit weiter nichts als ein Auswuchs des Mediensektors, dessen unbestreitbar gute Natur – dient er doch der Kommunikation – bisweilen zu Auswüchsen neigt. Recht häufig kommt es vor, daß die Herren der Gesellschaft sich von ihren Angestellten in den Medien schlecht bedient wähnen, öfter noch werfen sie dem Plebs der Zuschauer seine Neigung vor, sich rückhaltslos, ja schier bestialisch, den Medienfreuden hinzugeben. So wird, hinter einer potentiell unendlichen Vielfalt sogenannter Mediendivergenzen verborgen, was im Gegenteil das Ergebnis einer mit bemerkenswerter Zähigkeit gewollten spektakulären Konvergenz ist. So wie die Logik der Ware den Vorrang hat vor den verschiedenen, miteinander konkurrierenden Ambitionen der Warenhändler oder so wie die Logik des Krieges stets über die häufigen Modifizierungen der Waffensysteme befiehlt, so steht die strenge Logik des Spektakels allenthalben der bunten Vielfalt der Extravaganzen des Mediensektors vor.
Der bedeutendste Wandel in dem, was sich seit den letzten zwanzig Jahren ereignet hat, besteht eben in der Kontinuität des Spektakels. Diese Bedeutsamkeit rührt nicht von der Perfektionierung seines medientechnischen Instrumentariums her, welches bereits zuvor schon eine sehr hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte, sondern liegt schlicht und einfach darin, daß die spektakuläre Macht eine ihren Gesetzen gefügige Generation hat heranziehen können. Die völlig neuen Bedingungen, unter denen diese Generation im großen und ganzen tatsächlich gelebt hat, stellen ein präzises und ausreichendes Resümee dessen dar, was das Spektakel nunmehr verhindert, sowie dessen, was es gestattet.
IV
Auf rein theoretischer Ebene habe ich dem, was ich zuvor formuliert habe, nur ein Detail hinzuzufügen, dieses ist jedoch von beachtlicher Tragweite. 1967 unterschied ich zwischen zwei aufeinanderfolgenden und miteinander rivalisierenden Formen der spektakulären Herrschaft, der konzentrierten und der diffusen. Die eine wie die andere schwebte über der wirklichen Gesellschaft als ihr Ziel und ihre Lüge. Die erste stellte die um eine Führerpersönlichkeit herum zusammengefaßte Ideologie in den Vordergrund und war mit der totalitären Gegenrevolution einhergegangen, der nazistischen wie der stalinistischen. Die andere, die die Lohnabhängigen dazu anhielt, eine Wahl in einer bunten Vielfalt neuer, miteinander rivalisierender Waren zu treffen, stellte jene Amerikanisierung der Welt dar, die in den Ländern, in denen sich die Bedingungen der bürgerlichen Demokratien traditionellen Typus länger zu halten vermocht hatten, in mancher Hinsicht Angst machte, gleichzeitig aber einen großen Reiz ausübte. Eine dritte Form hat sich seitdem gebildet, eine fein abgewogene Kombination der beiden vorangegangenen, beruhend auf dem Sieg derjenigen, die sich als die stärkste erwiesen hatte, der diffusen Form. Es handelt sich um das integrierte Spektakuläre, das heute danach strebt, sich weltweit durchzusetzen.
Die Vormachtstellung, die Rußland und Deutschland bei der Bildung des konzentrierten und die die Vereinigten Staaten bei der des diffusen Spektakulären innegehabt haben, scheint durch das Zusammenspiel einer Reihe von historischen Faktoren Frankreich und Italien im Augenblick der Installation des integrierten Spektakulären zugefallen zu sein: die bedeutende Rolle der stalinistischen Partei und Gewerkschaft im politischen und geistigen Leben, die schwache demokratische Tradition, die lange Monopolisierung der Macht durch eine Regierungspartei, die Notwendigkeit, überraschend aufgetretener revolutionärer Kontestation ein Ende zu bereiten.
Das integrierte Spektakuläre tritt als konzentriert und diffus zugleich auf. Seit dieser fruchtbaren Vereinigung hat es es verstanden, die eine wie die andere Eigenschaft umfassender zu verwenden. Ihr früherer Anwendungsmodus hat sich stark geändert. Betrachten wir den konzentrierten Teil, so ist dessen Führungszentrum nunmehr geheim geworden: nie wieder wird darin ein bekannter Chef oder eine klare Ideologie zu finden sein. Was seinen diffusen Aspekt betrifft, so läßt sich sagen, daß der spektakuläre Einfluß noch nie zuvor die annähernde Totalität aller gesellschaftlich hergestellten Verhaltensweisen und Gegenstände so sehr gekennzeichnet hat. Denn der Sinn des integrierten Spektakulären ist letztlich darin zu finden, daß es sich in die Wirklichkeit integriert hat in dem Maße, wie es davon sprach und sie so rekonstruierte, wie sie davon sprach. Dergestalt, daß die Wirklichkeit ihm nicht mehr als etwas Fremdes gegenübersteht. In seiner konzentrierten Form entging dem Spektakulären der Großteil der peripheren Gesellschaft, in seiner diffusen Form ein geringer Teil und heute gar nichts mehr. Das Spektakel hat sich mit der Wirklichkeit vermischt und sie radioaktiv verseucht. Wie theoretisch leicht vorauszusehen war, hat die praktische Erfahrung der schrankenlosen Erfüllung des Willens der Warenvernunft rasch und ausnahmslos gezeigt, daß das Weltlich-Werden der Fälschung ein Fälschung-Werden der Welt bedeutet hat. Sieht man ab von einem zwar noch bedeutenden, jedoch der steten Verminderung beschiedenen Erbe an Büchern und alten Gebäuden, die, nebenbei bemerkt, immer mehr selektioniert und nach Belieben des Spektakels in Perspektive gesetzt werden, so gibt es in Kultur und Natur nichts mehr, was nicht gemäß den Mitteln und Interessen der modernen Industrie transformiert und verseucht worden wäre. Selbst zur Genetik haben die dominanten Kräfte der Gesellschaft unverwehrten Zugang.
Die Regierung des Spektakels, die nunmehr über alle Mittel zur Fälschung der gesamten Produktion, sowie der gesamten Wahrnehmung verfügt, ist zum absoluten Herrn über die Erinnerung geworden, wie auch zum unkontrollierten Herrn über die Pläne und Vorhaben, die der fernsten Zukunft Form gibt. Allenthalben regiert es allein und vollstreckt seine summarischen Urteile.
Unter solchen Umständen sehen wir, wie mit karnevalesker Heiterkeit urplötzlich ein parodistisches Ende der Arbeitsteilung ausbricht, das umso willkommener ist, als es mit der allgemeinen Bewegung des Verschwindens jeder echten Kompetenz zusammenfällt. Ein Financier wird zum Sänger, ein Rechtsanwalt zum Polizeispitzel, ein Bäcker gibt seine Lieblingsautoren zum Besten und ein Küchenchef philosophiert über die Kochzeiten als Marksteine der Weltgeschichte. Ein jeder kann plötzlich im Spektakel auftauchen, um in aller Öffentlichkeit, manchmal auch, weil er es heimlich tat, einer Tätigkeit zu frönen, die nichts mit der Spezialität gemein hat, durch die er sich ursprünglich einen Namen gemacht hat. Da wo der Besitz eines »Medienstatus« eine unendlich größere Bedeutung gewonnen hat, als der Wert dessen, was zu tun man wirklich imstande war, ist es normal, daß dieser Status leicht übertragbar ist und das Recht verleiht, auf dieselbe Art überall sonst zu glänzen. In den meisten Fällen setzen diese beschleunigten Medienteilchen ihre einfache Laufbahn in satzungsmäßig garantiertem Bewundernswerten fort. Doch kommt es vor, daß die Übergangsphase durch die Medien eine große Anzahl von Unternehmungen deckt, die offiziell voneinander unabhängig sind, insgeheim aber durch diverse AdHoc-Netze miteinander verbunden sind. So daß manchmal die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sowie die durchweg vorhersehbare Solidarität ihres Gebrauchs unter völlig neuen Formen wiedererscheinen: so kann man heutzutage zum Beispiel einen Roman veröffentlichen, um einen Mord vorzubereiten. Diese pittoresken Beispiele besagen auch, daß man sich auf niemandem wegen seines Berufs verlassen kann.
Höchstes Bestreben des Spektakels ist jedoch, daß die Geheimagenten zu Revolutionären und die Revolutionäre zu Geheimagenten werden.
V
Die bis zum Stadium des integrierten Spektakulären modernisierte Gesellschaft zeichnet sich durch die kombinierte Wirkung der folgenden fünf Hauptwesenszüge aus: ständige technologische Erneuerung; Fusion von Staat und Wirtschaft; generalisiertes Geheimnis; Fälschung ohne Replik und immerwährende Gegenwart.
Die Bewegung der technologischen Erneuerung währt schon seit langem. Sie ist ein konstituierendes Element der kapitalistischen Gesellschaft, die manchmal Industrie- oder postindustrielle Gesellschaft genannt wird. Seit ihrer letzten Beschleunigung (unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg) verstärkt sie umso besser die spektakuläre Autorität, denn durch sie erfährt ein jeder, daß er der Gesamtheit der Spezialisten mit Leib und Seele ausgeliefert ist, ihren Kalkülen und den stets zufriedenen Urteilen darüber. Die Fusion zwischen Staat und Wirtschaft ist die augenfälligste Entwicklungstendenz dieses Jahrhunderts und zumindest darin ist sie zum Motor ihrer jüngsten ökonomischen Entwicklung geworden. Die offensive und defensive Allianz, die diese beiden Mächte, Staat und Wirtschart, geschlossen haben, hat ihnen, und zwar auf allen Gebieten, die größten gemeinsamen Gewinne gesichert. Von jeder der beiden läßt sich sagen, daß sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd. Auch hat sich diese Union als äußerst förderlich für die Entwicklung der spektakulären Herrschaft erwiesen, welche seit ihrer Bildung eben nichts anderes war. Die drei letzten Wesenszüge sind die direkten Auswirkungen dieser Herrschaft in ihrem integrierten Stadium.
Das generalisierte Geheimnis steht hinter dem Spektakel, als das entscheidende Komplement zu dem, was es zeigt und, wenn man den Dingen auf den Grund geht, als seine wichtigste Operation.
Die bloße Tatsache, nunmehr ohne Replik zu sein, hat dem Falschen eine neue Qualität verliehen. Mit einem Male ist es das Echte, das fast überall zu existieren aufgehört hat oder sich bestenfalls zu einer nie beweisbaren Hypothese herabgewürdigt sieht. Das Falsche ohne Replik hat der öffentlichen Meinung endgültig den Garaus gemacht. Erst sah diese sich außerstande, sich Gehör zu verschaffen, und sehr rasch dann, sich bloß zu bilden. Selbstverständlich zieht dies bedeutende Folgen in Politik, angewandten Wissenschaften, Justiz und Kunstverstand nach sich. Die Konstruktion einer Gegenwart, in der selbst die Mode stehengeblieben ist – von der Art sich zu kleiden bis hin zu den Sängern -, die die Vergangenheit vergessen will und die nicht mehr den Eindruck erweckt, noch an eine Zukunft zu glauben, diese Konstruktion einer Gegenwart wird durch den unaufhörlichen Rundlauf der Information erreicht, die jeden Augenblick auf eine äußerst kurze Liste von stets denselben Lappalien zurückkommt, welche mit Leidenschaft als wichtige Neuigkeiten ausposaunt werden. Dagegen kommen die wirklich wichtigen Nachrichten über das, was sich wirklich ändert, nur selten und in schnellen Stößen durch. Stets haben sie das Urteil zum Gegenstand, das diese Welt über seine eigene Existenz verhängt zu haben scheint, die Etappen seiner eigenen programmierten Selbstzerstörung.
VI
Als erstes hatte es die spektakuläre Herrschaft darauf abgesehen, die Kenntnis der Geschichte im allgemeinen zu beseitigen, angefangen mit fast allen Informationen und allen vernünftigen Kommentaren zur allerjüngsten Vergangenheit. Eine so flagrante Evidenz bedarf keiner weiteren Erklärung. Das Spektakel organisiert meisterhaft die Ignoranz dessen, was passiert, und unmittelbar darauf das Vergessen von dem, was trotzdem hat ruchbar werden können. Die größte Bedeutung kommt dem zu, was am verborgensten ist. Nichts ist seit zwanzig Jahren so sehr mit kommandierten Lügen überhäuft worden wie die Geschichte des Mais 1968. Und doch sind aus einigen entmystifizierten Studien nützliche Lehren über diese Tage und ihre Ursachen gezogen worden. Diese aber sind Staatsgeheimnis.
Vor zehn Jahren bereits verlieh in Frankreich ein Staatspräsident, seitdem der Vergessenheit anheimgefallen, damals aber auf der Oberfläche des Spektakels schwimmend, naiv der Freude Ausdruck, die er bei dem Gedanken empfand, daß »wir heute in einer Welt ohne Gedächtnis leben, in der, wie auf der Wasseroberfläche, ein Bild unaufhörlich das andere jagt«. Für den, der an der Macht ist und an der Macht zu bleiben versteht, ist dies freilich genehm. Das Ende der Geschichte ist für jeden Machtapparat von heute ein angenehmes Ruhekissen. Es garantiert ihm absolut den Erfolg aller seiner Unternehmungen oder zumindest die Nachricht des Erfolgs.
Eine absolute Macht eliminiert die Geschichte umso radikaler, als ihre Interessen und Verpflichtungen dazu zwingender und vor allem je nachdem ihr bei dieser Beseitigung mehr oder minder große Schwierigkeiten erwachsen sind. Shi-Huang-Ti hat Bücher verbrennen lassen, doch alle hat er nicht verschwinden lassen können. In unserem Jahrhundert hat Stalin die Realisierung eines solchen Unterfangens weiter getrieben. Trotz aller möglichen Komplizenschaften, die er außerhalb der Grenzen seines Reichs hat finden können, blieb seiner Polizei der Zugang zu einer riesigen Zone der Welt untersagt, in der man über seinen Schwindel lachte. Das integrierte Spektakuläre hat es besser gemacht, mit brandneuen Verfahrensweisen und diesmal auf Weltebene operierend. Nun, da die Albernheit sich überall Respekt verschafft, darf darüber nicht mehr gelacht werden. Auf jeden Fall ist es unmöglich geworden, wissen zu lassen, daß man darüber lacht.
Die Domäne der Geschichte war das Erinnerbare, die Gesamtheit der Ereignisse, deren Folgen lange nachwirken würden. Untrennbar davon war sie die Erkenntnis, die überdauern mußte und – wenigstens teilweise helfen würde zu verstehen, was Neues geschehen würde: »ein Besitz von dauerndem Wert«, wie es bei Thukydides heißt. Von daher war Geschichte das Maß echter Neuheit, und wer Neuheit verkauft, dem ist daran gelegen, das Mittel, diese zu messen, beiseite zu schaffen. Wenn das Wichtige sich gesellschaftlich anerkennen läßt als das, was augenblicklich ist und im nächsten Augenblick noch sein wird, anders und gleich und stets ersetzt durch eine weitere augenblickliche Bedeutsamkeit, so kann man genausogut sagen, daß das verwendete Mittel dieser so laut tönenden Unwichtigkeit so etwas wie Ewigkeit garantiert.
Den kostbaren Vorteil, den das Spektakel aus dieser Ächtung der Geschichte gezogen hat, daraus, daß es die ganze jüngere Geschichte zur Klandestinität verurteilt hat und mit Erfolg den gesellschaftlichen Geschichtssinn in weitestem Maße der Vergessenheit hat anheimfallen lassen, dieser Vorteil liegt zuerst darin, daß es seine eigene Geschichte abdeckt: die Bewegung seiner jüngsten Welteroberung. Seine Macht erscheint bereits vertraut, so als sei sie immer schon dagewesen. Alle Usurpatoren haben vergessen machen wollen, daß sie gerade erst an die Macht gekommen sind.
VII
Mit der Zerstörung der Geschichte entrückt das zeitgenössische Ereignis selber augenblicklich in eine fabelhafte Entfernung, zwischen unüberprüfbaren Berichten, unkontrollierten Statistiken, unwahrscheinlichen Erklärungen und unhaltbare Schlußfolgerungen. Auf alle spektakulär vorgebrachten Dummheiten können stets nur Medienleute antworten, mit irgendwelchen ehrfurchtsvollen Berichtigungen oder Vorbehalten. Und selbst damit geizen sie; denn, neben ihrer ausgesprochenen Ignoranz, macht es ihnen ihre berufs- und gefühlsmäßige Solidarität mit der Oberhoheit des Spektakels und der Gesellschaft, die es ausdrückt, zur Pflicht, ja gar zum Vergnügen, nie von dieser Autorität abzuweichen, deren Majestät keine Beleidigung duldet. Vergessen wir nicht, daß jede Medienfigur durch Gehalt und andere Belohnungen und Soldgelder stets einen, mitunter mehrere Herren hat, und um seine Ersetzbarkeit weiß.
Alle Experten sind Experten von Medien und von Staats wegen und beziehen ihre Anerkennung als Experten allein daraus. Jeder Experte dient seinem Herrn; denn alle früheren Möglichkeiten der Unabhängigkeit sind von den Organisationsbedingungen der heutigen Gesellschaft fast gänzlich zunichte gemacht worden. Am besten dient selbstverständlich der Experte, der lügt. Die, die den Experten benötigen, sind aus verschiedenen Beweggründen der Fälscher und der Ignorant. Wo das Individuum von selbst nichts mehr wiedererkennt, da wiegt es der Experte ausdrücklich in Sicherheit. Einst war die Existenz von Experten für etruskische Kunst normal,und sie waren stets kompetent, da es keinen Markt für etruskische Kunst gibt. Eine Epoche jedoch, die es zum Beispiel rentabel findet, eine große Anzahl berühmter Weine chemisch zu verfälschen, wird diese nur verkaufen können, wenn sie Weinspezialisten herangebildet hat, die die Flaschen (1. Unübersetzbares Wortspiel. Das Wort Cave hat eine doppelte Bedeutung: Weinkeller und einfältiges, unwissendes Individuum. {Anm.des Übers.)) dazu bringen, ihre neuen, leichter erkennbaren Aromata zu lieben. Cervantes bemerkt, daß »unter einem schlechten Rock oft ein guter Trinker steckt«. Der Weinkenner hat oft keine Ahnung von den Regeln, die in der Kernindustrie herrschen. Die spektakuläre Herrschaft ist jedoch der Ansicht, daß, wenn sich ein Experte schon in Sachen Atomenergie über ihn lustig gemacht hat, ein anderer dies ebenso gut in Sachen Wein tun kann. So weiß man zum Beispiel, wie sehr ein Experte in Medien-Meteorologie, der Temperaturen oder Niederschläge für die nächsten zwei Tage ankündigt, Rücksichtnahme walten lassen muß, ist er doch verpflichtet, wirtschaftliche, touristische und regionale Gleichgewichte zu einer Zeit aufrecht zu erhalten, da soviele Menschen so oft auf so vielen Straßen zwischen gleichermaßen verödeten Orten hin und herfahren, und so hat er sich denn eher als Entertainer einen Namen zu machen.
Ein anderer Aspekt des Verschwindens jeglichen objektiven historischen Wissens wird bei persönlichen Reputationen jedweder Art deutlich. Diese sind geschmeidig geworden und können nach Belieben korrigiert werden von denen, die die Information in ihrer Gesamtheit kontrollieren: die Information, welche man zusammenträgt und die, davon höchst verschieden, die ausgestrahlt wird. Sie können somit ungehemmt fälschen. Denn eine geschichtliche Evidenz, von der man im Spektakel nichts mehr wissen will, ist keine Evidenz mehr. Wo ein jeder nur noch den Ruf besitzt, der ihm wohlwollend von einem spektakulären Gerichtshof wie eine Gunst zugewiesen wurde, kann die Ungnade auf dem Fuße folgen. Eine anti-spektakuläre Notorietät ist etwas höchst Seltenes geworden. Ich selber gehöre zu den letzten Lebenden, die eine solche besitzen, die nie eine andere besessen haben. Doch auch dies ist äußerst suspekt geworden. Die Gesellschaft hat sich offiziell als spektakulär proklamiert und außerhalb spektakulärer Beziehungen bekannt zu sein, heißt bereits, soviel wie ein Feind der Gesellschaft zu sein.
Es ist erlaubt, jemandes Vergangenheit von Grund auf zu ändern, radikal umzumodeln, sie im Stil der Moskauer Prozesse zu rekreieren, ohne dabei unbedingt auf die Mühen eines Prozesses zurückgreifen zu müssen. Töten kann soviel billiger sein. An falschen, möglicherweise ungeschickten Zeugen – aber sind die Zuschauer, die den Taten dieser falschen Zeugen beiwohnen, überhaupt noch imstande, die Ungeschicktheit herauszuspüren? – sowie gefälschten Dokumenten von stets hervorragender Qualität wird es den Herrschern des integrierten Spektakulären oder ihren Freunden nicht mangeln. So ist es denn unmöglich geworden, von jemandem etwas zu glauben, was man nicht selbst und direkt erfahren hat. Aber im Grunde braucht man sehr oft gar nicht mehr falsche Beschuldigungen gegen jemanden vorzubringen. Von dem Zeitpunkt an, da man den Mechanismus in Händen hält, der die einzige soziale Verifikation steuert, die die volle und universelle Anerkennung genießt, kann man sagen, was man will. Das Spektakel führt seine Beweise, indem es schlicht und einfach im Kreise geht, zum Ausgangspunkt zurückkehrt, sich wiederholt und sich ständig auf dem einzigen Terrain äußert, auf dem nunmehr weilt, was öffentlich behauptet und geglaubt werden kann, denn einzig davon wird jeder Zeuge sein. Die spektakuläre Oberhoheit kann ebenfalls leugnen, was ihr gefällt, einmal, dreimal und dann sagen, daß sie kein Wort mehr darüber verlieren will, um daraufhin von etwas anderem zu reden. Dabei weiß sie, daß sie keinerlei Gefahr läuft, gekontert zu werden, weder auf ihrem eigenen, noch auf sonst einem Terrain. Denn eine Agora gibt es nicht mehr. Es gibt keine umfassenden Gemeinschaften mehr, auch nicht solche, die sich auf Zwischenkörperschaften beschränken, auf autonome Institutionen, auf Salons oder Cafés oder auf Arbeiter eines Unternehmens, keinen Ort, an dem sich die Diskussion über die Wahrheiten, die alle Daseienden betreffen, auf Dauer der erdrückenden Präsenz des Medien-Diskurses und der verschiedenen, zu seiner Ablösung bestimmten Kräfte entledigen könnte. Kein garantiert relativ unabhängiges Urteil gibt es heute mehr von selten derer, die die Welt der Gelehrten bildeten, derjenigen, die zum Beispiel dereinst ihren Stolz in die Fähigkeit zur Verifikation legten, die es ermöglichte, dem näherzukommen, was man eine unparteiische Geschichte der Tatsachen nannte, von der man zumindest glaubte, sie verdiene es, gekannt zu werden. Selbst eine unbestreitbare bibliographische Wahrheit gibt es nicht mehr, und die Computerresümees der Karteien in den Nationalbibliotheken können umso leichter deren Spuren verschwinden lassen. Es würde auf Abwege rühren, dächte man an das, was früher Magistrate, Ärzte und Historiker waren, sowie an die bindenden Pflichten, die sie für sich, oft in den Grenzen ihrer Kompetenzen, gelten ließen: die Menschen ähneln eher ihrer Zeit als ihren Vätern.
Das, worüber das Spektakel drei Tage lang nicht mehr zu reden braucht, ist wie etwas, was es nicht gibt. Denn es spricht dann über etwas anderes, und dies ist es denn auch, mit einem Wort, das von da an existiert. Die praktischen Konsequenzen davon sind, wie man sieht, enorm.
Man glaubte zu wissen, die Geschichte sei in Griechenland zusammen mit der Demokratie in Erscheinung getreten. Feststellen läßt sich, daß diese zusammen mit jener aus der Welt verschwindet.
Ein für die Macht negatives Ergebnis muß dieser Liste ihrer Triumphe jedoch hinzugefügt werden: ein Staat, in dessen Verwaltung sich auf Dauer ein großes Defizit an historischer Kenntnis einschleicht, kann nicht mehr nach strategischen Gesichtspunkten gelenkt werden.
VIII
Im Stadium des integrierten Spektakulären angelangt, scheint die Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch ankündigt, allenthalben als eine Realisierung von anfälliger Perfektion akzeptiert zu sein. Dergestalt, daß sie nicht mehr Angriffen ausgesetzt werden darf, ist sie doch zerbrechlich – und, im übrigen perfekt wie noch keine Gesellschaft zuvor, gar nicht mehr attackierbar. Die Gesellschaft ist anfällig, weil sie die größte Mühe hat, ihre gefährliche technische Expansion zu bewältigen. Zum Regiertwerden ist sie dagegen wie geschaffen, und als Beweis dafür gilt, daß alle Regierungsanwärter sie mit den immer gleichen Methoden regieren und sie so, wie sie ist, lassen wollen. Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. Die Ware kann von niemandem mehr kritisiert werden: weder als allgemeines System, noch bloß als dieser oder jener Tand, den auf den Markt zu bringen die Firmenchefs gerade übereingekommen sind. Überall da, wo das Spektakel herrscht, sind die einzigen organisierten Kräfte die, die das Spektakel wollen. Keine von ihnen kann somit Feind dessen sein, was ist, noch kann sie gegen die allumfassende Omertà verstoßen. Es ist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann. Dies ist nicht durch das Auftreten neuer Argumente erreicht worden, sondern lediglich dadurch, daß Argumente hinfällig geworden sind. An diesem Ergebnis vermag man, eher als das allgemeine Glück, die furchtbare Macht der Ringe der Tyrannei messen.
Nie zuvor hat es eine vollkommenere Zensur gegeben. Nie zuvor ist es der Meinung derer, denen man in einigen Ländern noch glauben macht, sie seien weiterhin freie Bürger, weniger gestattet gewesen, sich zu äußern, wenn es darum geht, eine Wahl zu treffen, die ihr wirkliches Leben beeinträchtigt. Nie zuvor war es vergönnt, sie mit einer so gänzlichen Folgenlosigkeit zu belügen. Vom Zuschauer wird angenommen, daß er von nichts eine Ahnung und auf nichts Anspruch hat. Wer stets nur zuschaut, um die Fortsetzung nicht zu versäumen, der wird nie handeln: und genauso hat der Zuschauer zu sein. Oft werden als Ausnahme die Vereinigten Staaten angeführt, wo Nixon eines Tages die Folgen einer Reihe von allzu zynisch ungeschickten Leugnungen zu spüren bekam, doch diese lokal bedingte Ausnahme, die gewisse alte historische Ursachen hatte, stimmt offensichtlich nicht mehr, hat Reagan doch ungestraft dasselbe tun können. Alles, was nicht geahndet wird, ist wirklich erlaubt. Von Skandal zu reden, ist somit überkommen. Einem hohen italienischen Staatsmann, der zugleich ein Ministeramt und einen Posten im P2 – Potere Due – Schattenkabinett innehatte, wird folgender Ausspruch zugeschrieben, der am besten die Periode resümiert, in die nach Italien und den Vereinigten Staaten die ganze Welt eingetreten ist: »Skandale hat es früher gegeben, heute nicht mehr.«
Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte beschreibt Marx die ständig wachsende Rolle des Staats im Frankreich des zweiten Kaiserreichs, das damals über eine stolze halbe Million Beamte verfügte: »Alles wurde so zum Gegenstand der Regierungsaktivität gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität Frankreichs.« Die berühmte Frage der Finanzierung der politischen Parteien stellte sich bereits damals, da Marx bemerkt, daß »die Parteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudes als die Hauptbeute des Sieges betrachteten«. All dies mutet denn doch ein wenig bukolisch und, wie es heißt, altertümlich an, denn die Spekulationen des Staats von heute betreffen eher die Satellitenstädte und Autobahnen, den Tunnelverkehr und die Produktion von Atomstrom, die Suche nach Erdöl und die Elektronenrechner, die Verwaltung der Banken und Kultur-und Jugendzentren, die Änderungen in der »Medienlandschaft« und die geheime Ausfuhr von Waffen ,Bodenspekulation und pharmazeutische Industrie, Nahrungs- und Genußmittelindustrie und die Verwaltung der Krankenhäuser, Verteidigungskredite und die Geheimfonds des stetig wachsenden Departements, dem die Verwaltung der zahlreichen Schutzdienste der Gesellschaft obliegt. Und doch ist Marx leider allzu lang aktuell geblieben, wenn er in demselben Buch die Regierung beschreibt, die »nicht in der Nacht beschließt, um bei Tage auszuführen, sondern bei Tage beschließt und in der Nacht ausführt«.
IX
Diese so vollkommene Demokratie stellt selber ihren unvorstellbaren Feind her, den Terrorismus. Sie will nämlich lieber, daß man sie nach ihren Feinden und weniger nach ihren Ergebnissen beurteilt. Die Geschichte des Terrorismus wird vom Staat geschrieben; ihr kommt somit ein erzieherischer Wert zu. Selbstverständlich können die zuschauenden Bevölkerungen nicht alles über den Terrorismus wissen, stets aber genug, um überzeugt davon zu sein, daß, verglichen mit diesem Terrorismus, ihnen alles übrige eher akzeptabel zu erscheinen hat, jedenfalls rationeller und demokratischer.
Die Modernisierung der Repression hat zuerst im italienischen Pilotexperiment unter der Bezeichnung »Pentiti« vereidigte Berufsankläger entwickelt; bei ihrem erstmaligen Auftreten im 17. Jahrhundert während der Fronde-Unruhen wurden sie »urkundlich bestallte Zeugen« genannt. Dieser spektakuläre Fortschritt der Justiz hat die italienischen Gefängnisse mit Tausenden von Verurteilten bevölkert, die für einen Bürgerkrieg büßen, der nicht stattgefunden hat, eine Art riesigen bewaffneten Aufstand, dessen Stunde zufällig nie gekommen ist, ein Putschismus, gewebt aus dem Stoff, aus dem die Träume sind.
Es läßt sich hier bemerken, wie die Auslegung der Mysterien des Terrorismus scheinbar eine Art Symmetrie zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen eingeführt hat, als handele es sich bei diesen um zwei philosophische Schulen, die absolut antagonistische metaphysische Gebilde lehren. Für einige steckt hinter dem Terrorismus weiter nichts als ein paar augenfällige Geheimdienstmanipulationen, andere sind im Gegenteil der Ansicht, daß den Terroristen nur ihr völliger Mangel an Geschichtssinn vorzuwerfen ist. Bediente man sich ein wenig historischer Logik, so ließe sich recht schnell folgern, daß die Annahme, Leute, denen der Geschichtssinn schlechthin abgeht, könnten ebenfalls manipuliert sein und gar noch leichter als andere, nichts Widersprüchliches an sich hat. Auch ist es leichter, jemanden dazu zu bringen, den Kronzeugen zu spielen, wenn man ihm zeigen kann, daß man von Anfang an all das wußte, was er aus freien Stücken zu tun glaubte. Klandestine Organisationsformen militärischen Typs bringen es unvermeidlich mit sich, daß es lediglich einiger weniger Leute an bestimmten Punkten des Netzes bedarf, um viele an der Nase herumzuführen und schließlich umfallen zu lassen. Bei Fragen der Einschätzung bewaffneter Kämpfe hat die Kritik manchmal eine besondere dieser Operationen zu analysieren, ohne sich durch die allgemeine Ähnlichkeit, die allen möglicherweise eigen ist, in die Irre rühren zu lassen. Es steht übrigens zu erwarten, daß die Schutzdienste des Staates, und das ist logisch wahrscheinlich, daran denken, alle Vorteile auszunutzen, die sie auf dem Terrain des Spektakels antreffen, welches eben seit langem schon dafür organisiert worden ist. Das es so schwer ist, auf diesen Gedanken zu kommen, verwundert und klingt falsch.
Gegenwärtig ist der Repressivjustiz auf diesem Gebiet natürlich daran gelegen, so schnell wie möglich zu verallgemeinern. Worauf es bei dieser Art von Ware ankommt, ist die Verpackung oder das Etikett: die Streifbandcodes. Jeder Feind der Demokratie ist einem anderen gleich, so wie eine spektakuläre Demokratie einer anderen gleich. Vom Asylrecht für Terroristen kann denn auch keine Rede mehr sein, und selbst wenn man ihnen nicht zur Last legt, Terrorist gewesen zu sein, so werden sie sicherlich solche werden, und die Ausweisung tut not. Anhand des Falls Gabor Winter, eines jungen Typographen, den die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich der Abfassung einiger revolutionärer Flugblätter bezichtigte, hat Fräulein Nicole Pradain, Staatsanwältin beim Pariser Berufungsgericht, geschwind aufgezeigt, daß »politische Motive«, der einzige Grund, bei dem die deutsch-französischen Konvention vom 29. November 1951 die Auslieferung nicht gestattet, hier nicht in Frage kamen: »Gabor Winter ist kein politischer, sondern ein Sozialdelinquent. Er lehnt gesellschaftliche Zwänge ab. Ein echter politischer Straftäter steht der Gesellschaft nicht ablehnend gegenüber. Er geht gegen die politischen und nicht, wie Gabor Winter, gegen die gesellschaftlichen Strukturen an.« Dem Begriff des ehrbaren politischen Verbrechens ist in Europa erst Anerkennung zuteil geworden, als die Bourgeoisie mit Erfolg die alten etablierten gesellschaftlichen Strukturen angegriffen hatte. Die Bezeichnung des politischen Verbrechens war untrennbar verbunden mit den verschiedenen Absichten der Gesellschaftskritik. Dies galt für Blanqui, Varlin und Durruti. Heute gibt man sich den Anschein, als wolle man, wie einen leicht erschwinglichen Luxus, ein rein politisches Delikt beibehalten, das zu begehen mit Sicherheit keiner mehr die Gelegenheit haben wird, sieht man einmal von den Polit-Profis selber ab, deren Delikte jedoch stets straffrei ausgehen und im übrigen die Bezeichnung politisch nicht verdienen. Tatsächlich sind alle Delikte und Verbrechen sozialer Natur. Von allen Sozialverbrechen darf jedoch keines für schlimmer erachtet werden als die impertinente Anmaßung, etwas ändern zu wollen in dieser Gesellschaft, die der Meinung ist, bislang nur allzu geduldig und gutmütig gewesen zu sein und die sich nunmehr jeglichen Tadel verbittet.
X
Die Auflösung der Logik ist, gemäß den fundamentalen Interessen des neuen Herrschaftssystems, mit verschiedenen Mitteln betrieben worden, die operierten, indem sie sich stets gegenseitig Beistand leisteten. Mehrere dieser Mittel entstammen dem technischen Instrumentarium, die das Spektakel erprobt und popularisiert hat. Andere rühren eher von der Massenpsychologie der Unterwerfung her.
Wenn auf technischer Ebene das von jemand anderem erstellte und ausgewählte Bild die Hauptbeziehung des Individuums mit der Welt darstellt, die zuvor von ihm selber von jedem ihm zugänglichen Ort aus betrachtet wurde, dann ist klar, daß das Bild alles tragen wird, kann man doch darin alles und jedes widerspruchslos gegenüberstellen. Der Fluß der Bilder reißt alles mit sich fort, und wiederum ist es ein anderer, der nach seinem Gutdünken dieses vereinfachte Resümee der sinnlich wahrnehmbaren Welt regiert; der bestimmt, wohin dieser Strom zu fließen hat und der den Rhythmus dessen angibt, was darin zur Geltung kommen soll, als ständige willkürliche Überraschung, keine Zeit zum Nachdenken gewährend und völlig unabhängig von dem, was der Zuschauer davon verstehen oder denken mag. In dieser konkreten Erfahrung der permanenten Unterwerfung liegt die psychologische Wurzel der allgemein vorherrschenden Zustimmung zu dem, was da ist, Zustimmung, die darauf hinausläuft, ihm ipso facto hinreichenden Wert zuzusprechen. Über das hinaus, was im eigentlichen Sinne geheim ist, verschweigt der spektakuläre Diskurs natürlich alles, was ihm nicht paßt. Er sondert, von dem, was er zeigt, stets die Umgebung, die Vergangenheit, die Absichten und die Konsequenzen ab. Er ist somit völlig unlogisch. Da ihm niemand mehr widersprechen kann, hat das Spektakel das Recht, sich selbst zu widersprechen, seine Vergangenheit zu korrigieren. Das hochmütige Gebaren seiner Diener, wenn sie eine neue und vielleicht noch verlogenere Version bestimmter Tatsachen abgeben müssen, besteht darin, daß sie barsch die Unwissenheit und die falschen Auslegungen, die sie ihrem Publikum zuschreiben, korrigieren, während sie es doch waren, die mit ihrer gewohnten Dreistigkeit am Vortag eiligst diesen Irrtum verbreiteten. Die Unterweisung des Spektakels und die Unwissenheit des Zuschauers gelten ungebührlicherweise als antagonistische Faktoren, wo sie doch auseinander hervorgehen. Die binäre Sprache des Computers stellt gleichfalls einen unwiderstehlichen Anreiz dar, jederzeit und vorbehaltlos zu akzeptieren, was nach jemand anderes Gutdünken programmiert wurde und sich als zeitlose Quelle einer höheren, unparteiischen und totalen Logik ausgibt. Was für ein Zeitgewinn, was für eine Wortersparnis, um über alles ein Urteil abgeben zu können! Politisch oder sozial? Bitte wählen. Was das eine ist, kann nicht das andere sein. Meine Wahl drängt sich auf. Man pfeift uns zurück, und für wen diese Strukturen sind, wissen wir. So nimmt es nicht wunder, wenn von Kindesbeinen an die Schüler mühelos und begeistert mit dem Absoluten Wissen der Computer beginnen, während sie zunehmend das Lesen verlernen, welches ein wirkliches Urteil bei jeder Zeile voraussetzt und das ihnen einzig den Zugang zu der umfassenden präspektakulären Erfahrung der Menschheit verschaffen kann. Denn die Konversation ist so gut wie tot, und tot werden bald auch die sein, die zu konversieren verstanden.
Was das Denkvermögen der heutigen Bevölkerung anbetrifft, so ist klar ersichtlich, daß die Hauptursache für dessen Dekadenz darin zu finden ist, daß keiner der im Spektakel gezeigten Diskurse Platz für eine Antwort läßt; und gesellschaftlich gebildet hatte sich die Logik nur über den Dialog. Eine weitere Ursache ist, daß mit dem wachsenden Respekt vor dem, was im Spektakel spricht und für wichtig, reich und glänzend, für die Autorität schlechthin gehalten wird, sich bei den Zuschauern die Neigung breitmacht, genauso unlogisch wie das Spektakel sein zu wollen, um einen individuellen Abglanz dieser Autorität zur Schau zu tragen. Schließlich ist Logik nicht so einfach, und niemand hat sie ihnen beibringen wollen. Ein Drogensüchtiger studiert nicht Logik: zum einen, weil er sie nicht braucht, und zum anderen, weil er nicht mehr die Möglichkeit dazu hat. Diese Trägheit des Zuschauers ist ebenfalls die jedes x-beliebigen intellektuellen Kaders, die des schnell herangebildeten Spezialisten, der in allen Fällen versuchen wird, die engen Grenzen seiner Kenntnisse dadurch zu kaschieren, daß er dogmatisch irgendein Argument wiederholt, hinter dem eine unlogische Autorität steht.
XI
Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge sind die, die das größte Unvermögen in Sachen Logik gezeigt haben, eben die, die sich Revolutionäre nennen. Dieser ungerechtfertigte Vorwurf entstammt einer früheren Epoche, in der fast alle mit einem Mindestmaß an Logik dachten, mit der eklatanten Ausnahme der Kretins und der politischen Aktivisten; und bei letzteren kam oft Unaufrichtigkeit dazu, die gewollt war, weil sie für wirksam gehalten wurde. Heute läßt sich jedoch die Tatsache nicht unter den Tisch kehren, daß der intensive Gebrauch des Spektakels, wie zu erwarten war, die Mehrheit der Zeitgenossen zu Ideologen gemacht hat, wenngleich auch nur stoßweise und bruchstückhaft. Der Mangel an Logik, d. h. der Verlust der Möglichkeit, augenblicklich zu erkennen, was von Belang und was unerheblich ist oder nicht zur Sache gehört, was unvereinbar oder im Gegenteil komplementär sein könnte, alles was diese oder jene Konsequenz beinhaltet und sie damit ausschließt, diese Krankheit ist bewußt von den Anästhesisten des Spektakels in hohen Dosen in die Bevölkerung injiziert worden. Die Kontestatäre sind mitnichten irrationeller gewesen als die, die sich unterworfen haben. Nur tritt bei jenen diese allgemeine Irrationalität stärker zutage, denn dadurch, daß sie ihr Vorhaben offen bekunden, haben sie versucht, eine praktische Operation durchzuführen, und sei es nur das Lesen bestimmter Texte, wobei sie so tun, als hätten sie deren Sinn verstanden. Sie haben sich diverse Pflichten zur Beherrschung der Logik auferlegt, bis hin zur Strategie, die das Feld ist, auf dem sich die dialektische Logik der Konflikte voll und ganz entfaltet. Dabei fehlt ihnen jedoch, genauso wie den anderen übrigens, schlicht die Fähigkeit, sich nach den alten und unvollkommenen Instrumenten der formellen Logik zu orientieren. Was bei diesen außer Zweifel steht, kommt einem bei den anderen nicht in den Sinn.
Das Individuum, welches dieses verarmte spektakuläre Denken zutiefst geprägt hat, und mehr als jedes andere Element seiner Entwicklung, stellt sich so von Anbeginn in den Dienst der etablierten Ordnung, mag seine Absicht auch das glatte Gegenteil dieses Resultats gewesen sein. Es wird im Wesentlichen der Sprache des Spektakels folgen, denn diese ist die einzige, mit der es vertraut ist, die, in der man ihm das Sprechen beigebracht hat. Mag es sich auch als Gegner seiner Rhetorik zeigen wollen, so wird es dennoch seine Syntax verwenden. Hierin liegt einer der bedeutendsten Erfolge, den die spektakuläre Herrschaft erzielt hat.
Das so rasche Verschwinden des vormalig existierenden Vokabulars ist lediglich ein Moment dieser Operation. Es leistet ihr Vorschub.
XII
Die Auslöschung der Persönlichkeit begleitet unvermeidlich die konkret den spektakulären Normen unterworfenen Existenzbedingungen. Eine Existenz, die so stets immer mehr von den Möglichkeiten getrennt ist, authentische Erfahrungen zu machen und dadurch seine individuellen Neigungen zu entdecken. Paradoxerweise hat sich das Individuum permanent zu verleugnen, wenn es in einer solchen Gesellschaft auf ein wenig Wertschätzung aus ist. Diese Existenz postuliert nämlich eine ständig wechselnde Treue, eine Folge von stets enttäuschenden Zustimmungsbekundungen zu täuschenden Produkten. Es gilt, rasch hinter der Inflation der entwerteten Zeichen des Lebens hinterherzulaufen. Drogen helfen dabei, sich mit diesem Sachverhalt abzufinden, Wahnsinn, ihm zu entfliehen.
In allerhand Unternehmungen dieser Gesellschaft, in der sich die Güterverteilung derartig zentralisiert hat, daß sie zugleich offenkundig und geheim über die bloße Definition dessen gebietet, was gut ist, kommt es vor, daß man manchmal bestimmten Personen Eigenschaften, Kenntnisse und gar Laster zuschreibt, die völlig aus der Luft gegriffen sind, um durch diese Ursachen die zufriedenstellende Entwicklung bestimmter Unternehmungen zu erklären, mit dem einzigen Ziel, die Funktion der verschiedenen, über alles entscheidenden Übereinkünfte zu verbergen oder zumindest sie so gut es geht zu bemänteln.
Doch trotz der vielfach bekundeten Absichten und der gewichtigen Mittel, mit denen sie das volle Maß bemerkenswerter Persönlichkeiten in ein helles Licht setzen will, zeigt die Gesellschaft von heute – und zwar nicht nur durch das, was heute an die Stelle der Künste getreten ist, oder durch die Diskurse hierzu -viel öfter das Gegenteil: eine völlige Unfähigkeit stößt mit einer anderen, vergleichbaren Unfähigkeit zusammen, sie werden kopfscheu, und eine sucht vor der anderen ihr Heil in der Flucht. Es kommt vor, daß ein Rechtsanwalt vergißt, daß er in einem Prozeß lediglich der Vertreter einer Sache zu sein hat und sich aufrichtig durch die Argumentationsweise des Anwalts der Gegenpartei beeinflussen läßt, selbst wenn diese Argumentationsweise genausowenig zwingend wie die eigene war. Auch kommt es vor, daß ein zu Unrecht Verdächtigter momentan ein Verbrechen gesteht, daß er nicht begangen hat, und zwar einzig deshalb, weil er sich durch die Logik der Hypothese eines Denunzianten, der an seine Schuld glauben wollte, hat beeinflussen lassen (Fall des Doktors Archambeau l984 in Poitiers).
Der erste Apologet des Spektakels, McLuhan höchstpersönlich, der der überzeugteste Dummkopf des Jahrhunderts schien, hat seine Meinung geändert, als er 1976 endlich entdeckte, daß »der Druck der Massen-Medien zum Irrationalen drängt« und daß es angeblich Not täte, deren Gebrauch zu mindern. Der Denker aus Toronto hatte zuvor mehrere Jahrzehnte damit verbracht, ob der zahllosen Freiheiten in Verzückung zu geraten, die dieses »Weltdorf« mit sich brachte und die einem jeden augenblicklich und mühelos zur Verfügung standen. Im Gegensatz zu den Städten sind die Dörfer stets von Konformismus, Isolierung, kleinlicher Bespitzelung, Langeweile und dem stets wiedergekäuten Tratsch über einige wenige und immer dieselben Familien beherrscht worden. Und so nimmt sich denn auch die Vulgarität des spektakulären Planeten aus, in der es unmöglich ist, die Dynastie der Grimaldi-Monaco oder die der Bourbonen-Franco von der zu unterscheiden, die den Platz der Stuarts eingenommen hat. Undankbare Schüler versuchen dennoch, McLuhan vergessen zu machen und seinen ersten Trouvaillen neue Jugend zu verleihen, wobei sie es ihrerseits auf eine Karriere im Medienloblied auf alle jene neuen Freiheiten abgesehen haben, die es aufs Geratewohl im Ephemeren »auszuwählen« gelte. Und höchstwahrscheinlich werden sie sich schneller verleugnen als der, der sie inspiriert hat.
XIII
Das Spektakel verhehlt nicht, daß die von ihm etablierte wunderbare Ordnung von so manchen Gefahren umringt ist. Die Verschmutzung der Weltmeere und die Zerstörung der Tropenwälder stellen eine Bedrohung für die Erneuerung des Sauerstoffs der Erde dar, deren Ozonsphäre dem industriellen Fortschritt schlecht standhält, und Strahlungsbelastungen atomaren Ursprungs akkumulieren sich unwiderruflich. Das Spektakel folgert daraus lediglich, daß all dies ohne Bedeutung ist. Es will einzig über Daten und Dosen mit sich reden lassen. Und einzig darin gelingt es ihm, Zuversicht einzuflößen, was ein prä-spektakulärer Geist für unmöglich gehalten hätte.
Die Methoden der spektakulären Demokratie sind im Gegensatz zur nackten Brutalität des totalitären Diktats von großer Flexibilität. So kann der Name beibehalten werden, wenn die Sache selber insgeheim geändert worden ist (Bier, Rindfleisch, ein Philosoph), oder der Name geändert, die Sache aber insgeheim beibehalten wurde. So hat die englische Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll in Windscale zum Beispiel ihre Ortschaft in Sellafield umtaufen müssen, um nach einem verheerenden Brand im Jahre 1957 den Verdacht besser zu zerstreuen. Diese toponymische Wiederaufbereitung hat jedoch eine erhöhte Sterblichkeitsrate aufgrund von Krebs und Leukämie in der Umgebung nicht verhindern können. Die englische Regierung, so erfährt man demokratisch dreißig Jahre später, hatte damals beschlossen, einen Untersuchungsbericht über die Katastrophe geheimzuhalten, den sie, nicht zu Unrecht, für geeignet hielt, das Vertrauen zu erschüttern, welches die Bevölkerung der Kernenergie entgegenbrachte.
Die Praktiken der Atomindustrie, ob zu militärischen oder zivilen Zwecken, bedürfen einer stärkeren Dosis von Geheimhaltung als die anderer Gebiete, wo sie bekanntlich bereits in hohem Maße erforderlich ist. Um das Leben, das heißt die Lügen der von den Herren dieses Systems erwählten Wissenschaftler zu erleichtern, hat man den Nutzen entdeckt, der aus einer Änderung der Maßeinheiten entsteht, ihrer Variierung gemäß einer größeren Anzahl von Gesichtspunkten sowie ihrer Verfeinerung, um je nach Bedarf mit mehreren dieser schwer konvertierbaren Zahlen zu jonglieren. So stehen einem zur Messung der Radioaktivität die folgenden Maßeinheiten zur Verfügung: Curie, Becquerel, Röntgen, Rad, alias Centigray, Rem und, nicht zu vergessen, das schlichte Millirad und der Sivert, ein bloßes 100-Rem-Stück. Man fühlt sich an die Unterteilungen der englischen Währung erinnert, deren Komplexität den Ausländern so sehr zu schaffen machte, zu einer Zeit als Sellafield noch Windscale hieß.
Man stelle sich vor, welche Bündigkeit und Präzision im 19. Jahrhundert die Kriegsgeschichte und mithin die Strategietheoretiker hätten erreichen können, wenn man, um unbefangenen Kommentatoren oder feindlichen Historikern keine allzu vertraulichen Auskünfte zu geben, gewöhnlich über einen Feldzug wie folgt Rechenschaft abgegeben hätte: »Die Eingangsphase umfaßt eine Reihe von Gefechten, bei denen unsererseits eine starke Vorhut, bestehend aus vier Generälen und den ihnen unterstellten Einheiten, einem feindlichen, aus 13000 Bajonetten bestehenden Armeekorps gegenübersteht. Später entwickelt sich eine offene Feldschlacht, deren Ausgang lange Zeit ungewiß blieb und in deren Verlauf die Gesamtheit unserer Armee mit ihren 290 Kanonen und ihrer 18 000 Säbeln starken Kavallerie zum Einsatz kam. Der Feind seinerseits hat ihr Truppen gegenübergestellt, die es auf nicht weniger als 3 600 Infanterie-Leutnants, 40 Husaren – und 24 Kürassierhauptmänner brachten. Nach wechselndem Kriegsglück auf beiden Seiten darf die Schlacht letztendlich als unentschieden betrachtet werden. Unsere Verluste, die unter dem Durchschnitt liegen, der für gewöhnlich bei Kämpfen von vergleichbarer Dauer und Heftigkeit auftritt, sind fühlbar höher als die der Griechen bei Marathon, bleiben jedoch unter denen der Preußen bei Jena.« Nach diesem Beispiel vermag ein Spezialist wohl, sich ein ungefähres Bild der eingesetzten Kräfte zu machen. Die Führung der Operationen bleibt jedoch mit Sicherheit auch weiter über jegliches Urteil erhaben.
Im Juni 1987 hat der stellvertretende technische Direktor der staatlichen französischen Stromgesellschaft EDF, Pierre Bacher, die letzte Doktrin zur Sicherheit von Kernkraftwerken dargelegt. Durch ihre Ausstattung mit Ventilen und Filtern würden es viel leichter werden, schwere Katastrophen, wie Risse im Reaktor oder die Explosion der Anlage, die eine ganze »Region« in Mitleidenschaft ziehen würden, zu vermeiden, was nämlich passiert, wenn man zu sehr eingrenzen will. Besser ist es, jedesmal wenn die Maschine Anstalten macht, durchzudrehen, ein wenig Druck abzulassen und eine engbegrenzte Umgebung von einigen wenigen Kilometern zu berieseln, wobei die Umgebung jedes Mal anders und aufs Geratewohl durch die Laune des Winds vergrößert wird. Er enthüllt, daß in den letzten Jahren die diskret in Cadarache, im Bouches-du-Rhone-Departement durchgeführten Versuche »konkret gezeigt haben, daß die Emissionen – hauptsächlich Gase – ein paar Promille nicht überschreiten, schlimmstenfalls l % über der in der Anlage herrschenden Radioaktivität liegen«. Dieser schlimmste Fall bleibt somit durchaus in Grenzen: l %. Früher war man sicher, daß keine Gefahr bestand, abgesehen von einem Unfall, der logisch unmöglich war. Die Erfahrungen der ersten Jahre haben diese Argumentationsweise wie folgt abgeändert: ein Unfall ist immer möglich. Es muß deshalb vermieden werden, daß er katastrophale Ausmaße erreicht, und das ist leicht. Man braucht lediglich stoßweise und mit Maßen zu verseuchen. Und wer verstünde nicht, daß es weitaus gesünder ist, über Jahre hinweg täglich nur 140 Zentiliter Wodka zu trinken, anstatt gleich damit zu beginnen, sich sinnlos zu besaufen.
Es ist sicherlich schade, daß die menschliche Gesellschaft derartig brisanten Problemen zu einem Zeitpunkt begegnet, da es materiell unmöglich geworden ist, den leisesten Einwand gegen den Diskurs der Ware geltend zu machen, zu einem Zeitpunkt, da der Herrschaftsapparat, eben weil das Spektakel ihn davor schützt, für seine fragmentarischen oder haarsträubenden Entscheidungen und Rechtfertigungen Rede und Antwort stehen zu müssen, meint, nicht mehr denken zu brauchen; und tatsächlich nicht mehr zu denken vermag. Wie standfest der Demokrat auch sein mag, hätte er es nicht lieber, man möge ihm intelligentere Herren ausgesucht haben?
Auf einer internationalen Expertenkonferenz, die im Dezember 1989 in Genf stattfand, ging es schlicht und einfach um ein weltweites Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, jenem Gas, das sehr rasch die dünne Ozonschicht zerstört, die diesen Planeten -man wird sich seiner noch erinnern – gegen die schädlichen Auswirkungen kosmischer Strahlungen schützt. Daniel Veriihe, Vertreter der Filiale für Chemieprodukte von Elf-Aquitaine und als solcher Mitglied einer französischen Delegation, die entschieden gegen das Verbot eintrat, machte die folgende, sinnige Bemerkung: »Die Entwicklung eventueller Ersatzprodukte mag gut drei Jahre in Anspruch nehmen, und die Kosten können sich vervierfachen.« Diese, flüchtige Ozonschicht gehört, in einer solchen Höhe, bekanntlich niemandem und besitzt keinerlei Tauschwert. Der Industriestratege hat damit seinen Widersachern durch diesen Rückruf in die Wirklichkeit das ganze Ausmaß ihrer unerklärlichen wirtschaftlichen Sorglosigkeit vor Augen halten können: »Es ist äußerst gewagt, eine Industriestrategie auf umweltpolitischen Sachzwängen aufzubauen.«
Diejenigen, die vor langer Zeit schon damit begonnen haben, die politische Ökonomie als die »vollkommenste Verneinung des Menschen « zu definieren, haben sich nicht geirrt. An diesem Charakterzug erkennt man sie.
XIV
Die Wissenschaft, heißt es, sei heute den Zwängen der wirtschaftlichen Rentabilität unterworfen. Dies ist jedoch schon immer so gewesen. Neu ist, daß die Ökonomie an einem Punkt angelangt ist, an dem sie den Menschen offen bekriegt – nicht bloß seine Lebens-, sondern auch seine Überlebensmöglichkeiten. Das wissenschaftliche Denken hat es vorgezogen, der spektakulären Herrschaft zu dienen und zwar wider eines Großteils ihrer eigenen, gegen die Sklaverei gerichteten Vergangenheit. Bevor es so weit mit ihr kam, besaß die Wissenschaft eine relative Autonomie. Sie wußte ihr Stückchen Wirklichkeit zu denken und hat so einen unermeßlichen Beitrag zur Erhöhung der ökonomischen Mittel zu leisten vermocht. Toll geworden hat die allmächtige Ökonomie, und etwas anderes sind die spektakulären Zeiten nicht, die letzten Überbleibsel der wissenschaftlichen Autonomie beseitigt, sowohl auf methodologischer Ebene, als auch, untrennbar davon, was die praktischen Bedingungen der »Forscher-Aktivität anbetrifft. Niemand verlangt mehr von der Wissenschaft, die Welt zu verstehen oder etwas darin zu verbessern. Verlangt wird von ihr, augenblicklich alles Geschehende zu rechtfertigen. Auf diesem Gebiet ebenso dumm wie auf allen übrigen, die sie mit der verheerendsten Unbedachtheit ausbeutet, hat die spektakuläre Herrschaft den riesigen Baum der Wissenschaft zu dem einzigen Zweck gefällt, sich einen Knüppel daraus zu schnitzen. Um dieser letzten gesellschaftlichen Nachfrage einer offensichtlich unmöglichen Rechtfertigung nachzukommen, ist zuviel Denkvermögen nicht angeraten. Dagegen gilt es aber, über eine gute Übung in den Kommoditäten des spektakulären Diskurses zu verfügen. Und in dieser Laufbahn hat, behende und mit viel gutem Willen, die prostituierte Wissenschaft dieser verachtenswerten Tage ihre jüngste Spezialisierung gefunden.
Das Auftreten der Wissenschaft der lügnerischen Rechtfertigung geht natürlich einher mit den ersten Dekadenzsymptomen der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem krebsartigen Wuchern von »human« genannten Pseudowissenschaften. Die moderne Medizin aber hatte beispielsweise eine Zeitlang vermocht, sich für nützlich auszugeben, und die, die Pocken und Lepra bezwungen hatten, waren von anderem Schlag als die, die jämmerlich vor radioaktiven Bestrahlungen und der Nahrungs- und Genußmittelchemie kapituliert haben. Es wird einem rasch klar, daß die heutige Medizin selbstverständlich jedes Recht verwirkt hat, die Gesundheit der Bevölkerung vor einer pathogenen Umwelt zu verteidigen, denn dies hieße ja dem Staat oder auch nur der Pharmaindustrie die Stirn zu bieten.
Doch nicht allein durch das, was zu verschweigen sie verpflichtet ist, gesteht die wissenschaftliche Tätigkeit ein, was aus ihr geworden ist, sondern sehr oft auch durch das, was sie einfältig verlautbaren läßt. Als die Professoren Even und Andrieu vom Pariser Laennec-Krankenhaus im November 1985 nach achttägigen Experimenten an vier Kranken verkündeten, sie hätten ein wirksames Mittel gegen Aids entdeckt, zog dies zwei Tage später – die Kranken waren inzwischen gestorben – Vorbehalte seitens einiger Mediziner, die weniger weit fortgeschritten oder möglicherweise neidisch waren, nach sich, ob der reichlich überstürzten Art und Weise, mit der jene flugs hatten registrieren lassen, was lediglich wie ein Sieg aussah, wenige Stunden vor dem Zusammenbruch. Even und Andrieu verteidigten sich, ohne die Fassung zu verlieren, indem sie behaupteten, daß »falsche Hoffnungen schließlich besser als überhaupt keine Hoffnung« seien. Daß dieses Argument allein eine völlige Negierung des wissenschaftlichen Geistes darstellt und in der Geschichte stets dazu gedient hat, die einträglichen Hirngespinste von Scharlatanen und Hexern zu decken, zu Zeiten, als man ihnen noch nicht die Leitung von Krankenhäusern anvertraute, entging ihnen in ihrer großen Ignoranz.
Wenn die offizielle Wissenschaft derart gelenkt wird, so wie der Rest des Spektakels, das unter materiell modernisierter und angereicherter Fassung lediglich die uralten Techniken der Jahrmarktbuden wiederaufgenommen hat – Gaukler, Marktschreier und Bauernfänger-, dann nimmt es nicht wunder, wenn parallel dazu überall Magier und Sekten, vakuumverpackter Zenbuddhismus oder Mormonentheologie wieder großen Einfluß gewinnen. Die Ignoranz, die den etablierten Mächten von guten Diensten war, ist zu alledem stets von findigen, am Rande des Gesetzes stehenden Unternehmungen ausgebeutet worden. Und welcher Augenblick wäre da günstiger als der, in dem das Analphabetentum so große Fortschritte gemacht hat? Diese Tatsache wird ihrerseits aber durch einen weiteren Zauberstreich geleugnet. Anläßlich ihrer Gründung hatte die U.N.E.S.C.O. eine wissenschaftlich genaue Definition des Analphabetentums verabschiedet, das in den unterentwickelten Ländern zu bekämpfen sie sich zur Aufgabe machte. Als man dasselbe Phänomen unversehens von neuem auftauchen sah, diesmal aber in den sogenannten Industrienationen, so wie der, der Grouchy erwartend, plötzlich Blücher in seiner Schlacht auftauchen sah, da genügte es, die Garde der Experten in den Kampf zu werfen, und die haben denn auch geschwind die Formel mit einem unwiderstehlichen Angriff aus dem Weg geräumt, indem sie den Begriff Analphabetismus durch den der Lese- und Schreibschwäche ersetzten, so wie eine »patriotische Fälschung« gelegen kommen kann, um eine gute nationale Sache zu unterstützen. Um dann, unter Pädagogen, die Pertinenz der Wortschöpfung felsenfest zu begründen, wird hurtig eine neue Definition verabschiedet, als sei diese seit eh und je gültig. Während bekanntlich der Analphabet jemand war, der nie das Lesen gelernt hat, so ist, dieser neuen Definition zufolge, ein Lese- und Schreibschwacher im modernen Sinn jemand, der Lesen gelernt hat – und zwar besseres zuvor, wie sogleich die Begabtesten unter den offiziellen Theoretikern und Historikern der Pädagogik kaltschnäuzig behaupten werden -, es aber zufällig, sofort wieder vergessen hat. Eine solch verblüffende Erklärung würde eher beängstigend als beschwichtigend wirken, besäße sie nicht die Kunst – dadurch, daß sie vorbeiredet und so tut als sähe sie sie nicht -, die Schlußfolgerung zu vermeiden, die in wissenschaftlicheren Zeiten jedem zuerst in den Sinn gekommen wäre: daß nämlich letzteres Phänomen verdient, erklärt und bekämpft zu werden, war es doch nie und nirgends vor den jüngsten Fortschritten des verdorbenen Denkens beobachtet oder bloß geahnt worden, daß der Zerfall der Erklärung Gleichschritt hält mit dem Zerfall der Praxis.
XV
Vor mehr als hundert Jahren definierte A.-L. Sardous Nouveau Dictionnaire des Synonymes francais die Sinnunterschiede, die es zu verstehen gilt zwischen: fallacieux, trompeur, imposteur, seducteur, insidieux, captieux und die zusammengenommen heute eine Art Farbpalette bilden, die sich für ein Portrait der Gesellschaft des Spektakels eignet. Weder seiner Zeit noch seiner Erfahrung als Spezialist oblag es so deutlich, die verwandten, aber sehr verschiedenen Bedeutungen der Gefahren darzulegen, mit denen zu kämpfen jede der Subversion frönende Gruppe zu rechnen hat, entsprechend etwa der folgenden Abstufung: verleitet, provoziert, unterwandert, manipuliert, usurpiert, umgedreht. Den Doktrinären des »bewaffneten Kampfes« sind diese beachtlichen Sinnunterschiede jedenfalls nie aufgegangen.
Fallacieux- betrügerisch – vom lateinischen fallaciosus, fähig oder gewohnt zu täuschen, voller Arglist: die Endung des Adjektivs hat den gleichen Wert wie der Superlativ von trompeur- trügerisch. Trompeur- trügerisch – ist, was trügt oder auf irgendeine Art und Weise zum Irrtum verleitet: fallacieux ist, was vorsätzlich täuschen, hinters Licht führen und in die Irre leiten soll, und zwar mit Arglist und dem dazu geeignetsten imposanten Aufzug. Trompeur ist ein allgemeines und unbestimmtes Wort. Alle möglichen Arten von Zeichen und Ungewissen Äußerlichkeiten sind trompeurs – trügerisch: fallacieux schließt Falschheit, Arglist und Verstellung ein. Reden, Beteuerungen und Sophismen sind fallacieux – betrügerisch. Dieses Wort ist verwandt mit imposteur – lügnerisch -, seducteur – verführerisch , insidieux – hinterlistig -und captienx- verfänglich -, ohne jedoch synonym zu sein. Imposteur bezeichnet jede Art von falschem Schein oder Absprachen, die betrügen oder Schaden zufügen wollen; Heuchelei beispielsweise oder Verleumdung, usw. Seducteur drückt die Handlung aus, mittels derer man sich einer Person bemächtigt, sie geschickt und hinterlistig in die Irre führt. Insidieux bezeichnet lediglich das geschickte Aufstellen und Zuschnappenlassen von Fallen. Captieux beschränkt sich auf die subtile Handlung, jemanden zu überraschen und ihn zum Irrtum zu verleiten. Fallacieux umfaßt die meisten dieser Merkmale.
XVI
Das noch junge Konzept der Desinformation ist unlängst zusammen mit vielen anderen nützlichen Erfindungen zur Verwaltung moderner Staaten aus Rußland eingeführt worden. Es wird stets unverhohlen von einem Machtapparat verwendet oder mithin von Leuten, die über ein Stück wirtschaftlicher oder politischer Macht verfügen, um die etablierte Ordnung aufrechtzuerhalten, wobei seiner Verwendung stets eine Gegenoffensiv-Funktion zukommt. Was immer eine offizielle Wahrheit anfechten mag, kann nichts anderes sein als von feindlichen Mächten, zumindest aber von Rivalen ausgehende, absichtlich verfälschte Desinformation. Auch ist die Desinformation nicht die schlichte Leugnung einer Tatsache, die den Autoritäten zupaß kommt, oder die schlichte Affirmation von etwas, was gegen den Strich geht: das nennt man Psychose. Im Gegensatz zur einfachen Lüge muß die Desinformation, und hierin wird sie für die Verteidiger der herrschenden Gesellschaft interessant, zwangsläufig einen gewissen Wahrheitsgehalt besitzen. Dieser wird jedoch bewußt von einem geschickten Feind manipuliert. Die Macht, die von Desinformation spricht, wähnt sich nicht absolut fehlerfrei. Sie weiß aber, daß sie jeder präzisen Kritik jene außerordentliche Unbedeutsamkeit zuschreiben kann, die in der Natur der Desinformation liegt, und daß sie so nie einen besonderen Fehler wird einzugestehen haben.
So wäre die Desinformation – mit einem Wort – der schlechte Gebrauch der Wahrheit. Wer sie lanciert, ist schuldig, wer sie glaubt, ein Dummkopf. Aber um welchen geschickten Feind handelt es sich denn nun? Um den Terrorismus kann es sich hier nicht handeln. Der wird niemanden »desinformieren«, liegt seine Aufgabe doch darin, ontologisch den tölpelhaftesten und am wenigsten annehmbaren Irrtum darzustellen. Dank seiner Etymologie und den Erinnerungen aus der Zeit der begrenzten Zusammenstöße, die um die Mitte des Jahrhunderts Ost und West – das konzentrierte und das diffuse Spektakuläre – für kurze Zeit einander gegenüberstellten, tut der Kapitalismus des integrierten Spektakulären auch heute noch so, als glaube er, der Kapitalismus der totalitären Bürokratie – zuweilen als Ausgangsbasis und Inspirationsquelle der Terroristen präsentiert – bleibe sein Hauptfeind, so wie jener dasselbe von diesem behaupten wird, den zahllosen Beweisen, die von ihrer tiefgehenden Allianz und Solidarität zeugen, zum Trotz. Tatsächlich denken alle etablierten Machtapparate, ungeachtet einiger wirklicher lokalen Rivalitäten und ohne es zugeben zu wollen, fortwährend, was einmal auf Seiten der Subversion und zu diesem Zeitpunkt ohne großen Erfolg einer der wenigen deutschen Internationalisten nach Ausbruch des ersten Weltkriegs ins Gedächtnis zu rufen wußte: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land.« Letztendlich ist die Desinformation gleichbedeutend mit dem, was die »bösen Leidenschaften« in der Sprache des sozialen Krieges des XIX. Jahrhunderts waren. Sie ist alles, was obskur ist und sich eventuell erfrechen könnte, das außergewöhnliche Glück anzufechten, das diese Gesellschaft bekanntlich denen zuteil werden läßt, die ihr Vertrauen schenken, ein Glück für das die diversen Risiken und kleinen Verdrießlichkeiten keinen zu hohen Preis darstellen. Und all die, die dieses Glück im Spektakel sehen, nehmen in Kauf, daß nichts für es zu teuer ist, während die anderen hingegen Desinformation betreiben.
Eine ganz bestimmte Desinformation auf diese Weise zu brandmarken, bietet einen weiteren Vorteil: der globale Diskurs des Spektakels kann mithin nicht bezichtigt werden, er enthalte Desinformation, ist er es doch, der mit wissenschaftlichster Gewißheit das Terrain zu bestimmen vermag, auf welchem die Desinformation kenntlich wird: alles was gesagt werden mag und ihm nicht gefällt.
Sicher irrtümlich – es sei denn aber, es handelt sich um einen bewußt ausgelegten Köder – ist unlängst viel Wirbel um ein Projekt gemacht worden, Medienprodukten eine Art offizielles Gütesiegel »Garantiert ohne Desinformation« zu verleihen. Gewisse Medienleute, die noch glauben, oder bescheidener, glauben machen möchten, sie seien nicht bereits jetzt schon effektiv zensiert, fühlten sich gekränkt. Vor allem aber hat das Konzept »Desinformation« selbstverständlich nicht defensiv verwendet zu werden und noch weniger in einer statischen Verteidigung, als Bestückung einer Chinesischen Mauer, einer Maginotlinie, die vollständig einen Raum zu decken hätte, zu dem der Desinformation der Zutritt gewissermaßen verwehrt ist. Desinformation muß sein. Sie hat fließend zu bleiben, sie muß überall durchkommen können. Wo der Diskurs des Spektakels nicht angefochten wird, wäre eine Verteidigung Unsinn; und dieses Konzept der Desinformation würde sich sehr schnell abnutzen, verteidigte es ihn wider aller Evidenz in Punkten, die ganz im Gegenteil es vermeiden müssen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Darüber hinaus ist den Autoritäten nicht wirklich daran gelegen zu garantieren, daß eine bestimmte Nachricht keine Desinformation enthält. Im übrigen fehlen ihnen dazu die Mittel: so groß ist der Respekt nicht, der ihnen entgegengebracht wird, und so würde nur der Verdacht auf die betreffende Information gelenkt werden. Das Konzept der Desinformation ist nur im Gegenangriff von Nutzen. Es muß in zweiter Linie gehalten werden, um im Falle einer hervorbrechenden Wahrheit augenblicklich nach vorne geworfen zu werden, um sie zurückzudrängen.
Sollte eine Art außerplanmäßiger Desinformation auftreten, im Dienst irgendwelcher, vorübergehend in Konflikt stehenden Sonderinteressen Glauben finden und dadurch vorübergehend außer Kontrolle geraten und sich so der umfassenden Arbeit einer verantwortungsbewußteren Desinformation in den Weg stellen, dann besteht kein Grund zur Befürchtung, hier könnten sachverständigere oder feinfühligere Manipulateure am Werk sein: es ist einfach so, daß sich die Desinformation nunmehr in einer Welt entfaltet, in der für Verifizierung jedweder Art kein Platz mehr ist.
Das begriffsverwirrende Konzept der Desinformation wird in den Vordergrund gestellt, um durch bloße Nennung seines Namens auf der Stelle jede Kritik zu widerlegen, die auszuschalten die diversen Agenturen der Organisation des Schweigens nicht ausgereicht hätten. So könnte man denn auch eines Tages, sollte dies opportun erscheinen, behaupten, dieses Buch sei ein Unternehmen zur Desinformation über das Spektakel oder zur Desinformation zum Schaden der Demokratie, was dasselbe ist.
Im Gegensatz zu dem, was sein umgekehrtes spektakuläres Konzept beteuert, kann nur der Staat desinformieren, hier und jetzt, unter seiner direkten Leitung oder auf Betreiben derer, die dieselben Werte verteidigen. Die Desinformation wohnt denn der gesamten existierenden Information inne, und zwar als ihr wesentlicher Charakter. Sie wird nur da beim Namen genannt, wo es durch Einschüchterung die Passivität beizubehalten gilt. Wo die Desinformation beim Namen genannt wird, existiert sie nicht; Wo sie existiert, wird sie nicht beim Namen genannt.
Als es noch einander befehdende Ideologien gab, die sich für oder gegen diesen oder jenen Aspekt der Wirklichkeit stark machten, gab es Fanatiker und Lügner, aber keine »Desinformateure«.
Wenn Respekt vor dem spektakulären Konsens oder zumindest Verlangen nach einem spektakulären Nimbus nicht mehr erlauben, unmißverständlich zu sagen, wogegen man ist oder desgleichen, was man mit allen seinen Konsequenzen gutheißt, und sich dabei oft gezwungen sieht, einen Aspekt zu verschweigen, den man aus irgendeinem Grund für gefährlich erachtet in dem. was man angeblich befürwortet, dann betreibt man Desinformation aus Leichtsinn, Vergeßlichkeit oder aus einem vermeintlichen Trugschluß heraus. Auf dem Gebiet der Kontestation in den Jahren nach 1968 waren die unfähigen »Pro-situs« genannten Rekuperateure die ersten Desinformateure, verheimlichten sie doch so gut es ging die praktischen Manifestationen, durch welche die Kritik sich bekräftigt hatte, auf deren Übernahme sie sich soviel zugute hielten. Mitnichten darum verlegen, deren Ausdruck abzuschwächen, unterließen sie es tunlichst, etwas oder jemanden zu zitieren, um den Eindruck zu erwecken, sie selber hätten etwas gefunden.
XVII
Einen berühmten Ausspruch Hegels umkehrend schrieb ich bereits 1967, daß »in der wirklich umgekehrten Welt das Wahre ein Moment des Falschen ist«. Die Jahre, die seitdem verflossen sind, haben die Fortschritte gezeigt, die dieses Prinzip auf allen Gebieten, ohne Ausnahme, gemacht hat.
So wird es in einer Epoche, in der die Existenz zeitgenössischer Kunst ein Unding ist, schwierig, ein Urteil über die klassischen Künste abzugeben. Hier wie anderswo wird Ignoranz einzig zum Zweck ihrer Exploitation hervorgebracht. Zur gleichen Zeit wie sowohl Geschichtssinn als auch Geschmack verlorengehen, werden Fälscherringe organisiert. Es genügt, die Experten und Auktionatoren in die Hände zu bekommen – und dies ist recht einfach -, um alles durchzubringen, denn bei Geschäften dieser Art, wie letztlich bei allem übrigen, ist es der Verkauf, der den Wert bestätigt. Danach sind es die Sammler oder die Museen – in erster Linie die vor Fälschungen nur so strotzenden Museen Amerikas -, denen an der Wahrung ihres guten Rufs gelegen ist, so wie der Weltwährungsfonds die Fiktion des positiven Wertes der riesigen Schulden von hundert Nationen aufrechterhält.
Das Falsche bildet den Geschmack und stützt das Falsche, indem es vorsätzlich die Möglichkeit der Bezugnahme auf das Authentische beseitigt. Selbst das Echte wird, sobald dies möglich ist, imitiert, damit es dem Falschen besser ähnelt. Die ersten, die sich in diesem Handel mit Kunstfälschungen foppen lassen, sind, weil am reichsten und modernsten, die Amerikaner. Und gerade sie sind es, die die Restaurierungsarbeiten in Versailles und der Sixtinischen Kapelle finanzieren. Deshalb müssen Michelangelos Fresken die aufgefrischten Farben von Comic-Heften bekommen und die Übergoldung der echten Möbel von Versailles jenen hellen Glanz, der sie stark den falschen Louis XIV-Möbeln ähneln läßt, die unter großem Kostenaufwand nach Texas exportiert werden.
Feuerbachs Urteil, daß seine Zeit »das Bild der Sache, die Kopie dem Original und die Vorstellung der Wirklichkeit« vorziehe, ist durch das Jahrhundert des Spektakels voll und ganz bestätigt worden, und dies auf mehreren Gebieten, auf denen das XIX. Jahrhundert abseits hatte bleiben wollen zu dem, was bereits zutiefst seine Natur war: der kapitalistischen Industrieproduktion. So hatte die Bourgeoisie in hohem Maße dazu beigetragen, den strengen Museumsgeist, den des Originalgegenstands, der exakten historischen Kritik und des echten Dokuments zu verbreiten. Heute aber strebt allenthalben die Fälschung danach, an die Stelle des Echten zu treten. In diesem Zusammenhang kommt es sehr gelegen, daß die durch den Automobilverkehr verursachte Umweltverschmutzung es notwendig macht, Marlys Pferde oder die romanischen Statuen des Saint Trophime-Tors durch Plastikrepliken zu ersetzen. So wird denn alles schöner sein als zuvor, damit die Touristen es fotografieren können.
Den Höhepunkt erreichen wir zweifelsohne in China mit der lächerlichen bürokratischen Fälschung der lebensgroßen Statuen der riesigen Industriearmee des ersten Kaisers, die in situ zu bewundern soviele reisende Staatsmänner eingeladen worden sind. Daß man sich so fürchterlich über sie hat lustig machen können, beweist denn auch, daß keiner von ihnen unter der Masse ihrer Berater über einen einzigen verfügte, der die Geschichte der Kunst in China und außerhalb Chinas kannte. Deren Instruktion ist bekanntlich eine ganz andere gewesen: »Dem Computer, Euer Exzellenz, ist darüber nichts bekannt.« Allein die Feststellung, daß man zum ersten Mal ohne jede Kunstkenntnis zu regieren vermag, ohne jeden Sinn für das, was echt, oder das, was unmöglich ist, dürfte hinreichen, um zu argwöhnen, daß alle diese naiven Schwätzer von Wirtschaft und Verwaltung die Welt aller Wahrscheinlichkeit nach irgendeiner großen Katastrophe entgegenführen, hätte ihre wirkliche Praxis dies nicht bereits schon bewiesen.
XVIII
Unsere Gesellschaft basiert auf dem Geheimnis. Von den »Scheinfirmen«, die verhindern, daß Licht auf die konzentrierten Güter der Besitzenden fällt, bis hin zur »Geheimen Verteidigungssache«, die heute ein immenses Gebiet abdeckt, in dem der Staat eine unumschränkte, über die Justiz erhabene Freiheit genießt, von den oft erschreckenden Geheimnissen der Schundfabrikation, die sich hinter der Werbung verbirgt, bis hin zu den Projizierungen der Varianten der extrapolierten Zukunft, an denen alleine die Macht abliest, welchen Lauf wahrscheinlich das nehmen wird, was, wie sie beteuert, schlichtweg nicht existiert, wobei sie die Antworten kalkuliert, die es heimlich darauf geben wird. Diesbezüglich lassen sich einige Bemerkungen anstellen.
Sowohl in den Großstädten als auch in bestimmten Schutzgebieten auf dem Lande wächst die Zahl der Orte, zu denen der Zugang verwehrt ist, das heißt solche, die bewacht, gegen jeglichen Einblick abgeschirmt, der harmlosen Neugier entzogen und bestens gegen Spionage geschützt sind. Obwohl nicht alle im strengen Sinne militärisch, sind sie, entsprechend diesem Modell, vor jeder möglichen Kontrolle durch Passanten oder Einwohner sicher und sogar vor der der Polizei, deren Funktion schon seit langem nur noch in der bloßen Überwachung und Bekämpfung der gewöhnlichen Kriminalität besteht. Als zum Beispiel in Italien Aldo Moro Gefangener von Potere Due war, da hielt man ihn nicht in einem mehr oder minder unauffindbaren Gebäude fest, sondern schlicht und einfach in einem, in das es kein Hineinkommen gab.
Auch die Zahl derer wächst, die für geheime Aktivitäten ausgebildet werden, deren Unterweisung und Training einzig dazu dient. Hierbei handelt es sich um Spezialabteilungen von Männern, die über Sonderarchive verfügen, das heißt über Geheimbeobachtungen und -analysen. Andere verfügen über die verschiedenen Techniken zur Auswertung und Manipulation dieser Geheimangelegenheiten. Was schließlich die »Aktionseinheiten« anbetrifft, so können diese ebenfalls mit anderen Mitteln zur Vereinfachung der studierten Probleme ausgestattet werden.
Die Spezialisten der Überwachung und Beeinflussung finden mit dem Anwachsen der ihnen zu Gebote stehenden Mittel auch Bedingungen vor, die mit jedem Jahr günstiger werden. Seit zum Beispiel die neuen Bedingungen der Gesellschaft des integrierten Spektakulären ihre Kritik dazu zwangen, effektiv klandestin zu bleiben, nicht etwa, weil sie sich versteckt, sondern weil sie durch die schwerfällige Inszenierung des Zerstreuungsdenkens versteckt wird, können diejenigen, die doch die nämliche Kritik überwachen und gegebenenfalls dementieren sollen, letztendlich all das gegen sie verwenden, worauf für gewöhnlich im klandestinen Milieu zurückgegriffen wird: Provokation, Infiltrierungen, sowie diverse Formen der Eliminierung authentischer Kritik zugunsten einer falschen, die eigens zu diesem Zweck erstellt werden mochte. Die Unsicherheit wächst in jeder Hinsicht, wenn der allgemeine Schwindel des Spektakels sich um die Möglichkeit bereichert, zu zahllosen besonderen Schwindeleien zu greifen. Ein ungeklärtes Verbrechen kann auch als Selbstmord hingestellt werden, im Gefängnis oder anderswo, und die Auflösung der Logik ermöglicht Untersuchungen und Prozesse, die senkrecht ins Vernunftwidrige emporschießen und die oft von Anfang an verfälscht sind durch ausgefallene, von einzigartigen Experten vorgenommenen Autopsien.
Seit langem schon hat man sich allenthalben daran gewöhnt, daß mit allen möglichen Leuten kurzer Prozeß gemacht wird. Namentliche oder mutmaßliche Terroristen werden offen mit terroristischen Mitteln bekämpft. Der Mossad zieht in die Ferne, um Abu Djihad zu töten, die englische S.A.S Iren und die Parallelpolizei der G.A.L Basken. Die, die durch angebliche Terroristen getötet werden, sind nicht ohne Grund dafür ausgesucht worden. Im großen und ganzen ist es jedoch unmöglich, diese Gründe mit Sicherheit zu kennen. So mag man wissen, daß der Bahnhof von Bologna in die Luft flog, damit Italien weiterhin gut regiert wird, was die »Todesschwadronen« in Brasilien sind und daß die Mafia in den USA ein Hotel in Brand steckt, um einer Schutzgeldforderung Nachdruck zu verleihen. Wie aber kann man wissen, wozu eigentlich die »Tueurs fous du Brabant« gedient haben mögen? In einer Welt, in der so viele agierende Interessen so gut verborgen sind, fällt es schwer, das Prinzip Cui prodest? anzuwenden. So kommt es, daß man unter dem integrierten Spektakulären am Konfluenzpunkt einer überaus großen Anzahl von Geheimnissen lebt und stirbt.
Polizei- und Mediengerüchte nehmen augenblicklich, schlimmstenfalls nach drei- oder viermaliger Wiederholung, das unbestrittene Gewicht jahrhundertealter historischer Beweise an. Auf Geheiß der legendären Autorität des Spektakels vom Tage tauchen merkwürdige, in aller Heimlichkeit eliminierte Persönlichkeiten wieder als fiktive Überlebende auf, deren Rückkehr stets erwähnt oder vermutet und durch das bloße Geschwätz der Spezialisten bewiesen werden kann. Jene Toten, die das Spektakel nicht standesgemäß beerdigt hat, wandeln irgendwo zwischen Acheron und Lethe herum. Schlafen sollen sie, bis daß man sie wieder wecken mag, sie alle, der Terrorist, der wieder von den Hügeln hinabgestiegen, der Pirat, der von der See zurück ist und der Dieb, der nicht mehr zu stehlen braucht.
So wird überall Unsicherheit organisiert. Der Schutz der Herrschaft geht sehr oft durch Scheinangriffe vor, deren Behandlung in den Medien die wirkliche Operation aus den Augen verlieren läßt. So zum Beispiel der seltsame Handstreich Tejeros und seiner Zivilgardisten 1981 in den Cortes, dessen Scheitern ein anderes, moderneres Pronunziamiento kaschieren sollte, eines, das maskiert und dem Erfolg beschieden war. Das ebenso auffällige Scheitern eines Sabotageversuchs durch französische Spezialeinheiten 1985 in Neuseeland ist von manchen als eine List angesehen worden, deren Zweck es möglicherweise war, die Aufmerksamkeit von den zahlreichen neuen Verwendungsmöglichkeiten dieser Dienste abzulenken, dadurch, daß man den Glauben an ihre groteske Ungeschicktheit bei der Wahl der Ziele wie auch bei den Bedingungen der Durchführung erweckte. Mit größerer Sicherheit ist fast überall die Ansicht vertreten worden, daß die geologischen Nachforschungen nach Ölvorkommen im Boden unter der Stadt Paris,die mit viel Lärm im Herbst 1986 durchgeführt wurden, keine ernstere Absicht hatten, als zu messen, welchen Grad an Stumpfsinn und Unterwerfung die Einwohner wohl erreicht hatten und zwar dadurch, daß man ihnen angebliche Bohrungen zeigt, die wirtschaftlich gesehen hirnrissig sind.
So mysteriös ist die Macht geworden, daß man sich nach der Affäre der illegalen Waffenverkäufe an den Iran durch die Präsidentschaft der USA hat fragen können, wer wirklich in den Vereinigten Staaten, der stärksten Macht der sogenannten freien Welt, das Sagen hat? Und wer, zum Teufel, in der freien Welt dann das Sagen hat?
Gehen wir den Dingen tiefer nach, so weiß in dieser Welt, die offiziell so voller Respekt ist für wirtschaftliche Notwendigkeiten aller Art, niemand, was ein beliebiges Produkt wirklich kostet: tatsächlich wird der Hauptanteil der wirklichen Kosten nie berechnet und der Rest wird geheimgehalten.
XIX
General Noriega hat Anfang 1988 einen Augenblick lang Weltberühmtheit erlangt. Er war der titellose Diktator Panamas, eines Landes ohne Armee, in dem er die Nationalgarde befehligte. Denn Panama ist nicht wirklich ein souveräner Staat. Das Land ist seines Kanals wegen gegraben worden und nicht umgekehrt. Seine Währung ist der Dollar, und die wirkliche Armee, die dort stationiert ist, ist ebenfalls ausländischer Herkunft. Noriega hatte somit, hierin eins mit Jaruzelski in Polen, seine ganze Karriere als Polizei-General im Dienste des Besatzers gemacht. Er importierte Rauschgift in die USA, denn Panama bringt nicht genug ein, und exportierte seine »panamesischen« Kapitalien in die Schweiz. Er hatte mit dem C.I.A. gegen Kuba gearbeitet und zudem, um seinen wirtschaftlichen Aktivitäten einen adäquaten Deckmantel zu geben, den amerikanischen Behörden, die dermaßen besessen von diesem Problem waren, eine gewisse Anzahl seiner Importrivalen ans Messer geliefert. Sein erster Sicherheitsberater war der beste, der auf dem Markt zu finden war, und erweckte sogar Washingtons Neid: Michael Harari, ein ehemaliger Offizier des israelischen Geheimdiensts Mossad. Als sich die Amerikaner -mehrere ihrer Gerichtshöfe hatten ihn unvorsichtigerweise verurteilt – dieses Individuums haben entledigen wollen, ließ Noriega verlauten, er sei aus Vaterlandsliebe zu Panama bereit, sich tausend Jahre lang sowohl gegen sein meuterndes Volk als auch gegen das Ausland zu verteidigen; und auf der Stelle spendeten die biederen bürokratischen Diktaturen Kubas und Nicaraguas im Namen des Anti-Imperialismus öffentlich Beifall.
Weit entfernt davon, ein streng auf Panama beschränktes Kuriosum zu sein, war der General Noriega – der alles verkauft und simulierte einer Welt, die es ihm überall, durch und durch, gleichtut und zwar i als eine Art Staatsmann einer Art von Staat, als eine Art General, wie auch als Kapitalist – ein perfektes Beispiel des integrierten Spektakulären und der Erfolge, die es in den verschiedensten Richtungen seiner S Innen- und Außenpolitik möglich macht. Er ist ein Modell des Fürsten unserer Zeit; und die Fähigsten unter denen, die sich anschicken, die Macht zu ergreifen oder an der Macht zu bleiben, weisen große Ähnlichkeit mit ihm auf. Nicht Panama bringt dergleichen Wunder hervor, sondern diese Epoche.
XX
Für jeden Nachrichtendienst, hierin mit der richtigen clausewitzschen Theorie vom Kriege übereinstimmend, hat Wissen Macht zu werden. Daraus bezieht dieser Dienst gegenwärtig sein Prestige, diese ihm so eigene Poesie. Nun da die Intelligenz bis auf den letzten Rest aus dem Spektakel, das kein Handeln gestattet und über die Handlungen der Anderen nicht viel Wahres verlauten läßt, verjagt worden ist, scheint sie geradezu Zuflucht unter denen gesucht zu haben, die Tatbestände analysieren und auf diese geheim einzuwirken versuchen. Unlängst haben Enthüllungen, die Margaret Thatcher verzweifelt zu unterdrücken versucht hat – vergeblich jedoch und sie sogar noch bekräftigend- , gezeigt, daß in England diese Dienste bereits imstande waren, den Fall einer Regierung herbeizuführen, deren Politik sie als gefährlich erachteten. Die allgemeine Verachtung, die das Spektakel hervorruft, verleiht so dem neue Anziehungskraft, was aus anderen Gründen zu Kiplings Zeiten das »große Spiel« genannt wurde.
Im neunzehnten Jahrhundert, zu einer Zeit, da so viele gewaltige Sozialbewegungen die Massen erschütterten, war die »polizistische Geschichtsauffassung« eine reaktionäre und lächerliche Erklärung. Die Pseudo-Kontestatäre von heute wissen dies nur zu gut, vom Hörensagen und aus ein paar Büchern. Sie glauben, diese Schlußfolgerung bleibe für alle Zeiten wahr. Die wirkliche Praxis ihrer Zeit wollen sie nicht sehen, ist sie doch zu trist für ihre kalten Hoffnungen. Der Staat weiß das sehr gut und profitiert davon.
Zu einem Zeitpunkt, da fast alle Aspekte des internationalen politischen Lebens und eine wachsende Anzahl derer, die innenpolitisch von Bedeutung sind, im Stil von Geheimdienstoperationen gerührt und gezeigt werden, mit Ködern, Desinformation und doppelter Erklärung – die, die eine andere hinter sich verbergen mag oder bloß den Anschein davon hat -, gibt das Spektakel sich damit zufrieden, die ermüdende Welt des obligatorisch Unverständlichen vor Augen zu führen, eine langweilige Serie lebloser Kriminalromane, denen fast immer der Schluß fehlt. Hier hat die realistische Inszenierung eines nächtlichen Kampfes zwischen Negern in einem Tunnel für die hinreichende dramatische Spannung zu sorgen.
Die Dummheit glaubt, alles sei klar, wenn das Fernsehen ein schönes Bild gezeigt und mit einer dreisten Lüge kommentiert hat. Die Halb-Elite begnügt sich mit dem Wissen darum, daß fast alles obskur, doppelbödig und nach unbekannten Codes »abgekartet« ist. Eine geschlossenere Elite möchte gerne die Wahrheit kennen, die trotz aller Sonderinformationen und vertraulichen Mitteilungen, über die sie verfügt, in jedem Fall nur äußerst schwer auszumachen ist. Deshalb hätte sie liebend gerne gewußt, welche die Methode zum Erkennen der Wahrheit ist, wenngleich bei ihr diese Liebe im allgemeinen unglücklich bleibt.
XXI
Das Geheimnis beherrscht diese Welt zunächst als Geheimnis der Herrschaft. Dem Spektakel zufolge ist das Geheimnis weiter nichts als die notwendige Ausnahme zur Regel der auf der gesamten Oberfläche der Gesellschaft im Überfluß angebotenen Information, so wie die Herrschaft in dieser »freien Welt« des integrierten Spektakulären lediglich eine Exekutivabteilung im Dienste der Demokratie ist. Doch niemand glaubt dem Spektakel so recht. Wie kommt es, daß die Zuschauer die Existenz des Geheimnisses akzeptieren, welches an sich schon garantiert, daß eine Welt, deren wesentliche Realitäten sie ignorieren, auch nicht von ihnen verwaltet werden könnte, fragte man sie ausnahmsweise einmal nach ihrer Meinung darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei? Tatsache ist, daß das Geheimnis so gut wie niemandem in seiner unzugänglichen Reinheit, seiner funktionellen Allgemeinheit vor Augen tritt. Ein jeder räumt ein, daß es ohne eine kleine, Spezialisten vorbehaltene Geheimzone gar nicht anders geht, und was die Dinge im allgemeinen betrifft, so meinen viele, ins Geheimnis eingeweiht zu sein.
La Boetie hat in seiner Rede über die freiwillige Knechtschaft aufgezeigt, wie die Macht des Tyrannen allenthalben Beistand finden muß in den konzentrisch um sie angelegten Kreisen von Individuen, die in ihr Nutzen finden oder zu finden glauben. Und so wissen denn viele unter den Politikern und Medienleuten, die sich etwas darauf einbilden, daß niemand sie der Verantwortungslosigkeit bezichtigen kann, so manches durch Beziehungen und vertrauliche Informationen. Wer damit zufrieden ist, ins Geheimnis eingeweiht zu sein, der wird sich schwerlich zur Kritik daran verleiten lassen, noch wird ihm klar werden, daß der hauptsächliche Wirklichkeitsgehalt dieser Nachrichten ihm stets vorenthalten bleibt. Durch die wohlwollende Protektion der Falschspieler kennt er ein paar Karten mehr, die allerdings gezinkt sein mögen. Die Methode, die das Spiel regelt und erklärt, bleibt ihm aber stets unbekannt. So identifiziert er sich denn unverzüglich mit den Manipulateuren und blickt verächtlich auf die Unwissenheit herab, die er im Grunde doch teilt. Denn die Brocken Information, die den Vertrauten der verlogenen Tyrannei vorgeworfen werden, sind gewöhnlich mit Lüge infiziert, unüberprüfbar und manipuliert. Denen, die zu ihnen Zugang haben, bereiten sie jedoch große Freude, denn sie fühlen sich denjenigen, die nichts wissen, überlegen. Im übrigen taugen diese Informationen einzig zum besseren Gutheißen der Herrschaft, nie aber, um sie wirklich zu verstehen. Sie bilden das Privilegium der l. Klasse-Zuschauer: jener, die so dumm sind und glauben, sie könnten etwas verstehen, nicht etwa dadurch, daß sie sich dessen bedienen, was man l ihnen verheimlicht, sondern indem sie glauben, was man ihnen enthüllt!
Die Herrschaft ist zumindest darin hellsichtig, daß sie nämlich von ihrer eigenen freien und ungehinderten Verwaltung für die allernächste Zukunft eine recht stattliche Anzahl von Katastrophen erster Ordnung erwartet und dies sowohl auf ökologischem – in der Chemie zum Beispiel – als auch auf wirtschaftlichem Gebiet – im Bankwesen zum Beispiel. Seit geraumer Zeit bereits hat sie sich mit den Mitteln versehen, diesen außergewöhnlichen Malheuren anders zu begegnen, als durch die gewohnte Handhabung der sanften Desinformation.
XXII
Was die seit mehr als zwei Jahrzehnten im Anstieg begriffene Zahl gänzlich unaufgeklärter Morde anbetrifft – wurde mitunter auch ein Komparse geopfert, kam es nie in Frage, zu den Auftraggebern zurückzugehen -, so wird ihr Serienproduktionscharakter in den flagranten und wechselnden Lügen der offiziellen Verlautbarungen deutlich; Kennedy, Aldo Moro, Olof Palme, Minister oder Bankiers, ein oder zwei Päpste und andere, die besser waren als sie. Dieses Syndrom einer erst seit kurzem erworbenen Gesellschaftskrankheit hat sich allerorts schnell verbreitet, so als stiege es, seit den ersten konstatierten Fällen, hinab von den Spitzen des Staates, der herkömmlichen Sphäre solcher Attentate und gleichzeitig aus den Niederungen der Gesellschaft empor, der anderen gewohnten Stätte illegaler Schieberei und Protektionen, wo diese Art Krieg, unter Profis, von jeher gang und gäbe ist. Diese Praktiken neigen dazu, einander in der Mitte, im Geschäftsmilieu der Gesellschaft, zu begegnen, so als ob der Staat eine Einmischung wirklich nicht als unter seiner Würde erachtete und es der Mafia gelänge, sich dorthin emporzuschwingen, wodurch eine Art Vereinigung zustande kommt.
Was ist nicht alles angerührt worden, um diese neue Art von Geheimnis aus dem Zufall zu erklären: Unfähigkeit der Polizeiapparate, Dummheit der Untersuchungsrichter, inopportune Presseenthüllungen, Wachstumskrise der Geheimdienste, Böswilligkeit der Zeugen und Streik der Denunziantenkorporation. Und doch hatte bereits Edgar Allan Poe durch seinen berühmten Gedankenschluß im Doppelmord in der RueMorgue herausgefunden, in welcher Richtung die Wahrheit mit Sicherheit zu suchen ist:
»Mir scheint, als ob das für unlösbar gehaltene Geheimnis durchaus nicht unergründlich ist. Ich will damit sagen, daß gerade der outrierte Charakter aller Einzelheiten nur ein kleines und deutlich begrenztes Feld von Vermutungen zuläßt… Bei Untersuchungen dieser Art sollte man nicht so rasch fragen: was ist hier geschehen, als: was ist hier geschehen, was noch nicht vorher geschehen ist.«
XXIII
Im Januar 1988 veröffentlichte die kolumbianische Rauschgiftmafia ein Kommuniqué, mit dem sie die öffentliche Meinung über ihre vermeintliche Existenz ins Bild setzen wollte. Von Natur aus ist es das erste Bedürfnis einer Mafia, wo immer sie sich auch gebildet haben mag, zu etablieren, daß es sie nicht gibt oder daß sie das Opfer unwissenschaftlicher Verleumdungen ist. Hierin liegt ihre erste Ähnlichkeit mit dem Kapitalismus. Im vorliegenden Fall ist die Mafia, verärgert darüber, daß man sie allein ins Rampenlicht gestellt hat, soweit gegangen, all die Gruppierungen zu erwähnen, die sich am liebsten vergessen machen ließen, indem sie die Mafia ungerechterweise zum einzigen Sündenbock erklärten. »Wir gehören weder der bürokratischen noch der politischen Mafia an, weder der Mafia der Bankiers und Finanziers, noch der der Millionäre, weder der Mafia der großen Schwindelverträge, noch der der Monopole, des Erdöls oder der großen Kommunikationsmittel«, erklärt sie.
Sicher geht man nicht fehl in der Annahme, daß den Verfassern dieser Erklärung daran gelegen ist, ganz so wie die anderen, ihre eigenen Praktiken in den breiten Strom der trüben Wasser der Kriminalität auszuschütten, der die heutige Gesellschaft in ihrer ganzen Existenz bespült. Doch genauso muß man eingestehen, daß es sich hier um Leute handelt, die berufsmäßig besser wissen, wovon sie reden. Auf dem Boden der modernen Gesellschaft gedeiht die Mafia allenthalben prächtig. Sie wächst ebenso rasch wie die übrigen Arbeitserzeugnisse, mit der die Gesellschaft des integrierten Spektakulären ihrer Welt Gestalt verleiht. Die Mafia wächst mit den enormen Fortschritten der Computer und der Nahrungsmittelindustrie, den Fortschritten der radikalen Umstrukturierung der Städte und denen der Slums, der Spezialabteilungen und des Analphabetentums.
XXIV
Als die Mafia mit der Einwanderung sizilianischer Arbeiter zu Beginn des Jahrhunderts in den USA von sich reden machte, war sie lediglich ein verpflanzter Archaismus, so wie zur selben Zeit an der Westküste Bandenkriege zwischen chinesischen Geheimgesellschaften entbrannten. Fußend auf Obskurantismus und Elend, vermochte die Mafia nicht einmal in Norditalien Wurzel zu fassen. Sie schien dazu verurteilt, überall vor dem modernen Staat zurückzutreten, und stellte eine Form des organisierten Verbrechens dar, die sich nur durch den »Schutz« rückständiger Minderheiten außerhalb der städtischen Lebenszone entwickeln konnte, dort wo der Kontrolle durch eine mit rationellen Mitteln arbeitende Polizei und den Gesetzen der Bourgeoisie der Zutritt versagt war. Die Defensivtaktik der Mafia konnte nie in etwas anderem als der Beseitigung von Zeugen bestehen, um Polizei und Justiz zu neutralisieren und das Schweigen, dessen sie in ihrem Tätigkeitsbereich bedarf, durchzusetzen. In der Folge hat sie ein neues Betätigungsfeld im neuen Obskurantismus der Gesellschaft des diffusen, dann des integrierten Spektakulären gefunden: mit dem totalen Sieg des Geheimnisses, der allgemeinen Demission der Bürger, dem völligen Verlust an Logik und den Fortschritten der universellen Verkäuflichkeit und Feigheit waren die günstigen Bedingungen vereint, sie zu einer modernen und offensiven Macht werden zu lassen.
Die amerikanische Prohibition – Musterbeispiel für die Ansprüche der Staaten dieses Jahrhunderts auf die autoritäre Kontrolle über alles und jedes und die daraus erwachsenden Ergebnisse – hat dem organisierten Verbrechen mehr als ein Jahrzehnt lang die Leitung des Alkoholhandels überlassen. Die Mafia, seitdem über Reichtum und Übung verfügend, hat sich in Wahlpolitik, Geschäfte, die Entwicklung des Markts für bezahlte Killer und gewisse Einzelheiten der Weltpolitik eingemischt. So wurde sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Regierung in Washington begünstigt, um bei der Invasion Siziliens behilflich zu sein. An die Stelle des erneut legalisierten Alkohols traten die Rauschmittel, die dann zur führenden Ware unter den illegalen Konsumgütern wurden. In der Folge hat sie eine beachtliche Bedeutung im Immobiliensektor, den Banken, der hohen Politik und den bedeutenden Staatsgeschäften und schließlich in der Unterhaltungsindustrie – Fernsehen, Film und Verlagswesen – erlangt. Auch gilt dies bereits, in den Vereinigten Staaten jedenfalls, für die Schallplattenindustrie, wie überall da, wo das Bekanntwerden eines Produkts von einer recht eng begrenzten Anzahl von Leuten abhängt. Druck auf diese auszuüben ist ein Leichtes, entweder indem man sie kauft oder einschüchtert, denn an hinreichend Kapital oder Handlangern, die weder identifiziert noch bestraft werden können, fehlt es gewiß nicht. Durch Bestechung der Discjockeys wird darüber entschieden, welcher unter gleich miserablen Waren Erfolg beschieden sein soll.
Ohne Zweifel hat die Mafia, im Anschluß an ihre amerikanischen Erfahrungen und Eroberungen, ihre größte Macht in Italien erlangt: seit ihrem historischen Kompromiß mit der Parallelregierung ist sie in der Lage, Untersuchungsrichter oder Polizeichefs töten zu lassen – eine Praktik, die sie durch ihre Beteiligung an den Inszenierungen des politischen »Terrorismus« hat einweihen können. Die Entwicklung des japanischen Gegenstücks zur Mafia unter relativ unabhängigen Umständen ist ein guter Beweis für die Einheit der Epoche.
Man geht jedesmal fehl, will man etwas beweisen, indem man die Mafia dem Staat gegenüberstellt: diese sind nie Widersacher. Leicht verifiziert die Theorie, was alle Gerüchte des praktischen Lebens mit allzu großer Leichtigkeit aufgezeigt haben. Die Mafia ist nicht fremd in dieser Welt, sondern völlig in ihr zuhause. Im Augenblick des integrierten Spektakulären herrscht sie tatsächlich als das Modell aller fortgeschrittenen Geschäftsunternehmungen.
XXV
Mit den neuen Bedingungen, die nun in der unter der eisernen Ferse des Spektakels erdrückten Gesellschaft vorherrschen, erscheint beispielsweise ein politisches Attentat bekanntlich in einem neuen, gewissermaßen gedämpften Licht. Überall gibt es viel mehr Verrückte als früher. Unvergleichlich bequemer aber ist, daß man darüber auf verrückte Art und Weise reden kann. Und nicht etwa irgendeine Schreckensherrschaft gebietet solche Medienerklärungen. Im Gegenteil, die friedliche Existenz dieser Erklärungen ist es, die den Schrecken hervorrufen soll.
Als 1914, unmittelbar vor Kriegsausbruch, Villain Jaures ermordete, da zweifelte niemand daran, daß Villain, ein sicher nicht sehr ausgeglichenes Individuum, geglaubt hatte, Jaures töten zu müssen, weil die Extremisten der patriotischen Rechten, die Villain tief beeinflußt hatten, in Jaures jemanden sahen, der eine Gefahr für die Verteidigung des Landes darstellte. Was diese Extremisten aber unterschätzt hatten, war die unerhörte Kraft der patriotischen Zustimmung in der sozialistischen Partei, die diese im Nu zur »Heiligen Allianz« treiben sollte, gleich ob Jaures nun ermordet oder man ihm dagegen die Gelegenheit gelassen hätte, auf seiner internationalistischen, kriegsgegnerischen Position zu beharren. Heutzutage würden angesichts eines solchen Ereignisses die Polizisten-Journalisten, offenkundige Experten in Sachen »Gesellschaft« und »Terrorismus«, sofort anführen,Villain sei dafür bekannt gewesen, wiederholt Anstalten zu Mordversuchen gemacht zu haben, wobei dieser Trieb sich jedesmal gegen Männer gerichtet habe, die verschiedenste politische Anschauungen gehabt, alle aber zufällig Jaures in Aussehen oder Kleidung ähnlich gesehen hätten. Psychiater würden dies bezeugen, und die Medien – indem sie bescheinigen, daß jene es bezeugt haben – würden durch diese bloße Tatsache ihre Kompetenz und Neutralität als unvergleichbar befähigte Experten beweisen. Die offiziellen Polizeiermittlungen ergäben bereits am nächsten Tag schon, daß man gerade mehrere respektable Persönlichkeiten gefunden habe, die bereit seien zu bezeugen, daß eben jener Villain – sich eines Tages im Café »Chope du Croissant« schlecht bedient wähnend – in ihrer Gegenwart lautstark gedroht habe, sich demnächst am Wirt zu rächen, indem er vor aller Augen auf der Stelle einen seiner besten Kunden niederschießen würde.
Dies will nicht heißen, daß in der Vergangenheit die Wahrheit oft und sofort an den Tag kam, ist Villain doch von der französischen Justiz schließlich freigesprochen worden. Erst 1936 wurde er bei Ausbruch der spanischen Revolution erschossen, da er die Unvorsichtigkeit besessen hatte, die Balearen zu seinem Wohnsitz zu erwählen.
XXVI
Allenthalben wohnen wir der Bildung von Einflußkreisen oder Geheimgesellschaften bei. So wollen es die neuen Bedingungen für eine gewinnbringende Lenkung der wirtschaftlichen Angelegenheiten zu einem Zeitpunkt, da der Staat einen hegemonischen Anteil bei der Ausrichtung der Produktion innehat und bei allen Waren die Nachfrage eng auf die Zentralisation angewiesen ist, die auf dem Gebiet der spektakulären Anreiz-Information erzielt wurde und der sich auch die Distributionsformen werden anzupassen haben. Hierbei handelt es sich also lediglich um ein natürliches Produkt der Konzentration von Kapital, Produktion und Distribution. Was auf diesem Gebiet nicht expandiert, hat zu verschwinden, und ein Unternehmen vermag nur dann zu expandieren, wenn es sich der Werte, Techniken und Mittel dessen bedient, was heute Industrie, Spektakel und Staat sind. Letztendlich ist es die besondere Entwicklung, welche die Ökonomie unserer Zeit gewählt hat, die allenthalben die Bildung neuer Bande der Abhängigkeit und der Protektion durchsetzt.
Eben in diesem Punkt liegt die tiefe Wahrheit des von der sizilianischen Mafia gebrauchten Ausspruchs, der in ganz Italien so gut verstanden wird und der da lautet: »Wenn du Geld und Freunde hast, dann kann die Justiz dir gestohlen bleiben.« Im integrierten Spektakulären schlafen die Gesetze, denn sie sind nicht für die neuen Produktionstechniken geschaffen worden und werden in der Distribution durch Übereinkünfte neuen Typs umgangen. Was das Publikum denkt oder vorzieht, spielt keine Rolle mehr. Das ist es, was das Spektakel mit all den Meinungsumfragen, Wahlen und modernisierenden Umstrukturierungen kaschiert. Wer immer der Gewinner auch sein mag, die werte Kundschaft nimmt das Schlechteste wonach Hause: denn genau das ist es, was für sie produziert wurde.
Vom »Rechtsstaat« ist erst seit dem Augenblick ständig die Rede, da der moderne, sogenannte demokratische Staat generell aufgehört hat, ein solcher zu sein, und es ist kein Zufall, wenn der Ausdruck sich erst kurz nach 1970 verbreitet hat und zuerst just in Italien. Auf mehreren Gebieten macht man gar Gesetze eben in der Absicht, daß diese von denen umgangen werden, die dazu über alle Mittel verfügen. Unter bestimmten Umständen, beispielsweise beim Welthandel mit Waffen aller Art und öfter noch beim Handel mit Erzeugnissen der Spitzentechnologie, ist die Illegalität lediglich eine Art Hilfskraft der wirtschaftlichen Operation, die durch sie umso rentabler wird. Heutzutage sind viele Geschäfte zwangsweise so unlauter wie das Jahrhundert und nicht mehr wie einst, als sie in scharf voneinander abgegrenzten Folgen von Leuten praktiziert wurden, die den Weg der Unlauterkeit gewählt hatten.
Mit dem Wachsen der Promotions- und Kontrollnetze zum Abstecken und Behaupten exploitierbarer Marktsektoren wächst auch die Zahl der persönlichen Gefälligkeiten, welche denen nicht abgeschlagen werden können, die Bescheid wissen und die ebensowenig ihre Hilfe verweigert haben. Nicht immer handelt es sich hierbei um Polizisten oder um Hüter von Staatssicherheit und Staatsinteressen. Diese funktionellen Komplizenschaften wirken weit nach und auf lange lange Zeit, verfügen ihre Netze doch über alle Mittel, die Gefühle der Erkenntlichkeit und Treue aufzuzwingen, die in den Zeiten der freien Tätigkeit der Bourgeoisie leider stets so selten waren.
Es gibt immer etwas von seinem Gegner zu lernen. So möchte man glauben, daß auch die vom Staat dazu bewogen worden sind, die Bemerkungen des jungen Lukács über die Konzepte Illegalität und Legalität zu lesen, und zwar in dem Augenblick, da sie den ephemeren Durchgang einer neuen Generation des Negativen zu bewältigen hatten – »ganz wie der Blätter Geschlecht so sind die Geschlechter der Menschen«, heißt es bei Homer. Von da an haben die vom Staat, so wie wir, sich in dieser Frage jeglicher Ideologie entledigen können, und in der Tat waren die Praktiken der spektakulären Gesellschaft Illusionen dieser Art ganz und gar nicht zuträglich. Was uns alle betrifft, so ließe sich schließlich sagen, daß das, was uns oft daran hinderte, uns in einer einzigen illegalen Aktivität einzuschließen, die Tatsache war, daß wir derer mehrere gehabt haben.
XXVII
Über die Operationen einer anderen Oligarchie sagt Thukydides im Buch VIII, Kapitel 66 des Peloponnesischen Krieges etwas, das große Ähnlichkeit mit der Situation aufweist, in welcher wir uns befinden:
»… Vielmehr kamen die Sprecher aus ihren Reihen, und das Gesprochene war unter ihnen verabredet worden. Keiner der anderen widersprach; man hatte Angst und sah die große Zahl der Verschworenen. Wenn trotzdem jemand opponierte, war er durch ein geeignetes Verfahren schnell aus dem Weg geräumt. Nach dem Täter wurde nicht gefahndet, auch gegen Verdächtige nicht gerichtlich vorgegangen. Das Volk blieb stumm und war derart eingeschüchtert, daß jeder, der keine Gewalt zu spüren bekam, allein dies schon als einen Gewinn betrachtete, selbst wenn er geschwiegen hätte. Und da man den Kreis der Verschworenen für noch viel größer hielt, als er wirklich war, unterlag der persönliche Mut. Bei der Größe der Stadt, und da einer den anderen nicht kannte, war ein eigenes Urteil nicht möglich. Aus demselben Grunde war es auch unmöglich, in der Erbitterung jemandem sein Leid zu klagen, um gemeinsam etwas zu planen und sich zur Wehr zu setzen, denn entweder kam man mit seiner Klage an einen Unbekannten oder an einen unzuverlässigen Bekannten. Im Volk herrschte ein allgemeines Mißtrauen im Verkehr, da jeder den anderen für beteiligt hielt. Nun befanden sich wirklich Leute darunter, denen man die Neigung zur Oligarchie nicht zugetraut hätte.«
Sollten wir nach dieser Eklipse eine Rückkehr der Geschichte erleben, was von noch im Kampf begriffenen Faktoren abhängt und mithin von einem Ergebnis, das niemand mit Sicherheit auszuschließen vermag, so werden diese Kommentare einmal dazu dienen, die Geschichte des Spektakels zu schreiben; zweifelsohne das wichtigste Ereignis dieses Jahrhunderts und zugleich dasjenige, welches zu erklären man sich am wenigsten erkühnt hat. Unter anderen Umständen hätte ich mich, glaube ich, mit meinem ersten Werk zu diesem Thema höchst zufrieden schätzen und anderen die Sorge überlassen können, die Folgen in Augenschein zu nehmen. Im gegenwärtigen Augenblick aber, so schien es mir, würde es niemand anderer getan haben.
XXVIII
Von den Promotion- und Kontrollnetzen gleiten wir unmerklich zu solchen der Überwachung und Desinformation über. Früher wurde stets nur gegen eine etablierte Ordnung konspiriert. In unseren Tagen ist die Konspiration zu ihren Gunsten ein neuer Beruf, der in starker Entwicklung begriffen ist. Unter der spektakulären Herrschaft wird konspiriert, um diese aufrecht zu erhalten und um zu garantieren, was allein sie ihren guten Gang nennen darf. Diese Konspiration ist Teil ihrer Funktionsweise selbst.
So hat man bereits damit begonnen, gewisse Mittel einer Art präventiven Bürgerkrieges zu installieren, angepaßt an verschiedene Projizierungen der berechneten Zukunft. Hierbei handelt es sich um »spezifische Organisationen«, deren Auftrag darin besteht, in verschiedenen Punkten, entsprechend den Bedürfnissen des integrierten Spektakulären zu intervenieren. Für die schlimmste aller Eventualitäten hat man eine Taktik vorgesehen, die spaßeshalber »Taktik der drei Kulturen« genannt wird – in Erinnerung an einen Platz in Mexico im Sommer 1968. Eine Taktik, bei der diesmal keine Samthandschuhe mehr angezogen und die im übrigen bereits vor dem Tag der Revolte angewandt werden würde. Sieht man einmal von solchen extremen Fällen ab, so brauchen ungeklärte Morde, um als Regierungsmittel geeignet zu sein, keineswegs viele treffen und oft Anwendung finden: die bloße Tatsache, daß man um ihre Möglichkeit weiß, läßt die Berechnungen auf einer äußerst großen Anzahl von Gebieten augenblicklich komplizierter geraten. Auch braucht sie nicht auf intelligente Weise selektiv, ad hominem, zu sein. Eine rein zufallsbedingte Anwendung des Verfahrens ist am Ende gar wesentlich produktiver.
Desgleichen ist man jetzt in der Lage, Fragmente einer gezüchteten Sozialkritik zu bilden, mit der nicht mehr Akademiker oder Medienleute betraut werden, die es in dieser Diskussion von den allzu konventionellen Flunkereien besser fernzuhalten gilt. Es handelt sich um eine bessere Kritik, auf neue Art lanciert und ausgenutzt, gehandhabt von einer neuen, besser ausgebildeten Art von Fachleuten. Hier und da erscheinen, recht konfidentiell, scharfsinnige Texte, anonym oder gezeichnet von Unbekannten -eine Taktik, die durch die Konzentration des Wissens erleichtert wird, daß ein jeder über die Hofnarren des Spektakels besitzt und die bewirkt hat, daß gerade Unbekannte als am schätzenswertesten erscheinen -, und zwar nicht nur zu Themen, die nie im Spektakel angeschnitten werden, sondern dazu noch mit Argumenten, deren Richtigkeit frappierender wird durch eine Art berechenbarer Originalität, die davon herrührt, daß sie letzten Endes nie verwendet werden, obgleich sie ziemlich klar auf der Hand liegen. Diese Taktik kann zumindest als erste Initiationsstufe bei der Rekrutierung von einigermaßen aufgeweckten Geistern dienen, denen man, wenn sie konvenabel erscheinen, später mehr von dem sagen wird, was folgen mag. Und was für die einen der erste Schritt zu einer Karriere bedeutet, wird für andere, die schlechter im Rennen liegen, die erste Stufe der Falle sein, mit der man sie schnappen wird.
In bestimmten Fällen geht es darum, zu Fragen, die brisant werden könnten, eine andere kritische Pseudo-Meinung zu schaffen, und zwischen den so auftretenden zwei Meinungen, von denen die eine wie die andere den erbärmlichen spektakulären Konventionen fremd sind, mag das unbefangene Urteil dann unaufhörlich hin und her oszillieren, und die Diskussion, mit der sie gegeneinander abgewägt werden soll, wird jedes Mal, wenn dies genehm erscheint, neu angefacht. Öfter handelt es sich um allgemeine Äußerungen zu dem, was durch die Medien verhehlt wird. Dieser Diskurs kann sehr kritisch sein und in manchen Punkten ganz offensichtlich intelligent, er bleibt aber merkwürdig dezentriert. Themen und Vokabular sind künstlich ausgewählt worden, von mit kritischem Denken gespeicherten Computern. In diesen Texten gibt es Lücken, die zwar recht unauffällig, aber dennoch bedeutend sind: es fehlt darin stets anormalerweise der Fluchtpunkt der Perspektive. Sie ähneln dem Faksimile einer berühmten Waffe, der lediglich der Schlagbolzen fehlt. Es handelt sich zwangsläufig um eine Lateralkritik, die manches mit großer Offenheit und Aufrichtigkeit sieht, sich dabei aber immer seitwärts hält. Und dies nicht etwa, weil es ihr irgendwie um Neutralität zu tun wäre. Im Gegenteil, sie muß aussehen, als tadele sie viel, ohne daß es dabei aber so aussieht, als verspüre sie das Bedürfnis, durchscheinen zu lassen, welches ihre Sache ist und somit, sei es auch nur implizit zu sagen, von wo sie kommt und worauf sie abzielt.
Zu dieser Art von falscher contra-journalistischer Kritik gesellt sich eventuell die organisierte Praktik des Gerüchts, das ursprünglich, wie jeder weiß, eine Art ungewolltes Nebenprodukt der spektakulären Information ist, spüren doch alle, zumindest unbestimmt, das Trügerische an ihr und somit das geringe Vertrauen, das sie verdient. Anfangs war das Gerücht abergläubisch, naiv und selbstbeeinflußt. In jüngster Zeit aber hat die Überwachung damit begonnen, unter die Bevölkerung Leute zu bringen, die beim ersten Signal Gerüchte verbreiten, die sie für gut befunden haben mag. Man hat hier beschlossen, die Beobachtungen einer Theorie praktisch anzuwenden, die vor ungefähr dreißig Jahren formuliert wurde und aus der amerikanischen Werbesoziologie stammt: die Theorie der Individuen, die man »Zugpferde« nannte, d. h. Individuen, denen andere folgten und sie imitierten, wobei diesmal eingeübt, was vormals spontan gewesen ist. Auch hat man jetzt etatmäßig oder außeretatmäßig die Mittel zum Unterhalt einer großen Anzahl von Hilfskräften freigemacht, die den vormaligen Spezialisten, Universitätslehrern und Medienleuten, Soziologen oder Polizisten der jüngsten Vergangenheit zur Seite stehen. Der Glaube, es würden mechanisch noch irgendwelche aus der Vergangenheit bekannte Modelle Anwendung finden, ist ebenso irreführend wie die allgemeine Unkenntnis der Vergangenheit. »Nicht mehr in Rom ist Rom« und die Mafia nicht mehr in der Unterwelt. Und die Überwachungs- und Desinformationsdienste haben mit der Arbeit der Polizisten und Spitzel von früher – der »Roussins« und »Mouchards«des zweiten Kaiserreichs zum Beispiel – ebensowenig zu tun wie die heutigen Spezialabteilungen aller Länder mit den Aktivitäten der Offiziere des »Deuxieme Bureau« im Generalstab der Armee von 1914.
Seitdem die Kunst tot ist, ist es bekanntlich kinderleicht geworden, Polizisten als Künstler zu verkleiden.
Wenn die letzten Imitationen eines umgedrehten Neo-Dadaismus sich stolz und weihevoll in den Medien aufplustern und somit dann und wann auch einmal am Dekor der Staatspaläste herumbasteln dürfen, so wie die Narren am Hof der Könige des Tinneffs, sieht man, wie mit einem Streich allen Agenten oder Hilfskräften der staatlichen Einflußkreise ein kultureller Deckmantel sicher ist. Man eröffnet leere Pseudo-Museen oder dem Lebenswerk einer inexistenten Persönlichkeit gewidmete Pseudo-Forschungszentren ebenso rasch, wie man den Ruf von Polizei-Journalisten, Polizei-Historikern oder Polizei-Romanschreibern schafft. Sicher hat Arthur Cravan diese Welt kommen sehen, als er in Maintenant schrieb: »Auf der Straße wird man bald nur noch Künstler sehen, und es wird mordsschwer sein, einen Menschen zu entdecken.« Denselben Sinn hat die folgende verjüngte Form eines alten Scherzes der Pariser Ganoven: »Tag’chen Künstler! Egal, wenn ich mich irre.« So wie die Dinge jetzt liegen, können wir sehen, wie die modernsten aller Verlage, also die, die sich mit dem besten kommerziellen Vertrieb versehen haben, bestimmte Autorenkollektive verwenden. Da die Authentizität ihrer Pseudonyme einzig durch die Zeitungen garantiert wird, leihen sie sich jene gegenseitig aus, kollaborieren, ersetzen einander und stellen neue künstliche Gehirne ein. Ihr Auftrag ist, den Lebensstil und das Denken der Epoche auszudrücken, nicht etwa auf Grund ihrer Persönlichkeit, sondern auf Befehl. So können die, die sich selber als echte, individuelle literarische Unternehmer wähnen, gelehrten Tones beteuern, daß nunmehr Ducasse sich mit dem Comte de Lautreamont überwerfen hat, daß Dumas nicht Macquet ist, daß man bloß nicht Erckmann mit Chatrian verwechseln darf und daß Censier und Daubenton nicht mehr miteinander reden. Besser würde man sagen, daß diese Art moderner Autor Rimbaud zumindest darin hat folgen wollen, daß »Ich ein Anderer« ist.
Die Geheimdienste waren durch die ganze Geschichte der spektakulären Gesellschaft dazu berufen, darin die Rolle der Hauptdrehscheibe zu spielen; konzentrieren sich in ihnen doch die Merkmale und die Exekutivmittel einer solchen Gesellschaft. Ihnen obliegt es auch in zunehmendem Maß, die allgemeinen Interessen dieser Gesellschaft zu schlichten, wenngleich unter dem bescheidenen Titel »Dienste«. Nicht um Übergriffe handelt es sich, denn sie drücken getreu die gemeinen Sitten des Jahrhunderts des Spektakels aus. Und so fliehen Uberwacher und Überwachte auf einem uferlosen Ozean. Das Spektakel hat dem Geheimnis zum Triumph verholfen und muß in stets zunehmendem Maße in den Händen der Spezialisten des Geheimnisses sein, die dem Staat gegenüber, in unterschiedlichen Graden ihre Autonomie erlangend, selbstverständlich nicht alle Beamte sind; nicht alle Beamte
XXIX
Ein Grundgesetz der Funktionsweise des integrierten Spektakulären, zumindest für die, denen seine Leitung obliegt, ist, daß in diesem Rahmen, alles was getan werden kann auch getan werden muß. Daß heißt, daß jedes neue Instrument auch benutzt werden muß, koste es was es wolle. Das neue Werkzeug wird allenthalben zum Ziel und Motor des Systems und ist allein imstande, jedesmal seinen Lauf nennenswert zu modifizieren, wenn sich seine Benutzung ohne weiteres Nachdenken durchgesetzt hat. Zwar wollen die Eigentümer der Gesellschaft vor allem ein »bestimmtes Verhältnis zwischen Personen« aufrechterhalten, doch müssen sie ebenfalls die unaufhörliche technische Erneuerung weitertreiben, denn dies war eine der Verpflichtungen, die sie mit ihrem Erbe akzeptiert haben. Dieses Gesetz gilt denn auch für die Dienste, die den Herrschaftsapparat schützen. Das einmal entwickelte Instrument muß verwendet werden, und seine Verwendung stärkt eben die Bedingungen, die ihr Vorschub geleistet haben. Notmaßnahmen werden so zu Dauerverfahren.
In gewissem Sinne hat die Kohärenz der Gesellschaft des Spektakels den Revolutionären Recht gegeben, ist doch klar geworden, daß man darin nicht das ärmlichste kleine Detail reformieren kann, ohne das Ganze zu zerstören. Gleichzeitig aber hat diese Kohärenz jede organisierte revolutionäre Tendenz dadurch liquidiert, daß sie die gesellschaftlichen Begegnungsstätten beseitigte, auf denen sie sich mehr oder minder gut auszudrücken vermochte: von der Gewerkschaftsbewegung bis hin zu den Zeitungen, von der Stadt bis hin zu den Büchern. Mit einem Schlag hat man die Inkompetenz und die Gedankenlosigkeit ins Licht rücken können, die diese Tendenz ganz natürlich in sich barg. Und was die Individuen betrifft, so ist die herrschende Kohärenz durchaus in der Lage, bestimmte eventuelle Ausnahmen zu eliminieren oder zu kaufen.
XXX
Die Überwachung könnte weitaus gefährlicher sein, triebe man sie nicht auf dem Wege der absoluten Kontrolle aller zu einem Punkt, an dem sie auf Schwierigkeiten trifft, die ihr aus ihren eigenen Fortschritten erwachsen. Es besteht ein Widerspruch zwischen der Masse der eingeholten Informationen und der zu ihrer Analyse zur Verfügung stehenden Zeit und Intelligenz oder schlichtweg ihrem möglichen Interesse. Der Überfluß an Stoff zwingt dazu, diesen auf jeder Stufe zu resümieren: viel verschwindet, und was übrigbleibt ist noch viel zu lang, um gelesen zu werden. Überwachung und Manipulation unterstehen keiner einheitlichen Führung. Überall nämlich wird um die Aufteilung der Profite gekämpft und somit auch für die vorrangige Entwicklung dieser oder jener Virtualität zum Nachteil aller anderen, die indes, wenn sie nur vom gleichen Schlage sind, für ebenso respektierlich erachtet werden.
Kampf kann auch Spiel sein. Jeder Führungsoffizier neigt dazu, seine Agenten sowie die Gegner, um die er sich kümmert, zu überschätzen. Jedes Land, ganz zu schweigen von den zahlreichen supra-nationalen Allianzen, verfügt gegenwärtig über eine unbestimmte Anzahl von Polizei- oder Spionageabwehrdiensten, sowie über staatliche und parastaatliche Geheimdienste. Auch gibt es zahlreiche Privatunternehmen, deren Aufgabenbereich auf dem Gebiet der Überwachung, des Personen- und Objektschutzes und der Beschaffung von Informationen liegt. Die großen multinationalen Unternehmen verfügen selbstverständlich über ihre eigenen Dienste. Doch gilt dies auch für verstaatlichte Betriebe, selbst solche bescheidenen Ausmaßes, die auf nationaler und manchmal auch auf internationaler Ebene ebenfalls eine unabhängige Politik verfolgen. So kann man erleben, wie eine Gruppe der Atomenergie sich einem Ölkonzern in den Weg stellt, obwohl beide doch Besitz ein- und desselben Staates sind und noch dazu, durch ihre Sorge um die Aufrechterhaltung eines hohen Erdölpreises miteinander dialektisch verbunden sind. Jeder Sicherheitsdienst einer besonderen Industrie bekämpft die Sabotage bei sich und organisiert sie im Bedarfsfall bei seinem Widersacher: wer viel in einem Unterseetunnel anlegt, der ist für die Unsicherheit der Fährschiffe und kann in Schwierigkeiten steckende Zeitungen kaufen, um sie es bei der erstbesten Gelegenheit und ohne viel Federlesen spüren zu lassen. Und wer mit Sandoz im Konkurrenzkampf steht, dem kann das Grundwasser des Rheintals gleich sein. Es wird geheim überwacht, was geheim ist. Dergestalt, daß jeder dieser Organismen, die mit großer Flexibilität um die konföderiert sind, denen die Staatsräson unterliegt, auf eigene Rechnung eine Art sinnentleerte Hegemonie im Auge hat. Denn der Sinn ist mit dem erkennbaren Zentrum verlorengegangen.
Die moderne Gesellschaft, die bis 1968 von Erfolg zu Erfolg eilte und steif und fest glaubte, geliebt zu werden, hat seitdem auf diese Träume verzichten müssen; sie zieht es vor, gefürchtet zu werden. Nur zu gut weiß sie, daß ihre »Unschuldsmiene ein für alle Male dahin ist«.
So verstricken sich denn unzählige Komplotte zugunsten der etablierten Ordnung und bekämpfen einander überall, während sich Geheimnetze sowie geheime Fragen und Aktionen immer weiter verschachteln und sich der Prozeß ihrer Integration in alle Zweige von Wirtschaft, Politik und Kultur beschleunigt. Der Gehalt der Mischung von Beobachtern, Desinformateuren und Sonderangelegenheiten wächst beständig in allen Zonen des gesellschaftlichen Lebens. So dicht ist das allgemeine Komplott geworden, daß es sich schier vor aller Augen ausbreitet und jede seiner Branchen die andere bald behindern oder beunruhigen wird; denn all diese Berufsverschwörer gelangen mit einem Male dazu, daß sie sich gegenseitig observieren, ohne recht zu wissen warum, oder aber zufällig aufeinanderzutreffen, ohne daß sie sich mit Gewißheit wiederzuerkennen vermögen. Wer will wen observieren? Auf wessen Rechnung allem Anschein nach? In Wirklichkeit aber? Die wahren Einnüsse bleiben verborgen, und die eigentlichen Absichten können nur schwerlich geahnt, so gut wie nie verstanden werden. Niemand kann so behaupten, daß er den Köder verschmäht habe oder nicht manipuliert sei. Ganz selten kommt es aber vor, daß der Manipulator selber in der Lage ist zu wissen, ob er gewonnen hat. Und sich auf der Gewinnerseite der Manipulation zu befinden, heißt noch lange nicht, daß man sich für die richtige strategische Perspektive entschieden hat. Taktische Erfolge können so starke Kräfte auf schlechten Wegen versacken lassen.
Die, die in ein und demselben Netz anscheinend ein und dasselbe Ziel verfolgen und nur einen Teil dieses Netzes bilden, sind zwangsläufig außerstande, die Hypothesen und Schlußfolgerungen der anderen Teile zu kennen, insbesondere die ihres Führungskerns. Die weithin bekannte Tatsache, daß alle Informationen zu gleich welchem observierten Gegenstand ebensogut aus der Luft gegriffen, stark verfälscht oder völlig inadäquat ausgelegt sein können, erschwert die Berechnungen der Inquisitoren und läßt sie in hohem Maße unsicher geraten, denn was ausreicht, jemanden verurteilen zu lassen, ist vielleicht nicht so sicher, wenn es darum geht, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bedienen. Da alle Informationsquellen miteinander im Widerstreit liegen, tun dies auch die Fälschungen.
Wird Kontrolle unter derartigen Bedingungen ausgeübt, so läßt sich von einem tendenziellen Fall ihrer Rentabilität reden in dem Maße, wie sie die Gesamtheit des sozialen Raums erfaßt und folglich ihr Personal und ihre Mittel erhöht. Jedes Mittel nämlich trachtet danach und arbeitet daraufhin, zum Zweck zu werden. Die Überwachung überwacht und intrigiert gegen sich selbst.
Kurzum, gegenwärtig liegt ihr Hauptwiderspruch darin, daß sie eine Partei überwacht, infiltriert und beeinflußt, die es nicht gibt: die, die es auf die Unterwanderung der gesellschaftlichen Ordnung abgesehen haben soll. Wo aber sieht man diese am Werk? Zwar waren die Bedingungen überall noch nie so gravierend revolutionär, doch sind dieser Ansicht nur die Regierungen. So gänzlich ist die Negation ihres Denkens beraubt worden, daß sie seit langem versprengt ist. Daher stellt sie nur noch eine unbestimmte, aber dennoch äußerst beunruhigende Bedrohung dar, und die Überwachung ihrerseits sieht sich ihres besten Betätigungsfeldes verlustig gegangen. Und so treiben die gegenwärtigen Erfordernisse, welche die Bedingungen des Einsatzes jener Überwachungs- und Interventionskraft bestimmen, sie dazu, sich auf das Terrain der Bedrohung zu begeben, um sie im voraus zu bekämpfen. Darum ist der Überwachung daran gelegen, selber die Negationspole zu schaffen, die sie dann, außerhalb der diskreditierten Mittel des Spektakels mit Informationen versehen wird, um diesmal nicht Terroristen, sondern Theorien zu beeinflussen.
XXXI
Baltasar Graciän, ein feiner Kenner der historischen Zeit, sagt in seinem Handorakel: »Unser Handeln, unser Denken, alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle, wenn man kann, denn Zeit und Gelegenheit warten auf niemanden.«
Weniger optimistisch ist Omar Khäyyäm: »Steine des Spiels sind wir, das der Himmel spielt; – Kurzweil treibt man mit uns auf dem Schachbrett des Seins; -und dann kehren wir, einer nach dem anderen, zurück in die Schachtel des Nichts.«
XXXII
Die französische Revolution zeitigte große Änderungen in der Kriegskunst. Im Anschluß an diese Erfahrung konnte Clausewitz den Unterschied bestimmen, demzufolge die Taktik die Verwendung der Kräfte im Gefecht zur Erlangung des Sieges und die Strategie die Verwendung der Siege zur Erreichung der Kriegsziele bedeutet. Die Ergebnisse brachten Europa sofort und auf lange Dauer unters Joch, die Theorie davon wurde aber erst später etabliert und ungleich entwickelt. Zuerst begriff man die positiven Aspekte, die eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung direkt mit sich brachte: Begeisterung, Mobilität durch Beschaffung aus dem Land und folglich relative Unabhängigkeit von Magazinen und Versorgungskonvois sowie Vervielfältigung der Truppenstärke. Diese praktischen Elemente sahen sich eines Tages ausgeglichen dadurch, daß auf gegnerischer Seite ähnliche auf den Plan traten: in Spanien trafen die französischen Truppen auf eine andere Volksbegeisterung; die Weite Rußlands machte das Nehmen vom Lande unmöglich, und nach der Erhebung Deutschlands hatten sie es mit weitaus größeren Truppenstärken zu tun. Indes ging die einschneidende Wirkung in der neuen französischen Taktik, die schlichte Grundlage, auf die Bonaparte seine Strategie baute – sie bestand darin, die Siege vorweg zu benutzen, als seien sie auf Kredit erstanden: darin, daß von Anfang an das Manöver und seine diversen Varianten als Konsequenzen eines noch ausstehenden Sieges betrachtet wurden, den man aber beim ersten Zusammenstoß sicher erringen werde – , auch darauf zurück, daß man gezwungen war, sich Irrmeinungen zu entledigen. Diese Taktik sah sich unversehens genötigt, diese Irrmeinungen über Bord zu werfen, zur selben Zeit wie sie durch das Zusammenspiel der erwähnten Neuerungen die Mittel dazu fand. Die frisch ausgehobenen französischen Soldaten waren unfähig, in Reih und Glied zu kämpfen, das heißt im Rang zu bleiben und auf Befehl zu feuern. So schwärmen sie denn in Schützenlinie aus und gehen mit freiem Feuer gegen den Feind vor. Und just das freie Feuer erwies sich als das einzig Wirksame, dasjenige, welches reell die Zerstörung durch das Gewehr bewerkstelligte, der zu dieser Zeit im Zusammenstoß von Armeen entscheidensten. Das militärische Denken jedoch hatte sich im ausgehenden Jahrhundert allenthalben dieser Folgerung verschlossen, und die Diskussion um diese Frage hat sich noch fast ein weiteres Jahrhundert lang dahinziehen können, trotz der laufend durch die Kampfpraxis gelieferten Beispiele und der unaufhörlichen Fortschritte, die bei der Schußweite und Geschwindigkeit des Gewehrs erzielt wurden.
Gleichermaßen ist die Installierung der spektakulären Herrschaft eine so tiefgreifende gesellschaftliche Umwandlung, daß sie radikal die Kunst des Regierens verändert hat. Diese Vereinfachung, die in der Praxis so rasch solche Früchte hervorbrachte, ist theoretisch noch nicht voll begriffen worden. Alte, überall Lügen gestrafte Vorurteile, unnütz gewordene Vorsichtsmaßnahmen und gar anderen Zeiten entstammende Reste von Skrupeln hemmen noch ein wenig im Denken einer recht großen Anzahl von Herrschenden das Verständnis, das die ganze Praxis etabliert und jeden Tag bestätigt. So macht man den Untertanen nicht nur weis, sie befänden sich noch, was das Wesentliche angeht, in einer Welt, die beseitigt wurde, sondern auch die Herrschenden selber leiden bisweilen unter der Konsequenzlosigkeit, sich in mancher Hinsicht selber darin zu wähnen. Manchmal denken sie etwas, was von ihnen beseitigt wurde, so als ob dies immer noch Realität sei und auch weiterhin in ihren Berechnungen präsent sein müsse. Diese Verspätung wird nicht von Dauer sein. Wer so viel so mühelos vollbracht hat, der muß weiterschreiten. Man glaube nicht, daß – einem Archaismus gleich – diejenigen sich dauerhaft im Umfeld der reellen Macht werden halten können, die die ganze Plastizität der neuen Regeln ihres Spiels und dessen barbarische Größe nicht schnell genug begriffen haben. Das Schicksal des Spektakels ist ganz sicher nicht, als aufgeklärter Despotismus zu enden.
Der Schluß liegt nahe, daß innerhalb der kooptierten Klasse, welcher die Verwaltung der Herrschaft unterliegt und die vor allem den Schutz dieser Herrschaft leitet, eine Ablösung unmittelbar bevorsteht und unvermeidlich ist. Neues wird diesbezüglich nie auf der Szene des Spektakels zur Schau gestellt werden. Nur wie der Blitz, den man an seinen Einschlägen erkennt, erscheint es. Diese Ablösung, die die spektakulären Zeiten entscheidend vollenden wird, geht diskret vor sich und auf konspirative Weise, auch wenn sie Leute betrifft, die bereits in der Machtsphäre zuhause sind. Diejenigen, die daran teilnehmen, werden nach der folgenden Anforderung ausgewählt werden: daß sie sich klar bewußt sind, welcher Hindernisse sie entledigt und wozu sie imstande sind.
XXXIII
Weiter heißt es bei dem oben zitierten Sardou: »vai-nement (vergebens) bezieht sich auf das Subjekt; en vain (vergeblich) auf das Objekt; inutile (unnütz) bedeutet ohne Nutzen für jemanden. Man hat vergebens gearbeitet, wenn man es ohne Erfolg getan, so Zeit und Müh vertuend. Man hat vergeblich gearbeitet, wenn das Ziel, nach dem man trachtete, wegen eines Mangels am Werke nicht erreicht ward. Wenn ich mit meinem Werke nicht zu Rande komme, so arbeite ich vergebens, ich verliere unnütz Zeit und Müh.
Zeitigt mein Werk nicht die Wirkung, die ich von ihm erwartete, erreichte ich mein Ziel nicht, so habe ich vergeblich gearbeitet, das heißt, ich habe ein unnützes Werk vollbracht.
Desgleichen sagt man, jemand habe vergebens gearbeitet, wenn der Lohn für seine Arbeit ausblieb oder diese nicht gutgeheißen ward; denn in diesem Fall hat der Arbeiter Zeit und Mühe verloren, womit keineswegs ein Urteil über seine Arbeit abgegeben wird, die im übrigen hervorragend sein mag.«
Paris, Februar-April 1988