Anarchismus und (Volks-)Macht (eine wichtige Debatte)
2ter Teil der Diskussion-Kritik über Plattformismus (aber nicht nur)
Poder Popular – Volksmacht – Gegenmacht – People´s Power oder Power to the People… eine Verwirrung, absichtliche Fehlleitung, das Problem mit den Übersetzungen, eine Chimäre oder die Konterrevolution, die sich als anarchistisch tarnt.
Heute geht es uns um zwei Themen die aus einem Begriff stammen. Wie schon oben erwähnt, die deutschsprachigen Epigonen des Plattformismus und seiner lateinamerikanischen Mutation, der Especifismo, verwenden verständlicherweise nicht gerne den Begriff Volksmacht, was eigentlich exakt Poder Popular bedeutet, sondern lieber Gegenmacht. Uns geht es hier nicht um die absichtliche Fehlleitung einer Übersetzung, sondern die Idee der Volksmacht selbst. Die radikale Linke des Kapitals im deutschsprachigen Raum schäumt bei der Verwendung des Begriffes Volk vor Wut, aus einem sehr beträchtlichen Grund – naja, wie man es so nimmt, auch nur je nach dem, einige haben sich mit dem Volk schon lange arrangiert, zumindest dem aus dem Trikont – nämlich die Verbindung dieses Begriffes mit dem Nationalsozialismus, als einen bindenden Begriff für alles rassistische (Blut und Boden), industrielle Vernichtung kompletter Menschengruppen, etc., nichts, was vergessen werden darf, aber der Begriff wird trotzdem entweder auf anderen Sprachen verwendet (people, pueblo, peuple, laos, etc.) oder es wird versucht diesen von der oben genannten Verbindung loszulösen.
Bei Macht wird das Korsett in der Regel sehr gerne etwas gelockert. Da ist man nicht so streng. Der Spruch von Mao ist nach wir vor sehr beliebt.1 Und dieser wird in unserer Kritik auch eine wichtige Rolle spielen, wenn auch nicht heute und nicht hier.
Das Wort, bzw. der Begriff Volksmacht speist sich aus zwei Begriffen, nämlich Volk und Macht. Deshalb haben wir wieder, eine Reihe an Texten aus dem spanischsprachigen Raum übersetzt, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Was aber diese Texte gemeinsam haben ist eine fehlende Kritik überhaupt an dem Begriff Volk (mit all seinen Variationen im spanischsprachigen wie pueblo (aus dem Latein popŭlus, popular, populismo, población, usw.). Dieser wird nur am Rande behandelt, es handelt sich eher um die Auseinandersetzung, Kritik, usw., der Macht an sich. Die meisten anarchistischen Gruppen und Individuen im spanischsprachigem Raum kritisieren selten den Begriff und das Konzept des Volkes. Was auch sehr skurril ist, wie wir später erklären werden.
Die Suggestion im Spanischen, die der Begriff popular vermittelt, ist wie Magie, solange es als Adjektiv verwendet wird und jedem noch so stupidem Begriff anhängt, bewirkt es Wunder, da die Suggestion eine angebliche Verbindung zum Volk, zu der Masse, zu allen Menschen macht und da der Begriff Volk (pueblo) per se positiv ist, kann man nichts falsch machen.
Um dies wiederrum zu verstehen müssen wir in die Genesis der anarchistischen Theorie, wo das Klassenverhältnis und das Machtverhältnis, letzten Endes der Staat als politisches Instrument, ein Apparat war, welches komplett von der Gesellschaft (Pueblo) getrennt wurde. Was damals genauso wenig stimmte wie heutzutage. Dort der Staat (Feind), hier das Volk (Freund). Sowohl Bakunin, wie Malatesta, um ein paar zu nennen, haben sowohl mehrdeutige wie vage Vorstellungen der Kategorie und des Konzeptes des Volkes, es bedeutet sehr oft unterschiedlich vieles, sogar konträres, aber sie waren nicht die Einzigen, die es damals versäumten, diese Begriffe scharf zu kritisieren. Die Frage ist aber auch, ob sie es denn sollten? Da dies nicht zu beantworten ist, außer in der Form von Zeitreisen, um sie zu fragen, liegt es daher an uns, genau diese Kategorie zu kritisieren und anzugreifen, die ja so untrennbar mit dem Modernen Staat verbunden ist, genauso wie mit der Nation, dem Nationalismus und dem Staatsbürger als juristisch freies Individuum.
Aber zurück nochmals zu seiner lokalen Verwendung und seiner Funktion, denn im Deutschen hat der Begriff Volk immer entweder einen muffigen LTI-Nazi-Sprache Nachgeschmack, oder man denkt ein bisschen an die DDR, wo auch sehr vieles mit Volk verbunden war (Volkspolizei, Volksarmee, Volkssolidarität, Volksküche, usw.).
Doch wollen wir jetzt nicht auf die rassische und rassistische Konnotation dieses Begriffes herumreiten, welche an der Geschichte des Deutschen Staates so haftet, sondern versuchen in seinen Gemeinsamkeiten mit anderen Sprachen diesen Begriff zu universalisieren und daraus eine allgemeine Kritik schmieden.
Denn worum es uns hier geht, ist die Kritik am Begriff Volk wie er auf der ganzen Welt verwendet wird und warum der Begriff der Volksmacht (Poder Popular) eine Taktik ist, die nur ein konterrevolutionäres Ziel erreichen kann. Und warum Volk und Volksmacht immer der Nation und seiner Ideologie dem Nationalismus und dadurch immer dem Staat verbunden, bedingt und untergeordnet sind.
Es kann nicht genügend unterstrichen werden, dass das Phänomen rund um den Begriff Volk (Pueblo, People, Narodni, etc.) nicht genug kritisiert werden muss und auch kein rein spanischsprachiges Phänomen ist, sondern ein weltweites. Wir sehen wie historisch und gegenwärtig diese falsche Kategorie wieder und wieder verwendet wird, um eine Masse innerhalb einer herrschenden Logik zu subsumieren. Denn seit der Entstehung der Idee der Nation, musste diese ein Kollektiv um sich bilden und binden. Das ist das Volk. Als juristische Subjekte sind sie Staatsbürger, aber gebunden an eine Nation-Staat, sind sie das Volk dieser letzteren. Und als solche wird es dennoch nach Belieben angewandt.
Diese Kritik und auch Einleitung zu dieser Reihe, kann und soll als ein Schwerpunkt in unserer Kritik an Kriegen und den gegenwärtigen Defiziten der anarchistischen Bewegung zu diesen verstanden werden.
Bevor wir aber zur Textreihe übergehen, noch einige Gedanken:
In seiner Form wie wir diese Kategorie, dieses Konzept begreifen, kann und muss das Volk als eine bourgeoise Idee verstanden werden, die seit der französischen Revolution Form angenommen hat. Wenn auch mit gegensätzlichen Ansätzen (Locke, Rosseau, usw.),aber nie vom aufkommenden Staat der Bourgeoisie getrennt, dem kapitalistischen.
Der Begriff/Kategorie/Konzept Volk ist auch der romantischen Tradition der bourgeoisen Revolutionen verbunden, wo die Masse im Namen der Vernunft (der bourgeoisen) gegen das ancien Régime kämpft, der Welt des Feudalismus ein Ende setzt. Aber die damaligen Revolutionäre (allesamt Bourgeois) wissen, dass wenn sie von Volk reden, von einem bourgeoisen Begriff reden und diesen verwenden, um nicht über Klassen zu reden, was die eigene neu errungene Herrschaft auch in Frage stellen würde.
Mit diesen und weiteren Fragen werden wir uns in Zukunft auseinandersetzen, genauso wie, welche Rolle die UdSSR, die Komintern, Stalin, die Volksfront, Fanon, Mao´s Vier Klassen These und einiges mehr darin spielte, spielt und spielen wird.
Soligruppe für Gefangene
Anarchismus gegen die „Volksmacht“.
Patrick Rossineri
Einleitung
Ein Sophismus – noch einer – ist seit einigen Jahren zu hören. Der Diskurs dieser Sophisterei kommt von Gruppen und Stimmen, die vorschlagen, den Anarchismus zu einer Bewegung zu machen, die die Formen von linken Parteien annimmt.
Das Konzept der „Volksmacht“ ist eine Sophistik der Volksregierung, des Arbeiterstaates, der Diktatur des Proletariats… Daher kommt es und darauf läuft es hinaus.
Es ist kein Zufall, dass die Förderung dieses Konzepts praktisch ausschließlich in Lateinamerika stattfindet. Es ist kein Zufall, dass die Gruppen und Einzelstimmen – die darauf bestehen, diese Idee der Macht mit dem Anarchismus zu verschmelzen – auch dieselben sind, die eine „kritische Unterstützung“ für die Regierungen Kubas oder Venezuelas fordern oder äußern…
Die Texte von Patrick Rossineri sind eine Antwort auf diese Promotion. Sie sind eine Antwort auf die Argumente derjenigen, die – aus Ahnungslosigkeit, Verwirrung oder Interesse – versuchen, das Wesen des Anarchismus zu negieren, nämlich die Negation aller politischen Macht.
Die folgenden Texte wurden ursprünglich in der anarchistischen Publikation ¡Libertad!, Buenos Aires, in den Jahren 2009 und 2013 veröffentlicht.
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DIE SCHIMÄRE DER VOLKSMACHT:
EINE FORM DER INTEGRATION IN DAS SYSTEM
Zumindest nach dem allgemeinen Verständnis der Linken wäre die „Volksmacht“ ein Vorschlag zum Aufbau des Sozialismus durch ein Modell der partizipativen Demokratie, das die Organisation, auf der der Staat beruht, umstrukturieren würde. Die Volksmacht würde sich auf Rousseaus alte Idee des allgemeinen Willens (volonté générale) stützen und die Regierungsgewalt auf das Volk übertragen, das sich in Volksversammlungen organisiert und die Vertreter der Volksregierung per Abstimmung wählt.
Diese Politik erfordert die Übernahme der Regierung, um die oben genannte (Macht)Übertragung voranzutreiben, aber auf eine schrittweise Art und Weise, um die repräsentative Demokratie in eine partizipatorische Demokratie umzuwandeln und den Sozialismus auf dem Weg der Volksmacht zu erreichen. Mit anderen Worten: Ein vermeintlich revolutionäres Ziel wird durch einen reformistischen Weg, gewürzt mit nationalistischem, sozialistischem und antiimperialistischem Jargon, vorgebracht. Dieses Experiment wurde 1973 in Chile durch Pinochets Putsch gegen die Regierung von Salvador Allende abgebrochen und ist Teil des ideologischen Kanons von Hugo Chávez‘ Venezuela und dem postsozialistischen Kuba, das den guevaristischen Slogan von der Entwicklung der „Saat des Sozialismus“ im Volk aufgreift. Solche reformistischen und autoritären Projekte, die von der nationalistischen und bourgeoisen Linken verteidigt werden, wurden von den Anarchisten und ihren einflussreichsten Theoretikern wie Bakunin und Malatesta immer abgelehnt.
Seit einiger Zeit haben jedoch viele lateinamerikanische libertäre Gefährtinnen und Gefährten (Argentinier, Uruguayer, Kolumbianer und Brasilianer) Erklärungen über die Notwendigkeit veröffentlicht, dass Anarchistinnen und Anarchisten „die Macht des Volkes aufbauen“, indem sie für die Vergesellschaftung der Macht kämpfen, damit diese nicht in den Besitz einiger weniger übergeht. Die vorgeschlagene Idee zielt darauf ab, eine antidogmatische libertäre Bewegung aufzubauen, die in der Realität verankert und mit den Volkskämpfen verbunden ist.
Diese Formulierungen, so vermuten die Autoren, könnten jedem und jeder „Freiheitskämpfe und Freiheitskämpferin“ als „unauflösbarer Widerspruch“ erscheinen. In Wirklichkeit scheint es nicht so zu sein, sondern es ist ein unauflösbarer Widerspruch. Doch bevor wir beantworten, warum das so ist, wollen wir uns ansehen, worin dieser Vorschlag besteht.
In einem Dokument mit dem Titel Anarquismo y Poder Popular (Anarchismus und Volksmacht) der Red Libertaria Mateo Kramer aus Kolumbien2 wird die folgende Frage gestellt:
„Soll Macht nur als autoritäre Auferlegung, als Macht über etwas verstanden werden? Kann Macht nicht auch anders verstanden werden, nämlich als eine kollektive Macht-zum-Tun, eine Macht-zum-gemeinsamen-Aufbau? Die Herrschenden an der Spitze haben uns glauben gemacht, dass Macht ein „Objekt“ ist, über das sie verfügen, ein von den sozialen Beziehungen losgelöstes „Ding“, ein transzendenter Unterwerfungsapparat. Aber wir an der Basis begreifen Macht anders: nicht als „Ding“, sondern als „Beziehung“, als eine alternative und befreiende soziale Macht. Unsere Macht ist also in erster Linie eine kollektive Fähigkeit, sich eine neue Gesellschaft vorzustellen und sie im Hier und Jetzt zu schaffen“.
Hier entsteht eine Verwirrung in der Frage, die sich auf die gesamte nachfolgende Analyse auswirken wird. Der Begriff Macht hat aufgrund seiner polysemischen Natur mehrere Bedeutungen und Interpretationen. Wir können von Macht als Herrschaftsverhältnis, als Fähigkeit, etwas zu tun, als Besitz von etwas, als Kraft, als Fähigkeit, Wirkungen der Wahrheit hervorzurufen, als Befehl, als Zwang und schließlich als Regierung eines Landes sprechen.
Die Frage verwechselt eindeutig die Bedeutung des Herrschaftsverhältnisses (erste Frage) mit der Bedeutung der Fähigkeit zu handeln (zweite Frage). Um die Sache noch schlimmer zu machen, geht die Argumentation weiter, indem sie vorschlägt, Macht nicht mehr als Objekt oder Instrument zu sehen, sondern als Beziehung, wobei sie die Tatsache außer Acht lässt, dass Machtbeziehungen Herrschaftsbeziehungen sind, und wiederum vorschlägt, Macht als „kollektive Vorstellungskraft“ (d.h. als Wettbewerb und nicht als Beziehung) zu betrachten.
Nach einem solch verworrenen Durcheinander, das nicht weniger einfach und frivol ist, weil es so verworren ist, könnte man sich fragen, ob es darauf hinausläuft, dass man eine Bedeutung einer anderen vorzieht, oder ob Anarchistinnen und Anarchisten schon immer so begriffsstutzig waren, dass sie Macht immer mit einer „Sache“ verwechselten und nie erkannten, dass es sich um ein Herrschaftsverhältnis handelt. Als ob das Denken an Macht in ihrem relationalen Aspekt sie zu einer „alternativen und befreienden sozialen Macht“ machen würde und nicht zu einem asymmetrischen Herrschaftsverhältnis. Der Kapitalismus ist unter anderem auch ein asymmetrisches soziales Verhältnis (von Ausbeutung und Beherrschung), und es käme diesen Gefährtinnen und Gefährten sicher nicht in den Sinn, diesen Aspekt zu vergessen, um einen „alternativen und befreienden sozialen Kapitalismus“ vorzuschlagen.
In Realität lehnen wir Anarchistinnen und Anarchisten die politische Macht ab, also die Fähigkeit einer Institution, einer Gruppe oder eines Individuums, über andere Menschen zu herrschen – die Macht als Synonym für Regierung. Das heißt, die gesamte anarchistische Theorie basiert auf einer Kritik der Macht und ihrer Auswirkungen, die sich objektiv in den Mitteln, Institutionen, Vorrichtungen und materiellen Instrumenten ausdrückt, durch die Macht ausgeübt wird, aber auch subjektiv in asymmetrischen Beziehungen, in denen einige entscheiden und befehlen, während andere gehorchen und ausführen. Anarchistinnen und Anarchisten haben nie die Macht des Volkes oder die Macht einer Klasse vorgeschlagen, weil sie auf diesen relationalen Aspekt der Macht hingewiesen haben: Wenn eine Klasse oder Gruppe (selbst wenn sie die Mehrheit ist) Macht über eine andere ausübt, würde dies zu einem weiteren (asymmetrischen) Herrschaftsverhältnis führen. Derjenige, der Macht besitzt, übt die Kontrolle über das Verhalten desjenigen aus, der sie erleidet. Symmetrische Machtbeziehungen gibt es nicht, denn wenn es in einer sozialen Beziehung Symmetrie und Gegenseitigkeit gibt, dann deshalb, weil die Machtbeziehung nicht mehr existiert.
In dem Dokument heißt es außerdem: „Damit diese kollektive Macht populär ist, kann der Akteur kein anderer sein als das Volk, das plurale Subjekt, das sich durch den Zusammenschluss der subalternen Klassen, der Marginalisierten, der Enteigneten und der Ausgeschlossenen definiert“. Abgesehen von der Offensichtlichkeit dieses Satzes wird das Volk per se als positiv bewertet, was zu gewissen Konflikten führen kann. Das Populäre ist nicht davor gefeit, bestimmte soziale Übel mit sich zu bringen, wie Sexismus, Nationalismus oder Rassismus, um nur die häufigsten zu nennen. Wenn etwas nur deshalb als populär definiert wird, weil es vom Akteur „Volk“ hervorgebracht wird, und wenn wir das Volk grammatikalisch als subalterne Klasse definieren, sollten wir auch akzeptieren, dass es innerhalb des Volkes viele eingebettete bourgeoise soziale, kulturelle, politische und ökonomische Elemente gibt, zu denen die Hausfrau, der Straßenverkäufer und der Arbeiter ebenso gehören wie der Polizist an der Ecke, der Besitzer eines Gemüseladens oder ein Fußball-Hooligan. Das Wesen des Volkes ist genau dieser polyklassische Charakter, der revolutionäre und konservative, proletarische und bourgeoise, libertäre und autoritäre Elemente in sich vereint.
Wenn – wie sie behaupten – die Volksmacht eine neue Form der Beziehung ist und darauf abzielt, „ein neues Ethos in Gang zu setzen“ und „eine andere mögliche Welt zu schaffen, eine andere Welt, die derjenigen gegenübersteht, die wir bereits kennen“, und wenn sie gleichzeitig „eine Praxis ist, die im gleichen Maße, wie sie die Lebensorte der Menschen verändert, einen gegenhegemonialen Block schafft, einen Block, der in direkte Konfrontation mit der herrschenden Ordnung tritt“, dann hat die so dargestellte Volksmacht einige Gemeinsamkeiten mit der Volksmacht, wie sie historisch von der Linken verstanden wurde. Diese Macht wird als Vorwegnahme der zukünftigen Gesellschaft dargestellt, als eine schrittweise Praxis, die darauf abzielt, den Staat und das Kapital zu ersetzen. Was nicht erklärt wird, ist, wie eine horizontale und libertäre, partizipatorische und inklusive Kultur einen Platz in einer Gesellschaft haben kann, die ihr absolutes Gegenteil ist, in der die Mittel der Kommunikation, Bildung, Ausbeutung und Repression in den Händen derjenigen liegen, die wirklich die Macht haben. Natürlich gibt es unter den Menschen Praktiken der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe, der Zusammenarbeit, des Altruismus und der libertären Einstellung, aber das ist eher der menschlichen Natur als dem Volksethos eigen. Es ist einfach eine Illusion zu glauben, dass wir der Selbstbefreiung der Massen näher kommen, wenn wir für die Macht des Volkes eintreten (wie auch immer diese verstanden wird). Das kapitalistische System hat gezeigt, dass es sehr gut in der Lage ist, Volksbewegungen aller Art zu absorbieren: Venezuela und Kuba sind ein sehr gutes Beispiel dafür. Wenn die Regierungen, die wirklich Macht ausüben, den Menschen ausnahmsweise die Möglichkeit geben, eine Form der Selbstverwaltung zu praktizieren, geschieht dies immer unter der direkten oder indirekten Erlaubnis und Aufsicht, wenn nicht sogar im Interesse des Staates.
Es ist ein Irrtum zu behaupten, dass „der Anarchismus, der die Produktionsmittel vergesellschaften will, auch die Macht vergesellschaften und verhindern will, dass sie zum Privileg einiger weniger wird“, denn das würde bedeuten, die Asymmetrie zu vergesellschaften und die Macht zum „Privileg der Mehrheit“ zu machen, wobei das, was eine sogenannte „populäre“ Mehrheit den „weniger populären“ aufzwingt, ihre besondere Vorstellung von dem, was sein sollte, ruhen lässt. Es ist gefährlich naiv anzunehmen, dass eine solche Volksmacht „alternative Räume des kollektiven Lebens, materielle und virtuelle Orte, die der Kontrolle des Kapitalismus und der Autorität entgehen“, schaffen würde. Umso mehr, als alle historischen Erfahrungen genau das Gegenteil gezeigt haben und ein libertärer Raum nie lange in einer staatlichen Gesellschaft koexistieren konnte, ohne mit ihr zu konfrontieren (wie in der Ukraine oder Kronstadt und der spanischen Revolution) oder vom Kapitalismus und dem Staat absorbiert zu werden, wie in Kuba oder im bolivarischen Venezuela, wo die Volksmacht als Mechanismus der kapitalistischen Selbstregulierung fungiert.
Im Gegensatz zu den Behauptungen der Red Libertaria Mateo Kramer müssen wir Anarchistinnen und Anarchisten darauf abzielen, alle Formen der Macht zu zerstören, während wir uns weiterhin egalitär und frei organisieren und dafür eintreten, dass sich das Volk selbst befreit. Denn die politischen Perspektiven des Populismus und des antibourgeoisen Sozialismus werden immer reformistisch sein und höchstens auf einen Kapitalismus abzielen, der von der Arbeiterklasse verwaltet wird, durch Genossenschaften, Gewerkschaften/Syndikate, politische Parteien oder den „Volksstaat“.
Anarchistin oder Anarchist zu sein, bedeutet, gegen alle Formen von Macht zu sein, nicht nur gegen „einige Formen von Macht“. Kollektive Macht ist nicht die Abwesenheit von Macht, so wie kollektives Kapital nicht die Abwesenheit von Kapital ist. Anarchistin oder Anarchist zu sein, kann nicht darauf reduziert werden, der bourgeoisen Macht und ihren ökonomischen, kulturellen und politischen Vertretern entgegenzutreten. Wir können das Volk oder die Volksmacht nicht zu einem angebeteten Fetisch machen, den wir per se als revolutionär voraussetzen. Andernfalls setzen wir das Volk auf den Thron, um sein eigener Unterdrücker zu sein, der sich selbst entfremdet. Eine Volksmacht, die die menschliche Befreiung leugnet und die, um Bakunin zu paraphrasieren, nicht weniger anmaßend sein wird, weil sie das Etikett „Macht des Volkes“ trägt.
Patrick Rossineri
Veröffentlicht in der anarchistischen Zeitung ¡Libertad! N° 52,
Juli-August 2009, Buenos Aires
DIE AKZEPTANZ DES KONZEPTS DER MACHT ALS NEGATION DES ANARCHISMUS
In einem Artikel in der Zeitschrift Libre Pensamiento, Nr. 66, Herbst 2010, „Repensar el poder. A propósito de La Sociedad contra el Estado de Pierre Clastres“ (Macht neu denken. Zu Pierre Clastres „ Die Gesellschaft gegen den Staat“) argumentiert Beltrán Roca Martínez, dass die klassische anarchistische Sichtweise der Macht zwar wesentliche Beiträge zu ihrem Verständnis enthält, aber wichtige Dimensionen dieses Konzepts auslässt. Er argumentiert auch, dass dieser Ansatz eine begrenzte und reduktionistische Identifizierung zwischen Macht und Zwang vornimmt. Der Autor ist schnell fertig mit dem Thema und löst den fraglichen Punkt in den folgenden kurzen Zeilen auf:
„Trotz seiner geschätzten Beiträge hat der Anarchismus die Komplexität der Macht nicht vollständig erfasst. Vor allem hat er Macht ausschließlich mit Zwang gleichgesetzt. Macht ist etwas Begrenzendes, das nichts bewirken kann. Und als radikaler Verfechter der Freiheit muss der Anarchist dieser Argumentation zufolge alle Formen von Macht ablehnen. In anderen Fällen wird Macht mit dem Staat und dem Kapitalismus gleichgesetzt, wobei die zahlreichen Machtbeziehungen, die sich durch das soziale Gefüge ziehen, bei der Kritik und Analyse außen vor bleiben: Medizin, Wissen, Sexualität usw. (obwohl dieser Fehler unter Marxisten häufiger vorkommt). Außerdem ist es oft ein Tabu, über Macht in anarchistischen Organisationen selbst zu sprechen, was noch mehr zur Verwirrung beiträgt und dazu, dass die Organisationsstrukturen der Bewegung nicht gründlich analysiert werden können.
Es ist jedoch anzumerken, dass bei den klassischen Autoren selbst Zitate zu finden sind, die auf ein komplexeres Verständnis des Phänomens hinweisen. Bakunin zum Beispiel fordert, „die Kräfte des Volkes zu organisieren“:
„Die Kräfte des Volkes zu organisieren, um eine solche Revolution herbeizuführen, das ist das einzige Ziel derer, die aufrichtig nach Freiheit streben…“ (Bakunin, 1977: 108).
Die „Kräfte des Volkes“, auf die sich Bakunin bezieht, sind nichts anderes als die „Volksmacht“, über die wir am Ende dieses Artikels nachdenken werden.“
Beginnend mit dem Ende ist das erste, was überrascht, diese fantastische Schlussfolgerung, dass „die Kräfte des Volkes zu organisieren“ gleichbedeutend mit der Organisation der Volksmacht ist. Leider hat der Autor vergessen zu begründen, wie man ausgehend von einem Theoretiker wie Bakunin, der nie von der Volksmacht oder etwas Ähnlichem gesprochen hat, zu der Schlussfolgerung kommen kann, dass man sich genau auf die „Volksmacht“ bezieht. Da eine solche Identifizierung zwischen dem Denken des großen russischen Anarchisten und dem umstrittenen Konzept der Volksmacht von Roca Martínez überhaupt nicht argumentiert wurde, gehen wir zu anderen Behauptungen in dem Artikel über, die zumindest durch ein minimales Argument unterstützt werden.
Wir können dem Autor nur zustimmen, wenn er behauptet, dass „der Anarchismus die Komplexität der Macht nicht vollständig erfasst hat“, denn aus heutiger Sicht wurden im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften tausende von Seiten zu diesem Thema geschrieben und tausende von Stunden in die Forschung investiert. Aber wir können uns Roca Martínez‘ verstecktem Vorwurf an die Klassiker des Anarchismus nicht anschließen, dass sie sich nicht mit einem Machtkonzept beschäftigt haben, das dem von Michel Foucault und in geringerem Maße auch dem von Pierre Clastres ähnelt. Die Absurdität der Schelte würde deutlich, wenn wir sie auf andere Fälle anwenden würden, z. B.: „Die Newtonsche Physik hat die Komplexität der Raum-Zeit-Relativität nicht vollständig erfasst“ oder „Euklids Geometrie hat die Komplexität nicht-euklidischer Geometrien nicht erfasst“ oder noch besser: „Die Pferdezüchter des 19. Jahrhunderts haben die Vorteile des Automobilbaus nicht erkannt“. Es ergibt wenig Sinn, den Anarchisten von vor 150 Jahren vorzuwerfen, dass sie die Labyrinthe und die Anatomie der Macht nicht so enträtselt haben wie Foucault mehr als ein Jahrhundert später. Die Probleme und Fragen, die Ideen und Konzepte eines bestimmten politischen und sozialen Moments in der Geschichte sind das Produkt und die Antwort auf die Krisen und Veränderungen in der politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung ihres eigenen Kontextes. Eine Ideologie ist außerhalb des historischen Kontextes, in dem sie entstanden ist, weitgehend unverständlich, weil sie als Antwort auf konkrete Probleme und von konkreten Menschen entwickelt wurde und nicht als intellektuelle Abschweifung zu abstrakten Fragen.
Anschließend werden wir versuchen, den historischen Kontext zu analysieren, in dem sich die anarchistischen Ideen entwickelt haben, und dabei die Begriffe Autorität und Macht näher beleuchten, um zu verdeutlichen, dass diese Begriffe weder von den Anarchistinnen und Anarchisten noch von den verschiedenen Soziologien des neunzehnten Jahrhunderts reduktionistisch oder vereinfachend aufgefasst, sondern vielmehr entsprechend ihrer historischenRealität und Erfahrung problematisiert wurden.
Die Vertragstheorie
Fast die gesamte Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts war eine Reaktion auf den Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der die politisch-philosophische Grundlage der Französischen Revolution bildete. Innerhalb dieser intellektuellen Bewegung war die Idee des Gesellschaftsvertrags, die Jean Jacques Rousseau entwickelte, einer der Grundpfeiler der revolutionären neuen Ordnung, die bei der Machtergreifung der Jakobiner ausgerufen wurde, im Gegensatz zur Ideologie des Ancien Régime, d. h. der halbfeudalen Monarchie und der Macht der Kirche.
Die kontraktualistische Theorie ging davon aus, dass die Menschheit in einer ursprünglichen Anarchie entstanden war, in der die Menschen frei und ohne soziale Bindungen oder Beziehungen zueinander waren, in einem Naturzustand, der dem der Tiere ähnelte, ohne eine Gesellschaft zu bilden. In einem zweiten zivilen Staat, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, entstand der Vertrag zwischen den Beherrschten und den Herrschenden, in dem die Ersteren an die Letzteren delegierten, die so zu Vertretern des allgemeinen Willens (volonté générale) wurden. Hier entstand das politische Band, aus dem die Gesellschaft und der Staat hervorgingen, die für die kontraktualistische Theorie voneinander abhängig waren, d. h. ohne den Staat konnte die Gesellschaft nicht existieren. Dieses theoretische Schema wird das iusnaturalistische Modell genannt (Norberto Bobbio, S. 67-93). Es ist ein intellektuelles Konstrukt, das diesem spezifischen historischen Kontext entspricht, aber es hat keine Grundlage in der Realität, denn ein solches Szenario hat es in der Geschichte und der menschlichen Entwicklung nie gegeben.
Die kontraktualistischen Autoren (Hobbes, Locke, Rousseau) beschrieben den Naturzustand auf unterschiedliche Weise – vom Hobbes’schen Krieg aller gegen alle bis hin zum Rousseau’schen Mythos des guten Wilden -, aber sie stimmten in der argumentativen Struktur überein. Man könnte dieses Denken anhand einiger dichotomer Gegensätze oder Ideen zwischen dem Naturzustand und dem zivilen Staat vereinfachen: Wildheit/Zivilisation; Anarchie/Staat; Natur/Gesellschaft; isoliertes Individuum/verbundenes Individuum; Abwesenheit von Politik/politische Gesellschaft; Unordnung/Ordnung; Gleichheit/Ungleichheit; individuelles Überleben/Gesellschaftsvertrag. Im Wesentlichen wurde daraus gefolgert, dass Menschen (Volk) eine Vereinbarung oder einen Vertrag abschließen, in dem sie einige ihrer Rechte an eine Hauptperson oder eine Gruppe von Personen (Herrscher) abtreten, damit das gesamte Kollektiv davon profitiert. Bei einigen Autoren war dieses Zugeständnis zeitlich begrenzt und wurde von Zeit zu Zeit erneuert (Demokratie), bei anderen war es dauerhaft und die Macht wurde durch Erbfolge übertragen (Monarchie). Wenn die Herrscher den Vertrag brachen, d.h. wenn sie gegen den allgemeinen Willen (volonté générale) regierten, hatte das Volk das Recht, seine Herrscher zu stürzen und durch andere zu ersetzen.
Opposition zum Kontraktualismus
Die Bewegung gegen den individualistischen Rationalismus hatte drei Hauptströmungen, die ideologisch sehr unterschiedlich waren, aber einige gemeinsame Grundlagen hatten: den Konservatismus (der eine Rückkehr zum Ancien Régime vorschlug), den Liberalismus (der die Autonomie und die politischen/zivilen Rechte des Individuums verteidigte) und den Radikalismus (der für eine ökonomische und soziale Revolution eintrat; er umfasste alle sozialistischen Strömungen, einschließlich des Anarchismus). Diese drei Strömungen hatten eine bestimmte Auffassung von politischer Macht, die sich weitgehend von der Idee der Autorität (soziale Politik) unterschied.
Die Idee der Autorität kann beschrieben werden als „die innere Struktur oder Ordnung einer Assoziation, ob politisch, religiös oder kulturell, die ihre Legitimität aus ihrer Verwurzelung in einer sozialen Funktion, Tradition oder Loyalität zu einer Sache bezieht“. Soziologisch gesehen wäre das antinomische Konzept das der Macht, das mit repressiven Kräften und entpersonalisierter Verwaltungsbürokratie gleichgesetzt wird (Nisbet: S. 18 und 19). Radikales Denken zeichnete sich dadurch aus, dass es an die Möglichkeiten der sozialen Erlösung durch die Eroberung politischer Macht und deren uneingeschränkten Gebrauch glaubte. Der jakobinische Glaube an die absolute Macht im Dienste der Vernunft, der Nation und der Menschlichkeit beseitigte Tyranneien und Ungleichheiten ebenso wie die Institutionen, die sie verursachten, insbesondere die Kirche. Macht und Vernunft wurden gegen Autorität und Tradition eingesetzt.
In Anlehnung an den Kontraktualismus rechtfertigten viele Radikale die totalitäre Macht mit der Idee des „allgemeinen Willens“(volonté générale). Die an der Macht befindliche revolutionäre Regierung verkörperte den allgemeinen Willen, also keine Macht außerhalb der Gesellschaft, sondern die kollektive Macht des Volkes, die durch seine Vertreter ausgeübt wurde. Auf diese Weise diente die gesamte Macht, die in der Vollversammlung oder sogar in einem einzelnen Mann verkörpert war, dem Zweck, die Freiheit für die Millionen zu erreichen, die von der Kirche, der Aristokratie, der Monarchie und den Zünften des Ancien Régime unterdrückt wurden. Politische Macht wurde als Mittel zur Freiheit und Gleichheit betrachtet, wobei die Nation die Quelle aller legitimen Autorität war und die Männer und Frauen des Volkes als eine nationale Bruderschaft angesehen wurden. Die Ausübung einer rationalen und uneingeschränkten Macht war der Weg, um dem Wirrwarr sich überschneidender traditioneller Autoritäten, die Monarchie und Feudalismus hinterlassen hatten, ein Ende zu setzen. In der neuen Ordnung sollte die Verehrung Gottes und der Kirche durch die Verehrung des Volkes und des Staates ersetzt werden; dies sollte die moralische Grundlage der revolutionären politischen Macht sein. Und es sollte der Grundstein der meisten demokratischen und sozialistischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts für die Akzeptanz der Eroberung der Staatsmacht als revolutionäres Mittel sein.
Sozialisten und Demokraten wie Saint-Simon, Blanqui, Blanc, Mazzini, Marx, Engels, Bernstein oder Lenin gingen von dieser Idee aus, um sowohl den demokratischen Nationalismus, den sozialistischen Reformismus als auch die Diktatur des Proletariats zu rechtfertigen. Ohne die (absolute oder partielle) Machtergreifung konnte eine neue revolutionäre Ordnung nicht erreicht werden. Hier distanzierten sich die Anarchisten von Proudhon und Bakunin bis Malatesta und Kropotkin sowie einige libertäre oder utopisch-sozialistische Denker (William Morris, Owen, Fourier) von dieser Beschäftigung mit der Ergreifung der politischen Macht. Die anarchistische Lösung wäre die Abschaffung der politischen Macht.
Politische Macht und soziale Autorität
Eines der grundlegenden Themen der aufkommenden Soziologie des 19. Jahrhunderts war die Krise und der Niedergang der traditionellen Autorität und ihre Ablösung durch neue Formen der Macht. In der Gesellschaft des Ancien Régime – der sozialen Organisation, die der industriellen Revolution und der bourgeois-demokratischen Revolution in Europa vorausging – wurde Autorität nicht als separate oder vom sozialen Ganzen getrennte Identität verstanden. Sie war „tief in die sozialen Funktionen eingebettet, ein unveräußerlicher Teil der inneren Ordnung der Familie, der Nachbarschaft, der Pfarrei und der Zunft, ritualisiert unter allen Umständen, die Autorität ist so eng mit Tradition und Moral verbunden, dass sie kaum mehr wahrgenommen wird als die Luft, die die Menschen atmen. Selbst in den Händen des Königs behält sie in einer solchen Gesellschaft tendenziell ihren diffusen und indirekten Charakter“ (Nisbet: S. 147). Die patriarchalische Autorität des Königs unterscheidet sich nicht von der Autorität der Eltern über ihre Kinder. Die Autorität ist so sehr in die Moral der sozialen Ordnung eingebettet und integriert, dass es nicht möglich ist, sie als etwas vom sozialen Körper Getrenntes zu betrachten.
Der Todesstoß, der der traditionellen Autorität durch die Auswirkungen der industriellen Revolution und der Französischen Revolution versetzt wurde, löste im konservativen Denken tiefe Gefühle der Angst und Sorge aus. Das konservative Denken befürchtete, dass die verlorene Autorität eine Masse von Individuen isoliert und wehrlos gegenüber neuen Formen willkürlicher, schrecklicher und totalisierender Macht zurücklassen würde. Dieses Bild der revolutionären jakobinischen Macht enthüllten Denker wie Burke, Burckhardt, Carlyle, Tocqueville, Simmel usw. Die aufstrebende Soziologie beschrieb die neue politische Macht, die sich vor ihren Augen abzeichnete, als:
a) Eine totalisierende Macht, die sich auf alle Lebensbereiche ausdehnte. b) Eine durch die Massen legitimierte Macht, bei der die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als Ganzes die Souveräne sind, die ihren allgemeinen Willen durch die politische Macht zum Ausdruck bringen. c) Eine zentralisierte Macht, die Kommunen, Zünfte und alle Arten von dezentraler Verwaltung auslöschte. Die Zentralisierung entstand als Möglichkeit, die Massen an der Macht teilhaben zu lassen. Alle Formen der traditionellen Autorität standen zwischen der revolutionären Regierung und dem Volk und sollten beseitigt werden; eine zentralisierte Macht, sogar eine diktatorische Macht, war das beste Mittel, um den allgemeinen Willen zu vertreten. d) Eine rationalisierte Macht, in der die Verwaltung vereinfacht, Maßnahmen standardisiert, eine Sprache durch das Bildungssystem durchgesetzt und die Massenarmee rationalisiert wurde, in der eine neue, entpersonalisierte Bürokratie entstand, in der alles gemessen, gewogen, dokumentiert und durch eine Zahl, eine Norm, eine Regel, eine Formel oder ein Muster erfasst werden konnte (Nisbet: S. 148-150).
Einer der großen Unterschiede zwischen dem konservativen und dem radikalen revolutionären Denken bestand darin, dass die Konservativen – Anhänger der mittelalterlichen Tradition – eine pluralistische Gesellschaft mit verteilten politischen Zentren und einer Autorität, die auf der lokalen Gemeinschaft, der patriarchalischen Familie, der Pfarrei und der Tradition beruhte, verherrlichten. Die Radikalen hingegen setzten sich für die Zentralisierung der Macht, den Verwaltungsrationalismus und die Befreiung des Volkes von den traditionellen Institutionen ein, die es unterdrückten. Der Gegensatz wird in der Unterscheidung zwischen sozialer Autorität (in Verbindung mit dem Ancien Régime) und politischer Macht (in Verbindung mit der neuen Ordnung) zusammengefasst, die Gegenstand der Soziologie von Bonald, Weber und Durkheim, als deren letzten Vertretern, sein wird.
Freiheit, Autorität und Macht bei Proudhon
Die Formen des sozialen Zwangs, der Ursprung und die Grundlage sozialer Normen und die Formen der sozialen Kontrolle waren die Anliegen der Soziologen des 19. Jahrhunderts und insbesondere der Anarchistinnen und Anarchisten. Letzteres wird von Robert Nisbet im folgenden – und langen – Absatz erläutert:
„Es wäre falsch anzunehmen, dass diese Unterscheidung zwischen sozialer Autorität und politischer Macht allein auf konservativem Denken beruht. Das war ihr Ursprung, aber später wurde sie weit verbreitet. Sie wurde von Anarchisten übernommen. Für sie ergab sich das Problem der Macht in der modernen Gesellschaft vor allem aus der enormen Bedeutung, die die Revolution der Idee des Staates verliehen hatte. ‚Demokratie ist nichts anderes als der auf die Spitze getriebene Staat‚, würde Proudhon sagen, (…) [der] zutiefst an Lokalismus und der Vervielfältigung von Autoritätszentren in der Gesellschaft interessiert war, um die Zentralisierung einzudämmen, die sich auf die Massen stützt (…) Pluralismus und Dezentralisierung sind die beiden Hauptelemente der Demokratie in der modernen Gesellschaft. (…) Der Pluralismus und die Dezentralisierung, beides bemerkenswerte Aspekte des Anarchismus des 19. Jahrhunderts – von Proudhon bis Kropotkin – entspringen einem lebendigen Bewusstsein für den Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Autorität, die nach anarchistischer Definition vielfältig, assoziativ, funktional und autonom ist, und der politischen Macht des Staates; letztere, so ‚demokratisch‘ sie auch sein mag, ist in ihren Wurzeln zur Zentralisierung und Bürokratisierung bestimmt, wenn sie nicht durch die Autorität des Lokalismus und der freien Vereinigung ausgeglichen wird“ (Nisbet: p. 155).
Proudhons Föderalismus und sein Eifer für die lokale Gemeinschaft sowie sein Widerstand gegen die Zentralisierung der Industrie zugunsten von Kleinproduktionen brachten ihm den Spitznamen „petit-bourgeois“ durch den autoritären Bourgeois Karl Marx und seinen Diener Engels ein. In seiner Vision von der Industrie ist Proudhons Denken nicht petit-bourgeois, sondern fast schon utopisch, näher an Owens Denken als an dem der Anarchistinnen und Anarchisten, die auf ihn folgten. Proudhons patriarchalischer Traditionalismus, der von den zeitgenössischen Anarchistinnen und Anarchisten heftig kritisiert wurde, erlaubte es ihm nicht, sich die Möglichkeit der Anarchie in einer Ökonomie der Großindustrie vorzustellen, aber diese Einschränkung wurde von Bakunin und einer ganzen Reihe libertärer Autoren, die sich von seinen Ideen inspirieren ließen, weitgehend überwunden.
In Über das föderative Prinzip vertrat Proudhon die Ansicht, dass es einen Gegensatz zwischen einem Regime der Freiheit – mit seinen Varianten von Demokratie und Anarchismus – und einem Regime der Autorität (verstanden als Unteilung der Macht) – mit seiner Unterscheidung zwischen absoluter Monarchie und autoritärem oder etatistischem Kommunismus – gibt. Obwohl es sich um gegensätzliche Ideen handelt, können sie nach Ansicht des Autors nicht ohne einander existieren: „In jeder Gesellschaft, selbst in der autoritärsten, muss notwendigerweise ein Teil der Freiheit überlassen werden; und umgekehrt muss in jeder Gesellschaft, selbst in der liberalsten, ein Teil der Autorität vorbehalten sein. Diese Bedingung ist so absolut, dass keine politische Kombination ihr entgehen kann. Trotz des Verständnisses, das unablässig versucht, Vielfalt in Einheit zu verwandeln, bleiben die beiden Prinzipien einander entgegengesetzt und stehen in ständigem Widerspruch zueinander. Die politische Bewegung entsteht aus ihrer unvermeidlichen Tendenz, sich gegenseitig zu begrenzen, und aus ihrer gegenseitigen Reaktion“.
In dieser dialektischen Spannung zwischen Autorität und Freiheit gibt es keine Auflösung oder Synthese – wie bei Hegel – sondern eine dynamische und kontinuierliche Beziehung mit verschiedenen politischen Ergebnissen oder Systemen. Der Anarchismus wäre das System, in dem das Prinzip der Freiheit seine maximale Ausprägung erreicht, während das Prinzip der Autorität auf ein notwendiges, nicht reduzierbares Minimum reduziert wird.
Das Prinzip der Autorität, d. h. die ungeteilte, absolute und zentralisierte politische Macht, basiert auf einer Erweiterung des patriarchalen Familienmodells. Der Monarch nimmt die Gestalt des römischen pater familias an und löst sich in der Nation-Staat auf: „So ist der Fürst in der Monarchie zugleich Gesetzgeber, Verwalter, Richter, General und Pontifex. Er ist das Oberhaupt der Künste und des Handwerks, des Handels, der Landwirtschaft, der Marine und des öffentlichen Unterrichts; er ist mit allen Befugnissen und allen Rechten ausgestattet. Der König ist, kurz gesagt, der Repräsentant, die Verkörperung der Gesellschaft: Er ist der Staat. Die Vereinigung oder Unvereinbarkeit der Gewalten ist das Merkmal der Monarchie. Zu dem Prinzip der Autorität, das den Familienvater und den Monarchen unterscheidet, gesellt sich hier als logische Folge das Prinzip der Universalität der Gewalten“. Im Gegensatz zur Zentralgewalt wendet sich Proudhon gegen eine föderale, assoziierte, freie, zahlenmäßig reduzierte, beschränkte, spezialisierte und kommunalisierte Autorität.
Im Gegensatz zu Saint-Simon, der eine Reform des Staates vorschlug, vertrat Proudhon die Ansicht, dass die Lösung für die Krise seiner Zeit in der Transformation der Gesellschaft liegen würde, indem er die Beziehungen zwischen der sozialen und der politischen Ordnung veränderte. Die Funktion des Staates – eines Organismus außerhalb der Gesellschaft – sollte auf ein Minimum beschränkt werden, während die ökonomische und politische Führung in der Gesellschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter zusammengeführt werden sollte. Proudhon postulierte nicht den Gegensatz zwischen Individuum/Staat oder Individuum/Gesellschaft, der das Thema der Individualisten sein wird, sondern das antagonistische Paar Staat/Gesellschaft. Das Individuum existiert nur innerhalb einer integrierten sozialen Gruppe mit vielfältigen internen Beziehungen. Im Gegenteil, die politische Zentralisierung des Staates über die Massen atomisiert die Gesellschaft in isolierte Individuen: „Das allgemeine Wahlrecht ist eine Art Atomismus, durch den der Gesetzgeber, der nicht in der Lage ist, das Volk als körperliche Einheit sprechen zu lassen, die Bürger auffordert, ihre Meinung durch den Kopf, viritim, zu äußern, so wie der epikureische Philosoph das Denken, den Willen, den Verstand, durch Kombinationen von Atomen erklärt“ (in Die Lösung des sozialen Problems, 1848). Der Körper der Nation wird auf ein Konglomerat von Molekülen reduziert, die von außen durch die höhere, zentralisierte politische Struktur der politischen Macht des Staates verwaltet werden (Buber: S. 44- 45).
Proudhons Vorstellungen von politischer Macht – widersprüchlich, komplex, wandelbar, vielseitig und flexibel – sind weit davon entfernt, einfach nur ein Synonym für Zwang zu sein, wie Roca Martínez behauptet. Das Gegenteil wird in einem der berühmtesten Absätze aus Proudhons Feder deutlich: „Regiert zu werden bedeutet, beobachtet, inspiziert, bespitzelt, gelenkt, mit Gesetzen versehen, reguliert, in Schubladen gesteckt, indoktriniert, belehrt, geprüft, bewertet, geschätzt, getadelt, befohlen zu werden, und zwar von Wesen, denen die Qualifikation, die Wissenschaft und die Tugend dazu fehlen […]. Regiert zu werden bedeutet, dass man bei der Durchführung einer Operation, einer Transaktion oder einer Bewegung notiert, aufgezeichnet, eingetragen, registriert, tarifiert, gestempelt, gemessen, beurteilt, bewertet, zitiert, patentiert, lizenziert, autorisiert, apostilliert, ermahnt, gezügelt, reformiert, geändert oder korrigiert wird. Es bedeutet, unter dem Vorwand des öffentlichen Nutzens und im Namen des allgemeinen Interesses gezwungen zu werden, Steuern zu zahlen, kontrolliert, ausgeplündert, ausgebeutet, monopolisiert, ausgeplündert, unter Druck gesetzt, betrogen und ausgeraubt zu werden; und dann, beim geringsten Widerstand, beim ersten Wort der Beschwerde, unterdrückt, mit Geldstrafen belegt, verleumdet, schikaniert, misshandelt, geprügelt, entwaffnet, beschlagnahmt, eingekerkert, erschossen, mit Maschinengewehren beschossen, vor Gericht gestellt, verurteilt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und zu allem Überfluss auch noch verspottet, verhöhnt, beschimpft, geschmäht und entehrt. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral“ (Guerin: S. 43). Das Gleiche könnte man von Bakunin sagen, dessen Denken – das in Dutzenden von Büchern, Briefen, Artikeln und Manifesten unsystematisch und fragmentarisch erscheint – von großer philosophischer Tiefe war.
Bakunin angesichts der Macht
Für Bakunin wird der Unterschied zwischen sozialer Autorität und politischer Macht in seinen Schriften ganz deutlich. Die Menschen mussten erkennen, dass sie der Autorität der Naturgesetze unterworfen waren, aber dasselbe galt nicht für die Autorität der Menschen. „Folgt daraus, dass ich jede Autorität ablehne? Weit gefehlt. Wenn es um Schuhe geht, ziehe ich die Autorität des Schuhmachers vor; wenn es um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn geht, ziehe ich die des Architekten oder des Ingenieurs zu Rate. Für diese oder jene spezielle Wissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber ich lasse mich weder vom Schuster, noch vom Architekten, noch vom Weisen aufdrängen“, wie er es in seinem großen Werk Gott und der Staat ausdrückt. Menschliche Autoritäten sind nicht unfehlbar, unausweichlich oder unerbittlich. Es mag Menschen geben, die etwas über eine bestimmte Wissenschaft wissen oder wissen können, aber ihr Wissen hätte einen vorläufigen und begrenzten Charakter, da keine Intelligenz „das Ganze umfassen könnte“. Daraus ergibt sich sowohl für die Wissenschaft als auch für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und -vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist die lenkende Instanz und jeder wird seinerseits gelenkt. So gibt es keine feste und konstante Autorität, sondern einen ständigen Wechsel von Autorität und gegenseitiger Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist“.
Wenn eine Autorität, die im Namen Gottes oder der überlegenen Wissenschaft einer Gruppe weiser Männer zwangsweise auferlegt wird, zur Macht wird, öffnet sich die Kluft zwischen Herrschern und Beherrschten. Der höchste Ausdruck dieser organisierten Macht ist die Institution des Staates. In der Natur der Macht liegt „die Unmöglichkeit, einen Überlegenen oder Gleichen zu dulden, denn die Macht hat kein anderes Ziel als die Herrschaft, und die Herrschaft ist nur dann wirklich, wenn alles, was sie hindert, ihr unterworfen ist; keine Macht duldet eine andere Macht, es sei denn, sie ist dazu gezwungen, das heißt, sie fühlt sich machtlos, sie zu zerstören oder zu stürzen“ (Das Prinzip des Staates). Für Bakunin haben politische Macht und politische Autorität immer eine negative, egoistische, ausbeuterische und unterdrückerische Dimension, während soziale Autorität einen kreativen, interaktiven, selbstverwaltenden Charakter haben kann. Und das ist nur möglich, wenn jeder Mensch autonom, frei und sich selbst regiert, d.h. keine Autorität oder Macht hat, die ihn unterjocht.
Bakunin postulierte die Existenz eines Instinkts oder eines Willens zur Macht im Menschen, der aus den Gesetzen des Lebens entstand und im Kampf ums Dasein geschmiedet wurde, der mit der Entwicklung der Menschheit immer mehr abgemildert wurde. In der Antike nahm er die Form von Sklaverei und religiöser Unterwerfung an, während in der Neuzeit „dieser Kampf unter dem doppelten Aspekt der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital und der politischen, rechtlichen, zivilen, militärischen und polizeilichen Unterdrückung durch den Staat und die Kirche sowie durch die staatliche Bürokratie stattfindet; und in allen Individuen, die in die Gesellschaft hineingeboren werden, entsteht weiterhin der Wunsch, die Notwendigkeit und manchmal die Unvermeidlichkeit, andere Menschen zu beherrschen und auszubeuten“ (Philosophische Betrachtungen). Die instinktive Natur dieses Verhaltens offenbart eine dunkle Seite der Menschheit, „einen fleischfressenden, absolut bestialischen und wilden Instinkt“, der sich in einer idealisierten und edlen Form als Instrument der Vernunft oder des Gemeinwohls präsentiert, „aber in seinem Wesen ebenso schädlich bleibt und noch schädlicher wird, wenn er dank der Anwendung der Wissenschaft seinen Horizont erweitert und die Kraft seines Handelns intensiviert“.
Bakunin lehnt den Willen zur Macht in jedem Individuum nicht blindlings ab, sondern erkennt seine Existenz und seine Unvermeidlichkeit an. „Die Erfahrung zeigt uns, dass die Macht des Willens bei weitem nicht immer die Macht des Guten ist: Die größten Verbrecher, die Übeltäter in höchstem Maße, sind manchmal mit der größten Willenskraft ausgestattet, und auf der anderen Seite sehen wir leider sehr oft hervorragende, gute, gerechte Menschen voller wohlwollender Gefühle, die dieser Fähigkeit beraubt sind“ (Cappelletti S. 146). Diese negative Bestimmung entwickelt sich jedoch, wenn die sozialen Bedingungen die Entstehung einer Gruppe ermöglichen, die in der Lage ist, die anderen zu unterdrücken und auszubeuten: „Das Wachstum des Machtinstinkts wird durch die sozialen Bedingungen bestimmt. Und zwangsläufig ist dieses verfluchte Element als natürlicher Instinkt in jedem Menschen ohne Ausnahme zu finden. Wir alle tragen die Keime dieser Machtleidenschaft in uns, und jeder Keim entwickelt sich, wie wir wissen, nach einem Grundgesetz des Lebens, und wächst, solange er in seiner Umgebung günstige Bedingungen vorfindet. In der menschlichen Gesellschaft sind diese Bedingungen die Dummheit, die Ignoranz, die apathische Gleichgültigkeit und die unterwürfigen Gewohnheiten der Massen – womit wir mit Recht sagen können, dass es die Massen selbst sind, die die Ausbeuter, Unterdrücker, Despoten und Henker der Menschheit hervorbringen, deren Opfer sie sind.“ Dieser natürliche Hang zur Macht verhindert jede Form der Volksherrschaft, denn jeder Mensch, der mit Macht ausgestattet ist, wird zum Unterdrücker und Ausbeuter der Massen. Darin, so argumentiert Bakunin, liegt die korrumpierende Natur der Macht. Wie sehr die Macht auch im Namen der Vernunft oder der Wissenschaft ausgeübt werden mag, diejenigen, die sie ausüben, unterscheiden sich nicht von denen, die sie im Namen Gottes ausüben.
In diesem Punkt unterscheidet sich Bakunin von den Philosophen der Aufklärung und den Verfechtern der Fiktion des Gesellschaftsvertrags, die „die bedrohliche und unmenschliche Theorie des absoluten Rechts des Staates verkünden, während die monarchischen Absolutisten es, mit weitaus größerer logischer Konsequenz, auf die Gnade Gottes stützen“. Sowohl Liberale als auch Revolutionäre machen einen Kult um die absolute Macht, um ihre Klassenprivilegien zu erhalten. Das gilt auch für das demokratische System, das Bakunin als terminologischen Widerspruch darstellt: „Wo alle herrschen, gibt es keine Regierten mehr, und es gibt keinen Staat mehr“, während die Macht des Staates „die Macht des Volkes als Ganzes ist, aber zum Nachteil des Volkes und zugunsten der privilegierten Klassen organisiert“. Diese Auffassung von Macht entspricht nicht der engen Vorstellung von Macht, die Roca Martínez ihr zuschreibt und die ausschließlich mit Zwang gleichgesetzt wird.
Die theoretische Grundlage dieses demokratischen Systems bezieht sich auf das iusnaturalistische Modell, das die individuelle Freiheit als vor der Gesellschaft stehend und nicht als historisches Produkt der Gesellschaft betrachtet. Staat und Gesellschaft werden so zu einer einzigen Struktur verschmolzen, während die Individuen eine zusammengewürfelte Masse freier Atome sind, die sie formen. Diese Idee – deren Verschärfung die liberale Theorie ist – nimmt den Menschen als etwas, das laut Bakunin „nicht einmal ganz er selbst ist, ein ganzes und in gewissem Sinne absolutes Wesen außerhalb der Gesellschaft. Da er vor und außerhalb der Gesellschaft frei ist, bildet er letztere notwendigerweise durch einen freiwilligen Akt und eine Art Vertrag, ob instinktiv oder stillschweigend, ob reflexiv oder formal. Mit einem Wort: In dieser Theorie sind es nicht die Individuen, die die Gesellschaft schaffen, sondern sie sind es im Gegenteil, die sie schaffen, angetrieben durch eine äußere Notwendigkeit wie Arbeit und Krieg. Die natürliche menschliche Gesellschaft, der eigentliche Ausgangspunkt aller menschlichen Zivilisation, das einzige Umfeld, in dem die Persönlichkeit und die Freiheit der Menschen wirklich geboren werden und sich entwickeln können, ist ihr völlig unbekannt. Sie erkennt einerseits nur Individuen an, Wesen, die aus sich selbst heraus existieren und frei von sich selbst sind, und andererseits jene konventionelle Gesellschaft, die willkürlich von diesen Individuen gebildet wird und auf einem formellen oder stillschweigenden Vertrag beruht, also den Staat“.
Seine Kritik an der Macht wird nicht halbherzig sein, und er wird auch keiner Volksmacht Tür und Tor öffnen, wie Roca Martinez uns glauben machen will: „Wir sind als Sozialisten, du und ich, davon überzeugt, dass das soziale Umfeld, die soziale Stellung und die Existenzbedingungen mächtiger sind als die Intelligenz und der Wille des stärksten und mächtigsten Individuums; und genau deshalb fordern wir nicht die natürliche, sondern die soziale Gleichheit der Individuen als Voraussetzung für Gerechtigkeit und als Grundlage der Moral. Deshalb verabscheuen wir die Macht, alle Macht, genauso wie das Volk sie verabscheut.“ In seinen Philosophischen Betrachtungen stellt Bakunin jedoch den vielsagenden Vorbehalt auf, dass die einzige respektable Autorität für das Volk von der kollektiven Erfahrung ausgeht und „tausendmal mächtiger“ sein wird als die der staatlichen oder kirchlichen Autoritäten, d.h. „sie wird die des kollektiven und öffentlichen Geistes einer Gesellschaft sein, die auf Gleichheit und Solidarität und auf der gegenseitigen menschlichen Achtung aller ihrer Mitglieder beruht.“ Beeinflusst von den wissenschaftlichen Ideen seiner Zeit – Darwinismus, Mechanismus und Positivismus – schrieb Bakunin dem Volk Bedürfnisse und „Volksinstinkte“ zu. So würde das Volk instinktiv die Organisation seiner ökonomischen Interessen und „die völlige Abwesenheit jeglicher Macht, jeglicher politischen Organisation wünschen, denn jede politische Organisation führt unweigerlich zur Verweigerung der Freiheit des Volkes“. Aus heutiger Sicht haben solche Instinkte, die Bakunin den Massen zuschreibt, natürlich nie existiert, sondern sind vielmehr Ausdruck ihrer eigenen Wünsche, ihrer eigenen Vorstellungen von Macht.
Kropotkin, eine anthropologische Sicht der Macht
Beeinflusst von der darwinistischen Revolution und den Evolutionstheorien wird Pjotr Kropotkin einen ethnologischen und historischen Ansatz für die Macht wählen und die Veränderungen in ihren politischen und sozialen Institutionen untersuchen. Für Kropotkin stellt die soziale Evolution immer eine Reihe von Gemeinschaftsinstitutionen mit solidarischen, freien und egalitären Beziehungen dar, denen andere Institutionen mit elitären, autoritären, ausbeuterischen und unterdrückerischen Ansprüchen gegenüberstehen, deren modernes Paradigma der Staat ist. Wie Nisbet (S. 155) zu Recht feststellt, ist bei Kropotkin der Gegensatz zwischen sozialer Autorität und Macht (politischer Autorität) deutlich zu erkennen. In seinem Hauptwerk Gegenseitige Hilfe stellt er fest, dass die Dorfgemeinschaft das wichtigste Instrument war, das die Bauern in die Lage versetzte, die feindliche Natur durch interne Solidaritätsbande zu überleben, aber auch jenen Sektoren entgegenzutreten, die versuchten, sich über die Mehrheit zu erheben, um ihre Autorität zu stärken und ihren Willen durchzusetzen. Innerhalb der Dorfgemeinschaft gab es Mechanismen, die Solidaritätsbeziehungen über Raubtierbeziehungen und Autoritarismus stellten (diese Beobachtungen wurden durch spätere ethnologische Forschungen bestätigt, insbesondere durch Autoren wie Marcel Mauss, Marshall Sahlins, Richard Lee, Marvin Harris und Pierre Clastres). Der Bewohner der barbarischen Komunen „unterlag einer ganzen Reihe von Institutionen, die von sorgfältigen Überlegungen durchdrungen waren, was für seinen Stamm oder seinen Bund nützlich oder schädlich sein könnte; und Institutionen dieser Art wurden religiös von Generation zu Generation in Versen und Liedern, in Sprichwörtern und Dreiklängen, in Sätzen und Anweisungen weitergegeben“.
Streitigkeiten, Kämpfe, Auseinandersetzungen und Konflikte wurden von angesehenen Gemeindemitgliedern geschlichtet, wobei auf der Grundlage des örtlichen Gewohnheitsrechts eine Wiedergutmachung des Vergehens und eine Entschuldigung verlangt wurden. Streitigkeiten zwischen Dorfmitgliedern waren von gemeinschaftlichem Interesse, und wenn sie nicht im privaten Bereich gelöst werden konnten, wurden sie öffentlich ausgetragen; dieses Verhalten hatte die Funktion, das durch den Konflikt gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen: „Abgesehen von ihrer moralischen Autorität hatte die Vollversammlung der Gemeinde keine andere Kraft, um ihr Urteil durchzusetzen. Die einzig mögliche Drohung war, den Rebellen für vogelfrei zu erklären, also außerhalb des Gesetzes zu stellen“. Ein Verstoß gegen das Gewohnheitsrecht war jedoch aufgrund des moralischen Gewichts der kommunalen Autorität unvorstellbar, so dass nur selten ein Mitglied einer Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Kropotkin weist darauf hin, dass der moralische Einfluss der Dorfgemeinschaften so stark war, dass sie während der Feudalzeit die rechtliche Autorität über die Grundherren behielten und deren Macht einschränkten.
Laut Kropotkin war die Anhäufung von Reichtum in den Händen einer Minderheit der erste Schritt zur Entstehung von Macht:
„Hinter dem Reichtum folgt immer die Macht. Doch je tiefer wir in das Leben jener Zeit – des sechsten und siebten Jahrhunderts – eindringen, desto mehr kommen wir zu der Überzeugung, dass für die Etablierung der Macht der Minderheit neben Reichtum und militärischer Gewalt ein weiteres Element erforderlich war. Dieses Element war Recht und Gesetz, der Wunsch der Massen, den Frieden zu erhalten und das durchzusetzen, was sie als Gerechtigkeit ansahen; und dieser Wunsch gab den Kriegsherren der Mesnaden, den Knyazi, Fürsten, Königen usw. die Kraft, die sie zwei oder drei Jahrhunderte später erlangten. Derselbe Gedanke der Gerechtigkeit, der in der Stammeszeit geboren wurde, nun aber als Wiedergutmachung für das begangene Vergehen verstanden wurde, zog sich wie ein roter Faden durch die Geschichte aller nachfolgenden Institutionen; und in weitaus größerem Maße als militärische oder wirtschaftliche Ursachen diente er als Grundlage, auf der sich die Autorität der Könige und Feudalherren entwickelte.“
Die politische Macht erhebt sich dann gegen die soziale Autorität der Kommune und setzt sich schließlich durch, und zwar nicht so sehr durch Zwang, sondern durch die Bürokratisierung und Kristallisierung der alten Formen des kommunalen Gewohnheitsrechts. Die Kräfte, die zuvor für die Aufrechterhaltung des solidarischen Gleichgewichts sorgten, werden zu Kräften, die die neu geschaffene autoritäre Ordnung aufrechterhalten. Diese allmähliche Umwandlung erfolgte nicht unbedingt durch Gewalt und auch nicht durch die Auferlegung von Zwang, sondern vielmehr durch das Entstehen bestimmter Kräfte innerhalb des Dorfes, von denen die juristische Macht vielleicht die einflussreichste war. In seiner kurzen Studie Der Staat und seine historische Rolle argumentiert Kropotkin – mit wenig historischer oder anthropologischer Grundlage -, dass sich das kommunale Recht allmählich spezialisierte und von einigen wenigen Familien übernommen wurde, die zu Spezialisten wurden, an die sich einzelne Dorfbewohner und sogar Stämme wandten, wenn sie einen Schiedsrichter in einem Konflikt benötigten.
„Die Autorität des Königs oder Fürsten keimt bereits in diesen Familien, und je mehr ich die Institutionen jener Zeit studiere, desto deutlicher sehe ich, dass die Kenntnis des Gewohnheitsrechts, der Gewohnheit, viel mehr zu dieser Autorität beigetragen hat als die Kraft des Krieges. Der Mensch wurde durch seinen Wunsch, nach dem Gesetz zu bestrafen, besser geknechtet als durch direkte militärische Eroberung. Und so entstand allmählich die erste Machtkonzentration, die erste gegenseitige Absicherung der Herrschaft, die des Richters und die des Militärchefs, gegen die Gemeinschaft des Volkes. Ein Mann träumt von diesen beiden Funktionen und umgibt sich mit bewaffneten Männern, um richterliche Entscheidungen auszuführen, befestigt sich zu Hause, häuft in seiner Familie die Reichtümer der Zeit an – Brot, Vieh, Eisen – und zwingt den umliegenden Bauern nach und nach seine Herrschaft auf. Und die Weisen der Zeit, also die Zauberer oder Priester, zögerten nicht, ihn zu unterstützen und die Herrschaft mit ihm zu teilen, oder sie nutzten beides zu ihrem eigenen Vorteil, indem sie die Macht des Magiers mit dem Speer ergänzten.“
In diesem letzten Absatz von Kropotkin ist der Einfluss von Etienne de La Boetie, dem Autor des berühmten „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“, deutlich zu erkennen. Der Franzose stellte sich die Frage, warum sich die Menschen, die frei geboren wurden, freiwillig und ohne Zwang der Obrigkeit unterwerfen; und es ist genau Kropotkin, der versucht, die Antwort zu finden, indem er die Entstehung der politischen Macht und des modernen Staates untersucht. Wie man sieht, war Kropotkins Vorstellung von Macht viel komplexer als die einfache Identifizierung mit Zwang, wie Beltrán Roca Martínez annimmt.
Es muss klargestellt werden, dass der wissenschaftliche Ansatz, den Kropotkin seiner Forschung zu geben versuchte, mit der Entwicklung der ethnografischen Forschung, der Kulturanthropologie und der Gesellschaftstheorie obsolet wurde, und zwar gerade wegen des vorläufigen Charakters aller wissenschaftlichen Studien. Dennoch beeinflussten Kropotkins Ideen spätere Autoren wie Alfred R. Radcliffe-Brown, Pitirim Sorokin und Ashley Montagu, die einige seiner Ansätze weiterentwickelten. Andererseits konnte sich Kropotkins Vision zu Beginn des 20. Jahrhunderts als erfrischende Alternative zum hegelianischen deutschen Historismus präsentieren, dessen berühmtester Ausdruck der inzwischen Schiffbruch erlittene historische Materialismus von Marx und Engels war.
Macht in Landauers Philosophie
„Der Staat ist eine Situation, eine Beziehung zwischen Menschen, eine Art und Weise, wie sich Menschen zueinander verhalten; und er wird zerstört, indem man andere Beziehungen herstellt, indem man sich anderen gegenüber auf andere Weise verhält“. Weit entfernt vom Historizismus und Soziologismus Kropotkins, zeigt diese Aussage von Gustav Landauer eine sehr originelle Perspektive auf Macht, Autorität und den Staat. Für Landauer ist der Staat eine Beziehung, in der Zwang ausgeübt wird, im Gegensatz zu einer anderen Art von Beziehung, die er als Volk bezeichnet, in der freiwillige, solidarische und dezentralisierte Zusammenschlüsse die Regel sind. Letztere gibt es in der Tat in allen Gesellschaften, sie ist die natürliche Form des Zusammenschlusses, die Männer und Frauen vereint, die aber noch keine Föderation oder höhere Organisation gebildet hat, „einen Organismus aus unzähligen Organen und Mitgliedern“, in dem der Geist des Sozialismus wohnt. Für Landauer ist der Sozialismus nicht etwas Neues, sondern etwas, das schon vorher innerhalb der Gemeinschaft existierte, unterjocht und begraben vom Staat und gegen den Staat. Diese Form des Verhältnisses des Volkes koexistiert mit der Form des Verhältnisses des Staates, wenn auch außerhalb und abseits von ihm. Nach dieser Interpretation ist der Sozialismus immer möglich, zu jedem historischen Zeitpunkt und in jedem geografischen Raum, solange die Menschen ihn wollen und verwirklichen; oder ebenso unmöglich, wenn die Menschen ihn nicht wollen.
In diesem antagonistischen Verhältnis zwischen Staat und Gemeinschaft geht es nach Martin Buber nicht um den alternativen Staat oder Nicht-Staat: „Wenn der Staat ein Verhältnis ist, das in der Realität nur durch die Errichtung eines anderen zerstört wird, so wird er gerade mit jedem Schritt auf das neue Verhältnis hin zerstört“. Die Grundlage des Staates (gesetzlicher Zwang) ist die Unfähigkeit der Menschen, sich freiwillig zu einer gerechten Ordnung zusammenzuschließen. Aber die Reichweite des Staates geht über diese Zwangsbasis hinaus und bildet einen Mehr-Staat, der sich im Laufe der Zeit verewigt und auch dann nicht abnimmt, wenn die Fähigkeit zu einer freiwilligen Ordnung der Menschen zunimmt. Die vom Staat angehäufte Macht wird nicht zurückgenommen, es sei denn, er wird dazu gezwungen. Er verliert seine ursprüngliche rationale Grundlage, die durch die Unfähigkeit der Gesellschaft, eine gerechte, freiwillige Ordnung aufrechtzuerhalten, gerechtfertigt war, und wird zu reiner Macht, Macht um der Macht willen, bei der die Toten die Lebenden beherrschen.
Der Vormarsch und das Wachstum von Gemeinschaften (und Individuen) mit ihren Vereinigungen und Föderationen erneuern die organische Struktur der Gesellschaft und verdrängen und zerstören den Staat. Die Koexistenz von Gesellschaft und Staat bedeutet nicht die Akzeptanz von Reformismus oder Gradualismus auf dem Weg zum Sozialismus, sondern eine Dialektik, in der jeder konstruktive Schritt in Richtung Anarchie ein Schritt zur Zerstörung des Staates ist. Wie Buber argumentiert, ist sowohl für Landauer als auch für Proudhon „eine Assoziation ohne ausreichenden Gemeinschaftsgeist, die vital genug ist, kein Ersatz für die Gesellschaft, sondern trägt den Staat in sich, und was sie tut, kann nichts anderes sein als Staat, das heißt: Machtpolitik und Expansionismus, getragen von einer Bürokratie.“ Für Landauer muss man nicht auf die Revolution warten, um die Endgültigkeit der Anarchie zu erkennen; vielmehr werden Anarchie und Sozialismus im Vorbeigehen gemacht, sie sind Mittel und Zweck zugleich.
Wie gesagt, Landauers Perspektive betrachtet den Staat als eine Form der Beziehung zwischen Menschen, d.h. eine staatliche Gesellschaft besteht aus Machtbeziehungen zwischen ihren Mitgliedern, aus Herrschaft, die sich in mehreren Facetten gleichzeitig ausdrückt: politische, religiöse, kulturelle, ökonomische, usw. Machtbeziehungen. Landauer betrachtete die mittelalterliche Gesellschaft als überwiegend autonom, in der die verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften miteinander verflochten waren, ohne eine zentralisierte politische Macht zu bilden. „Im Gegensatz zum Prinzip des Zentralismus und der politischen Macht, das dort Einzug hält, wo der Gemeinschaftsgeist verschwunden ist, (…) stellt das christliche Zeitalter einen Zivilisationsgrad dar, in dem mehrere spezifische soziale Strukturen nebeneinander bestehen, die von einem einigenden Geist durchdrungen sind und eine Kollektivität vieler frei verbundener Autonomien verkörpern“. Diese Situation sollte sich während der Renaissance und dem Aufstieg des europäischen Absolutismus, dem Vorläufer der modernen Nation-Staat, des Nationalismus und des Kapitalismus, radikal ändern.
Wenn die Staatsmacht mit dem Absoluten verbunden ist, ist der Sozialismus weit vom Absoluten entfernt. In diesem Sinne ist der Sozialismus die kontinuierliche Schaffung von Gemeinschaft innerhalb der menschlichen Familie (Buber, S. 81). Im Gegensatz dazu ist die politische Macht die kontinuierliche Schaffung des Staates in der menschlichen Gesellschaft. Weit davon entfernt, die Schaffung einer Volksmacht zu postulieren, um die Anarchie zu erreichen, plädiert Landauer für die Schaffung von Gemeinschaftsbeziehungen mit demselben Ziel.
Rocker: Macht gegen Kultur
Ein Zeitgenosse Landauers und etwas produktiver, entwickelte Rudolf Rocker in seinem Werk Nationalismus und Kultur, das er einige Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb, eine allgemeine Theorie der Macht. Für Rocker waren die Konzepte von Nationalismus und Macht antagonistisch zum Konzept der Kultur. Wenn die Macht zunimmt und sich ausweitet, nimmt die Kultur ab, und umgekehrt, wenn die Kultur sich ausweitet und sich entwickelt, neigt die Macht dazu, sich auf ihren minimalen Ausdruck zu reduzieren. Die Form, in der sich die politische Macht in der modernen Gesellschaft am stärksten ausdrückt, ist der Staat, der sich der Gesellschaft aufdrängt.
Um seine Argumentation weiterzuentwickeln, geht Rocker durch die Geschichte der Menschheit und entwickelt dieses Spannungsverhältnis zwischen Kultur (die ein Produkt der Gesellschaft ist und den materiellen Lebensunterhalt sowie die intellektuelle und künstlerische Entwicklung des Menschen sichert) und Macht (sowohl politische Macht, deren moderner Ausdruck Nationalismus und Bürokratie ist, als auch ihre religiösen und ökonomischen Vorläufer, die in den Händen einer Minderheit konzentriert sind). Für Rocker hatte die stetig wachsende Macht der politischen Bürokratie, die das Leben der Menschen beherrschte und kontrollierte, die freiwillige Zusammenarbeit und die individuelle Freiheit in der Gesellschaft zunichte gemacht und die „Tyrannei des totalitären Staates gegen die Kultur“ eingeführt. Der Aufstieg des Faschismus und des Stalinismus, die zu der Zeit, als Rocker sein Werk schrieb, auf ihrem Höhepunkt waren und ihm große Sorgen bereiteten, veranlasste den Autor dazu, diesen neuen politischen Ausdruck zu erklären, der alles zu vernichten schien, was sich ihm entgegenstellte. So beschrieb er diese neue moderne „politische Religion“:
„Wie für die Theologie der verschiedensten Religionsbekenntnisse Gott alles und der Mensch nichts ist, so ist für diese moderne politische Theologie heute die Nation alles und der Bürger nichts. Und wie sich hinter dem Willen Gottes stets die Machtansprüche privilegierter Kasten verborgen hielten, so muß auch heute der Wille der Nation als Vorwand herhalten, um den brutalen Gelüsten eines neuen Machthabertums, das sich berufen fühlt, diesen Willen in seinem Sinne zu deuten und den Völkern aufzuzwingen, als äußere Verputzung zu dienen. “.
Dieser „Wille privilegierter Minderheiten“, auf den sich Rocker bezieht und der nichts anderes ist als der Wille zur Macht, spielt in seiner These eine so große Rolle, dass er im ersten Kapitel von Nationalismus und Kultur davon ausgeht, dass „je tiefer man den politischen Einflüssen in der Geschichte nachgeht, desto mehr gelangt man zu der Überzeugung, daß der «Wille zur Macht» bisher eine der stärksten Triebfedern in der Entwicklung menschlicher Gesellschaftsformen gewesen ist “ Mit dieser Aussage zielte Rocker direkt auf die Thesen des historischen Materialismus ab, der eine Art Determinismus ökonomischer Strukturen und Bedingungen für politische und soziale Entwicklungen postulierte. Ohne zu leugnen, dass die Ökonomie eine wichtige Rolle bei der Verursachung sozialer Ereignisse spielt, postulierte Rocker, dass „der Wille zur Macht, der stets von einzelnen oder von kleinen Minderheiten in der Gesellschaft ausgeht, ist überhaupt eine der bedeutsamsten Triebkräfte in der Geschichte, der in seiner Tragweite bisher viel zuwenig beachtet wurde, obwohl er häufig einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens hatte“.
Das Studium der gesellschaftlichen Entwicklung und der Geschichte – so Rocker – zeigt, dass sich in allen Epochen „daß sich in allen Epochen der uns bekannten Geschichte zwei Mächte gegenüberstanden, die auf Grund ihrer inneren Wesensverschiedenheit und ihrer sich daraus ergebenden typischen Betätigungsformen und praktischen Auswirkungen im steten offenen oder versteckten Kampfe miteinander lagen. Es ist hier von dem politischen und dem wirtschaftlichen Element in der Geschichte die Rede, die man auch als das staatliche und gesellschaftliche Element im historischen Geschehen bezeichnen könnte. Streng genommen sind die Begriffe des Politischen und des Wirtschaftlichen in diesem Falle etwas zu eng gefaßt, denn alle Politik wurzelt letzten Endes in der religiösen Vorstellungsweise des Menschen, während alles Wirtschaftliche kultureller Natur ist und daher in innigster Berührung mit allen wertschaffenden Kräften des gesellschaftlichen Lebens steht; so daß man schlechthin von einem inneren Gegensatz zwischen Religion und Kultur sprechen müßte“.
Wie Rocker es ausdrückt, stehen zwei antagonistische Kräftepaare in Spannung und Opposition: auf der einen Seite Macht, Politik und Religion, verkörpert in Minderheitengruppen, die der Mehrheit durch Institutionen wie Kirche und Staat ihre Herrschaft aufzwingen; und auf der anderen Seite die Ökonomie und Kultur der Mehrheiten, die die Gesellschaft ausmachen. Aber die Religion wird der Eckpfeiler, das Fundament sein, auf dem die gesellschaftliche Entwicklung bei der Entstehung politischer Macht aufbaut, denn in allen religiösen Systemen spiegelt sich „an die vorbestimmte Abhängigkeit des Menschen von einer überirdischen Vorsehung bisher stets die bewußte oder unbewußte Voraussetzung aller und jeder weltlichen Macht gewesen ist. “. Die Religion machte den Menschen (seinen Schöpfer) zum Sklaven seiner Schöpfung (der übernatürlichen Götter), genauso wie sie später die politische Macht und den Staat, der schließlich den Platz der höchsten Gottheit einnehmen sollte. Der Autor drückt es unverblümt aus: „So war die Religion bereits in ihren ersten kümmerlichen Anfängen mit der Vorstellung der Macht, der übernatürlichen Überlegenheit, der Gewalt über den Gläubigen, mit einem Wort des Herrentums auf das innigste verwachsen. “. Diese Realität käme deutlich in dem Anspruch der Vertreter des Autoritätsprinzips zum Ausdruck, die Verkörperung der Macht Gottes, ihres göttlichen Ursprungs zu sein.
Rocker erkennt jedoch die Bedeutung ökonomischer Interessen in der Herrschaftspolitik menschlicher Gruppen seit primitiven Zeiten an: der Wunsch, sich die Ressourcen einer anderen menschlichen Gruppe, ihr Territorium, ihren Reichtum oder ihre Frauen anzueignen. Die Unterwerfung eines Stammes durch einen anderen machte die Besiegten zu Tributpflichtigen einer privilegierten Kaste. Wir werden nicht auf die Einzelheiten dieser Argumentation eingehen, die auf unzuverlässigen Quellen und den Forschungen eines Neophyten und unerfahrenen Ethnologen basierte. Für Rocker war das expansionistische Verhalten der mächtigen Kasten ein universelles Verhalten, das sich in der gesamten historischen und sozialen Erfahrung manifestierte:
„Jeder Erfolg stachelt ihn zu neuen Unternehmungen an: denn es liegt im Wesen aller und jeder Macht, daß ihre Träger fortgesetzt bestrebt sind, die Sphäre ihres Einflusses zu erweitern und ihr Joch schwächeren Völkern aufzudrängen. So entwickelte sich allmählich eine besondere Kaste, weicher der Krieg und die Herrschaft über andere zum Beruf wurde. Keine Herrschaft aber kann sich auf die Dauer lediglich auf brutale Gewalt stützen. Brutale Gewalt kann die unmittelbare Veranlassung zur Unterjochung von Menschen sein, doch ist sie allein nie imstande, die Macht einzelner oder die einer besonderen Kaste über ganze Menschengruppen dauernd zu gestalten. Dazu gehört mehr, gehört der Glaube der Menschen an die Unvermeidlichkeit der Macht, der Glaube an ihre gottgewollte Sendung. Ein solcher Glaube aber wurzelt zutiefst im religiösen Empfinden der Menschen und gewinnt mit der Überlieferung an Stärke.“
In Realität ist Rockers Erklärung für den Aufstieg politischer/religiöser Macht eine Interpretation historischer Ereignisse, die stark von den zeitgenössischen kapitalistischen und nationalistischen Erfahrungen beeinflusst ist. Der Expansionsdrang, den er primitiven Stammesgruppen gegenüber schwächeren Menschengruppen zuschreibt, ähnelt der grenzenlosen Gier der bourgeoisen Klassen, die die Arbeiterklasse ausplündern, oder dem Expansionsdrang moderner Nationen/Staaten und des Imperialismus gegenüber lokalen Ethnien und Gemeinschaften. Und hier kehrt Rocker zu einem Klischee zurück, das fast die gesamte anarchistische Literatur kennzeichnet und seinen Vorläufer in Etienne de la Boetie hat: die Akzeptanz der freiwilligen Unterwerfung seitens der Beherrschten. Für Rocker wird diese Unterwerfung nicht allein durch physische Gewalt erzwungen, sondern hat als Hauptbestandteil die göttliche Identität der Autorität, „weshalb der Hauptzweck aller Politik bis zu diesem Punkt darin bestand, diesen Glauben im Volk zu wecken und psychologisch zu verankern (…) Es ist immer das Prinzip der Macht, das von den Vertretern der himmlischen und irdischen Autorität vor den Menschen behauptet wurde, und es ist immer das religiöse Gefühl der Abhängigkeit, das die Massen zum Gehorsam zwingt. Der Souverän des Staates wird in öffentlichen Tempeln nicht mehr als Gottheit verehrt, sondern sagt mit Ludwig XIV: Der Staat bin ich! Der Staat ist die irdische Vorsehung, die über die Menschen wacht und ihre Schritte lenkt, damit sie nicht vom rechten Weg abkommen. Deshalb ist der Vertreter der staatlichen Souveränität der oberste Priester der Macht, die ihren Ausdruck in der Politik findet, so wie die göttliche Verehrung ihren Ausdruck in der Religion findet“. Die freiwillige Unterwerfung unter die Staatsmacht wäre dann die Folge der Legitimierung der politischen Macht durch die Religion.
Ein weiteres Thema, mit dem sich Rocker in seiner Arbeit befassen wird, ist die Einzigartigkeit der Macht, d. h. ihr Anspruch und „Wunsch, einzigartig zu sein, denn ihrem Wesen nach fühlt sie sich absolut und wehrt sich gegen jedes Hindernis, das sie an die Grenzen ihres Einflusses erinnert. Macht ist das Bewusstsein von Autorität in Aktion; sie kann, wie Gott, keine andere Gottheit neben sich dulden“. Diese Eigenschaft von Machtstrukturen äußert sich in einem Kampf um die Vorherrschaft zwischen den verschiedenen Machtgruppen. Die Grundlage aller Macht ist dieser Keim, der danach strebt, jede soziale Bewegung einem einzigen, zentralen Willen zu unterwerfen, der manchmal in der Gestalt eines Monarchen, einer Partei oder eines verfassungsmäßig gewählten Vertreters verkörpert wird. Die Einheit der Macht drückt sich in der Achtung vor den Symbolen aus, die die politische Autorität auf der Grundlage religiöser Gefühle legitimieren. Die Institutionen des Staates, der Nation, der Partei und/oder der Religion beruhen auf einer einzigen Macht, die sich auf Kosten anderer Machtgruppen ausdehnt und erweitert (Gruppen, die zwar schwächer sind, hinter denen sich aber auch ein latentes Streben nach universeller Herrschaft verbirgt): „Der Traum von der Errichtung eines universellen Reiches ist nicht nur ein Phänomen der alten Geschichte; er ist das logische Ergebnis aller Machtaktivitäten und nicht an eine bestimmte Periode gebunden“.
Rockers Vorstellung von Macht stand ganz im Einklang mit der Soziologie seiner Zeit; Macht wurde als Struktur und nicht als Beziehung untersucht (wie Foucault Jahrzehnte später argumentieren sollte), und in seinen Argumenten lassen sich Ideen von so unterschiedlichen Autoren wie Weber, Marx oder Durkheim wiederfinden. Rockers Thesen zur Macht waren perfekt in den Kontext der Soziologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts eingebettet. In diesem Zusammenhang postulierte unser Autor, dass eine der ersten Bedingungen für die Existenz jeglicher Macht in der Aufteilung der Gesellschaft in höhere und niedrigere Klassen, Stände oder Kasten liegt. Diese Machtstrukturen werden durch Religion, Tradition und Mythen legitimiert, die diese Situation der Ungleichheit als unausweichlich, fatal und notwendig darstellen, als Teil einer natürlichen Gesellschaftsordnung.
In Gesellschaften, in denen es politisch organisierte Machtgruppen gibt, eignen sie sich die kulturellen, ökonomischen und symbolischen Produkte an, die die Gesellschaft für ihre lebenswichtige Reproduktion schafft. Angesichts dieser Situation der Ungleichheit, die zu Machtstrukturen in Gesellschaften führt, lehnt Rocker die Existenz einer schöpferischen Kraft der Macht ab:
„Und doch beruht der Glaube an die angeblichen schöpferischen Fähigkeiten der Macht auf einer grausamen Selbsttäuschung, da die Macht als solche überhaupt nichts schaffen kann und völlig auf die schöpferische Tätigkeit der Untertanen angewiesen ist. um überhaupt bestehen zu können. Nichts ist irreführender, als im Staate den eigentlichen Schöpfer des kulturellen Geschehens erkennen zu wollen, wie es leider fast immer geschieht. Gerade das Gegenteil ist wahr: der Staat war von Anbeginn die hemmende Kraft, welche der Entwicklung jeder höheren Kulturform mit ausgesprochenem Mißtrauen gegenüberstand. Staaten schaffen keine Kultur, wohl aber gehen sie häufig an höheren Formen der Kultur zugrunde. Macht und Kultur im tiefsten Sinne sind unüberbrückbare Gegensätze; die Stärke der einen geht stets mit der Schwäche der anderen Hand in Hand. Ein mächtiger Staatsapparat ist das größte Hindernis für jede kulturelle Entwicklung. Dort, wo Staaten sterben oder wo ihre Macht noch auf ein Minimum beschränkt ist, gedeiht die Kultur am besten“.
Die schöpferische Kraft liegt in der Kultur, „sie schafft sich selbst und entsteht spontan aus den Bedürfnissen der Menschen und ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken“. Kultur in ihren verschiedensten Aspekten, sei es technologisch, künstlerisch, moralisch oder ökonomisch, wird von der Gesellschaft hervorgebracht, während politische Institutionen sich diese Entwicklung aneignen, um ihre Macht zu festigen und das gesellschaftliche Leben zu beherrschen. Die politische Macht widerspricht unweigerlich den kreativen Kräften des kulturellen Prozesses, dessen Wesen vielgestaltig und vielfältig ist, indem sie versucht, diesen kreativen Prozess zu standardisieren, zu normieren, zu kristallisieren und zu disziplinieren. Aber die Kultur erneuert sich ständig und passt sich an, egal wie sehr die politischen Kräfte versuchen, ihre Herrschaft durchzusetzen und ihre Entwicklung zu behindern. Der Staat, der immer unfruchtbar ist, macht sich diese kreative Kraft der Kultur zunutze, um sie zu seinem Vorteil zu lenken, und begünstigt nur die Elemente der Kultur, die dem Erhalt seiner Macht dienlich sind. Deshalb wird Rocker behaupten, dass es unmöglich ist, von einer staatlichen Kultur zu sprechen, weil Kultur und Macht widersprüchliche Kräfte sind, die sich in einem ständigen Konflikt befinden:
„Schon die Tatsache, daß jedem Herrschaftsgebilde stets der Wille privilegierter Minderheiten zugrunde liegt, der den Völkern von oben herab durch List oder brutale Gewalt aufgezwungen wurde, während in jeder besonderen Phase der Kultur immer nur das anonyme Wirken der Gemeinschaft zum Ausdruck gelangt, ist bezeichnend für den inneren Gegensatz, der zwischen beiden besteht. Macht geht immer nur auf einzelne oder auf kleine Gruppen zurück; Kultur wurzelt stets in der Gemeinschaft. (…) Kultur verkörpert Zeugungswillen, Schöpferdrang, Gestaltungstrieb, die nach Ausdruck lechzen. Macht ist dem Hunger vergleichbar, dessen Befriedigung das Einzelwesen bis zu einer bestimmten Altersgrenze am Leben erhält.“
Doch obwohl dieser Gegensatz zwischen Kultur und Macht so offensichtlich ist, erkennt Rocker an, dass es in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Gemeinsamkeiten und Verständnis zwischen den beiden gibt. Je tiefer die kulturelle Aktion der Menschen in die Umlaufbahn der Macht gerät, desto mehr zeigt sie eine Versteinerung ihrer Formen, eine Lähmung ihrer kreativen Energie und eine Dämpfung ihres Leistungswillens. Je stärker die soziale Kultur hingegen alle politischen Schranken der Herrschaft überwindet, desto weniger wird sie in ihrer natürlichen Entwicklung durch die politischen und religiösen Mittel der Unterdrückung gehemmt. „In diesem Fall steigt sie zu einer unmittelbaren Gefahr für die Existenz der Macht auf“. Dieser Berührungspunkt zwischen den politischen Machtstrukturen und der kulturellen Sozialstruktur ist auch ein Bereich des ständigen Konflikts und Kampfes. Als Ergebnis dieses Kampfes zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen entstehen allmählich Formen von Rechtsbeziehungen, die „die Grenzen der Zuordnungen zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Politik und Wirtschaft, mit einem Wort, zwischen Macht und Kultur“ abstecken“. Recht, Zivil- und Strafgesetzbücher, Gesetze und Verfassungen sind die Kristallisation dieses Prozesses der Auseinandersetzung zwischen Macht und Gesellschaft, und diese Institutionen sind die „Stoßstange, die ihre Zusammenstöße abschwächt und die Gesellschaft vor einem Zustand der ständigen Katastrophe bewahrt“. Diesen Zwiespalt zwischen Gesellschaft und Staat vergleicht Rocker mit den Schwingungen eines Pendels, das zwischen zwei Polen schwingt: dem der Autorität und dem der Freiheit. An dem Punkt, an dem das Pendel am Pol der Freiheit zum Stillstand kommt, ist die Gesellschaft vom Staat, von Unterdrückung und Ausbeutung befreit und es herrscht Anarchie. An dem Punkt, an dem das Pendel am Pol der Autorität anhält, herrscht Ungleichheit und die kreativen Fähigkeiten der Gesellschaft werden zugunsten einer privilegierten Minderheit gelähmt und der Nationalstaat, seine Verwaltungsbürokratie und der Kapitalismus werden eingeführt.
Zu letzterem zählt Rocker die Variante „Staatskapitalismus“, um auf den leninistischen autoritären Sozialismus anzuspielen, denn er erstickt alle gesellschaftlichen Aktivitäten und ersetzt sie durch staatliche Aktivitäten. Menschen, die unter die Herrschaft des Staates geraten, verlieren ihren Gemeinschaftsgeist, ihre Freiheit, ihre schöpferischen Fähigkeiten und ihre Spontaneität; mit anderen Worten: Sie werden entpersonalisiert. Doch Rocker warnt davor, dass die Bösartigkeit der Macht so übermächtig ist, dass sie ihre eigenen Agenten verschlingt: „Das ist der geheime Fluch jeder Macht, daß sie nicht nur ihren Opfern, sondern auch ihren eigenen Trägern zum Verhängnis wird. Der wahnwitzige Gedanke, für etwas leben zu müssen, das jedem gesunden menschlichen Empfinden widerspricht und in sich selbst unfaßbar ist, macht den Träger der Macht mählich selber zur toten Maschine, nachdem er alle, die seiner Gewalt unterstehen, zur mechanischen Befolgung seines Willens gezwungen hat“. In diesen letzten Worten stoßen wir auf eine rudimentäre Theorie über die Entfremdung der Macht, die der Autor leider nicht vertieft hat, die aber eine fertige Kostprobe seines zeitgenössischen Anliegens darstellt: die Entpersönlichung, die Bürokratie und Totalitarismus (faschistisch und stalinistisch) im Körper der Gesellschaft bewirken und sie in eine träge, gehorsame und disziplinierte Masse verwandeln.
Abschließende Reflexion
Die Zeit von 1830 bis 1900 war laut Robert Nisbet das Goldene Zeitalter der Soziologie. Genau in dieser Zeit kamen anarchistische Ideen auf und gewannen an Dynamik. In diesem Kontext stellten Anarchistinnen und Anarchisten Theorien über Macht und den Staat auf – neben anderen Themen – mit der intellektuellen Tiefe und Kompetenz, die ihrer Zeit angemessen war. Anders als der Marxismus waren die anarchistischen Theoretiker nicht an das Denken einer dominanten intellektuellen Autorität gebunden, sondern griffen das Problem der Macht aus einer Vielzahl von Perspektiven an. Die Vielfalt der Ansätze sollte uns jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass diese Perspektiven inkohärente oder unvereinbare Vorschläge enthielten. Der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Staat bzw. zwischen Gesellschaft und Politik wird in dem antagonistischen Paar Anarchie versus Macht zusammengefasst und ist bei allen anarchistischen Autoren präsent. Der Anarchismus hatte keine launische oder infantile Vision, die den Staat und die Macht gleichsetzte, sondern differenzierte autoritäre Regierungsformen (politische Strukturen) als Produkt der historischen Entwicklung, während die Macht eine dem Menschen innewohnende Qualität und Eigenschaft war, genauso wie Solidarität, Kooperation, Egoismus oder Altruismus. Wenn also der Staat ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung ist, so ist Macht (oder der Wille, sie zu erlangen) andererseits eine universelle Kraft, die in allen Gesellschaften in latenter oder manifester Form vorhanden ist und die den Gefühlen menschlicher Solidarität und Brüderlichkeit entgegensteht.
Wenn wir heutigen Anarchistinnen und Anarchisten ernsthaft über dieselben Forderungen diskutieren wollen, die die großen Theoretiker des klassischen Anarchismus brillant aufgegriffen haben, sollten wir Annahmen wie die von Roca Martínez, die wir bereits zu Beginn dieser Rezension zitiert haben, beiseite lassen. Aus unserer Sicht waren alle Versuche, den Begriff der Macht so anzupassen, dass er mit dem Anarchismus vereinbar ist, unfruchtbar. Die Idee einer „Volksmacht“ ist ebenso abwegig wie der Glaube, dass klassische Anarchistinnen und Anarchisten jede Diskussion über Macht ablehnten, weil sie von Natur aus böse sei oder weil sie Macht einfach als Herrschaft oder Zwang ansahen. Die Sichtweise, die Macht als Herrschaft darstellte, war jedoch eine der großen Denkrichtungen der Soziologie, und ihr Hauptvertreter war Max Weber, der vielleicht größte Soziologe der Geschichte. Die Sichtweise der Anarchistinnen und Anarchisten auf die Macht entsprach also nicht nur dem Kontext, in dem sich die libertären Ideen entwickelten, sondern war sogar ein Vorläufer der Sozialwissenschaften, die von der Mitte des neunzehnten bis in die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts gegründet wurden. Viele der Intuitionen der anarchistischen Theoretiker über politische Macht werden von Max Weber auf eine methodischere und wissenschaftlichere Weise behandelt. Wir werden nun versuchen, das letztere Bild zu veranschaulichen.
Bakunins Idee, dass Macht „weder einen Überlegenen noch einen Gleichen ertragen kann, denn Macht hat kein anderes Ziel als Herrschaft; (…) keine Macht duldet eine andere, es sei denn, sie wird dazu gezwungen“, oder dass „Eroberung nicht nur der Ursprung, sondern auch das höchste Ziel aller Staaten ist, ob groß oder klein, mächtig oder schwach, despotisch oder liberal, monarchisch oder aristokratisch, demokratisch und sozialistisch“, sind Ideen, die perfekt mit der Weberschen Sichtweise vereinbar sind:
„Alle politischen Strukturen wenden Gewalt an, aber sie unterscheiden sich in der Art und Weise und dem Ausmaß, in dem sie sie gegen andere politische Organisationen einsetzen oder mit ihr drohen (…) Nicht alle politischen Strukturen sind gleich expansiv (…) als Machtstruktur unterscheiden sie sich in dem Ausmaß, in dem sie nach außen orientiert sind“.
Rockers Vorstellung vom Machtstreben bestimmter dominanter Gruppen findet auch bei Weber ihre Entsprechung: „Das Streben nach Prestige ist charakteristisch für alle spezifischen Machtstrukturen und damit für alle politischen Strukturen (…) In der Praxis ist das Prestige der Macht als solches gleichbedeutend mit dem Ruhm der über andere Gemeinschaften ausgeübten Macht; es ist gleichbedeutend mit einer Ausweitung der Macht, wenn auch nicht immer durch Annexion oder Unterwerfung. Große politische Gemeinschaften sind die natürlichen Exponenten dieser Prestigeansprüche“.
Weber beschrieb auch die starken Beziehungen zwischen Klassenunterschieden und Machtstrukturen, die Aktionen von Parteien, die fast ausschließlich auf den Erwerb von Macht ausgerichtet sind, um kommunale Aktionen zu beeinflussen oder ein bestimmtes politisches Programm zu verwirklichen. Webers Theorie der Macht hat auch eine gewisse Universalität und Allgemeingültigkeit, die mit den meisten anarchistischen Theorien übereinstimmt, und das liegt vor allem daran, dass das, was Weber (ein Bourgeois, der unverdächtig war, mit dem Anarchismus zu sympathisieren) unter „Macht“ versteht, sich nicht sehr von den Postulaten des klassischen Anarchismus unterscheidet: „Wir meinen mit Macht die Möglichkeit für eine Person oder eine Anzahl von Personen, ihren eigenen Willen in einer gemeinschaftlichen Aktion zu verwirklichen, auch gegen den Widerstand anderer, die an der Aktion teilnehmen“. Wir könnten auch hinzufügen, dass seine Definition des Staates als Institution, die das Gewaltmonopol in der Gesellschaft innehat, trotz ihrer offensichtlichen Enge von einer ganzen Reihe von Anarchistinnen und Anarchisten geteilt werden könnte.
Die Tatsache, dass wir einige Übereinstimmungen zwischen der Weberschen Soziologie der Macht und anarchistischem Denken aufgezeigt haben, sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass es keine Berührungspunkte mit anderen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts wie Marx, Tonnies oder Durkheim geben könnte. Wir nehmen die Überschneidungen mit Webers Machttheorie zum Anlass, um zu zeigen, dass die Vorstellungen der klassischen Anarchistinnen und Anarchisten über Macht keineswegs der begrenzten Charakterisierung von Roca Martínez entsprachen. Das Problem der Macht war nicht etwas, das die Anarchistinnen und Anarchisten aus Angst vor Ansteckung vermieden, sondern sie gingen es kohärent, rational und in Übereinstimmung mit ihrem Denken an. Es ist genau diese besondere Sichtweise der Macht, die die Anarchistinnen und Anarchisten charakterisiert und sie von anderen ideologischen Strömungen unterschieden hat.
Abschließend bleibt uns nur noch zu sagen, dass, wenn die Theoretiker der „Volksmacht“ darauf beharren, mit dem Gesetz des geringsten Aufwands zu argumentieren, wie es Roca Martinez zur Charakterisierung des klassischen Anarchismus getan hat, es für ihre Ideen schwierig sein wird, vom Rest der libertären Bewegung akzeptiert zu werden. Denn in Wahrheit müssten wir mit Argumenten jonglieren, um so gegensätzliche Bedeutungen wie Anarchie und Macht miteinander zu vereinbaren und das zu akzeptieren, was aus unserer Sicht absurd und inkohärent ist. Es sei denn, wir Anarchistinnen und Anarchisten geben die gesunde Gewohnheit auf, uns zu weigern, vom Standpunkt der Machthaber aus zu denken.
BIBLIOGRAPHIE
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Buber, Martín, Los caminos de Utopía, FCE, México, 1987.
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Landauer, Gustav, La Revolución, Tusquets Editores, Barcelona, 1977.
Nisbet, Robert, La formación del pensamiento sociológico, Amorrortu, Buenos Aires, 1977.
Rocker, Rudolf, Nacionalismo y Cultura3, Tupac, Buenos Aires, 1942.
Weber, Max, Ensayos de Sociología contemporánea, Barcelona, Planeta Agostini, 1985.
Patrick Rossineri
Veröffentlicht in der anarchistischen Zeitung ¡Libertad! N° 61,
Juni-Juli 2013 , Buenos Aires
Das Konzept der Volksmacht im Anarchismus
12.7.13
Text von Ali Bei, Mitglied der Assemblea Llibertària del Bages. Dieser Text wurde ursprünglich auf Katalanisch in Pèsol negre Nº 60 veröffentlicht.
Seit einigen Jahren rufen verschiedene lateinamerikanische anarchistische Bewegungen zur „Volksmacht“ auf. Diese Gruppen stehen in der Regel in Verbindung mit der libertären kommunistischen Strömung – auch bekannt als Plattformisten oder Especifisten-, die in vielen Ländern der Welt vertreten ist und seltsamerweise im traditionellen iberischen Anarchismus nicht vorkommt.
Es handelt sich um ein Konzept, das aus dem lateinamerikanischen Marxismus der 1960er und 1970er Jahre „importiert“ wurde. Damals sprach der Marxismus in seinen verschiedenen Facetten – Guevarismus, Trotzkismus, Leninismus oder auch der Sozialismus von Allende – vom Aufbau einer zum Sozialismus tendierenden sozialen Basis. Bei diesem Aufbau des Sozialismus war von der Volksmacht die Rede. Die Federación Anarquista Uruguaya – Uruguayische Anarchistische Föderation (FAU) und andere argentinische Gruppen akzeptierten den Begriff und integrierten ihn in ihre politische Arbeit.
Der FAU gelang es, die uruguayische Diktatur (1973-1985) zu überleben, und in den 1980er Jahren war sie praktisch die einzige anarchistische Gruppe auf dem amerikanischen Kontinent4. In den 1990er Jahren begann der Anarchismus in verschiedenen amerikanischen Ländern langsam wieder aufzutauchen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die FAU bereits über einen gewissen sozialen und politischen Hintergrund, so dass sie in der Lage war, die anarchistische politische Bildung verschiedener Gruppen in verschiedenen Ländern zu beeinflussen.
In den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung beschleunigt und große libertäre Organisationen wie die Federación Comunista Libertaria (Santiago de Chile), der Frente de Estudiantes Libertarios (Chile und Argentinien), die Coordinadora Anarquista Brasileña oder die Federación Anarquista Revolucionaria de Venezuela [2] hervorgebracht. Diese Gruppen und viele andere nicht-anarchistische Gruppen übernehmen die Position der FAU zur sogenannten Volksmacht.
Konzept
Die Volksmacht besteht aus kollektiver „Ermächtigung“. Ermächtigung (Empowerment) ist ein englisches Wort, das für das Bewusstsein einer Macht steht, die jedes Individuum hat. Es ist eine Macht, die auf Kampf und Würde beruht. Es bedeutet, dass eine Gemeinschaft „ermächtigt“ ist, wenn sie als Ergebnis eines bestimmten Kampfes ein Bewusstsein erlangt hat. Dieses Bewusstsein weckt die Erwartung neuer Kämpfe, denn es wird angenommen, dass auch ein Sieg möglich sein wird. Wenn mehrere Kämpfe mit ihren Siegen oder historischen Beispielen in einer einzigen Bewegung – oder Gemeinschaft in der Bewegung – vereint sind, können wir von einer Gemeinschaft sprechen, die eine Volksmacht hervorgebracht hat. Wenn mehrere Kämpfe in einer Bewegung vereint sind, können wir von einer Gemeinschaft sprechen, die die Macht des Volkes hervorgebracht hat. Das Konzept des „starken Volkes“ findet sich auch im lateinamerikanischen libertären Kommunismus und wurde oft von nationalen Befreiungsbewegungen übernommen. Die Idee ist, dass ein ermächtigtes Volk zu einem Volk oder einer Gemeinschaft wird, die von staatlichen oder kapitalistischen Mächten nur schwer zu beugen ist. Ein ermächtigtes Volk ist ein respektiertes Volk. Eine weitere Stufe des sozialen Kampfes ist erreicht, da die zukünftige sozialistische Gesellschaft in Sichtweite ist.
Das Volk kann durch soziale Kämpfe ermächtigt werden, aber auch durch den Aufbau von Alternativen, die aus dem Volk selbst hervorgehen. In diesem Fall tragen die verschiedenen Prozesse der Selbstverwaltung im Kleinen dazu bei, dass die Selbstverwaltung im Großen möglich wird – also die Vergesellschaftung der Produktionsmittel: der Sozialismus. Wenn du eine allgemeine Politisierung in der Gesellschaft mit einer Reihe von Siegen kombinierst, die die Menschen ermutigt haben, weiter zu gehen, und mit ein paar Selbstverwaltungsprojekten, die den Weg zeigen, dann kann diese kollektive Macht wirklich revolutionär werden und denjenigen die Macht streitig machen, die sie innehaben.
Es muss auch gesagt werden, dass dies ein akkumulierender Prozess ist. Das heißt, dass jeder Sieg zum Endziel beiträgt. Jeder Kampf ist eine Akkumulation von Erfahrungen, von politischem Training, von Debatten, von Kampagnen, die dem Ziel zugute kommen. Mit den Kämpfen wird klar, welche politischen Kräfte dazu beitragen, die Menschen zu stärken und welche sie behindern und von ihren Zielen ablenken.
Iberische Beispiele
Um die Konzepte des Aufbaus von Volksmacht ein wenig besser zu verstehen, möchte ich ein Beispiel anführen, das normalerweise nicht mit diesen Begriffen in Verbindung gebracht wird. Die asturische Revolution von 1934, die ein Prozess der Akkumulation der Kräfte des asturischen Proletariats war. Es war ein jahrelanger Prozess, in dem sich die einheimischen und ausländischen Bergarbeiter und Arbeiter durch Streiks, Boykotte und Enteignungen bewusst wurden, bis 1934 alle erlebten Klassenwidersprüche zum revolutionären Generalstreik vom Oktober führten.
Die asturischen Proletarier hatten ein Jahr des akuten Klassenkonflikts hinter sich, in dem zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen, Teilstreiks und kleine Aufstände auf lokaler Ebene eine Atmosphäre des allgemeinen Widerstands erzeugten. Man könnte sagen, dass die Menschen den Respekt vor der Obrigkeit verloren hatten, dass sie sich täglich offen gegen sie auflehnten. Und wann immer sie die Gelegenheit hatten, setzten sie die Macht der Arbeiterklasse durch, wie beim Streik in Gijón (September 1934), beim Verbot der Zeitung Avance – einer asturischen sozialistischen Zeitung, die die Idee der sozialen Revolution unterstützte – oder bei Aufständen in den Gefängnissen, die mit bewaffneten Gefangenen und großen Fluchten endeten. All dies geschah inmitten einer allgemeinen Bewaffnung der Arbeiterklasse: Allein in jenem Jahr sollen die asturischen Arbeiter mit ihren Löhnen etwa 10.000 Pistolen gekauft haben. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Waffendiebstählen aus den Waffenkammern oder der Enteignung von Dynamit in den Minen. Der Prozess, der zur asturischen Revolution führte, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie ein ganzes Volk die Volksmacht aufbaute.
Was vielleicht schwieriger zu verstehen ist, ist die Tatsache, dass diese Volksmacht in Asturien von den verschiedenen politischen Akteuren der Linken – Anarchisten, Cenetisten5, Sozialisten, Kommunisten und linken Marxisten – unterstützt wurde, jeder auf seine Weise, aber alle zusammen. Es ist daher erwähnenswert, dass sich wahrscheinlich etwa 30.000 Menschen aus der Arbeiterklasse beteiligten, was die Größe der Bewegung zeigt.
Die Rolle der Anarchisten
Innerhalb der libertären Bewegung gibt es seit jeher eine Debatte darüber, wie der Prozess, der zur sozialen Revolution – oder zum libertären Kommunismus – führt, angegangen werden soll. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die für eine starke, zahlreiche und gut ausgebildete libertäre Bewegung eintreten, die die Menschen zur Revolution „führt“ und zu Aufständen und Streiks aufruft, bis diese erreicht ist. Auf der anderen Seite gibt es auch zahlreiche Anarchisten, die für ein libertär organisiertes Volk eintreten und sich bewusst sind, dass die Gemeinschaft, da sie zahlreich ist, notwendigerweise plural sein muss, und deshalb versuchen, mit den Methoden, die Anarchisten eigen sind, zum Ganzen beizutragen, aber innerhalb dieses Volkes im Kampf. In diesem Bereich würde die Rolle einer anarchistischen Organisation darin bestehen, die verschiedenen Militanten, die sich an sozialen Bewegungen beteiligen, zusammenzubringen, um ihnen eine Koordination und eine eigene politische Kohärenz für ihre Ziele zu geben.
Im iberischen Anarchismus hat jedoch der Anarchosyndikalismus als Organisationsform der libertären Militanz immer dominiert. Die gewerkschaftlichen/syndikalistischen Organisationen wurden immer als das Rückgrat des Anarchismus angesehen, während die anderen libertären Organisationen die gewerkschaftlichen/syndikalistischen Massenorganisationen unterstützten – und ihnen oft untergeordnet waren.
In vielen der kämpfenden Gemeinschaften in Lateinamerika kann man etwas von dieser Volksmacht spüren – zapatistische Gemeinschaften, indigene Gemeinschaften, die MST in Brasilien, in Oaxaca, venezolanische Gemeinschaften, chilenische poblaciones usw. -. Wenn du in einer dieser Gemeinschaften bist, hast du den Eindruck, an einem Ort zu sein, der sich von deinem eigenen völlig unterscheidet und an dem andere Regeln gelten. Das bedeutet nicht, dass es anarchistische Gemeinschaften sind, sondern dass es Orte sind, an denen „das Volk regiert“. Diese Gemeinschaften sind Orte, an denen „das Volk regiert „, auch wenn einige dieser Gemeinschaften der vom Anarchismus vorgeschlagenen Gesellschaft ähneln, ist es der aktuellen libertären Bewegung noch nicht gelungen, die Volksbewegungen ausreichend zu beeinflussen, um Gemeinschaften im Kampf zu haben, die vom libertären Kommunismus inspiriert sind. Gerade jetzt kommt der Anarchismus wieder ins Spiel für eine neue Welt.
Dieser Artikel erschien in der anarchistischen Zeitung ‚La Peste‘, die Übersetzung ist von uns.
Libertäre Gruppen und die Volksmacht: Den Anarchismus von innen heraus sprengen
Das Fehlen von Räumen für den Austausch und von Mechanismen für die Diskussion unter lateinamerikanischen Anarchistinnen und Anarchisten erfordert, dass jedem Thema, das diskutiert werden soll, eine Klärung des Ortes vorausgeht, von dem die Überlegungen ausgehen. Das Fehlen einer organischen Kontinuität, oder, wenn man so will, auf die Bewegung bezogen, zwingt uns zu einer zyklischen, ewigen Wiederkehr, bei der es keinen Raum für Missverständnisse gibt, wenn ein echter Dialog und eine Konfrontation der Argumente gewünscht ist.
Dieser Artikel möchte die Verwendung des Begriffs „Volksmacht“ in einigen libertären Kreisen in Frage stellen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, eine Diskussion zu erschöpfen, die, abgesehen von einigen verstreuten Schriften hier und da, noch nicht mit der nötigen Gründlichkeit geführt wurde, was aufgrund des knappen Platzes auch hier nicht geschehen wird. Unsere Einladung zum Nachdenken muss mit einigen Klarstellungen beginnen. Diejenigen, die in einigen Ländern mit größerer Sichtbarkeit als in anderen die Verwendung des Begriffs fördern, um einen angeblichen anarchistischen Vorschlag zusammenzufassen, der an die neuen Zeiten angepasst ist, tun dies, um sich von anderen Libertären abzugrenzen, die sie als Antagonisten bekämpfen, seltsamerweise mit viel mehr Nachdruck als der Rest der autoritären Linken. Ihrer Meinung nach steht dieser Volksmacht-Anarchismus einem anderen Anarchismus gegenüber, den sie in Anlehnung an Murray Bookchin als „Lifestyle-Anarchismus“ bezeichnen und den sie als „dogmatisch“, „elitär“, „in der Vergangenheit verhaftet“ und meist im so genannten „Insurrektionalismus“ verhaftet karikieren. Wir leugnen nicht, dass einige Initiativen auf dem Kontinent einige oder alle der oben genannten Merkmale in sich vereinen können. Wir lehnen es jedoch vehement ab, dass die ganze Vielfalt der Ausdrucksformen der libertären Bewegung vom Rio Grande bis nach Patagonien einzig und allein durch diesen Manichäismus vereinfacht werden kann: „organisierter Anarchismus“ – wie sich die Kultisten der Volksmacht nennen – versus „Insurrektionalismus“.
Andererseits ist der Anarchismus, mit dem wir uns identifizieren, derjenige, der – in Anerkennung der Bedeutung der Beteiligung an spezifisch libertären Affinitätsgruppen – versteht, dass sich anarchistische Werte nur in einem dynamischen Raum horizontaler und autonomer sozialer Bewegungen entwickeln können, in konkreten und realen Konflikten zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Unterdrückten aller Art hier und jetzt. Und die Intervention von Anarchistinnen und Anarchisten zusammen mit Menschen mit einer anderen Denkweise verwischt unsere Identität als Anarchistinnen und Anarchisten nicht, sondern stärkt sie im Gegenteil. Denn die Werte – und nicht die Etiketten -, die unsere Bewegung im Laufe der Geschichte verteidigt hat, wollen von jedem gelebt werden, der nach sozialer Gerechtigkeit und Freiheit strebt, und nicht nur von einer kleinen Gruppe überzeugter Anarchistinnen und Anarchisten.
Das alte Gespenst der Diktatur des Proletariats
Der obige Vorschlag ist weder der beste noch der einzige, der die von den rot-schwarzen Befürwortern der Volksmacht konstruierte eigennützige Polarisierung verkompliziert: Auf der einen Seite sie, die in einer beispiellosen und heterodoxen Interpretation des Anarchismus eine Organisation an der Seite des Volkes aufbauen. Auf der anderen Seite die dogmatischen Anarchistinnen und Anarchisten der Cafés und Bibliotheken, die in Ghettos weit weg von den Massen eingesperrt sind und deren abenteuerliche Initiativen nur die Reaktion nähren. Die Karikierung der Diskussion mit diesen Begriffen verschleiert nur die Oberflächlichkeit der Vorschläge der „organisierten Anarchisten“. Lasst uns einen Schritt nach dem anderen machen.
Die Verwendung des Begriffs Volksmacht ist eine Modeerscheinung in Zeiten der angeblichen Linkswende auf dem Kontinent durch – in Anführungszeichen – „progressive“ Regierungen. Im Allgemeinen schlägt ein Großteil der Linken die Gründung der Volksmacht vor, ohne zu klären, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. In unseren Gegenden ist die Verwirrung sogar noch größer, da die richtigen Dinge mit dem falschen Konzept benannt werden. Vorhin haben wir gesagt, dass wir uns als Anarchistinnen und Anarchisten wenig um Etiketten scheren, aber dieser Begriff nimmt, wie wir erklären werden, zwangsläufig eine Bedeutung an, die dazu führt, dass die Werte, die uns als Antiautoritäre definieren, ins Leere laufen. Zitieren wir das Konzept der kolumbianischen CILEP: „Volksmacht ist vor allem Macht, weil sie die zukünftige Welt vorwegnimmt, weil sie in der Gegenwart das Zukünftige manifestiert. Letzteres ist sehr wichtig, denn es ist sinnlos, eine freie Gesellschaft mit unterdrückerischen, hierarchischen und diskriminierenden Mitteln aufzubauen“ (http://www.anarkismo.net/article/12227). Wie man sieht, entdeckt die Definition nichts Neues, was Anarchistinnen und Anarchisten nicht schon im letzten Jahrhundert gesagt haben, aber sie beschreibt das, was früher als „Selbstverwaltung“, „direkte Aktion“, „Kollektivismus“ oder ein verwandtes und spezifisches Konzept des libertären Diskurses ausgedrückt wurde. Der einzige Grund, einen fremden Begriff als den eigenen zu verwenden, besteht darin, Brücken zu bauen und Bündnisse mit den Initiativen zu schließen, die den Begriff Volksmacht anders verwenden. Der Sprachschmuggel wird im Namen eines angeblichen „Anti-Dogmatismus“ gerechtfertigt, doch eines seiner Ziele ist es, die Verwendung von Begriffen und Bezügen, die von linken Parteiorganisationen stammen, unter Anarchistinnen und Anarchisten zu normalisieren. Es ist kein Zufall, dass der CILEP-Artikel mit einem Zitat von Miguel Enríquez, dem Gründer der chilenischen MIR, beginnt.
An seinem Vorgänger können wir sehen, dass die Adjektive weder zufällig noch unschuldig sind. Der Begriff Volksmacht ist eine Aktualisierung dessen, was die Autoritären vor dem Fall der Mauer als „Diktatur des Proletariats“ definierten. Das Russische Wörterbuch der Philosophie definierte sie als „das Ergebnis der Liquidierung des kapitalistischen Regimes und der Zerstörung der bourgeoisen Staatsmaschinerie (…) Das Proletariat nutzt seine Macht, um den Widerstand der Ausbeuter zu brechen, den Sieg der Revolution zu festigen, die Versuche, die Macht der Bourgeoisie wiederherzustellen, rechtzeitig abzuwehren und sich gegen die aggressiven Aktionen der internationalen Reaktion zu verteidigen“. Wir könnten uns diese Erklärung auch zu eigen machen, aber wenn es eine Sache gab, mit der die Anarchistinnen und Anarchisten vor uns konfrontiert waren, dann war es genau die Diktatur des Proletariats. Und ein guter Teil der verwendeten Argumente ließe sich auch heute noch in eine Debatte mit den Anhängern der „libertären“ Volksmacht retten. In „Staatlichkeit und Anarchie“ erklärte Bakunin zum Beispiel: „Von welchem Standpunkt aus man sich diesem Problem auch nähert, man kommt immer zu demselben traurigen Ergebnis, nämlich der Führung der ungeheuren Mehrheit der Volksmassen durch eine privilegierte Minderheit. Aber diese Minderheit, sagen die Marxisten, wird aus Arbeitern bestehen. Ja, vielleicht aus denen, die einmal Arbeiter waren, die aber, sobald sie zu den Chefs oder Vertretern des Volkes werden, aufhören, Arbeiter zu sein und von der Regierungshöhe auf das werktätige Volk herabblicken werden; sie werden nicht mehr das Volk vertreten, sondern sich selbst und ihren Anspruch auf die Regierung des Volkes“.
In jüngerer Zeit versuchte sich das Konzept der Volksmacht während der verkürzten Erfahrung der Regierung von Salvador Allende in Chile und später als Regierungsvorschlag linker Initiativen wie der von Hugo Chávez in Venezuela zu entwickeln, wo alle öffentlichen Ämter und Ministerien als „von der Volksmacht“ neu gegründet wurden.
Die zwei Probleme der Volksmacht
So wie es gestern bei der Diktatur des Proletariats zwei Einwände gab – welche Diktatur? und welches Proletariat? – hat die Volksmacht von Anfang an zwei Probleme: Zum einen, von welcher Macht wir sprechen, und zum anderen, „wer definiert, was populär ist“6.
Macht ist ein vielschichtiges Wort mit verschiedenen Bedeutungen. Zum einen ist es eine Fähigkeit, eine Eignung, Dinge zu tun, die sogenannte „Macht-Tun“. Auf der anderen Seite drückt es eine Beziehung der Dominanz aus, eine „Macht über“. John Holloway erklärt den Übergang von der einen zur anderen Stufe durch den Bruch des sozialen Flusses des Tuns, der es in sein Gegenteil, die Macht-über, verwandelt. Diejenigen, die sich auf die Volksmacht des Anarchismus berufen, schlagen die unendliche Förderung der Macht-zum-Tun vor, ohne zu klären, wie man verhindern kann, dass sie sich in Macht-zum-über verwandelt. Der irische Marxist konnte dies auch nicht erklären, also wählte er den anarchistischen Weg: Er schlug vor, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Und das war so, weil Macht ein Verb und ein Adverb ist. Als politischer Vorschlag hat die Verwendung des Begriffs Macht als Adverb nur eine Bedeutung: eine Beziehung der Autorität einiger Menschen über andere. Und wenn gestern die Verwendung des Wortes „Diktatur“ nur die Konsequenz haben konnte, die es hatte, so hat heute die Anhäufung von Macht, egal welches Adjektiv sie hat, nur einen Verlauf: Unterdrückung.
Zweitens haben wir es mit der Definition von „dem Volk“ zu tun. Das „Volk“ ist eine vage und ungenaue Definition, die alles Mögliche bedeuten kann. Was ist populär und was nicht? Nehmen wir an, es ist in die Geburt in die am meisten ausgegrenzten Klassen der Gesellschaft. Bleibt diese Besonderheit der Herkunft ein Leben lang bestehen, unabhängig von den Rollen, die eine Person einnimmt und den Aktionen, die sie durchführt? Ist Ignacio Lula da Silva, der aus der Arbeiterklasse stammt, ein „populärer“ Präsident? Oder ist populär im Gegenteil gleichbedeutend mit der Akzeptanz durch die Mehrheit? Schließlich mythologisiert diese Mythisierung des „Volkes“ im Gegensatz zur „Elite“ seine Bestandteile als von Natur aus gut. Jeder, der schon einmal in einem Barrio oder einer Favela war, weiß, dass die Zusammensetzung dort genauso vielfältig ist wie in der übrigen Gesellschaft: Potenziell revolutionäre Individuen koexistieren mit anderen, die eindeutig konservativ sind. Hinter dieser falschen Gegenüberstellung von „Volksmacht“ und „Macht der Eliten“ verbirgt sich die Vielfalt der Herrschaftsverhältnisse, die Foucault in „Mikrophysik der Macht“ so gut beschreibt.
Krise der Linken, Krise des Anarchismus
Es ist kein Geheimnis, dass die revolutionäre Theorie und Praxis auf der ganzen Welt in der Krise steckt. Auch der Anarchismus bleibt von der Verwirrung und dem Mangel an neuen Vorschlägen nicht verschont. Das Kuriose daran ist, dass einige libertäre Organisationen als neue Strategien präsentieren, was der autoritäre Sozialismus in verschiedenen Momenten der Geschichte als Widerspruch zu Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erwiesen hat. Die Förderung der Volksmacht durch anarchistische Initiativen stellt sie hinter Organisationen, deren Taktik die Akkumulation von Kräften für die Ergreifung der politischen Macht ist. Wir glauben, dass die meisten Gefährtinnen und Gefährtinnen, die sich für diese Strategie entschieden haben, verwirrt sind, keine klaren Bezugspunkte haben und nicht nur den Verlauf der revolutionären Kämpfe auf der ganzen Welt nicht kennen. Es ist jedoch klar, dass bei einigen konkreten Unternehmungen die Absicht besteht, den Anarchismus von innen heraus zu implodieren, und zwar von Seiten autoritärer linker politischer Parteien, die durch ihre mageren historischen Ergebnisse diskreditiert sind und sich durch die Übernahme einer pseudoliberalen Fassade verjüngen müssen. Es ist eine Sache, der Mäuseschwanz der linken Parteien zu sein, egal wie „radikal“ sie sich verkaufen, und eine ganz andere, Teil der sozialen Spannungen und Konfrontationen mit den etablierten Kräften zu sein.
Es ist traurig, dass die interessantesten Beiträge zur Verschärfung von Konflikten und zur Förderung von Volkskämpfen in der Region von den selbsternannten autonomen Sektoren (Holloway, Colectivo Situaciones usw.) kommen, die gerade anarchistische Werte in ihre Vorschläge aufgenommen haben und behaupten, dieses Ergebnis sei Teil der „Evolution“ ihres Marxismus. Diese und jede andere Krise ist jedoch auch eine Chance. Doch um diese Stagnation oder den eindeutigen Rückschritt zu überwinden, zu dem uns die von der Volksmacht Geblendeten einladen, müssen wir in unserem eigenen Alltag leidenschaftlich experimentieren und die Rätsel und Herausforderungen unserer Zeit entschlüsseln. Hier stimmen wir mit den Worten unseres geliebten und unvergessenen Daniel Barret überein: „Eine libertäre und sozialistische Gesellschaftsschöpfung kann weder als spontanes Ergebnis einer nebulösen historischen Gesetzmäßigkeit noch als caudillistischer Entwurf noch als ingenieurtechnische Operation in Form einer zentralen Planung noch als Zufall noch als magisches Ereignis aufgefasst werden: Eine libertäre und sozialistische Gesellschaft kann nur das Ergebnis einer tiefgreifenden autonomen Entscheidung und einer endlosen Folge von Kämpfen und Gesten sein, die sich in den Falten des kollektiven Bewusstseins bilden“.
Rafael Uzcátegui
In Zusammenarbeit für Crónica Negra, Chile
Dieser Artikel erschien in der anarchistischen Zeitung ‚La Peste‘, die Übersetzung ist von uns.
Die Macht in den anarchistischen Ideen: eine kritische Betrachtung
„Heute ist der Hauptfeind der libertären theoretischen Vernunft derjenige, der sich als unbezwingbarer Hüter des heiligen Feuers, als unbestechlicher Verfechter der lehrmäßigen Reinheit, als Bannerträger der Essenzen, als unerbittlicher Hammer der Ketzer und Abweichler aufspielt.“
„Um zu erneuern und dadurch Leben zu schenken, muss man es wagen, ohne die geringsten Vorbehalte zu profanieren, man muss lernen, radikal respektlos zu sein.“ Tomás Ibáñez.
Die ständige Kritik der „Väter“ des Anarchismus an den stagnierenden politischen Formen von Herrschaft und Ausbeutung, die für die Gestaltung einer revolutionären Theorie so wichtig ist, scheint von unzähligen „Anhängern“ und „Bewunderern“ des anarchistischen Denkens längst vergessen worden zu sein. Die Vitalität der Denker, die „die Idee“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägten, die unzählige Facetten ihrer Zeit in Frage stellten und versuchten, eine neue Welt fernab der moralischen und sozialen Hindernisse zu gestalten, die die ausbeuterischen Sektoren der Gesellschaft uns aufzuerlegen versuchten – und immer noch versuchen -, wurde von zahllosen Anarchisten beiseite geschoben, die unwissentlich zutiefst konservativ geworden sind. So sind heute viele von denen, die sich als Libertäre bezeichnen, zutiefst dogmatisch und stellen sich keine Fragen zu Konzepten, die, so „klassisch“ sie auch sein mögen, unweigerlich Teil der Reflexion und Kritik sein müssen.
Genau darum geht es in den folgenden Zeilen, nämlich darum, wesentliche Konzeptualisierungen – und Begriffe – zu problematisieren und kritisch zu verstehen, die es im Bereich der libertären Bewegung gab und immer noch gibt. In der Tat werden wir transversale Konzepte kritisch überprüfen, die für jede revolutionäre Theorie, die eine radikale Veränderung der materiellen und ideologischen Bedingungen anstrebt, von größter Bedeutung sind. Dieses Ziel, das für diese Seiten zu weit gefasst ist, wollen wir anhand der Analyse von zwei Begriffen umreißen: Macht und Herrschaft. Die Überprüfung dieser beiden Begriffe scheint uns eine äußerst notwendige Übung zu sein, die von jedem Revolutionär diskutiert werden muss, und unser bescheidenes Ziel ist es daher, einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leisten.
Macht und Herrschaft: ein historischer Überblick über ihre Begriffsbildung
Es ist bekannt, dass diese Begriffe in der Geschichte des Anarchismus sehr unterschiedliche Bedeutungen hatten. In diesem Sinne muss klargestellt werden, dass es uns in diesem Text um die Kritik und Relativierung des negativen und sogar transzendenten Absoluten des Machtbegriffs bei verschiedenen anarchistischen Autoren wie Bakunin geht.
Die Vorstellung, dass das Organisationsprinzip des Staates von der Macht als „sozialer Tatsache“ ausgeht, stammt aus sehr alten philosophischen Traditionen, die wir lieber in anderen zukünftigen Arbeiten ausführlich behandeln sollten. Es ist jedoch erwähnenswert, dass dieser Begriff zunächst als politische Theorie für die Ausübung von Herrschaft (mit dem Verständnis, dass „Macht“ immer von oben kommt) mit historischen Vorläufern wie den politischen Theorien des mittelalterlichen Papsttums, z. B, die von Papst Leo I. (440-461)7, in denen die Schlüsselidee des „Staates“ vielleicht zum ersten Mal in modernen politischen Begriffen ausgedrückt wird, indem die „plenitudo potestatis“ bekräftigt wird, indem die letzte Souveränität über die Gesellschaft der Menschen der von oben und für immer auferlegten Macht zugewiesen wird. Unter diesem Papsttum wurde auch eine Hierarchietheorie entwickelt, die davon ausgeht, dass die Macht absteigt und dass die Verpflichtung zum Gehorsam auf jeder Stufe der Leiter bestätigt wird.
In diesem Sinne beginnt der Keim der absoluten Souveränität in einem abstrakten Staatswesen zu existieren. In der Folge ist es Thomas Hobbes, der zunächst als Antwort und Widerstand gegen die göttliche und tyrannische Macht, die von Despotenfamilien oder -persönlichkeiten ausgeübt wird, eine politische Theorie entwickelt, die letztlich darauf abzielt, „den Naturzustand … den der Individuen, (…) den Kriegszustand aller gegen alle“ abzuschaffen und einen sterblichen Gott zu schaffen, d. h. ein künstliches Wesen, das von den Menschen geschaffen wird, um der Angst vor einem gewaltsamen Tod durch die Hand anderer Menschen zu entgehen (Colombo, E. 2000). Das Gebilde, das schließlich entsteht, ist der Einheitsvertrag (Leviathan), den Hobbes selbst als „eine wirkliche Einheit, die durch den Bund eines jeden Menschen mit jedem anderen Menschen entstanden ist“ bezeichnet. Es ist diese im Leviathan konzentrierte Macht, die den Lebensunterhalt garantieren kann und das Soziale möglich macht. Daher finden die absolutistischen Regime, die rational und nicht als göttliche Mächte, die auf die Erde kommen, um die Menschen zu unterjochen, konzipiert sind, ihre Rechtfertigung und Grundlage in dieser politischen Theorie und theoretischen Vorstellung von Macht. Diese politische Theorie versteht den Staatsbürger als ein egoistisches Individuum, das auf die Öffentlichkeit (d.h. seine Machtausübung) verzichten muss, um Sicherheit und ein friedliches Leben zu erlangen. Dies muss in unserer Vorstellung als eine Degradierung der öffentlichen Fähigkeit von populären Organisationen und/oder Gemeinschaften verstanden werden, ihr eigenes Leben zu lenken, sowie für die soziale Kontrolle der Institutionen, die für die Verwaltung der öffentlichen Nutzung der gesellschaftlich produzierten Ressourcen zuständig sind.
Schließlich ist es Rousseau, der den Entstehungsprozess der metaphysischen Idee des Staates abschließt, indem er die letztendliche Souveränität im Mythos des allgemeinen Willens verortet, der in seinen Worten „die totale Entfremdung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft ist (…) jeder von uns stellt seine Person und seine Macht gemeinsam unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens“.
Um die Argumentation fortzusetzen, werden wir uns nun darauf konzentrieren, die abstrakte Vorstellung von Macht eines der grundlegenden Autoren des klassischen Anarchismus, Michail Bakunin, zu verstehen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Bakunins Konzept der Macht hauptsächlich negativ war und sich vor allem auf eine Macht über, verstanden als Potestas, und eine ultimative Souveränität bezog, die über alle realen und materiellen Wurzeln der Macht, verstanden als Potentia, hinaus befiehlt/leitet. Diese Vorstellung entstand bei Bakunin unter anderem aufgrund des Einflusses der hegemonialen Episteme der Gesellschaft seiner Zeit (und der von ihr über die Menschen ausgeübten natürlichen Autorität) auf die Macht und die Organisation eines politischen Raums, der sich die Emanzipation des Menschen und die Ausübung von Macht als revolutionäres Ziel setzte.
Die Liberalen und Kontraktualisten, die Bakunin kritisierte, geben der Fetischisierung der Macht – in Form des Leviathan, des Gottes auf Erden – eine historische Gestalt, die die assoziative Kraft der Gemeinschaft – Potentia – entmachtet und sie in eine passive Masse verwandelt, die den Befehlen der politischen Macht (herrschende Klassen, Eliten usw.) gehorcht. Dies kann als Entfremdung der Macht von Völkern und Gemeinschaften, von Individuen und kollektiven Subjekten verstanden werden. Die Entfremdung von ihrer materiellen Basis, von der aus die Macht entgöttert wird, wird selbstreferenziell und totalitär.
Bakunin kritisierte diese Auffassung, indem er die Gesellschaft – oder das Soziale – als Ausgangspunkt definierte (getreu seiner historisch-sozialmaterialistischen Auffassung) und darüber hinaus sagte, dass die apriorischen Definitionen oder unausweichlichen Bedingungen, die für die religiösen Vorstellungen der Gesellschaft seiner Zeit so charakteristisch sind (und die den Vorstellungen hinter den vorherrschenden Organisationsprinzipien von heute sehr ähnlich sind), über das Individuum, die Freiheit und die conditio humana im Allgemeinen, die guten Absichten und die unendlichen und transformativen Tendenzen zur Erreichung der Freiheit nur korrumpieren konnten.
Seine Vorstellung von Macht würde immer zu Entropie und politischem Totalitarismus führen, der sich historisch in der Organisationsform des Staates ausdrückt. Dieser war nichts anderes als die von der Gesellschaft getrennte Organisation der Macht. In dieser Sphäre konnte die Macht im Wesentlichen nur von einigen wenigen ausgeübt werden und würde in keiner Weise die Existenz einer gleichberechtigten Macht neben ihr zulassen. Deshalb konnte die Macht immer nur von oben kommen, d.h. Macht konnte nur als Macht über einen anderen verstanden werden. Und zwar:
„(…) es liegt in der Natur aller Macht, dass sie weder einen Überlegenen noch einen Gleichen dulden kann, denn Macht hat kein anderes Ziel als Herrschaft, und Herrschaft ist nur dann wirklich, wenn alles, was sie behindert, ihr unterworfen ist, keine Macht duldet eine andere nur dann, wenn sie dazu gezwungen ist, d.h. wenn sie es für wichtig hält, sie zu zerstören oder zu stürzen. Allein die Tatsache, dass es eine gleiche Macht gibt, ist eine Negation ihres Prinzips und eine ständige Bedrohung ihrer Existenz“ (Bakunin, M. 2008).
Bakunin war sich darüber im Klaren. Für ihn waren Macht und Herrschaft untrennbar, das eine war eine Bedingung für das andere. Wir halten es jedoch für wichtig zu verstehen, dass Bakunin durch die Vorstellung von der instinktiven Neigung des Menschen zur Macht und durch den Einfluss der vorherrschenden Semantik und Episteme der Gesellschaft seiner Zeit dem Konzept der Macht und ihren Organisationsfiguren die Dynamik und die realen Möglichkeiten nahm. Das heißt, er verstand sie nicht als Macht oder als Ausdruck von Gemeinschaft und Assoziativität – sondern als Prinzip/Idee/Tendenz, die immer zu Herrschaft wurde – immer in der Schaffung von repressiven und selbstreferenziellen Institutionen.
Die Gesamtheit des modernen politischen Denkens, einschließlich der liberalen und funktionalen Philosophen, der Totalitaristen und einiger Sozialisten, hatte eine dialektische Beziehung zur bestehenden Macht und ihrer souveränen Definition. Diese Beziehung könnte wie folgt definiert werden: Entweder man übernimmt die Macht und ist wie die Macht, oder man verzichtet auf die Macht, was den politischen Raum sofort als absolute Negation der Macht definiert (Negri, T. 2008). Für eine sozusagen konstruktivistische oder materielle Auffassung von Macht wäre kein Platz.
Die historische Entwicklung der Ideen und der Gesellschaft hat es uns heute ermöglicht, einen positiven Begriff von politischer Macht zu schaffen, der wiederum – im Gegensatz zur Herrschaft – den Lebenswillen der Gemeinschaft als positive Grundlage hat, der die materielle Grundlage der Definition von politischer Macht darstellt. Bakunin unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Instanzen, die wir nun der Lektüre hinzufügen: Potentia – Potenz – (eine stets latente Fähigkeit, in den Untertanen und der Einheit von ihnen unter bestimmten politischen Formen und Figuren zu instituieren) und Potestas (die delegierte Ausübung dieser Macht, in Institutionen oder Volksvereinigungen). Für ihn war Macht gleichbedeutend mit der historischen Form, die die Organisation der Macht im Staat oder seinem militärischen Komplex angenommen hat, und es war nicht möglich, sie als Macht zu begreifen, die sich historisch aufgrund des erklärten politischen Willens der „Massen“ in andere, nicht-hierarchische Organisationsformen oder Figuren ableiten könnte8.
Die historische Form des Staates war für Bakunin die „Organisation der Macht“, aber Macht und jede Ausübung von Institutionalisierung wird immer selbstreferenziell und entfremdend sein, denn „es liegt in der Natur aller Macht, dass es unmöglich ist, einen Überlegenen oder einen Gleichen zu ertragen, denn Macht hat keinen anderen Zweck als Herrschaft“. Bakunin kritisierte die Tendenz, Macht zu delegieren oder zu institutionalisieren – was zweifelsohne die Gefahr der Beherrschung birgt – vor allem in ihrer staatlichen Form. Er war nie gegen die Organisation oder Schaffung von Institutionen, die die Interessen der Ausgebeuteten vertreten und die vor allem versuchen, die Fähigkeit zur Souveränität in der populären Assoziativität zu bewahren. Sein Fehler bestand darin, seinen Begriff der politischen Macht nicht auf eine materielle und positive Grundlage zu stellen, was nach unserer heutigen Auffassung unsere Fähigkeit einschränkt, die Dynamik der pluralen und heterogenen Ausdrucksformen soziopolitischer Bewegungen zu verstehen. Es sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass Bakunins Denken nicht mit den notwendigen kritischen Überarbeitungen von Konzepten aktualisiert werden kann oder sollte, die so problematisch und substanziell sind wie sein Konzept der Macht-über (ein negationistisches und nicht-konstruktivistisches Konzept).
Eine aktuellere Definition der Staatsform besagt: „Das Staatsprinzip umfasst Herrschaft und ihren spezifischen Kern von Befehl/Gehorsam, es erkennt sich selbst als unausweichliche Form des Politischen an, es ist eine hierarchische Organisation der Macht, die innerhalb desselben Diskurses präsentiert wird, der den Staat als Prinzip oder Paradigma konstituiert, als notwendig für die Integration komplexer Gesellschaften (…). …) In der gegenwärtigen Perspektive der politischen Philosophie, mit der einzigen und ehrenvollen Ausnahme des Anarchismus, wird die politische Instanz in ihrer Gesamtheit als abhängig von diesem Prinzip betrachtet“ (Colombo, E. 2000).
Unserer zentralen Argumentation folgend ist es klar, dass die klassische anarchistische Kritik an der Macht (die als „abstrakter Ort“ verstanden wird, der gemieden werden muss, wenn die bourgeoise politische Herrschaft nicht reproduziert werden soll) von frühen liberalen und vertraglichen Vorstellungen über die Grundlagen des Sozialen beeinflusst ist. Aus demselben Grund sind wir der Meinung, dass Begriffe wie Macht und Herrschaft oft gleichgesetzt und in ihrer Bedeutung gleichgesetzt wurden, die aktuelle Perspektiven des anarchistischen Denkens differenziert haben, um endlich einen positiven, materiellen Begriff des Machtkonzepts einzuführen.
In diesem Sinne glauben wir, dass die entfremdende Idee der Macht reproduziert wird, wobei wir verstehen, dass es immer noch ideologische Tendenzen gibt, die verkünden, dass alle Erscheinungsformen der Macht bekämpft werden müssen, einschließlich derjenigen, die – den Ideen von Bertolo und Colombo folgend – mit der realen Manifestation der „instituierenden symbolischen Macht“ von unten zu tun haben, in der Ausübung der Schaffung des regulierenden Nomos9 einer Gesellschaft, der für sie unter den Bedingungen der Gleichheit der effektiven Ausübung und des Zugangs zur öffentlichen Sphäre gegeben sein muss.
Dies entspräche der historischen und konstruktivistischen Perspektive der Freiheit, die ohne Zweifel eine der Grundlagen des Liberalismus und des religiösen Denkens radikal kritisiert, nämlich die Perspektive, die darauf hinweist, dass Freiheit nur mit anderen und unter Bedingungen der Gleichheit konstruiert werden kann.
„Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.
Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird.“ (Bakunin, M. 2008).
In der Tat gibt es zwischen dem gleichberechtigten Zugang zur effektiven Ausübung symbolischer Macht und der Freiheit keine Antinomien, und den Gemeinplätzen bestimmter liberaler Tendenzen müssen wir zumindest mit all unseren Bemühungen entgegentreten.
Um den Gedanken dieser Autoren, die zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert schrieben, gerecht zu werden und sie zu würdigen, muss abschließend betont werden, dass die Legitimierung einer bestimmten Semantik wiederum das Ergebnis der ideologischen Hegemonie dieser Art von Denken (liberal und vertraglich) ist. Denn abgesehen von der empirischen Praxis, in der der Staat als reale und bestimmende Instanz in unserem Leben wahrgenommen wird, ist es notwendig, dass der Staat selbst eine diskursive Legitimierung vornimmt, indem er sich selbst als unausweichliche Tatsache versteht, diese Ideen im sozialen Imaginären durch die Kontrolle der Sozialisationsprozesse einsetzt und schließlich zur Naturalisierung verschiedener Praktiken und unkritischer Bedeutungen beiträgt.
Der Anarchismus und andere kritische und revolutionäre sozialistische Traditionen stellen jedoch die traditionell vorherrschende Art und Weise, das Politische zu verstehen, in Frage und schlagen eine radikal neue Sichtweise der Ausübung des Politischen vor, indem sie den Gebrauch von Macht als „symbolische instituierende Kapazität“ für die Schaffung von Nomos (und regulierenden Formen des Sozialen) und damit auch für die sozialen Verpflichtungen, die ihnen obliegen, verstehen.
„Der moderne Staat, oder vielmehr die Idee oder das „metaphysische Prinzip“, das ihn konstituiert, vollendet den Prozess der Autonomisierung der positiven Instanz und führt in die Gesamtheit des sozialen Gefüges die semantische Bestimmung ein, die die Struktur der Herrschaft auferlegt: Jede soziale Beziehung in einer Gesellschaft wird durch den Staat geformt, sie ist in letzter Instanz eine Beziehung des Gehorsamsbefehls, vom Beherrschten zum Beherrschten“ (Colombo, E. 2000).
Macht: ein kritischer Blick auf das Konzept
Macht kann in diesem Sinne von politischer Macht getrennt werden und ihre traditionelle (Un-)Definition muss problematisiert werden, damit wir den ständigen Missverständnissen ein Ende setzen können, die in der aktuellen Diskussion dieses Konzepts in der unkritischen Sphäre bestehen.
Aus einer ähnlichen Position wie Colombo fordert Amadeo Bertolo eine kritische Revision des Machtbegriffs, vor allem angesichts der unkritischen Haltung vieler Anarchistinnen und Anarchisten, denn die Diskussion dieses Begriffs gehörte tatsächlich zu den Anliegen der „Gründerväter“ des anarchistischen Denkens. In der Tat ist es für jede Anarchistin und jeden Anarchisten keine Kleinigkeit, sich in Bezug auf den Begriff der Macht zu definieren und sich zu Vorschlägen wie der „Volksmacht“ zu positionieren, ohne eine gemeinsame semantische Grundlage zu haben, die es uns ermöglicht, wirklich aufzudecken, was in diesen Vorschlägen auf dem Spiel steht.
Neben der Erklärung der Verwendung des Machtbegriffs aufgrund seiner Historizität, die, wie erwähnt, mit einer liberalen Tradition zu tun hat, die Macht mit Staat und Herrschaft verknüpft, fordert sie uns also auch auf, nach Klarheit in Bezug auf diesen Begriff zu suchen. In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag von Bertolo interessant, der in Übereinstimmung mit Colombo aufzeigt, dass Macht dem Menschen innewohnt, und vorschlägt, dieses Konzept von Herrschaft und Autorität zu trennen.
„Auf dem evolutionären Weg der „Hominisierung“ hat der Mensch instinktive Bestimmungen verloren und sie durch kulturelle Bestimmungen ersetzt, d. h. durch Normen, Regeln, Kodizes der Kommunikation und Interaktion. Genau in dieser Ersetzung liegt die spezifische menschliche Freiheit auf ihrer höchsten Ebene: die Selbstbestimmung“ (Bertolo, A. 86). (Bertolo, A. 86)
Der Mensch, der hier nicht als Gattung, sondern als Spezies, als eminent soziales Wesen verstanden wird, hat sein Schicksal selbst in der Hand, er ist selbstbestimmend und muss die Regeln, Codes oder Normen, die sein Leben bestimmen, selbst hervorbringen. Diese Selbstbestimmung geht jedoch nicht mit dem staatlichen Zwang einher, der in den vergangenen Jahrhunderten erfunden wurde, sondern ist eine dem Menschen innewohnende Aufgabe, der als soziales Produkt „Geselligkeit schaffen und wiederherstellen muss, indem er Normen erfindet, weitergibt und verändert“ (Bertolo, A. 87).
Eine zentrale Aufgabe im menschlichen Leben wäre also die Herstellung der Funktion der sozialen Regulierung.
„Die Herstellung und Anwendung von Normen und Sanktionen definieren dann die Funktion der sozialen Regulierung, eine Funktion, für die ich den Begriff Macht vorschlage. Damit haben wir Macht als „neutrale“ und sogar notwendige soziale Funktion definiert, nicht nur für die Existenz von Gesellschaft, Kultur und Mensch, sondern auch für die Ausübung jener Freiheit, die wir als Wahl zwischen gegebenen Möglichkeiten verstehen und die wir als Ausgangspunkt unseres Diskurses nehmen“ (Bertolo, A. 88).
Und von hier aus werden die wichtigsten Schlussfolgerungen seines Vorschlags gezogen: Wenn die Selbstbestimmung des Menschen eines seiner zentralen Merkmale ist, und damit die Freiheit, dann wird die Beteiligung am Regulierungsprozess der Gesellschaft zentral. Mit anderen Worten: Wenn der Zugang zur Konstruktion der gesellschaftlichen Regulierungsfunktion, d.h. zur Macht, die Freiheit bestimmt, ist das Individuum in dem Maße freier, in dem es größeren Zugang zur Macht hat (Bertolo, A. 89).
Bertolo beschränkt den Begriff der Macht also nicht nur auf die Funktion der sozialen Regulierung und damit auf die Konstruktion von Normen, Regeln und Kodizes (Nomos), die die menschliche Interaktion und Organisation ermöglichen, sondern er schlägt auch den Begriff Herrschaft vor, der „die Beziehungen zwischen Ungleichen – ungleich in Bezug auf die Macht, d. h. die Freiheit -, die Situationen der Über-/Unterordnung, die Systeme der permanenten Asymmetrie zwischen sozialen Gruppen definiert“ (Bertolo, A. 89). (Bertolo, A. 89-90)
Die Trennung der Begriffe Macht und Herrschaft, wobei letztere durch die Definition der klassischen Befehl/Gehorsam-Beziehung gekennzeichnet ist, bei der der Befehl „das Verhalten desjenigen, der gehorcht, regelt“ (Bertolo, A. 89-90). (Bertolo, A. 89-90).
Dieses Konzept hat zweifelsohne äußerst wichtige Konsequenzen für die Revolutionstheorie, vor allem, wenn wir bedenken, dass es die klassischen anarchistischen Positionen der Machtverweigerung oder der Flucht vor der Macht „in Frage stellt“. Diese Haltung ist jedoch keineswegs eine ungerechtfertigte intellektuelle Übung, sondern erklärt sich aus der Notwendigkeit, die Formen und Modalitäten, die Herrschaft heute annimmt, genauer zu analysieren – wir werden später noch darauf zurückkommen -. Gleichzeitig wird der Anspruch, Macht zu beseitigen, in Frage gestellt, indem betont wird, dass die Aufstellung von Regeln, Kodizes und Normen eine Aufgabe des „Sozialen“ ist.
Wenn wir unsere Überlegungen fortsetzen und die theoretischen Vorschläge von Colombo und Bertolo mit den Schlussfolgerungen des Anthropologen Pierre Clastres verbinden, der feststellt, dass die hierarchischen und autoritären Beziehungen von „Befehl und Gehorsam“, die uns unsere westliche Kultur vermittelt, die Trennung von politischer Macht und ihrer Herrschaftsinstitution schlechthin, dem Staat, als eigenständiges Organ der Gesellschaft nicht die einzige und beste Form der bestehenden sozialen Organisation ist und war (Clastres, P. 1978. 16). In La sociedad contra el Estado (Die Gesellschaft gegen den Staat) weist er sogar darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der indigenen Gesellschaften auf dem amerikanischen Kontinent sich durch das Fehlen einer Machtinstanz und sozialer Spaltungen auszeichnet (Clastres, S. 27)10.
Das Wichtigste, was wir in Clastres‘ Studien – in Bezug auf das Thema dieser Zeilen – finden können, ist, dass seine Arbeit uns zeigt, wie es den Menschen gelungen ist, sich in Gesellschaften ohne eine von der Gesellschaft getrennte politische Macht zu organisieren, also in einem Raum, in dem die Macht vergesellschaftet ist. Das heißt, wo die Machtausübung kollektiv und von einem separaten Teil der Gesellschaft ausgeübt wird. Aus diesem Grund gibt es in primitiven Gesellschaften keine Trennung der Klassen und der „Anführer“ hat keine Macht, sondern unterliegt den Entscheidungen der Gesellschaft als Ganzes, die der eigentliche Inhaber der Macht ist.
Deshalb ist es so wichtig, die klassischen Vorstellungen von Macht zu hinterfragen. Wenn wir uns einer Lesart von Macht verschließen, die sie nur mit ihrer repressiven Facette in Verbindung bringt und sie praktisch als Synonym für „politische Macht“ versteht, laufen wir Gefahr, zu glauben, dass Macht nur im Staat verankert ist – und wenn man so will, sogar in der sogenannten „westlichen Kultur“.
In diesem Sinne können wir in das Missverständnis verfallen, uns nur auf den Staat zu konzentrieren, die Macht zu leugnen und ihr Verschwinden anzustreben, während wir die Tatsache ausblenden, dass, wie Tomás Ibáñez betont, „auch ohne den Staat die Beziehungen und Mittel der Macht in der Gesellschaft noch vorhanden sind“ (Ibáñez, T. 2007. 46). Derselbe Autor klagt die Gefahr an, an die Unterdrückung der Macht zu glauben, sie als Staat zu sehen und ihre Existenz in anderen Formen sozialer Beziehungen zu ignorieren (Ibáñez, T. 98).
Die Sichtweise, die Macht mit dem Staat oder, wenn man so will, mit hierarchischen Beziehungen gleichsetzt und deshalb die Abschaffung des Staates fordert, kann uns blind machen für andere Machtverhältnisse, die den Staat nicht brauchen, um in Kraft zu sein – zum Beispiel Patriarchat und Machismo und die daraus folgende sexuelle Arbeitsteilung. Auf diese Weise kann es sogar dazu führen, dass die Tatsache unsichtbar wird, dass die Zwangsgewalt – d. h. vorzugsweise begleitet von einem „Sanktionsregime“ – eine bestimmte Form der Herrschaft ist und dass es auch Herrschaftsverhältnisse gibt oder gab, die auf anderen Machtverhältnissen beruhen (Ibáñez, T. 99).
Michel Foucault hat uns gezeigt, dass Macht kein statisches Phänomen ist, sondern im Gegenteil ein Prozess, der ständig in Bewegung ist. Für ihn ist Macht eine Kraft, die auf die Menschen und durch sie wirkt, in einem Prozess der Disziplinierung, in dem durch individualisierende und homogenisierende Technologien – das „Individuum“ und die „Bevölkerung“ werden geschaffen – (Bio-)Macht ausgeübt wird, um nicht nur den Verstand der Menschen zu beeinflussen, sondern auch ihr Leben und ihren Körper. Für den französischen Philosophen ist „Macht keine Substanz. Sie ist auch kein mysteriöses Attribut, dessen Ursprung erforscht werden sollte. Macht ist nichts anderes als eine bestimmte Art von Beziehung zwischen Individuen… das besondere Merkmal der Macht ist, dass einige Menschen das Verhalten anderer Menschen mehr oder weniger vollständig bestimmen können…“ (Foucault, M. 1990. 138).
An dieser Stelle sollte hinzugefügt werden, dass Macht so gesehen eine besondere Art von Macht ist, die seit dem 17. und 18. Jahrhundert konstruiert wurde, eine Form der sozialen Regulierung, die von den herrschenden Kreisen geschaffen wurde, um die modernen Gesellschaften in Richtung ihrer Interessen und Ambitionen zu lenken und zu disziplinieren. Wenn wir dies berücksichtigen, können wir uns nicht nur mit einer bestimmten Form der Macht auseinandersetzen, sondern auch eine tiefergehende Kritik und Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Herrschaft führen.
Wenn wir bei den Definitionen von Colombo und Bertolo bleiben, müssen wir die Notwendigkeit der Vergesellschaftung von Macht in Betracht ziehen, denn da sie dem Menschen inhärent ist, wäre unser Ziel, dass alle Menschen Zugang zu ihr haben sollten, um sie mit unserer Freiheit und Selbstbestimmung in Einklang zu bringen. Das bedeutet nicht, für die „Machtergreifung“ einzutreten oder „libertäre Macht“ oder „Volksmacht“ als Slogan zu proklamieren11, sondern vielmehr kritisch und in all ihrer Pluralität die Art und Weise zu betrachten, wie Herrschaft bestimmte Machtverhältnisse in uns einführt, und dem konstruktiv entgegenzutreten, indem wir Organisationsformen schaffen, die allen vollen Zugang zu Entscheidungsprozessen gewähren und allen die Möglichkeit zurückgeben, zu sagen, was das Beste für sie selbst und für die Menschen um sie herum ist.
Ob wir die Idee der libertären Macht oder der Volksmacht ablehnen oder teilen, ist eine andere Frage. Wichtig ist unserer Meinung nach, dass wir keine Position einnehmen, die auf einer falschen Lesart beruht. In diesem Sinne erscheint es uns wichtig, eine begriffliche Klarheit in Bezug auf Macht und Herrschaft anzunehmen, um im Rahmen einer kritischen und konstruktiven Analyse zu entscheiden, und nicht auf der Grundlage dogmatischer Lesarten der anarchistischen Ideologie, was an sich schon der anarchistischen Ideologie widersprechen würde. Schließlich sind die vorliegenden Zeilen nichts weiter als ein Beitrag zur Diskussion und zum Aufbau einer anarchistischen Praxis und kein Gantt-Chart, dem man folgen muss.
Schlussfolgerungen
Kurz gesagt: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was auf dem Spiel steht, wenn wir über Macht und Herrschaft sprechen. Im Anarchismus war es nicht nötig, über diese Begriffe nachzudenken, da sie für seine scharfe Kritik am kapitalistischen System grundlegend waren. Tatsächlich ist die Kritik an Herrschaft und Macht(über) ein wesentlicher Teil der theoretisch-praktischen Debatte.
Das derzeitige Problem ist also nicht darauf zurückzuführen, dass in den anarchistischen Ideen nicht über Macht und Herrschaft nachgedacht wird. Vielmehr ist es auf den polysemischen Charakter des Begriffs Macht zurückzuführen, der zu einer regelrechten „Sprache der Gehörlosen“ geführt hat, da die Bedeutungen dieses Konzepts nicht berücksichtigt werden. Unserer Meinung nach ist es von entscheidender Bedeutung, den Unterschied zwischen der Macht, etwas zu tun – die Möglichkeit – und der Macht über etwas – die Herrschaft – klar zu definieren, bevor man einen politischen Vorschlag macht. Eine klare Definition, die eine gemeinsame semantische Basis schafft, könnte die festgefahrene Debatte über Macht und Herrschaft teilweise aufbrechen und den emanzipatorischen Kampf auf eine praktische Ebene bringen.
Ein Vorschlag ist, das Konzept der Macht von einem „konstruktivistischen“ oder „positiven“ Standpunkt aus zu verstehen, als Macht zu tun oder als Potenzialität, und die Bedeutung von Macht einem anderen Konzept zu überlassen, nämlich dem der Herrschaft, wie es von Autoren wie Bertolo oder Colombo vorgeschlagen wird. Wenn wir diesen Vorschlag bejahen, wird es also wichtig, Macht kollektiv zu konstruieren oder auszuüben, um sie in eine sozialisierende Kraft zu verwandeln, die, da sie Männern und Frauen innewohnt, nicht das Eigentum von jemandem sein sollte. Damit es Freiheit geben kann, müssen die Bedingungen für den Zugang der Subjekte zur Macht gewährleistet sein.
„Macht zu besitzen bedeutet, sie auszuüben, und sie auszuüben bedeutet, diejenigen zu beherrschen, über die sie ausgeübt wird“ (Clastres P. 2013. 56).
Wenn Macht nicht das Eigentum von jemandem oder eines Teils der Gesellschaft ist, wie die oben genannten Autoren behaupten, bedeutet dies, dass sie in der gesamten Gesellschaft verteilt ist und ihre Ausübung von all ihren Komponenten abhängt. Ohne Klassenunterschiede und ohne getrennte Gesellschaftsorgane würde die Vergesellschaftung der Macht nicht Herrschaft bedeuten, sondern den Aufbau, die Organisation und die Ordnung der Gemeinschaft für sich und durch sich selbst.
In diesem Sinne müssen wir nur noch eine letzte Bemerkung hinzufügen, die wir später noch ausführen werden, da sie nicht Teil des Problems ist, das im vorliegenden Text behandelt wird. Nämlich, dass Macht, verstanden als Potenz, oder Macht zu tun, ihre Bedingungen der politischen Machbarkeit lösen muss. In einer totalen und globalen Gesellschaft wie der unseren ist eine bestimmte komplexe Arbeitsteilung für die Produktion von sozialem Wohlergehen und die damit verbundene Schaffung von Institutionen, die für die Verwaltung „öffentlicher“ – kollektiver – Ressourcen zuständig sind, notwendig. Das heißt, unabhängig davon, ob diese Institutionen sozial und autonom, d. h. kollektiv kontrolliert, demokratisch, horizontal usw. sein können, werden sie notwendigerweise eine gewisse Delegation von Macht darstellen. – Sie stellen notwendigerweise eine gewisse Delegation von Macht dar – unsere Macht – verstanden in ihrer materiellen Grundlage – unserem Willen, gut zu leben. Diese Macht wird also aus einer Politisierung hervorgehen, die 1) die liberaldemokratischen Institutionen negiert, die sich der Demobilisierung, der Verschleierung von Konflikten und der Entpolitisierung der großen ausgebeuteten Massen schuldig gemacht haben, und 2) einen neuen Nomos und seine Volksinstitutionen schafft, die die Macht im Volk und in den Volksverbänden halten. Die politische Machbarkeit dieses Wandels und der Prozess der Politisierung der Zivilgesellschaft müssen in einem späteren Text behandelt werden.
Wir befürworten weder den primitivistischen Ausweg noch den Mythos vom „guten Wilden“. Wir schlagen vor, dass der Aufbau einer neuen Art von Institutionalität von einer Solidarität getragen werden muss, die es uns ermöglicht, in Produktionsverhältnissen zu leben, die keine Ausbeutung bedeuten. In der Tat würde es Institutionen geben, die sich verschiedenen Berufen widmen, aber auf eine Art und Weise, die der Zusammenarbeit und nicht der Beherrschung den Vorrang gibt. In der Gesellschaft zu leben bedeutet also, Institutionen zu schaffen, „Macht aufzubauen“ (Institutionen und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren) und einen radikalen Horizont zu haben, der es uns ermöglicht, nicht kooptiert zu werden.
Colectivo La Peste, 2014
Anmerkungen
Bibliographie
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Dieser Artikel erschien in der anarchistischen Publikation Ekintza Zuzena, die Übersetzung ist von uns.
ANARCHISMUS UND VOLKSMACHT
Zunächst möchte ich den Gefährtinnen und Gefährten der Zeitschrift Ekintza Zuzena danken, die sich nach der Lektüre des Buches Anarquismo y Poder Popular: teoría y práctica suramericana [[VVAA, 2011. (rezensiert in E. Z. Nr. 40)]] für das dort vorgestellte Thema interessierten und beschlossen, es zu diskutieren. Für mich und die anarchistische Strömung, zu der ich gehöre, den especifistischen Anarchismus, ist die Debatte über Macht im Allgemeinen und die Volksmacht im Besonderen von größter Bedeutung, nicht nur für eine erneute Lektüre der anarchistischen Klassiker, sondern auch für die politische Praxis revolutionärer Natur. Wir sollten diese Entscheidung daher begrüßen und beglückwünschen.
In Lateinamerika wird diese Debatte kontrovers geführt, obwohl sie in verschiedenen Ländern und für viele Gruppen und Organisationen – wie zum Beispiel für die neun brasilianischen Organisationen, die sich in der Coordenação Anarquista Brasileira (CAB) und der Federación Anarquista Uruguaya (FAU) zusammengeschlossen haben, um nur einige zu nennen – schon seit einigen Jahren Teil einer breiten Übereinstimmung ist. Es ist wichtig, dass diese Debatte in Europa weitergeführt wird und sich in gewissem Maße anderen Debatten anschließt, wie zum Beispiel der von der italienischen Federazione dei Comunisti Anarchici (FdCA) geführten Debatte, die auf den Beiträgen der brasilianischen CAB basiert.
Die Bedingungen der Debatte
Leider sind die Bedingungen der Debatte über Macht und Volksmacht, wie sie in Anarchismus und Volksmacht dargestellt wird, ziemlich problematisch, vor allem von Seiten derjenigen, die sich gegen die Beziehung zwischen Anarchismus und Macht und zwischen Anarchismus und Volksmacht stellen. Das zeigt sich besonders in den Beiträgen von Patrick Rossineri und Rafael Uzcátegui[[ROSSINERI, 2011; UZCÁTEGUI, 2011. Die folgenden Kritikpunkte sollen eine ernsthafte, respektvolle und brüderliche Debatte anregen]]. Es gibt mindestens drei grundlegende Probleme, die die Debatte erschweren und die im Folgenden aufgeführt werden.
Erstens haben die Autoren Recht, wenn sie argumentieren, dass eine solche Debatte nicht mit der Absicht geführt werden kann, zu beweisen, wer der anarchistischere ist; auch kann sie nicht ohne weiteres die andere Seite beschuldigen, nicht anarchistisch zu sein. Aber wenn die Autoren argumentieren, dass die Verteidigung der Volksmacht „eine Form der Integration in das System“[[ROSSINERI, 2011, S. 15]] impliziert, oder behaupten, dass „der Begriff PP [Poder popular = Volksmacht] eine Aktualisierung dessen ist, was die Autoritären vor dem Fall der Mauer als ‚Diktatur des Proletariats‘ definierten“[[UZCÁTEGUI, 2011, S. 29]], heißt es zwischen den Zeilen, dass Anarchistinnen und Anarchisten, die das Konzept der Volksmacht verteidigen, in das System integriert wären und/oder die Diktatur des Proletariats verteidigen würden, was sie als eines der Hauptbanner des klassischen Marxismus dem Marxismus näher bringen und vom Anarchismus distanzieren würde.
Eine solche Disqualifizierung der gegnerischen Position lässt nicht nur eine schlüssige Argumentation vermissen, sondern führt auch nicht zu einer angemessenen und ernsthaften Debatte.
Zweitens muss eine solche Diskussion den Unterschied zwischen Form und Inhalt berücksichtigen; es geht darum, ein historisches Phänomen und/oder eine strategische Position von der Terminologie zu unterscheiden, mit der sie bezeichnet werden. Das ist notwendig, weil die Debatte über Macht unter Anarchistinnen und Anarchisten, so wie sie derzeit geführt wird, viel mehr eine Frage der Terminologie ist – also der Gültigkeit/Relevanz der Verwendung des Begriffs – als eine Debatte über anarchistische Gedanken und Aktionen. Schließlich hat der Begriff Macht, wie viele andere auch – Demokratie, Freiheit, Sozialismus und sogar Anarchismus – historisch gesehen unterschiedliche Bedeutungen. Und ob bewusst oder unbewusst, wir entscheiden uns in jedem Moment dafür, die Bedeutung von Begriffen und Konzepten zu verwenden oder zu ignorieren.
Mit dem Argument der oben zitierten Autoren könnte man sagen, dass James Guillaume, einer der wichtigsten Namen des Anarchismus der ersten Generation, nicht als Anarchist bezeichnet werden sollte, da er immer gegen die Verwendung dieses Begriffs war und nie behauptete, einer zu sein. Es scheint, dass die Verwendung der Terminologie nicht das einzige Kriterium sein kann, um zu bestimmen, ob jemand eine Anarchistin oder ein Anarchist ist oder nicht.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass der Anarchismus nicht unbedingt anhand von Konzepten untersucht werden muss, die historisch von Anarchistinnen und Anarchisten verwendet wurden. Andere Konzepte – zum Beispiel „kollektive Identität“ oder „symbolisches Kapital“ – können mit der gebotenen Strenge und ohne größere Schwierigkeiten verwendet werden, auch wenn sie nicht von Anarchistinnen und Anarchisten verwendet wurden.
Darüber hinaus ist klar, dass ein beträchtlicher Teil der methodischen Mittel von Rossineri und Uzcátegui keine argumentative Kraft hat. Damit kann man zum Beispiel behaupten, dass Freiheit zu verteidigen bedeutet, liberal zu sein; Freiheit wird auf der Grundlage eines liberalen Klassikers definiert und der Gegner wird mit dem Liberalismus in Verbindung gebracht; dasselbe kann man mit dem Begriff „Sozialismus“ und der Annäherung an den Marxismus tun.
Alle verwendeten Begriffe haben eine Bedeutung; es ist nicht möglich, bei der Form zu bleiben, ohne den Inhalt zu berücksichtigen. Wenn man im vorliegenden Fall Macht als Herrschaft und/oder Staat begreift, kann man natürlich sagen, dass Anarchistinnen und Anarchisten historisch gesehen gegen Macht waren und sind. Das Gleiche gilt für die Konzepte der Freiheit und des Sozialismus; wenn erstere im liberalen Sinne und letztere im marxistischen Sinne verteidigt werden, kann man ebenfalls sagen, dass Anarchistinnen und Anarchisten gegen sie waren/sind. Allerdings geben Anarchistinnen und Anarchisten, die die Verbindung zwischen Anarchismus und Macht verteidigen, diesem Begriff eine andere Bedeutung. Es geht also um die Notwendigkeit oder Relevanz der Verwendung des Begriffs „Macht“.
Man kann durchaus argumentieren, dass es für Anarchistinnen und Anarchisten in einem bestimmten Kontext aus verschiedenen Gründen besser ist, die Begriffe Macht und Volksmacht nicht zu verwenden; dies war eine Zeit lang der Fall bei der Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ).[[CORRÊA, 2011. Dieser Text ist Teil der Debatte über die Macht, die damals unter den Militanten der FARJ stattfand und die mit der Entscheidung endete, die Begriffe Macht und Volksmacht zu verwenden und zu verteidigen]]. Es erscheint jedoch absurd, die anarchistische Verteidigung der Macht oder der Volksmacht mit dem Marxismus oder einer anderen mehr oder weniger linken Strömung in Verbindung bringen zu wollen, nur weil man eine Vorliebe für die Verwendung dieses Begriffs hat.
Drittens ist es notwendig, die historische Lesart (Vergangenheit oder Gegenwart) von den Zielen und zukünftigen Strategien zu unterscheiden, die von Anarchistinnen und Anarchisten verteidigt werden. Die Geschichte des Anarchismus ist sehr breit gefächert. Um den Anarchismus theoretisch zu erörtern, muss man sich von der eurozentrischen Sichtweise lösen und die globale und breite Vision der Südafrikaner Michael Schmidt und Lucien van der Walt [[SCHMIDT; VAN DER WALT, 2009]] übernehmen, denn in den letzten 150 Jahren gab es keine einheitliche Konzeptualisierung seitens der Anarchistinnen und Anarchisten.
Die meisten klassischen Anarchistinnen und Anarchisten schränkten den Begriff der Macht auf den Staat und/oder die Herrschaft ein und sprachen sich deshalb gegen sie aus. Bakunin betont, dass „wer von politischer Macht spricht, von Herrschaft spricht“ (BAKUNIN, 1998, S. 100). Kropotkin behauptet, dass „insofern die Sozialisten in der bürgerlichen Gesellschaft und im gegenwärtigen Staat eine Macht darstellen, ihr Sozialismus sterben wird“ [KROPOTKIN, 1970a, S. 189.] Malatesta kritisiert die autoritären Sozialisten, indem er sagt, dass sie „die Eroberung der Macht“ vorschlagen, um die Menschen zu emanzipieren, dass dies bedeutet, den „gleichen Mechanismus zu benutzen, der sie heute versklavt“ und dass er als libertären Vorschlag die „Abschaffung der Regierung und aller Macht“ vorschlägt[[MALATESTA, 2008, S. 183; 200.]] Wenn man Macht jedoch anders definiert – was angemessener erscheint, um mit anderen Autoren und Militanten ins Gespräch zu kommen, die Rolle der Anarchistinnen und Anarchisten in sozialen Kämpfen zu begründen und angemessene Interventionsstrategien zu formulieren -, können die klassischen Anarchistinnen und Anarchisten als Verfechter einer bestimmten Art von Macht betrachtet werden, die als „Volksmacht“ oder „selbstverwaltende Macht“ bezeichnet wird (CORRÊA, 2012a). Historisch gesehen ist es eigentlich nicht üblich, dass Anarchistinnen und Anarchisten die Macht so definieren. Zwar gibt es zumindest seit den 1920er Jahren Beispiele dafür, dass das Konzept in diesem Sinne verwendet wurde, wie im Fall des koreanischen Anarchismus [CRISI, 2012]. scheint sich diese Bedeutung erst nach den 1960er Jahren unter Anarchistinnen und Anarchisten durchgesetzt zu haben.
Von dieser historischen Lesart unterscheidet sich jedoch die Formulierung von anarchistischen Strategien, die von bestimmten Zielen ausgehen. Wenn Anarchistinnen und Anarchisten Ziele in diesem Sinne verfolgen, können sie die Verwendung eines Begriffs je nach Kontext für mehr oder weniger relevant halten. In einem Kontext, in dem die Masse versteht, dass „Demokratie“ zum Beispiel repräsentative Demokratie bedeutet, können Anarchistinnen und Anarchisten beschließen, diesen Begriff nicht zu verwenden; das Gleiche gilt für andere Begriffe. Genau das war Guillaumes Argument, sich nicht als Anarchist zu bezeichnen, da das allgemeine Verständnis dieses Begriffs in diesem Kontext und aus seiner Sicht irreführend war.
Anarchismus und Macht
Die oben erwähnte Problematik zwischen Form und Inhalt ist nicht auf anarchistische Studien beschränkt. Es wird auch von Tomás Ibáñez in einer strengen Studie über Macht festgestellt.
„Die Tatsache, dass die Erforscher von Machtbeziehungen nach so vielen Jahren immer noch einen wichtigen Teil ihrer Bemühungen darauf verwenden, den Inhalt der Vorstellung von Macht zu klären und zu verfeinern, die Tatsache, dass es keine minimal verallgemeinerte Einigung über die Bedeutung dieses Begriffs gibt und dass sich die Polemiken mehr um Unterschiede in den Konzeptualisierungen drehen als um die Operationen und Ergebnisse, die auf der Grundlage dieser Konzeptualisierungen erzielt werden, all das deutet eindeutig darauf hin, dass die Theoriebildung über Macht an der einen oder anderen Stelle auf ein erkenntnistheoretisches Hindernis stößt, das sie am Vorankommen hindert.“ (IBÁÑEZ, 1982, S. 11).
Dieser Mangel an gemeinsamer Bedeutung des Begriffs Macht und das von Ibáñez erwähnte erkenntnistheoretische Hindernis werden auch von Rossineri und Uzcátegui festgestellt. Sie werden auch in anarchistischen Schriften erwähnt und erschweren es, eine präzise Diskussion über Macht im Anarchismus zu führen.
Wie wir gesehen haben, wird der Begriff Macht bei den klassischen Anarchistinnen und Anarchisten in fast allen Fällen mit dem Staat oder der Herrschaft in Verbindung gebracht. Außerdem behandeln sie die Begriffe Herrschaft und Autorität oft als Synonyme. Sollte Macht jedoch nur als Herrschaft oder Staat begriffen werden, und sind Macht, Herrschaft und Autorität synonym? Ich denke nicht, in beiden Fällen.
Die hegemoniale Position im Anarchismus, zumindest bis in die 1970er Jahre, und die auch heute noch überlebt, zum Beispiel in den Positionen von Rossineri und Uzcátegui, ist, dass Anarchistinnen und Anarchisten gegen Macht sind und sie als Synonym für Herrschaft und/oder den Staat verstehen. Positionen dieser Art waren und sind immer noch relativ weit verbreitet: „Die gesamte anarchistische Theorie basiert auf einer Kritik der Macht und der von ihr erzeugten Effekte“. Außerdem „schlugen die Anarchistinnen und Anarchisten niemals die Macht des Volkes oder die Macht einer Klasse vor. […] Wenn es in einer sozialen Beziehung Symmetrie und Gegenseitigkeit gibt, dann deshalb, weil die Machtbeziehung aufgehört hat zu existieren.“ [[ROSSINERI, 2011, S. 19-20.]] In einigen historischen Momenten waren solche Positionen jedoch dafür verantwortlich, dass sich Anarchistinnen und Anarchisten von der Politik und von einer wirklichen Intervention in das gesellschaftliche Kräftespiel distanzierten, was dazu führte, dass sie zu kritischen Beobachtern der Realität wurden, ohne die Möglichkeit, in diese einzugreifen; in anderen Fällen führten sie zu falschen strategischen Entscheidungen mit katastrophalen Folgen.
Wenn man die Analyse vertieft und die Aspekte der Form extrapoliert, kann man feststellen, wie es in den letzten 40 Jahren immer nachdrücklicher und deutlicher getan wurde, dass es nicht akzeptabel erscheint, wie Ibáñez betont, „die Beziehung des libertären Denkens zum Konzept der Macht nur in Begriffen der Negation, des Ausschlusses, der Ablehnung, der Opposition oder sogar der Antinomie zu formulieren“[[IBÁÑEZ, 2007, S. 42]]. Er ist außerdem der Meinung, dass die unzähligen Definitionen von Macht in drei Hauptansätze unterteilt werden können: 1.) von Macht als Fähigkeit; 2.) von Macht als Asymmetrie in Machtbeziehungen und 3.) von Macht als Strukturen und Mechanismen der Regulierung und Kontrolle. Unter Berücksichtigung dieser drei Ansätze lässt sich feststellen: „Es gibt ein libertäres Konzept von Macht, es ist falsch, dass es in einer Negation von Macht besteht“ [[Ebd. S. 42-44.]]
Es gibt zahlreiche historische Beispiele, die zeigen, dass Anarchistinnen und Anarchisten sich nie gegen die Vorstellung gewehrt haben, dass Individuen, Gruppen und soziale Klassen die Fähigkeit besitzen, etwas zu erreichen; dass die Gesellschaft aus verschiedenen Kräften besteht, die im Spiel sind, und dass Anarchistinnen und Anarchisten bei ihrem Streben nach gesellschaftlicher Veränderung das Wachstum einer bestimmten Kraft anregen müssen, die die feindlichen Kräfte, die im sozialen Bereich vorherrschen, überwindet; dass Anarchistinnen und Anarchisten zwar autoritäre Strukturen und Mechanismen der Regulierung und Kontrolle ablehnen, aber andere, freiheitliche Grundlagen vorschlagen, die das Fundament der von ihnen vorgeschlagenen zukünftigen Gesellschaft bilden.
Bakunin stellt fest, dass „der kleinste Mensch einen winzigen Bruchteil der gesellschaftlichen Kraft darstellt“ [[BAKUNIN, 2009, S. 34]]. Kropotkin betont: „Gewalt – und zwar sehr viel Gewalt – ist notwendig, um die Arbeiter daran zu hindern, sich das anzueignen, was ihrer Meinung nach zu Unrecht von den Wenigen angeeignet wurde.“[[KROPOTKIN, 1970b, S. 69.]] Malatesta empfiehlt:
„Wir müssen daran arbeiten, in den Unterdrückten den lebendigen Wunsch nach einer radikalen sozialen Umgestaltung zu wecken und sie davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie sich zusammenschließen, die nötige Kraft haben, um zu siegen; wir müssen unser Ideal verbreiten und die moralischen und materiellen Kräfte vorbereiten, die nötig sind, um die feindlichen Kräfte zu besiegen und die neue Gesellschaft zu organisieren.“[[MALATESTA, 2008, S. 94.]]
Die feindlichen Kräfte zu überwinden, bedeutet für Malatesta, die Revolution zu machen, die Ökonomie und die Politik mit der „Schaffung neuer Institutionen, neuer Gruppierungen, neuer sozialer Beziehungen“ zu vergesellschaften; es geht darum, einen gesellschaftlichen Wiederaufbau in die Wege zu leiten, der „die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse gewährleisten und die Zukunft vorbereiten“ kann, der „Privilegien und schädliche Institutionen zerstören und […] die nützlichen Institutionen, die heute ausschließlich oder hauptsächlich zum Nutzen der herrschenden Klassen arbeiten, zum Wohle aller in Gang setzen“ muss. [[RICHARDS, 2007, S. 147; 154.]]
Es ist also nicht möglich, auf der Grundlage der dreifachen Definition von Ibáñez zu behaupten, dass Anarchistinnen und Anarchisten gegen die Macht sind.
Macht: zwischen Beherrschung und Selbstverwaltung
Wenn Anarchistinnen und Anarchisten behaupten, gegen die Macht zu sein, verwenden sie das Wort ‚Macht‘, um sich in Wirklichkeit auf eine ‚bestimmte Art von Machtverhältnissen‘ zu beziehen, und zwar ganz konkret auf die Art von Macht, die wir in den ‚Herrschaftsverhältnissen‘, in den ‚Herrschaftsstrukturen‘, in den ‚Herrschaftsmitteln‘ oder in den ‚Herrschaftsapparaten‘ usw. finden“ (Ibáñez, 2007, S. 45). Die anarchistische Kritik an Ausbeutung, Zwang und Entfremdung hatte immer eine allgemeine Kritik an der Herrschaft im Hintergrund, einschließlich der Klassenherrschaft und der Herrschaft über Geschlecht, Rasse und zwischen Ländern oder Völkern (Imperialismus).
Mit ihrer Befürwortung des Föderalismus schlugen die Anarchistinnen und Anarchisten laut René Berthier soziale Beziehungen vor, die auf einer breiten Beteiligung an Entscheidungsprozessen beruhen, und zwar durch ein System, in dem es „weder eine Absorption der gesamten Macht von oben (Zentralismus) noch eine Atomisierung der Macht (Autonomismus)“ gibt [BERTHIER, 2011, S. 32]. Wie Frank Mintz betont, tauchte der Begriff „Selbstverwaltung“ erst in den 1960er Jahren auf, um auch ein Organisationsmodell zu bezeichnen, das auf einer breiten Beteiligung der Bevölkerung beruht [MINTZ, 1977, S. 26-27]. Auch wenn später versucht wurde, den Föderalismus auf den politischen Bereich und die Selbstverwaltung auf den ökonomischen Bereich zu beschränken, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Begriffe recht nahe beieinander liegen und von Anarchisten häufig verwendet wurden. Die anarchistische Verteidigung der Vergesellschaftung des Privateigentums, der Vergesellschaftung der politischen Macht, einer Kultur, die dieses Projekt stärkt, und einer Artikulation von unten nach oben basiert auf einer verallgemeinerten Selbstverwaltung, die alle sozialen Aspekte berücksichtigt und die wiederum den Begriff des Föderalismus enthält.
Herrschaft und Selbstverwaltung stehen in direktem Zusammenhang mit dem Begriff der Macht, der hier nach dem zweiten Ansatz von Ibáñez definiert wird. Wenn man Macht auf diese Weise definiert, kann man sie als eine Beziehung begreifen, die in Kämpfen und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften entsteht, wenn sich eine Kraft(en) der anderen aufdrängt (aufdrängen); Macht und Machtbeziehung fungieren also als Synonyme [[CORRÊA, 2012b.]]. Die Verbindung zwischen Beherrschung, Selbstverwaltung und Macht wird durch den Begriff der Teilhabe hergestellt. Da die Teilhabe durch Machtbeziehungen hergestellt wird, kann sie größer sein und sich dem Begriff der Selbstverwaltung annähern oder kleiner sein und sich dem Begriff der Beherrschung annähern. Beherrschung und Selbstverwaltung wären also Idealtypen von Machtbeziehungen, die auf Partizipation beruhen: Je herrschender die Macht, desto weniger Partizipation; je mehr Selbstverwaltung, desto mehr Partizipation.
„Theoretisch gesehen markieren die Extreme der Beherrschung und der Selbstverwaltung die logischen Möglichkeiten der Grenzen in den Prozessen der Beteiligung. Unabhängig davon, ob es tatsächlich möglich ist, einen der idealen extremen Typen zu erreichen oder nicht, ist es wichtig, sie als logisches theoretisches Modell für das Verständnis der verschiedenen Machtbeziehungen, der Arten dieser Beziehungen und der verschiedenen Formen der Beteiligung, die sich aus ihnen ergeben, zu begreifen. […] Die Vorstellung von Machtbeziehungen innerhalb dieser beiden Extreme, ausgehend von der Achse der Partizipation, stellt eine Analysemethode für Beziehungen auf verschiedenen Ebenen dar.“ [[Ebenda.]]
Nach diesem Modell war es immer das Ziel der Anarchistinnen und Anarchisten, soziale Beziehungen zu unterstützen, die eine stärkere Beteiligung beinhalten und herrschende Macht – „Herrschaft, Hierarchie, Entfremdung, Entscheidungsmonopol einer Minderheit, Klassenstruktur und Ausbeutung“ – durch selbstverwaltende Macht – Selbstverwaltung, breite Beteiligung an Entscheidungen, nicht entfremdete Akteure, nicht-hierarchische Beziehungen, ohne Herrschaftsverhältnisse, ohne Klassenstruktur und Ausbeutung – zu ersetzen“ [[CORRÊA, 2012a, S. 98.]].
Diese Art, Macht zu begreifen, lehnt es ab, dass Macht gleichbedeutend mit Herrschaft und/oder dem Staat ist. Herrschaft, so wird argumentiert, ist eine Art von Macht, ebenso wie Selbstverwaltung; Machtbeziehungen können durch die Aufrechterhaltung einer größeren oder geringeren Beteiligung hergestellt werden; Macht bedeutet also nicht unbedingt Herrschaft. Der Staat ist ein zentrales Element des Herrschaftssystems und impliziert in all seinen historischen Formen Herrschaftsbeziehungen, vor allem solche des politisch-bürokratischen Typs und des Zwangs; andererseits stellen die Strukturen selbstverwalteter politischer Macht, die von Anarchistinnen und Anarchisten als Ersatz für den Staat verteidigt werden, ebenfalls Macht, aber keine Herrschaft dar.
Felipe Corrêa
Militanter der Organização Anarquista Socialismo Libertário (OASL) / Coordenação Anarquista Brasileira (CAB)
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– VVAA. Anarquismo y Poder Popular: teoría y práctica suramericana. Bogotá/Manresa: Gato Negro / Rojinegro, 2011.
Der staatszentrierte Anarchismus der Volksmacht
Auf Wunsch der Gefährtinnen und Gefährten von Ekintza Zuzena schreiben wir zum zweiten Mal über das Konzept der „Volksmacht“, das in Lateinamerika von einigen Initiativen propagiert wird, die sich als libertär bezeichnen. Bevor wir uns mit dem Thema befassen, beschreiben wir den Ort, von dem aus wir unsere Argumente vorbringen, und den Kontext, in dem sie sich abspielen. Seit 1995 beteiligen wir uns an einer anarchistischen Gruppe, die in der Stadt Caracas unter anderem die Zeitung El Libertario herausgibt, die vielleicht ihre bekannteste Aktivität ist. Seit 1998 wenden wir uns aus drei Gründen gegen den politischen Prozess, der als „Bolivarische Revolution“ bekannt ist: Der erste Grund ist die Vertiefung des Bergbaumodells im Einklang und ohne Widersprüche mit der kapitalistischen ökonomischen Globalisierung, die – trotz der Rhetorik – weitreichende Garantien für transnationale Energieinvestitionen beinhaltet (zum Beispiel gab Repsol 2009 die Entdeckung des größten Erdgasvorkommens in der Geschichte des Landes im Golf von Venezuela bekannt). Der zweite Grund ist der Prozess der Verstaatlichung, Militarisierung und Zersplitterung der sozialen Bewegung des Landes, die nach dem Volksaufstand des Caracazo am 27. Februar 1989 entstand und deren Mobilisierungsfähigkeit entscheidend für den bürokratischen Wandel im Jahr 1998 war, dem Zeitpunkt des ersten Wahlsiegs von Hugo Rafael Chávez Frías. Drittens hat die bolivarische Regierung trotz des größten ökonomischen Aufschwungs der letzten 30 Jahre die strukturellen Ursachen für eine der ungerechtesten Verteilungen des Reichtums auf dem Kontinent – man bedenke, dass das Land über die größten Energiereserven der Region verfügt – nicht verändert, deren Daten und Zeugnisse wir in dem Buch „Venezuela: La Revolución como Espectáculo. Una crítica anarquista del gobierno bolivariano“ (Venezuela: Die Revolution als Spektakel, eine anarchistische Kritik an der bolivarischen Regierung), das auf der iberischen Halbinsel von der Verlagsbuchhandlung La Malatesta in Madrid mitveröffentlicht und vertrieben wurde. Diese Einleitung ist wichtig, denn im Zuge der Institutionalisierung und Homogenisierung der sozialen Bewegung, die zu ihrem Wahlsieg geführt hat, begann die bolivarische Regierung ab März 2009, alle Institutionen per Dekret mit dem Adjektiv „Volksmacht“ zu benennen. Zum Beispiel das „Ministerium für Volksmacht für Verteidigung“, das die Streitkräfte des Landes koordiniert. Der venezolanische Fall wäre dann ein klarer Beweis für die Verwendung des Begriffs durch den Staat.
Die zweite Vorbemerkung betrifft den Anarchismus, an den wir glauben, denn er erschwert den Manichäismus und die Vereinfachung der Diskussion, auf die die Verfechter der „libertären“ Volksmacht (poder popular liberatio PPL) in ihrem Diskurs anspielen. Wir kultivieren einen Anarchismus, der seine Affinitätsgruppen für den Austausch und den Aufbau dessen braucht, was uns am nächsten ist, dessen Bezugspunkt und Aktionsbereich aber kein anderer ist als die populären, autonomen, basisdemokratischen und notwendigerweise pluralistischen Bewegungen für Veränderungen in einem libertären Sinne. Indem wir uns auf die Geschichte und die Kampftraditionen vor uns berufen und von ihnen lernen, muss unser Anarchismus auf einen sich ständig verändernden Kontext reagieren, der von der ökonomischen, informationellen und technologischen Globalisierung geprägt ist, die den Kult der positivistischen Vernunft hinter sich gelassen hat, der die antiautoritären Denker des späten 19. und frühen 20. Darüber hinaus ist es ein Anarchismus, der Ausdruck der kulturellen Besonderheiten sein muss, die uns als Lateinamerikaner ausmachen, ohne dabei seine universelle und internationalistische Perspektive zu verlieren. Wir haben versucht, diese Überlegungen in unserer Publikation El Libertario widerzuspiegeln, deren aktuelle redaktionelle Linie in einem Szenario der Verstaatlichung und Polarisierung von Volksinitiativen darin besteht, ein Höchstmaß an Autonomie in den sozialen Organisationen um uns herum zu fördern, in dem Verständnis, dass die Werte, die wir als Anarchistinnen und Anarchisten verteidigen, keine Möglichkeit haben werden, sich zu verbreiten und von breiten Bevölkerungsschichten gelebt zu werden, solange es keinen Raum für vielfältige, kämpferische und unabhängige politische Unternehmungen an der Basis gibt.
Ein geliehenes Hemd
Das Aufkommen des „libertären“ Volksmacht-Vorschlags kann nicht losgelöst von dem verstanden werden, was manche Analysten als „Linkswende“ in Lateinamerika bezeichnen. Wir behaupten sogar, dass der Moment der größten Dynamik für diesen Vorschlag mit der Zeit zusammenfiel, in der selbsternannte „progressive“ Regierungen bei linken und revolutionären Sektoren auf der ganzen Welt große Erwartungen weckten. Die zugrundeliegende Überlegung war, um es einfach auszudrücken, dass es notwendig war, die Mehrheiten, die die Linke an der Macht unterstützten, nachzuahmen, Bündnisse mit einigen Sektoren zu schließen und diese Prozesse von innen heraus mit dem Vorschlag der „libertären“ Volksmacht zu „radikalisieren“. Nach mehreren Jahren im Amt ist die Begeisterung für diese Regierungen einerseits abgeflaut. Andererseits sind ihre Widersprüche hinlänglich bekannt, ebenso wie die Mechanismen, mit denen die Volksanführer kriminalisiert werden, die sich ihrer Politik widersetzen und weiter mobilisieren. Die Regierungen Argentiniens, Ecuadors, Boliviens, Venezuelas, Uruguays und Nicaraguas haben bereits eine Reihe von Gewerkschaftern/Syndikalisten, Indigenen und Nachbarschaftsanführern aus verschiedenen Gebieten ermordet, inhaftiert und unter Antiterrorgesetzen vor Gericht gestellt, die paradoxerweise von den multilateralen Organisationen beeinflusst werden, gegen die sie sich mit Worten so sehr wehren. Merkwürdigerweise sind es gerade „libertäre“ Initiativen in Ländern mit konservativen Regierungen (z. B. Kolumbien und Chile), die versuchen, aus dieser vermeintlich progressiven Wende „Kapital“ zu schlagen und die Postulate der „libertären“ Volksmacht medienwirksamer zu verbreiten. Weder gestern noch heute steht die Debatte um dieses Thema im Mittelpunkt des lateinamerikanischen anarchistischen Universums, auch wenn ihre Apologeten versuchen, sie großspurig als solche darzustellen („Diese Debatte ist einer der grundlegenden Kerne der lateinamerikanischen Linken“, so die Federación Anarquista Uruguaya – Uruguayische Anarchistische Föderation).
Die Förderer der „libertären“ Volksmacht haben sich in mehreren lateinamerikanischen Ländern ausgebreitet, obwohl sie weder eine homogene Gruppe sind, noch in den Schwerpunkten ihrer Strategien übereinstimmen.
Wie der Rest der Familie haben auch sie ihre eigenen Spaltungen, Auflösungen, Zersplitterungen und Spannungen über den Protagonismus einer gerade erst entstehenden Zugehörigkeit erlitten, wobei zwei ihrer sichtbarsten intellektuellen Knotenpunkte Brasilien und Irland (ja, Irland) sind. Eine Bestandsaufnahme von Gruppen, Veröffentlichungen und Literatur zeigt, dass weder qualitativ noch quantitativ bisher der „vorherrschende“ Sektor im südamerikanischen Anarchismus war, allenfalls und großzügig eine weitere Tendenz. Im Internet haben sie jedoch versucht, sich selbst zu überdimensionieren, indem sie die Vielfalt der Bewegung in der Region in zwei Lager reduzierten, sie und auf der anderen Seite die aufständische Tendenz („eine von der Basis isolierte Minderheitengruppe“, wie Felipe Correa von der Federación Anarquista de Rio de Janeiro es vereinfacht). Mit dieser Sprachkunst wäre die „libertäre“ Volksmacht ein „organisierter Anarchismus“ (wie sich die Red Libertaria de Buenos Aires einst selbst definierte), der mit den ausgeschlossenen Sektoren verbunden ist und einem selbstreferenziellen, bourgeoisen Anarchismus antagonistisch gegenübersteht, der von seinem Kontext losgelöst und in der Vergangenheit verankert ist, nämlich dem Rest von uns. Und diese heikle Debatte bringt wiederum die Art der Bündnisse zum Ausdruck, die die „libertäre“ Volksmacht mit bestimmten Linken eingehen möchte: Sie vermarktet sich selbst als „guten Anarchismus“.
Weder Gott, noch Meister, noch Kohärenz
Für die Theoretiker der „libertären“ Volksmacht ist der Begriff der „Volksmacht“ ein „umstrittenes“ Konzept, und ihre Aufgabe ist es, es im Lichte einer anarchistischen Interpretation neu zu definieren. Trotz einiger schlecht durchdachter Versuche zu zeigen, dass Klassiker wie Bakunin und Malatesta in all ihren Schriften „Volksmacht“ meinten (was Patrick Rossineri in seinen Texten für die Zeitung Libertad in Buenos Aires gekonnt widerlegt!), erkennen sie in Ermangelung einer antiautoritären Genealogie des Begriffs nur widerwillig an, dass sein Ursprung nicht aus dem anarchistischen Lager stammt. In ihrer Literatur ist es üblich geworden, die Movimiento Revolucionario Internacional (MIR) in Chile als Vorreiter für die Verwendung des Begriffs im Jahr 1970 zu zitieren, wobei sie mit der Geschichte jonglieren, um zu zeigen, dass diese marxistisch-leninistische Organisation im Grunde genommen ziemlich anarchistisch war. Ungeachtet der vier Jahrzehnte autoritärer Verwendung, Auslegung und Umsetzung des Begriffs sowie der politischen Kapitalisierung und bürokratischen Legitimierung mehrerer fortschrittlicher Regierungen auf dem Kontinent (allein Venezuela gab 2013 laut Haushaltsgesetz offiziell 65.304.634 Dollar für Propaganda aus): Solange ein Haufen von Anarchistinnen und Anarchisten behaupten, es handele sich um einen „umstrittenen Begriff“. Es ist ein ziemliches Detail, dass diese und keine andere Nomenklatur im Streit ist. Wenn Demokratie zum Beispiel „Regierung des Volkes und für das Volk“ bedeutet, sollte man dann nicht die gleichen Energien darauf verwenden, sie anarchisch neu zu konzipieren? Felipe Correa treibt diese These auf die Spitze, denn selbst „Anarchismus“ wäre seiner Meinung nach ein „umstrittener Begriff“.
Dieser Persönlichkeitsverlust bei der Verwendung des Diskurses anderer, um Werte auszudrücken, die eindeutig libertäre Bezeichnungen haben, wie z. B. Selbstverwaltung, um ein Beispiel zu nennen, zielt darauf ab, seine neuen „Gefährtinnen und Gefährten“ nicht abzuschrecken. Und das ist kein Problem der Etiketten. Diese Verwischung dessen, was uns konkret zu „Anarchistinnen und Anarchisten“ macht, führt dazu, dass einigen „libertären“ Volksmacht-Initiativen zu viele Zugeständnisse machen, wenn sie eine politische Aktionsplattform suchen. Zum Beispiel bei „libertären“ Publikationen mit Allegorien von Heiligen des lateinamerikanischen marxistischen Pantheons auf dem Cover – wo es doch schon so viele andere Publikationen gibt, die dies tun – oder bei Aufrufen zu einer „kritischen Stimme“ für „linke“ nationale oder regionale Präsidentschaftskandidaten. Das Ergebnis ist, wie diejenigen in Venezuela, die sich selbst als „Anarcho-Chavistas“ bezeichnen, wieder einmal gezeigt haben, ein absoluter Verlust der politischen Identität und die Annahme einer neuen, von oben auferlegten Identität, die versucht, hegemonial zu sein. Die Folgen sind vielfältig und teilweise so gravierend wie das Fehlen jeglicher Kritik an alten und neuen „linken“ Regierungen in der Region, z. B. der kubanischen, bolivianischen oder venezolanischen, wenn nicht gar die verschleierte oder ausdrückliche Unterstützung autoritärer Organisationen wie der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC).
Volksmacht: Zwei Probleme
Wie Rossineri angedeutet hat, zielt die Kommunikationsoffensive der „libertären“ Volksmacht darauf ab, die Verwendung des Begriffs „Macht“ unter Anarchistinnen und Anarchisten zu naturalisieren. Die besten Argumente ihrer Anhänger verweisen auf seinen polysemischen Charakter und seine Unterscheidung zwischen „Macht zu tun“ (die Fähigkeit, Dinge zu tun) und „Macht über“ (die Herrschaft über andere). Abgesehen von Slogans wird jedoch nicht weiter ausgeführt, wie verhindert werden kann, dass die Fähigkeit in Herrschaft umgewandelt wird. An dieser Stelle ist es wichtig, daran zu erinnern, dass ein Teil des lateinamerikanischen Marxismus, der als Autonomer bekannt ist (John Holloway ist vielleicht der bekannteste), einen solchen Anspruch aufgegeben hat und pauschal und ohne halbe Sachen behauptet hat, dass die Welt verändert werden muss, „ohne Macht zu übernehmen“. Und das liegt daran, dass die falsche Spannung zwischen „Macht zu tun“ und „Macht über“ in 40 Jahren autoritärer Nutzung der Volksmacht nicht funktioniert hat, weil sie ganz einfach auf zwei verschiedene Situationen anspielen. Das ist das erste Problem der „libertären“ Volksmacht, auf welche Art von „Macht“ sie sich bezieht: Macht in der Politik wird immer auf „Macht über“ anspielen. Im Spanischen, einer großzügigen Sprache, gibt es keine wörtlichen Synonyme, sondern verschiedene Wörter, die Situationen nuancieren. Stell dir einen Zimmermann vor, der die Holzbautechniken beherrscht. Wenn du ihn als „Zimmermann mit Macht“ bezeichnest, werden ihn die meisten – außer die „libertäre“ Volksmacht- als jemanden mit Geld oder politischem Einfluss verstehen und nicht als jemanden, der die Kunst des Holzbaus beherrscht.
So erledigt die „libertäre“ Volksmacht diese Diskussion mit drei Slogans und abenteuerlichen Behauptungen: „Wir Anarchistinnen und Anarchisten sind nicht gegen Macht, sondern gegen Herrschaft“, ungeachtet der Tatsache, dass mehr als 100 Jahre libertärer Geschichte zeigen, dass wir gegen beides sind. 98% derjenigen in Lateinamerika, die das Konzept der „Volksmacht“ in ihrer politischen Strategie verwenden, versuchen heute die Rationalität zu legitimieren, die gestern im Konzept der „Diktatur des Proletariats“ enthalten war, die Ankunft einer neuen Bürokratie in den Führungsetagen.
Das zweite Problem hat mit dem Begriff „populär“ zu tun, ein Begriff, der nach der „libertären“ Volksmacht-Logik ebenfalls „umstritten“ sein sollte. Was ist populär und was nicht, und wann hört etwas auf, populär zu sein? Ist das, was als „populär“ gilt, von Natur aus gut? War Lula da Silva ein „volksnaher“ Präsident? War Rafael Leonidas Trujillo ein militärischer Mann der „Volksmacht“? Die frühere Mythifizierung schien nach den Beiträgen von Michael Foucault, neben vielen anderen, überwunden zu sein. Was uns jedoch darauf hinweist, ist, dass sich ein Teil des lateinamerikanischen Marxismus entwickelt, indem er libertäre Positionen – die Autonomen – als singuläres Gegengewicht annimmt, während ein anderer Teil des regionalen Anarchismus sich entwickelt, indem er die Logik der stalinistischsten kommunistischen Parteien auf dieser Seite der Welt rechtfertigt.
Unsere Agenda
Die Strategie der „Volksmacht“ führt, wie der venezolanische Fall zeigt, zu keinem anderen Ziel als dem Staat, um die demokratische Regierungsführung in Zeiten der Krise der Repräsentation und der ökonomischen Globalisierung mit Sauerstoff zu versorgen. Darüber hinaus liegt in ihrer Logik die Strategie der „Akkumulation von Kräften“ , die mit den übrigen Verbündeten ihrer Plattform radikale und grundlegende Vorschläge aushandeln muss, um die Koexistenz und, mit Verlaub, die „Popularität“ zu sichern. Getreu ihrer Berufung zur Macht, um sich der Welt und vor allem ihren Verbündeten gegenüber als „guter Anarchismus“ zu vermarkten, reproduzieren einige der bekanntesten Initiativen der „libertären“ Volksmacht im Kleinen das, was jeder an der großen Politik hasst: die Kompromisse, Verschwörungen und Disqualifizierungen gegen diejenigen, die sie zu verdrängen und zu neutralisieren vorgibt: Vor allem nicht das Großkapital, sondern die anderen Anarchistinnen und Anarchisten. Als ich darauf hinwies, dass wir zum zweiten Mal über das Thema nachdenken, wollte ich Folgendes zum Ausdruck bringen: Viele von uns haben sich dafür entschieden, nicht in den von der „libertären“ Volksmacht vorgegebenen Konturen in interen Kämpfen zu verfallen, eine Strategie, die unter anderem dazu dient, sich in den Augen ihrer „linken“ Verbündeten auf dem Kontinent zu legitimieren. Unsere Bemühungen gelten weiterhin dem Aufbau einer libertären gesellschaftlichen Alternative, in der – darauf bestehen wir – die Werte, die wir als antiautoritär verteidigen, von möglichst vielen Menschen gelebt werden.
Es ist falsch, dass sich der lateinamerikanische Anarchismus nur in plattformistische (wo die „libertäre“ Volksmacht angesiedelt wäre) und aufständische Tendenzen aufteilen lässt. In der Mitte zwischen den beiden Extremen gibt es eine Vielzahl von Gruppen, Organisationen und Individuen, die wenig oder gar keine organische Beziehung zueinander haben und die man aufgrund der Vielfalt der Probleme und Situationen, mit denen sie konfrontiert sind, als den „Mehrheitssektor“ der Bewegung bezeichnen könnte, die aber einfach nicht den Geist oder die Zeit haben, sich selbst in diesen Begriffen zu sehen.
Wenn es heute in Lateinamerika ein Kernthema gibt, das nicht die „libertäre“ Volksmacht ist, dann ist es der Extraktivismus und der Kampf um die Gemeingüter, der, wie jeder, der sich die Karte der aktuellen sozialen Konflikte in der Region ansieht, die Ursache für die indigenen und bäuerlichen Mobilisierungen gegen „progressive“ und konservative Regierungen ist, die derzeit stattfinden. In den Kämpfen für die Verteidigung von Tipnis (Bolivien) und Yasuni (Ecuador), gegen die Conga-Minen (Peru), die Kohleausbeutung in der Sierra del Perijá (Venezuela) und das Fracking im Rahmen der Chevron-YPF-Abkommen (Argentinien), um nur die bekanntesten zu nennen, gibt es viele libertäre Menschen, die sich die Brust gegeben haben, die die Debatte über andere Entwicklungsmodelle innerhalb diverser gesellschaftlicher Koalitionen positioniert haben, ohne dabei ihre Identität zu verlieren, und die versuchen, dafür zu sorgen, dass die Initiativen nicht auf den Staat, sondern auf den Ausbau ihrer eigenen kollektiven, selbstverwalteten Kapazitäten setzen. Aber es gibt auch andere Wege und Räume für die Konfrontation mit den etablierten Mächten, von denen ich mich darauf beschränken möchte, diejenigen zu beschreiben, die uns am nächsten sind.
In Venezuela ist die von der bolivarischen Regierung geförderte verstaatlichte und militarisierte Volksmacht einer der Hauptgegner bei der Wiedererlangung der Autonomie und des Kampfgeistes der sozialen Bewegungen. Und angesichts der Propagandakraft des „Ölsozialismus“ (wie Hugo Chávez ihn einmal selbst definiert hat) gibt es keine andere Möglichkeit, als an andere Bezugspunkte zu denken. Als Anarchistinnen und Anarchisten begleiten wir verschiedene Kämpfe, beteiligen uns an ihnen und verbreiten sie, wie zum Beispiel die Bewegung gegen Straflosigkeit und den Missbrauch durch Polizei und Militär im Bundesstaat Lara, wo unabhängige Opferorganisationen entstanden sind, die die Komplizenschaft hoher und mittlerer Beamter bei den Verbrechen der „Schießwütigen“ anprangern. Mijaíl Martínez, der Videoaktivist, der 2009 von Killern ermordet wurde, die von der Polizei in Lara angeheuert worden waren, ist eines der Opfer in diesem Konflikt. Die größte und älteste Kooperative des Landes, Cecosesola, die seit 30 Jahren besteht und 20.000 Mitglieder hat, entwickelt sich in diesem Gebiet. Mit ihrer volversammlungsbasierten und horizontalen Arbeitsweise ist sie die wichtigste konkrete Erfahrung libertärer Inspiration im Land und hat durch Selbstverwaltung ein dreistöckiges Krankenhaus im westlichen Teil von Barquisimeto, dem Herzen der weniger privilegierten Sektoren der Stadt, gebaut – eines der landesweit symbolträchtigen Vorhaben der Bürgerbeteiligung bei der Ausübung des Rechts auf Gesundheit. Neben dem Kampf gegen den Kohleabbau im Bundesstaat Zulia, der zur Ermordung des Yukpa-Anführers Sabino Romero führte, sind wir aktiv an der Neuzusammensetzung der venezolanischen Indigenenbewegung beteiligt, die nach Jahren der Kooptation die Wiederherstellung ihrer traditionellen Organisationen auf der Grundlage der Autonomie beinhaltet. In den vergangenen Jahren wurden die gleichen Anstrengungen im Gewerkschaftssektor unternommen, wo mit der Autonomen Front zur Verteidigung der Beschäftigung, der Löhne und der Gewerkschaften (FADESS) ein Versuch unternommen wurde, den venezolanischen Syndikalismus/Gewerkschaftsbewegung neu zu gründen, der jedoch aufgrund der Wahlbeteiligung und des Kannibalismus der alten politischen Parteien nicht in die gewünschte Richtung gediehen ist. Der FADESS prangerte die 17-monatige Inhaftierung des Gewerkschafters Rubén González, die Kriminalisierung von Protesten im Land und die Morde an den Gewerkschaftern Richard Gallardo, Luis Hernández und Carlos Requena im Jahr 2008 an, die bis heute ungesühnt bleiben.
Die Herausforderungen, vor denen lateinamerikanische Anarchisten stehen, sind vielfältig und anspruchsvoll. Unsere Affinitätsgruppen und spezifischen Organisationen zu stärken. Uns an realen Konflikten und sozialen Bewegungen zu beteiligen, um deren Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstverwaltungskapazitäten zu erhöhen, unsere Postulate zu aktualisieren, indem wir neu erfinden, was nötig ist, und unsere Werte, nicht unsere Etiketten, in breiten Gesellschaftsschichten zu verbreiten, die allmählich entdecken, dass fortschrittliche Regierungen dieselbe alte Unterdrückung mit einer anderen Fassade sind und dass sie, getreu dem rebellischen Geist der menschlichen Natur, nach anderen Alternativen suchen werden. Bei uns eröffnet die Finsternis des „Progressivismus“ an der Macht ähnliche Chancen, sowohl theoretisch als auch praktisch, wie es der Fall der Berliner Mauer für die europäischen Emanzipationsbewegungen tat. Und das erfordert nicht den pseudoliberalen Ästhetizismus der Überholten, sondern das Engagement für eine neue politische Kultur, die auf sozialer Gerechtigkeit und Freiheit basiert.
Rafael Uzcátegui (Venezuela)
1„Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“
2http://redlibertariapopularmk.entodaspartes.net/
3A.d.Ü., alle Stellen von hier entnommen: Rudolf Rocker, Nationalismus und Kultur, Unruhen Publikationen, Amsterdam, Februar 2015. https://anarchistischebibliothek.org/library/rudolf-rocker-nationalismus-und-kultur
4A.d.Ü., diese Behauptung ist kompletter Unsinn, sie ist nicht nur falsch, sondern innerhalb weniger Sekunden widerlegbar.
5A.d.Ü., Mitglieder der CNT.
6A.d.Ü., an der Stelle auch als völkisch zu verstehen.
7Potestas = delegierte Machtausübung. Sie ist die politische Machbarkeit der Machtausübung im Sinne eines weiten Begriffs, der über das negative Absolute hinausgeht, das von Autoren wie Bakunin aufgestellt wurde. Die Delegation dieser Macht sollte jedoch nicht in jedem Fall als eine Überlagerung von Zwangsinstitutionen über die Gesellschaft hinaus verstanden werden (selbstsüchtige Oligarchien). Wir erkennen in diesem Text an, dass Macht, die als in den Subjekten („Menschen“) enthaltene Macht verstanden wird, nur dann materiell ist, wenn sie in eine organisatorische Instanz übersetzt wird, die bereits eine gewisse Delegation von Macht darstellt, auch wenn diese minimal, horizontal, selbstverwaltend und in diesem Sinne nicht entfremdend sein kann (der Subjekte gegenüber den Institutionen, durch die sie politisch über das Leben in der Gesellschaft entscheiden).
8Bakunin kann sich nicht vorstellen, dass die Ausübung positiver Macht (die die Phase der Negation einer anderen instituierten entfremdenden Macht einführt, erschafft und überwindet) sowie die Organisation dieser potenziellen Macht der Assoziation der Ausgebeuteten historisch zu nicht-hierarchischen, autonomen und selbstverwaltenden Organisationsformen dieser Macht führen kann. So waren zum Beispiel die erste Phase der russischen Sowjets oder die Gemeinden in Aragonien im revolutionären Spanien der 1930er Jahre Ausdruck instituierender und populärer Macht. Die in autonomen Volksinstitutionen organisierte Macht, die sich gegen den Staat und seine autoritären Eingriffe richtet, wird von der Gesellschaft unter realer und demokratischer Kontrolle gehalten.
9Nomos. Er leitet sich historisch von dem spanischen Wort und Begriff Normas (Normen) ab. Er kann auch als Gemeinschaftsrecht verstanden werden. Auto (nomía) bezieht sich auf die gemeinsame Fähigkeit, Gesetze oder Normen, die das Soziale regeln, selbst zu schaffen. Hetero (nomía) bezieht sich auf die Schaffung von Normen durch eine Institution der Gesellschaft, die außerhalb der Gesellschaft steht: die Götter, Gott, die Vorfahren, die Gesetze der Natur, die Gesetze der Vernunft, die Gesetze der Geschichte. Cornelius Castoriadis spielt auf dieses Problem in folgendem Absatz an: „Die Gesellschaft ist eine Selbstschöpfung, ihre Institution ist eine Selbstinstitution, die sich bisher selbst okkultisiert hat. Diese Selbstkultivierung ist gerade das grundlegende Merkmal der Heteronomie von Gesellschaften. In heteronomen Gesellschaften, d. h. in der überwiegenden Mehrheit der bisher existierenden Gesellschaften – also in fast allen – finden wir die (institutionell etablierte und sanktionierte) Repräsentation einer Quelle der Institution Gesellschaft, die außerhalb der Gesellschaft liegt: die Götter, Gott, die Ahnen, die Gesetze der Natur, die Gesetze der Vernunft, die Gesetze der Geschichte. Mit anderen Worten: Den Individuen wird die Vorstellung auferlegt, dass die Institution der Gesellschaft nicht von ihnen abhängt, dass die Individuen ihr Gesetz nicht selbst aufstellen können – denn das ist es, was Autonomie bedeutet -, sondern dass das Gesetz bereits von einer anderen oder einer anderen Instanz gegeben ist. Es gibt also eine Selbstbeschränkung der Selbstinstitution der Gesellschaft und das ist Teil der Heteronomie der Gesellschaft. Catoriadis, C. „Los dominios del hombre“. Gedisa, 2005. S. S. 138).
10In diesem Sinne sind die großen Reiche, auf die die Spanier trafen, die Ausnahme von der Regel. Das Inkareich zum Beispiel ist auch ein Staat mit getrennten Klassen und einem eigenen Gesellschaftsorgan, das die politische Macht innehat. Daher die Bewunderung und das Interesse der Spanier für dieses Reich und ihre Verachtung für wilde Stämme, die weder Gott, König noch Herrscher haben. Das eurozentrische Markenzeichen des Staates wäre laut Clastres seine Tendenz zum Ethnozid und zur totalen Auslöschung des „Anderen“.
11Zur Debatte über das Verhältnis zwischen Anarchismus/Volksmacht oder libertärer Macht siehe: Anarquismo y poder popular. Teoría y práctica suramericana. Un gato negro ediciones. Bogota-Manresa, 2011; „Por un poder político libertario“, in Ibáñez, Tomás. La actualidad del anarquismo. Terramar Ediciones, La Plata und Libros de Anarres, Buenos Aires (Utopía Libertaria), 2007; Correa, Felipe. Poder, dominación y autogestión. La biblioteca Anarquista. Anti-copyright, 2013; Perspectivas y debates anarquistas del poder. Compilación de Textos. Ediciones Apestosas, 2014.