Ein Text von Miguel Amorós der wichtige Kritik aufwirft, ein Text der sich lohnt zu diskutieren, auch wenn man nicht einverstanden ist, wie es auch bei uns der Fall ist, zumindest bei einigen seiner Schlussfolgerungen.
Auf a las barricadas gefunden, die Übersetzung ist von uns.
Was ist Anarchismus? Von Miquel Amorós
Ist es eine Doktrin, eine Ideologie, eine Methode, ein Zweig des Sozialismus, eine Verhaltensweise, eine politische Theorie? Die Antwort ist im Prinzip einfach: Anarchismus ist das, was Anarchisten denken und tun, und im Allgemeinen diejenigen, die sich als Feinde jeglicher Autorität und Auferlegung definieren. Diejenigen, die auf unterschiedlichen Wegen, von denen viele wirklich antagonistisch sind, „Anarchie“ anstreben, d. h. eine Gesellschaft ohne Regierung, eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die autoritären Neigungen fremd ist. Anarchismus wäre nichts anderes als der Weg zur Verwirklichung dieser Anarchie, die der Geograf Reclús als „höchster Ausdruck der Ordnung“ bezeichnete. Worin besteht er? Die Strategien zur Erreichung eines Ideals, das auf einer Negation basiert, von der es mehrere Versionen gibt, sind vielfältig und widersprüchlich, weshalb es zutreffender wäre, von Anarchismen zu sprechen, wie es beispielsweise Tomás Ibáñez tut. Wenn wir auch die aktuelle historisch-soziale Situation berücksichtigen, in der der Anarchismus keine große Rolle mehr spielt, sondern kaum noch ein Zeichen jugendlicher und halbakademischer Identität ist, das wenig mit glorreicheren vergangenen Epochen zu tun hat und vor jeder ernsthaften und objektiven Kritik geschützt ist, könnten die Definitionen ins Unendliche erweitert werden. Anarchismus wäre dann eine Art Sack voller unterschiedlicher Formeln, die als anarchistisch bezeichnet werden. Die Türen stehen für jede Art von Abweichung offen, sei es reformistisch, individualistisch, katholisch, kommunistisch, nationalistisch, kontemplativ, mystisch, verschwörerisch, avantgardistisch usw. Was die gutmütige Verwirrung in libertären Kreisen betrifft, die mit einer solchen Vielfalt einhergeht, könnten wir zu dem gleichen Schluss kommen wie der Autor oder die Autoren des Pamphlets „Über das Elend im Studentenmilieu“ (1966) über die Komponenten der Fédération Anarchiste: „Diese Leute dulden tatsächlich alles, da sie sich untereinander dulden.“ Die Aussichten sind nicht vielversprechend, denn heutzutage hängt das Verständnis sozialer Phänomene und der sie begleitenden Ideologien in hohem Maße davon ab, dass man über sie richtig nachdenkt, d. h. aus der Perspektive des historischen Wissens. Auch heute mangelt es dem Anarchismus nicht an ehrlichen und kompetenten Intellektuellen, die dieser Aufgabe gewachsen sind. Das häufigste Merkmal des postmodernen Anarchismus, der sich im postfaktischen Raum bewegt und Kohärenz ablehnt, ist jedoch die Ablehnung solchen Wissens. Darüber hinaus muss nach dieser Art von Anarchismus von der Gegenwart aus in die Vergangenheit eingegriffen werden, als eine Fundgrube ästhetischer Ressourcen, im Einklang mit den spielerischen Normen, der Transgender-Grammatik und den gastronomischen Gewohnheiten, die von der Mode auferlegt werden. Engagement ist zudem ephemer. Kurz gesagt, hier haben wir es mit Anarchismus zu tun, der mit Ausnahme einiger weniger gewerkschaftlicher/syndikalistischer Gruppen bewusst auf ein Phänomen der Buchmesse reduziert wird. Wir, die wir in die entgegengesetzte Richtung gehen, werden versuchen, dieses ständige Streben nach einer sozialen Organisation ohne Regierung und damit ohne Staat, ohne separate Autorität zu erklären, indem wir uns auf seine Ursprünge beziehen, wo auch immer sie zu finden sind, in den radikalen Sektoren der populären Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Continue reading →