Alfredo Cospito – Zu den Ursprüngen der Opferrolle (2015)

Gefunden auf luchar contra el 41bis, die Übersetzung ist von uns. Alfredo Cospito´s Text beschäftigt sich mit der Frage warum die anarchistische Bewegung in den 1960ern in Italien aufgrund der Geschehnisse der Piazza Fontana zusammenbrach. Wir finden den Text auch aus seiner historischen Sicht interessant weil er auf Gruppen aufmerksam macht, von denen wir in kürze längere Textreihen veröffentlichen werden, nämlich Defensa Interior, Grupo Primero de Mayo – Movimiento de solidaridad Internacional, MIL-GAC und zuletzt mit den GARI und was all dies mit der anarchistischen Bewegung – bzw. Geschichte (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) – überhaupt und der aufständischen Strömung zu tun hat.


Alfredo Cospito – Zu den Ursprüngen der Opferrolle (2015) [Überarbeitet].

Weil wir Alfredos Worte und Überlegungen wertvoll finden und auf unserer Entschlossenheit bestehen, dem Gefährten eine Stimme zu geben, übersetzen wir einen Text, der in Nr. 2 der italienischen anarchistischen Zeitung Croce Nera veröffentlicht wurde.

Wir haben das Datum aus symbolischen Gründen ausgelassen, um ihn zwischen dem Jahrestag des Massakers auf der Piazza Fontana und der Ermordung von Pinelli zu veröffentlichen.

Sehr lesenswert.

Zu den Ursprüngen der Opferrolle

Unsere Aktion zielt darauf ab, dass sich die Kirche in diesem für das spanische Volk kritischen Moment ihrem Gewissen und ihrer Verantwortung stellt, denn nach 27 Jahren faschistischer Diktatur sind spanische Demokraten, die ein in der Menschenrechtscharta anerkanntes Mindestmaß an Meinungs- und Vereinigungsfreiheit fordern, immer noch im Gefängnis…“.

Entführung von Marco Ussia, Rom, April 1967 – Grupo Primero de Mayo – Sacco und Vanzetti

„… US-Wissenschaft im Dienste des Verbrechens… wir haben einen der Verantwortlichen für den Völkermord in Vietnam getroffen! Johnson schert sich nicht um Friedensmärsche, lasst uns die gleichen Waffen benutzen: Dynamit und Sabotage!“

Anschlag auf das amerikanische Unternehmen Dow Chemical, Mailand 30. März 1968 – Grupo Anarchico… (der Rest des Kommuniqués ist unleserlich, weil es verbrannt ist)

Wir verurteilen die Kirche für ihre Aktivitäten gegen die Revolution… die kriminelle Arbeit der Unterstützung des spanischen Faschismus…“.

Angriff auf die Kirche von San Babila, Mailand, 10. Juni 1968 -Anarchisten- .

.

Gefährte, zerstöre die Banken…zerstöre die Kirchen…zerstöre die Universitäten…überfalle die Kaufhäuser…“.

Anschlag auf La Rinascente, 30. August 1968, Mailand -Anarchisten- .

Letzte Stunde: Die Polizei tötet wieder, zwei Tagelöhner in Sizilien! Es ist eure heilige Mission, aufständisches Volk! Gegen den Autoritarismus, gegen die Gesetze, den Staat und die Kirche, die alles heiligt. Es lebe die Anarchie!“

Dynamitanschlag auf das Rathaus von Genua, 3. Dezember 1968 (in Solidarität mit den Toten von Avola) -Gruppo Rivoluzionario Carlo Cafiero-.

Gefährte Arbeiter, in den Banken ist der Reichtum…zerstöre die Banken…In den Universitäten ist die wissenschaftliche Kultur zerstöre die Universitäten, in den Kirchen ist die Unterdrückung der Vernunft…zerstöre die Kirchen. In den Lagerhäusern sind die überflüssigen Produkte, zerstöre sie“.

Zweiter Bombenanschlag in La Rinascente, Mailand 15. Dezember 1968 -Brigata Anarchica Ravachol-.

Die amerikanische Wissenschaft ist ein Instrument zur Unterwerfung der Völker… die prächtigen Luft- und Raumfahrtunternehmen ernähren nicht die Ausgebeuteten“.

Anschlag mit Dynamit auf das NATO-Stützpunkt Darby, Pisa, -Gruppo Anarchico J. Most- .

Angeklagte! Verbrennt die Roben der Richter! Macht das Gericht zum Schlachtfeld … der Kampf geht weiter mit allen Mitteln, die euch zur Verfügung stehen, gegen die Autorität des Staates und der Kirche. Seid gegrüßt!“

Angriffe mit Dynamit auf den Justizpalast und das Ministerium für öffentliche Bildung Rom 27. und 31. März 1969 -Associazione Rivolucionaria Anarchica per la Rivoluzione Sociale- .

Die historische Lesart eines bestimmten Anarchismus war schon immer unvollständig, instrumentell und oft der der offiziellen Historiker nicht zu beneiden. In diesem Beitrag geht es darum, den Ursprüngen des Opferdenkens auf den Grund zu gehen, das die italienische anarchistische Bewegung seit dem Massaker auf der Piazza Fontana vor mehr als vierzig Jahren korrumpiert hat und weiterhin korrumpiert. Auch auf die Gefahr hin, als „revisionistisch“ zu erscheinen, muss ich vor der Entwicklung meiner These einige Punkte klarstellen. Selbst wenn es stimmt, dass die Bombe auf der Piazza Fontana vom Staat platziert wurde, wovon ich überzeugt bin, habe ich „andere“ Überzeugungen:

– Die Überzeugung, dass viele der Anschläge der außerparlamentarischen Linken in jenen Jahren, die als faschistisch ausgegeben wurden, anarchistische Anschläge mit sehr glaubwürdigen Behauptungen waren.

– Die Überzeugung, dass Giuseppe Pinelli kein Pazifist, kein Gewaltloser, kein Märtyrer der Linken, kein Heiliger der Demokratie war, sondern ein revolutionärer Anarchist, der kurz vor seiner Ermordung durch Calabresi und Co. aktiv mit einer anarchistischen Organisation zusammengearbeitet hatte, die in halb Europa den bewaffneten Kampf mit Bombenanschlägen und Entführungen praktizierte, der Internationalen Anarchistischen Primero de Mayo1, die direkt aus der FIJL2 hervorging, und die folglich, wie alle Anarchisten, die mit dem, was sie taten, übereinstimmten, an revolutionäre Gewalt glaubte.

– Überzeugung, dass Gianfranco Bertoli ein individualistischer Anarchist war – kein Faschist, keine Marionette oder ein nützlicher Idiot in den Händen der „abweichenden“ Dienste, wie viele schamlose Anarchisten weiterhin behaupten – und dass seine Aktion perfekt in die Tradition der Propaganda der Tat, des individualistischen anarchistischen Terrorismus passt. Nachdem wir diese Punkte geklärt haben, beginnen wir unsere Reise in die Vergangenheit mit der Entlarvung einiger Mythen. Das Massaker an der Plaza Fontana war für die Anarchisten nicht, wie viele Historiker behaupten, „der Verlust der Unschuld“, sondern die Geburt einer neuen Figur, einer neuen Rolle, die aus Angst vor Repression angenommen wurde. Eine Rolle, die mit frommer und instrumenteller Unschuld durchtränkt ist. Das anarchistische Opfer des Systems, der naive anarchistische Junge, der die Revolution nur oberflächlich spielt, der Gefahr läuft, von Infiltratoren angesprochen zu werden, der leicht von den Machthabern instrumentalisiert werden kann. Fast alle Anarchisten trugen in jenen Jahren bewusst oder unbewusst diese Jacke, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Nach der Plaza Fontana gab es eine Flut von legalistischen und entlastenden Gegenermittlungen, in denen die Karikatur des sprengenden und blutrünstigen Anarchisten durch die noch wahnsinnigere Karikatur des Anarchisten als hilfloses und prädestiniertes Opfer der staatlichen Gewalt ersetzt wurde. Viele spielten mit, um in Ruhe leben zu können oder um ihre eigenen Gefährten aus dem Gefängnis zu holen, einige gingen sogar noch weiter, indem sie sich durch etwas legalistische, karikierte und weinerliche Gegenermittlungen an diesem neuen „Ermittlungs“-Trend beteiligten.

Man kann die tragischen Ereignisse von Mailand und die darauf folgende Panik und Aufregung in den Reihen der Anarchisten nicht vollständig verstehen, ohne eine kurze Skizze der langsamen, aber allmählichen Entwicklung zu geben, die einen Teil der Bewegung in den Jahren zwischen 1962 und 1969 gefährdete. In jenen Jahren erlebte die anarchistische Aktion in ganz Italien einen Moment großer Vitalität, ich würde fast sagen eine Renaissance. Verschiedene Kerne und Affinitätsgruppen mit viel Mobilität, junge und nicht mehr ganz so junge, glaubten an die Kraft ihrer Aktionen, von Angriffen mit geringer Intensität mit Nitrat bis hin zu stärkeren mit Dynamit. Dieses Wachstum wurde durch den Einfluss der FIJL und ihres direkten Ablegers, der Grupo Primero de Mayo, beschleunigt. Diese Entwicklung fand zur gleichen Zeit in anderen europäischen Ländern statt, mit besseren Ergebnissen: die Angry Brigade in England, die „Haschrebellen“ in Deutschland, die GARI in Frankreich. In Italien wurde diese Entwicklung durch den kollektiven Schock des Staatsmassakers abrupt unterbrochen und blockiert. Dieses Massaker und der anschließende Mord an Pinelli waren die „Erbsünde“ für die anarchistische Bewegung, nach der nichts mehr so war wie zuvor. Von diesem Moment an hörten die „Spiele“ auf und der positive Trend, der die Bewegung in den letzten Jahren durchdrungen hatte, erlitt einen starken, wenn auch nicht endgültigen Rückschlag.

Über diese berühmten Jahre sind viele Legenden und Unwahrheiten entstanden. Eine der hartnäckigsten ist die, die den Anarchismus in den späten 1960er Jahren als schwächstes Glied der revolutionären Bewegung ansieht. Eine anarchistische Bewegung die von der Repression und (polizeiliche) Inszinierungen geschlagen war, genau wegen dieser hypothetischen intrinsischen Schwäche und der Leichtigkeit der Infiltrierung. Eine weitere Unwahrheit (um es gelinde auszudrücken) hat mit der schlammigen und albernen Rolle zu tun, die unsere Opferrolle und die der linken Intelligenz den Akteuren in dieser Tragödie zugewiesen hat. Pinelli, der unschuldige Märtyrer, der Pazifist „Anarchie bedeutet keine Bomben, sondern Gerechtigkeit in Freiheit“, Valpreda, der naive und manipulierbare individualistische Anarchist, der „hoch erhobenen Hauptes“ seine Unschuld beteuert und mit den Worten „Bombe, Blut, Anarchie“ und ohne konkrete Fakten ein Scharlatan ist. Wir Anarchisten waren die ersten, die für eine solche Verzerrung der Realität verantwortlich waren. Eine Verzerrung, die aus dem Bedürfnis heraus geboren wurde, sich gegen eine als diffamierend empfundene Anschuldigung zu verteidigen, ein Massaker, das ganz normale Menschen traf, zufällige Kunden einer Landwirtschaftsbank, meist Kleinbauern. Diese alternative Realität wurde von den Anarchisten und auch von den Akteuren dieser Tragödie selbst so sehr in den Vordergrund gerückt, dass all das Gute, das in den vorangegangenen Jahren getan worden war, ausgeblendet und ausgelöscht wurde. Die „Panik der Verteidigung“ führte zu einer allgemeinen Flucht und einem fast vollständigen Rückzug. Nur wenige Gegenbeispiele, aber bezeichnend: die Ermordung von Kommissar Calabresi und das Massaker auf dem Mailänder Polizeirevier3 des Anarchisten Bertoli, der für die Folgen seiner Aktion nicht nur für die über 20 Jahre im Gefängnis, sondern auch für die ständige Diffamierung und fast vollständige Isolierung seitens einer verängstigten und durchgedrehten anarchistischen Bewegung schwer bezahlen wird.

Die These, die ich mit diesem Argument untermauern möchte, ist, dass die so genannte „Strategie der Spannung“ gegen die anarchistische Bewegung geplant war, und zwar nicht als schwaches Glied, sondern im Gegenteil, weil sie das einzige Segment der revolutionären „Linken“ jener Zeit war, auf das man glaubwürdig ein solches Attentat ausbrüten konnte. Hauptsächlich aus zwei Gründen, weil sie zu diesem historischen Zeitpunkt am aktivsten war, was bewaffnete Aktionen, Bomben und sogar die Vorgeschichte zweier Entführungen4 anging, und zweitens wegen ihrer internationalen Kontakte zu Gruppen wie Grupo Primero de Mayo oder der FIJL, die seit Jahren in halb Europa bewaffnete Aktionen durchgeführt hatten. Es wäre schwieriger gewesen, die Inszinierung mit den Kommunisten vorzubereiten, die damals im bewaffneten Kampf viel weniger aktiv waren. Es ist kein Zufall, dass der einzige Kommunist, den sie in die Ereignisse auf der Piazza Fontana verwickeln wollten, Feltinelli war, weil er Kontakte zu einigen dieser Anarchisten hatte, insbesondere zu Corradini und Vincileone5. Ein konkretes Beispiel für die „operativen“ Kontakte des revolutionären Redakteurs zu diesen Anarchisten war, als Feltrinelli Wochen vor Guevaras Tod in Bolivien dank der Vermittlung dieser beiden Gefährten die Unterstützung der Grupo Primero de Mayo suchte, um gemeinsam Aktionen in Solidarität mit den bolivianischen Guerillas zu organisieren. Nach Guevaras Tod verübte Grupo Primero de Mayo eine beispiellose Serie von koordinierten Anschlägen in ganz Europa: Am 12. November 1967 explodierten drei Bomben in Bonn auf die griechische, bolivianische und spanische Botschaft, in Rom auf die venezolanische Botschaft, in Mailand auf das spanische Tourismusbüro, in Den Haag auf die US-amerikanische, griechische und spanische Botschaft, in Madrid auf die US-Botschaft und in Genf auf das spanische Tourismusbüro.

Zehn koordinierte Anschläge an einem einzigen Tag, die organisatorischen Fähigkeiten der Anarchisten in Europa waren beispiellos, was der FIJL und ihrer Bereitschaft zu handeln und zu koordinieren zu verdanken ist: Dieser Einsatz der Kräfte fand statt, während in Italien Feltrinellis GAP [Gruppi d’Azione Partigiana] kaum mehr als eine Idee war und die BR noch weit davon entfernt waren, geboren zu werden, ihr erster Anschlag fand 1971 statt. Wir können mit Sicherheit sagen, dass das Krebsgeschwür der anarchistischen Opferrolle am 12. Dezember 1969 nach dem Massaker in der Banca d’Agricoltura geboren wurde. Einen Vorgeschmack darauf gab es bereits am 25. April desselben Jahres, ebenfalls in Mailand am Tag des Widerstands, als kleine Brandsätze aus Nitrat und Benzin in der Wechselstube des Hauptbahnhofs und auf der Messe explodierten, die damals von der Studentenbewegung umkämpft war. Der Rauch des Feuers im Bahnhof brachte ein Dutzend Passagiere in die Notaufnahme, die sofort entlassen wurden; der andere Sprengsatz auf der Messe zerstörte ein paar Schaufenster: so harmlos, dass selbst die „Rivista Anarchica“ vom März 1971 sie als Briefbomben bezeichnete. Die Zündung der Sprengsätze war genau die gleiche wie bei den Anarchisten von La Rinascente (aus dem ein Auszug am Anfang des Artikels zitiert wurde): Der übliche elektrische Widerstand, die übliche Benzinflasche und die übliche Uhr als Zeitzünder. Die Absicht der Angreifer war nicht, Opfer zu verursachen. Bei der Polizei gingen Anrufe ein, die die „Explosion“ am Bahnhof ankündigten, einige Zeitungen sprachen von einer Behauptung, von Flugblättern, die vor Ort gefunden wurden, wie bei den früheren anarchistischen Anschlägen in Mailand. Die Zeitungen machten ein großes Theater um diese „schrecklichen“ Anschläge. Die anarchistische Bewegung in Mailand bezog sofort Stellung, sprach von Provokation und setzte diese als faschistisch eingestuften Anschläge mit den anarchistischen Angriffen auf das Ministerium für öffentliche Bildung und den Justizpalast in Rom gleich, zu denen sich die „Internazionale Anarchica Marious Jabob“ bekannte. Die Theorie des Komplotts, die eigenen Taten in den Dreck zu ziehen, um damit durchzukommen, hatte ihre Vorboten vor der Piazza Fontana. Giovanni Corradini und Eliane Vincileone wurden für die mysteriösen Explosionen verantwortlich gemacht. Neben ihnen wurde auch der Jüngste, Paolo Braschi, verhaftet, während Ivo Della Savia mehr Glück hatte und sich der Verhaftung entziehen konnte, indem er in die Berge flüchtete. Die vier Gefährten bezogen sich auf die Zeitung „Materialismo e Libertà“.

Bevor wir unsere Geschichte fortsetzen, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf das anarchistische Mailand in den 1960er Jahren zu werfen. In Mailand machten in dieser Zeit der Auseinandersetzungen und der großen libertären Gärungen unter so vielen Kampferfahrungen zwei kleine Affinitätsgruppen der Anarchisten ihre ersten Schritte. Die „ältere“ Gruppe bezog sich auf Ivo Della Savia und Braschi, die mehr Erfahrung mit Sprengstoff hatten, in Kontakt mit Corrandi und Vincileone standen und in engem Kontakt mit den anarchistischen Jugendverbänden anderer Länder mit der FIJL und der Grupo Primero de Mayo. Zu der jüngeren, „unruhestiftenden“ Gruppe gehörten Valpreda, Claps und Derrico, die in Mailänder Kreisen als „unkontrollierbar“ galten, weniger praktische Erfahrung hatten, aber einen sehr starken individualistischen anarchistischen Geist besaßen. Sie nannten sich selbst „Ikonoklasten“ und druckten ein Flugblatt „Terra e Libertà“, in dem sie ihre „gewalttätigen“ Ideen klar zum Ausdruck brachten. Sie wurden in die Inszinierung der Geschehnisse auf der Piazza Fontana verwickelt und erklärten sich am Ende damit einverstanden, bei den verschiedenen Gegenermittlungen abgeschlachtet zu werden, denen sie in jedem Fall ihre Freiheit verdanken würden. Die Mailänder politische Polizei machte sich mehr Sorgen um die Gruppe, die sich angeblich um die Corradini drehte. Diese Besorgnis war vor allem auf ihre internationalen Kontakte zurückzuführen. In einem Bericht über das Ehepaar hieß es: „Mindestens seit 1962 bilden sie ein Zentrum des anarchistischen Aktivismus, das immer eine gewisse Anzahl junger Leute angezogen hat. In einer solchen Atmosphäre, auch wenn sich nicht sagen lässt, ob das Ehepaar Corradini eine Rolle spielte und welche, reifte die Entführung des Vizekonsuls Isu Elias heran“. Die anarchistische Bewegung vergaß diese beiden militanten Figuren bald, vielleicht zu unbequem für einen Anarchismus, der von innen heraus geläutert worden war.

Die spezifischen anarchistischen Organisationen FAI-GIA-GAF versuchten nach der Repressionswelle im Anschluss an die Plaza Fontana, den Konflikt zu deeskalieren, und zumindest in einem Punkt waren sie sich einig: Sie betrachteten alle Aktionen von gewisser Bedeutung, die in den vorangegangenen Monaten von Anarchisten verübt wurden, als Provokation. Ein wichtiges Zeugnis über diese Jahre lieferte Ivo Della Savia selbst, der dem „Corriere della Sera“ ein unglaubliches Interview aus der Klandestinität gab, in dem er einem Journalisten unverblümt von der Entstehung anarchistischer Aktionen in Italien erzählte: „1963 wurden wir Zeuge der Bildung der ersten anarchistischen Gruppen, die begannen, direkte Aktionen durchzuführen. Mit direkten Aktionen meinen wir Angriffe. Ich gehörte zu diesen sehr streng gegliederten Gruppen. Es gab kein Problem mit der Anzahl, das heißt, wir machten uns keine Sorgen darüber, zu viele zu sein… die Aktion selbst hätte eine klare Auswahl getroffen… Von 1963 bis 1967 erlebte Italien die materielle Formierung, die Artikulation, die Voraussetzungen, um eine bestimmte Situation zu erreichen, um eine größere Effizienz, eine größere Verbindung zu gewährleisten… Die Polizei sah sich mit einer neuen, beunruhigenden Tatsache konfrontiert: Anarchisten schlagen mit periodischer Regelmäßigkeit zu, und alle zwei oder drei Monate passiert etwas in der ruhigen italienischen Gesellschaft. Siehe zum Beispiel die Anschläge auf das spanische Konsulat in Neapel und den gescheiterten Anschlag auf dasselbe Konsulat in Genua […]“.

Diese Entwicklung wurde durch die weit verbreiteten Verschwörungsvorwürfe, die auf das Massaker folgten, jäh unterbrochen. Der Höhepunkt des Selbstmitleids wurde nach Pinellis Ermordung mit der Verzerrung der Figur dieses Gefährten durch die große Mehrheit der Bewegung in eine pazifistische und demokratische Opferrolle erreicht: Dutzende von Vermutungen, Millionen von Dokumenten als Beweise, die die abstrusesten Theorien über internationale Verschwörungen, schwarze Komplotte, rote Komplotte, gegensätzliche Extremismen, CIA, KGB, „abweichende“ Geheimdienste stützen. Aus all dem gerichtlichen Papierkram und den darauf folgenden parallelen Gegenermittlungen wurde eine neue „Wissenschaft“ geboren, die im Anarchismus der Tat eines ihrer berühmtesten Opfer haben wird. Im Namen dieser „Wissenschaft“, der sogenannten „Strategie der Spannung“, kam in den folgenden Jahren für jeden Böller oder jede Bombe der Vorwurf der Provokation. Jedes Mal, wenn eine anarchistische Gruppe zuschlägt, kommt es auch heute noch vor, dass die Mumien des „revolutionären“ Immobilismus diese viel benutzte und so nützliche Theorie gegen diejenigen hervorholen, die sich erlauben, das, was sie zu Tausenden nachplappern, in Fakten zu verwandeln. Der italienische Anarchismus in den frühen siebziger Jahren war zu einem großen Teil durch die Kampagne zur Befreiung von Valpreda geprägt. Eine Kampagne, die ganz im Zeichen des Legalismus stand und sich fast ausschließlich der juristischen Verteidigung und der Suche nach dem frommen Konsens der demokratischen öffentlichen Meinung widmete.

Das i-Tüpfelchen dieser Kampagne war die Kandidatur des „Illegalisten“ Valpreda auf den Listen des „Manifesto“, ein erfolgloser Versuch, da er nicht gewählt werden würde. Jeder, der von diesen legalistischen Pfaden abwich, wurde automatisch der Provokation bezichtigt und ideologisch gelyncht.

Außerhalb des „bel paese“ waren die Gefährten, die mit Pinelli und der „Croce Nera“6, den Jugendverbänden, der FIJL, der Grupo Primero de Mayo und dem englischen Black Cross zusammengearbeitet hatten, verwirrt und fassungslos. Die Nachrichten, die sie aus Italien erhielten, waren widersprüchlich, die italienische Bewegung war der Jagd nach EIngeschleusten (Infiltrierte) völlig ausgeliefert, es schien, dass man niemandem trauen konnte, panische, italienische Anarchisten sahen an jeder Ecke Geheimagenten und Provokationen. Ein deutliches Beispiel für diese verallgemeinerte und ansteckende Paranoia liefert Octavio Alberola, einer der Gründer der Gruppe Primero de Mayo, der in dem 1975 zusammen mit Ariane Gransac geschriebenen Buch „El anarquismo español y la acción revolucionaria, 1961-1974“, als er beginnt, die Aktionen jener Jahre aufzuzählen, damit aufhört, zu gestehen, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt wegen der Provokationen und abgekarteten Spielchen, die im Lande stattfanden, nicht mehr auspacken wird, was die Aktionen jener Zeit nicht sehr glaubwürdig machte. Alberolas Zweifel sind bezeichnend für die Verwirrung und Panik, die in den italienischen anarchistischen Kreisen herrschte, die größtenteils unvorbereitet auf diese tragischen Ereignisse waren und es nicht schafften, eine kollektive Antwort zu finden, die so aggressiv war wie die Gewalt und Repression, die sie getroffen hatte. Zu diesem Zeitpunkt übertrug die italienische Bewegung nur Entmutigung, Opferhaltung und Zweifel auf die anderen europäischen Länder, obwohl solide Kontakte zwischen französischen, spanischen, schweizerischen, englischen und italienischen Jugendföderationen geknüpft worden waren, die bereits erste konkrete Früchte trugen, unter anderem indem sie die alten Immobilisten des europäischen Anarchismus in Bedrängnis brachten, die FAIsta Montseny7 zum Beispiel unternahm große Anstrengungen, diese neuen Gärungen einzudämmen.

Am 9. September 1970 zündeten die Jugendföderationen und der Grupo Primero de Mayo im Gedenken an ihren Gefährten Pinelli gleichzeitig in Paris, London, Manchester und Birmingham Sprengsätze gegen italienische Repräsentationsgebäude. Es war die einzige Aktion von Bedeutung, die in Europa für Pinelli durchgeführt wurde. Die Verantwortung für diese spärliche revolutionäre Solidarität lag in der legalistischen Verteidigungslinie, die die Gefährten in Italien verfolgten.

Wer sich außerhalb Italiens an Valpreda erinnern wollte, musste bis Februar 1972 warten, als aus Solidarität mit ihm eine Bombe in der italienischen Botschaft in Brüssel explodierte. In Italien war es nicht viel anders; es gab nur wenige relevante Aktionen als Reaktion auf die Ereignisse auf der Piazza Fontana, die über die Wege des symbolischen zivilen Protests hinausgingen.

Wenige, aber bedeutsame Aktionen: Am 17. Mai 1972 wurde Kommissar Calabresi, der Hauptverantwortliche für den Tod Pinellis, von Unbekannten neben seinem Haus ermordet. Auch dieser Fall löste die Empörung eines Teils der Bewegung aus: Unglaublicherweise schrien auch viele Anarchisten, darunter Valpreda, empört auf. In Ermangelung einer verantwortlichen Person, die sie verleumden konnten, richteten sie sich gegen die Aktion und schimpften über „Verschwörungen“ und ein Phantomnutzen seitens der Machthaber, um einen unbequemen Zeugen zu beseitigen. Rückhaltlose Versuche wurden unternommen, um eine vorbildliche, klare, chirurgische Aktion zu verunglimpfen.

Die Verunglimpfungsaktion schlug fehl, die ganze Bewegung wurde wachgerüttelt, Lotta Continua verherrlichte die rächende Geste, und Jahrzehnte später sollten einige ihrer ehemaligen Militanten für ihren alten Enthusiasmus mit Gefängnis bezahlen. Von diesem Datum an begannen für die Historiker die sogenannten „bleiernen Jahre“. Genau ein Jahr später, am 17. Mai 1973, kurz nach der Enthüllung einer Gedenktafel für Calabresi vor dem Mailänder Polizeipräsidium, warf der individualistische Anarchist Gianfranco Bertoli eine Handgranate und hinterließ mehrere Tote und Verletzte.

Der gefangen genommene Gefährte behauptete stolz, ein individualistischer Anarchist zu sein und erklärte seine Geste als Rache für den Mord an Pinelli: Von der gesamten anarchistischen Bewegung öffentlich gelyncht, wurde er von den guten Seelen der „Revolution“ sofort als Faschist im Sold der „abtrünnigen“ Geheimdienste abgetan.

Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der anarchistische Kreis Ponte della Ghisolfa in Mailand, der sich zwar von der „verrückten“ (sic.) Geste distanzierte, ihn aber als einen Gefährten anerkannte, der zwar im Unrecht war, aber immer noch ein Gefährte. Viele Jahre später änderten sie ihre Meinung, nachdem sie von einem demokratischen Richter überzeugt worden waren, aber das ist eine andere Geschichte, eine sehr unangenehme, die ich nicht erzählen möchte, eine hässliche Geschichte, die aus Instrumentalisierung und politischer Zweckmäßigkeit besteht8.

Zum Schluss möchte ich eine Überlegung anstellen: Meiner Meinung nach wird die tiefe Bedeutung jener Jahre für die Anarchisten sehr gut durch die gegensätzlichen und verzerrten Lesarten erfasst, die die Bewegung selbst von den beiden, meiner Meinung nach, emblematischsten Figuren jener Zeit, Pinelli und Bertoli, Opfer und Henker, gemacht hat:

Pinelli: Märtyrer der Anarchie, guter Familienvater, Arbeiter, bewusster Proletarier, überzeugter Gewaltloser.

Bertoli: Faschist, Verrückter, Provokateur, Geheimdienstler, zugedröhnter Unterproletarier, gewalttätig, Dieb.

Es war nicht die bourgeoise Presse, die sie auf diese Weise darstellte, sondern unsere eigenen Zeitungen, in erster Linie „Umanità Nova“. Diese beiden Masken erzählen uns viel darüber, was aus der italienischen anarchistischen Bewegung nach der Panik, die auf den Bombenanschlag auf der Piazza Fontana folgte, geworden war. Sie erzählen uns vom Niedergang, vom Rückzug angesichts der Repression. Wir werden für diese Ängste, diesen Mangel an Mut, mit einer Stagnation bezahlen, die lange anhalten wird. Du fragst dich vielleicht, warum diese alten Geschichten wieder aufkochen? Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir bestimmte Knoten der Vergangenheit nicht lösen, Gefahr laufen, immer wieder in dieselben Fehler zu verfallen.

Ich bin sogar noch mehr davon überzeugt, dass die Reaktion auf Repression das wichtigste Feld ist, auf dem jede revolutionäre Bewegung ihr wichtigstes Spiel spielt, nämlich das ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Allzu oft wurde auf repressive Maßnahmen ausschließlich mit dem Gang vor die Gerichte reagiert, indem man nur Erfindungen rief, die eigene Unschuld beteuerte und die Gerichte um Gerechtigkeit bat, indem man sich nur auf Anwälte verließ. Deshalb glaube ich, dass ein kritischer Rückblick auf unsere Geschichte uns helfen kann, diese Knoten zu entwirren und schneller voranzukommen. „Auf alten und schmutzigen Seiten kann nichts Neues und Schönes geschrieben werden“. CFF

Alfredo Cospito

Chronologie:

– 29. September 1962: Entführung des spanischen Vizekonsuls Isu Elias in Mailand. Anarchisten.

– 6. März 1963: Bombenanschläge auf das Büro der Fluggesellschaft Iberia und den spanischen Hochschulrat für wissenschaftliche Forschung in Rom sowie auf das Technologieministerium in Madrid, die CIL (Consejo Ibérico de Liberación) übernahm die Verantwortung. Anarchisten…

– 27. November 1964: Zwei Molotow-Cocktails zerstören das Priesterseminar von Opus Dei in Rom. Anarchisten.

– 17. Dezember 1964: Brandbomben im Vatikan und in der Päpstlichen Universität. Anarchisten.

– 2. Januar 1965: Bombenanschlag auf das spanische Konsulat in Neapel. Anarchisten.

– 25. April 1965: Bombenanschlag in den Büros der spanischen Fluggesellschaft Iberia in Mailand. Anarchisten.

– 31. April 1966: Entführung von Monsignore Ussia. Grupo Primero de Mayo, Sacco y Vanzetti.

– 26. Mai 1968: Brandbombenanschlag auf ein Citroen-Autohaus in Mailand. Gruppo Anarchico Internazionale.

– 16. Juni 1968: Brandbombenanschlag auf die Bank von Italien in Mailand, unterzeichnet mit „Anarchisten“.

– 23. Juli 1968: Brandanschlag auf die Ambrosianische Bibliothek in Mailand. Anarchisten.

– 20. August 1968: Bombenanschlag auf den Palazzo del Cinema in Venedig, die Gruppo Anarchico M. Nettlau übernahm die Verantwortung.

– 23. August 1968: Nicht explodierte Bomben in den Kirchen Duomo, San Babila und Sant’Ambrogio, von „Anarchisten“.

– 25. August 1968: Bombe in einem Geschäftssitz in Mailand. Anarchisten.

-31. August 1968: Gescheiterter Brandanschlag in La Rinascente, die Gruppo Anarchico Ravachol übernahm die Verantwortung.

– 4. September 1968: Während der internationalen anarchistischen Konferenz in Carrara wird das Internationale Schwarze Kreuz (Anarchist Black Cross) gegründet, Giuseppe Pinelli übernimmt die Verantwortung für die italienische Sektion.

– 3. Dezember 1968: Bombenanschlag auf das Gemeindebüro in Genua, die Gruppo Anarchico Carlo Cafiero übernahm die Verantwortung.

– 23. und 24. Dezember 1968: Zweiter Bombenanschlag in Mailand auf La Rinascente, die Gruppo Anarchico Ravachol übernahm die Verantwortung.

– 25. Dezember 1968: Bombenanschlag mit Dynamit auf den Gerichtshof von Livorno, die Gruppo Anarchico Giustizia del Popolo übernahm die Verantwortung.

– 3. Januar 1969: Bombenanschlag auf den NATO-Stützpunkt Camp Darby in Pisa, die Gruppo Anarchico J. Most übernahm die Verantwortung.

– 12. November 1967: Rom, Bombenanschlag auf die venezolanische Botschaft in Mailand, Bombenanschlag auf das spanische Tourismusbüro zur gleichen Zeit wie weitere Anschläge in Genf und Bonn, zu denen Grupo Primero de Mayo und die Movimiento de Solidaridad Revolucionaria Internacional (Internationale Revolutionäre Solidaritätsbewegung) die Verantwortung übernehmen.

– 3. März 1968: Turin, Bombenanschlag auf das amerikanische Konsulat, gleichzeitig weitere Anschläge in Den Haag und London, zu denen Grupo Primero de Mayo und die Movimiento de Solidaridad Revolucionaria Internacional die Verantwortung übernehmen.

– 19. Januar 1969: Bombenanschlag auf die Mailänder Polizeiwache. Anarchisten.

– 26. Januar 1969: Bombenanschlag in Mailand auf das Spanische Tourismusbüro, die Gruppo Anarchico Barcellona 39 übernahm die Verantwortung.

– Januar 1969: Bombenanschlag in Turin vor der Kirche S. Cristina, die Gruppo Azione Diretta übernahm die Verantwortung.

– 8. März 1969: Bombenanschlag in Vercelli auf eine Polizeistation, Anarchisten werden verhaftet.

– 27. März 1969: Rom, Sprengstoffanschlag auf das Ministero Pubblica Istruzione, die Internazionale Anarchica Gruppo Marius Jacob übernahm die Verantwortung.

– 31. März 1969: Rom, Dynamitanschlag im Palazzo di Giustizia, die Internazionale Anarchica Gruppo Marius Jacob übernahm die Verantwortung.

– 3. April 1969: Turin, Bombenanschlag auf Denkmal für den Carabiniere, unterzeichnet Anarchisten.

– 25. April 1969: Mailand, Bombenanschläge auf den Fiat-Stand und die Fiera delle Esposizioni sowie auf die Wechselstube des Hauptbahnhofs.

– 1,2,3. Mai 1969: Mailänd, Verhaftung der Anarchisten Paolo Faccioli, Paolo Braschi, Ivo Della Savia (untergetaucht), Eliane Vincileone, Giovanni Corradini: alle werden der Bombenanschläge vom 25. April beschuldigt.

– 7. Dezember 1969: Corradini und Vincileone werden freigelassen.

– 12. Dezember 1969: Massaker auf der Plaza Fontana.

– 15. Dezember 1969: Ermordung von Pinelli.


1Das Geburtsdatum der Grupo Primero de Mayo geht auf den 1. Mai 1966 zurück, als Monsignore Marcos Ussia in Rom entführt wurde. Es waren die Journalisten, die die Gruppe auf diese Weise „tauften“. Diejenigen, die die Entführung mit Unterstützung einiger italienischer Anarchisten organisierten, waren Militante der FIJL und der CNT, unter ihnen Octavio Alberola, einer der besten Köpfe der DI (Defensa Interior), einem Organ, das die iberische Freiheitsbewegung (die FAI, CNT und FIJL vereinte) gegründet hatte, um den Franquismus mit der Waffe zu bekämpfen. Nach der Auflösung der DI aufgrund der internen Sabotage durch die Strömung der „Immobilisten“ der FAI und der CNT blieb nur noch die FIJL übrig, um den Franquismus mit der Waffe zu bekämpfen. Die Grupo Primero de Mayo war eines der Instrumente des Anarchismus, um den Kampf fortzusetzen.

2Die FIJL (Iberische Föderation der Libertären Jugend) wurde 1932 als anarchistische Jugendorganisation gegründet, und Tausende ihrer Militanten nahmen am spanischen Bürgerkrieg von 1936 teil. Im anschließenden antifranquistischen Widerstand wurde sie zum wichtigsten Zweig des Anarchismus.

3Der Anarchist Gianfranco Bertoli warf am 17. Mai (dem Tag des Gedenkens an die Ermordung von Kommissar Calabresi mit der Enthüllung einer Gedenktafel im Hof der Mailänder Polizeiwache in der Via Fatebene fratelli) eine Handbombe gegen die Tür der Polizeiwache, die nach Bertolis Aussage durch den Tritt eines Polizisten abgelenkt wurde und vier Menschen das Leben kostete. Seine Absicht war es, die anwesenden Behörden zu treffen, um Pinellis Tod zu rächen.

Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und nach 21 Jahren in halber Freiheit freigelassen. Zeit seines Lebens hat er seinen anarchistischen Individualismus und die Beweggründe für seine Geste bekräftigt und die von der Justiz, den Medien und der anarchistischen Bewegung selbst erhobenen Vorwürfe, ein von den Geheimdiensten gesteuerter Faschist zu sein, zurückgewiesen.

4In Italien waren es vor der BR die Anarchisten, die die Entführung von Menschen als politisches Druckmittel einsetzten. Am 29. September 1962 entführten einige junge Anarchisten auf eher improvisierte Weise den spanischen Vizekonsul Isu Elias in Mailand, um die Umwandlung des Todesurteils gegen einen ihrer Gefährten von der FIJL zu fordern, der zur Garrotte verurteilt worden war. Das Ziel wurde erreicht: Das Leben des jungen Anarchisten wurde gerettet. Am 1. Mai 1966 wurde der spanische Botschaftsberater in Rom, monseñor Marcos Ussia, gekidnappt (siehe Anmerkung 1).

5Eliane Vincileone und Giovanni Corradini, die Herausgeber von „Materialismo e Libertà“, einer „Zeitschrift für libertäre Aktionen und Studien“, die 1963 erschien und von der nur drei Ausgaben veröffentlicht wurden. Beide hatten internationale Kontakte zur FIJL und anderen anarchistischen Militanten. Sie wurden wegen der Bombenanschläge auf der Feria de Muestras am 25. April verhaftet und am 7. Dezember aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.

Das Paar war mit dem Verleger Giangiacomo Feltrinelli befreundet, und ihr Name taucht immer häufiger in den Ermittlungs- und Informationsakten jener Jahre auf. Vincileone wurde mit anderen Anarchisten in der Mailänder Polizeiwache festgehalten, als Pinelli ermordet wurde.

6Das Croce Nera Anarchica [Schwarzes Kreuz der Anarchisten – Anarchist Black Cross] wurde in Italien, in Mailand, in den ersten Monaten des Jahres 1969 geboren, auch dank der föderierten anarchistischen Gruppen. Es hatte das Ziel, anarchistische Gefangene zu unterstützen. Einer der wichtigsten Förderer der Initiative war Giuseppe Pinelli. Die italienische Sektion gab ein Bulletin heraus, von dem zwischen Juni 1969 und April 1971 neun Ausgaben erschienen.

7 Federica Montseny (1905, Madrid -1994 Toulouse) begann ihre Militanz in der CNT mit ihren Eltern, katalanischen Anarchisten, die 1898 die Zeitschrift „La Revista Blanca“ gegründet hatten.

1936 war sie im comité regional de la CNT (Regionalkomitee der CNT) und im comité peninsular de la Federación Anarquista Ibérica (Halbinselkomitee der Iberischen Anarchistischen Föderation) tätig und arbeitete an der Ausarbeitung eines anarchistisch-kommunistischen Programms mit. Nach dem Ausbruch der Revolution im Juli 1936 beteiligte er sich an den Kämpfen gegen die Putschisten von Francisco Franco. Am 4. November 1936 wurde sie für die CNT eine der vier Minister in der neuen Regierung unter Largo Caballero: Juan García Oliver für Justiz, Juan Peiró für Industrie, Juan López Sánchez für Handel und Montseny Minister für Gesundheit.

Am Ende der Revolution wurde sie zusammen mit ihrem Gefährten Germinal Esgleas ins französische Exil gezwungen. Von der Vichy-Regierung verhaftet und wieder freigelassen, gelang es ihr, der Auslieferung nach Spanien zu entgehen, und sie wurde zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der CNT im Exil und der „immobilistischen“ Strömung der iberischen Anarchisten.

8Zu diesem Thema siehe CARTEGGIO 1998-2000 di Gianfranco Bertoli Alfredo M. Bonanno, 2003, Edizioni Anarchismo.

<https://www.edizionianarchismo.net/library/alfredo-m-bonanno-gianfranco-bertoli-carteggio-1998-2000>

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