Der Aufstand in Kronstadt III

Berkman, der bolschwistische Mythos, S. 319.

„Grau sind die vorübergehenden Tage. Einer nach dem anderen ist die Glut der Hoffnung ausgestorben. Terror und Despotismus haben das Leben, das im Oktober geboren wurde, zerschlagen …. Die Diktatur trampelt die Massen unter Stiefeln. Die Revolution ist tot; ihr Geist weint in der Wildnis …. 
Ich habe mich entschieden, Russland zu verlassen.“

Alexander Berkman – Kronstadt: Die Pariser Kommune Rußlands!
I.

Die bürgerlichen Regierungen und der Kapitalismus sind die ausgesprochenen Feinde jeder revolutionären Bewegung. Als solche haben die Arbeiter sie erkannt; als solche führten sie den Kampf gegen beide. So wußten z.B. die Pariser Kommunarden sehr wohl, daß sie von den militaristischen Gewalthabern, gegen welche sie sich erhoben hatten, weder Gerechtigkeit noch Gnade erwarten durften. Aber daß eine politische Partei, die sich selbst als revolutionär bezeichnet, daß eine Regierung, die es wagt, im Namen des Proletariats zu sprechen, den Schrei desselben Proletariats nach Gerechtigkeit und Freiheit in einem Meer von Blut ersticken sollte, – dies ist das gewaltigste Verbrechen, der heimtückischste Verrat, den die Geschichte bisher gesehen hat. Und daß die Verüber dieser Schändlichkeiten es wagen durften, diesen heroischen Versuch des Volkes für die Erringung sozialer Gerechtigkeit als Gegenrevolution anzuschwärzen und zu denunzieren, ist ein zu furchtbares Verbrechen, als daß es die Menschheit je vergeben könnte.

Ich spreche von Kronstadt. Kronstadt war in der Tat die Pariser Kommune Rußlands. Der Kreml spielte die Rolle von Versailles. Lenin war ihr Thiers; Trotzki ihr Gallifet.

Es war im Jahre 1921. Der Krieg war zu Ende, und das Volk, das solange gelitten hatte, hoffte nun, daß die Bolschewiki ihr System der Unterdrückung und des Terrors abbauen und den befreiten Kräften der Massen erlauben würden, mit der wirtschaftlichen Rekonstruktion des Landes zu beginnen. Die Arbeiter trugen noch immer das Verlangen, sich genossenschaftlich zu vereinigen, um ihre Initiative und ihre schöpferischen Fähigkeiten für den Aufbau des ruinierten Landes einzusetzen. Vergebliche Hoffnung! Die Bolschewiki setzten ihre Politik der Unterdrückung und des Terrors ruhig weiter fort, wie vorher. Die letzte Hoffnung des Proletariats erstarb: Die Arbeiter erkannten, daß der kommunistische Staat mehr auf die Erhaltung der politischen Macht, als auf die Rettung der Revolution erpicht war.

Die Arbeiter Petrograds, das revolutionärste Element Rußlands, waren die ersten, die offen aussprachen, was war. Die Zentralisierungsmanie, die Unfähigkeit und Korruption der Bolschewiki und ihr autokratisches Benehmen den Bauern und Arbeitern gegenüber, haben mehr wie irgendeine andere Ursache das furchtbare Elend und die schauerlichen Leiden des Volkes verschuldet. Viele Fabriken und Spinnereien in Petrograd wurden geschlossen. Die Arbeiter starben buchstäblich vor Hunger. Die Petrograder Proletarier beriefen Versammlungen ein, um zu beraten, wie man der unerträglichen Lage begegnen könne. Diese Versammlungen wurden von der Regierung unterdrückt. Die Empörung der Arbeiter gegen solche Methoden begann zu wachsen. Mehr Versammlungen wurden einberufen mit demselben Resultat. Die Bolschewiki verweigerten jedes Zugeständnis an das Proletariat, während sie in derselben Zeit mit dem internationalen Kapitalismus jeden Kompromiß abschlossen. Die Arbeiter gerieten in Erregung. Um die Regierung zu zwingen, ihre Forderungen anzuhören, erklärten sie den Streik in den großen Fabriken und Spinnereien Trubetzkoi, Patronni, Baltiski und Laferm. Anstatt nun mit den Arbeitern über die in Frage kommenden Punkte eine Aussprache zu haben, organisierte die Regierung ein militärisches Verteidigungskomitee (Komitet Oborony ) mit Sinowjew, dem bestgehaßten Mann in ganz Petrograd als Präsidenten an der Spitze.

Die Aufgabe dieses sogenannten Verteidigungskomitees war, die Unzufriedenheit des Proletariats zu dämpfen. Es war am 24. Februar, als die oben erwähnten Streiks erklärt wurden. Am selben Morgen sandten die Bolschewiki die „Kursanti“ der militaristischen Kadettenschule, alle Kommunisten, um die Ansammlung der Arbeiter in Wassilewski Ostrow, dem proletarischen Viertel Petrograds, zu zerstreuen. Am 23. Februar machten die vergewaltigten Arbeiter von Wassilewski Ostrow den Werktstätten der Admiralität und den Galernaja Docks einen Besuch, um ihre dort beschäftigten Kameraden zu veranlassen, sich ihrem Protest gegen die Brutalität der sogenannten „Arbeiter- und Bauernregierung“ anzuschließen. Die projektierte Straßendemonstration der Streiker wurde von bewaffneten Soldaten auseinandergetrieben.

Am 26. Februar, in der Sitzung des Petrograder Sowjets, klagte Laschewitsch, ein Mitglied des Verteidigungskomitees und gleichzeitig Mitglied des Revolutionären Militär-Sowjets der Republik, die streikenden Arbeiter öffentlich an und forderte, daß die Fabrik Trubetzkoi geschlossen werde. Das Exekutivkomitee des Sowjets – Sinowjew und andere – sahen diesen Vorschlag an, und so wurden die Arbeiter ausgesperrt, aller ihrer Rationen beraubt und buchstäblich auf die Straße geworfen, um dort zu verhungern.

Diese despotischen Methoden erbitterten die Arbeiter und brachten sie mächtig gegen die Regierung auf. Doch die Bolschewiki hatten indessen starke Truppenteile aus der Provinz und aus den zuverlässigsten Regimentern von der Front in Petrograd zusammengezogen, und die Arbeiterunruhen wurden mit eiserner Hand unterdrückt.
II.

Die Ereignisse in Petrograd hatten die Seeleute in Kronstadt stark alarmiert. Sie schickten ein Komitee nach Petrograd, um die Lage dortselbst zu untersuchen und gaben diesem die folgende Botschaft an die Arbeiter mit auf den Weg: „Wenn ihr wirklich Gegenrevolutionäre seid, wie die Bolschewiki behaupten, so sind wir gegen euch: doch falls eure Forderungen gerecht sind, erklären wir uns solidarisch mit euch!“

Am 1. März 1921 fand im Jakorni Square in Kronstadt eine öffentliche Volksversammung statt, die offiziell von der ersten und zweiten Brigade der Linienschiffe der Baltischen Flotte einberufen wurde. 16.000 Matrosen, Soldaten der Roten Armee und Arbeiter wohnten der Versammlung bei. Den Vorsitz führte der Präsident des Exekutivkomitees des Kronstädter Sowjets, der Kommunist Wassiljeff. Der Präsident der R.S.F.S.R., Kalinin und der Oberkommissar der Baltischen Flotte, Kusin, waren beide anwesend. Als Beweis für die freundliche Gesinnung, welche die Matrosen der bolschewistischen Regierung entgegenbrachten, sei hier noch erwähnt, daß Kalinin bei seiner Ankunft in Kronstadt mit militärischen Ehren, Musik und Fahnen begrüßt wurde.

Die Kommission, die nach Petrograd entsandt worden war, gab ihren Bericht ab. Er bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der Kronstädter. Die Versammlung geriet in Empörung, als ihr berichtet wurde, wie die bolschewistische Regierung die bescheidenen Forderungen der Petrograder Arbeiter mit blutigem Terrorismus niederschlug. Darauf wurde die seitdem berühmt gewordene Resolution angenommen, deren wichtigste Forderungen die folgenden waren:

„In Anbetracht, daß die jetzigen Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum Ausdruck bringen, fordern wir sofortige Neuwahlen mit geheimer Abstimmung; Freiheit der Rede, und der Presse für Arbeiter und Bauern, für die Anarchisten und für die linksgerichteten sozialistischen Parteien;

Befreiung aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien, ebenso der Arbeiter, Bauern, Rotgardisten und Matrosen, die anläßlich der Arbeiter- und Bauernbewegung gefangen gesetzt wurden.“

Die Versammlung nahm diese Resolution einstimmig an, gegen die nur Kalinin und Wassiljeff Einspruch erhoben. Auch sandte sie eine Kommission an die Arbeiter von Petrograd, um mit ihnen zwecks gemeinschaftlicher Forderungen von Petrograd und Kronstadt eine Verständigung herbeizuführen. Diese Kommission, die aus dreißig Mitgliedern bestand, wurde von den Bolschewiki verhaftet, sobald sie die Stadt betrat. Dies war der erste Schlag, den die Regierung den Seeleuten von Kronstadt versetzte. Das Schicksal der Kommissionsmitglieder blieb in Dunkel gehüllt.

Am Morgen des 2. März, d.h. am Tage nach der Versammlung in Kronstadt, gab der kommunistische Staat einen Prikas (Befehl) heraus, der von Lenin und Trotzki unterzeichnet war. Man stellte die Kronstädter Bewegung als eine bewaffnete Erhebung (Mjatosch) gegen die bolschewistische Regierung hin, und sofort begann in allen Ländern ein infamer Kriegszug der Lüge und Verleumdung gegen die revolutionären Matrosen von Kronstadt, die man als Konterrevolutionäre brandmarkte. Was dann folgte, ist allgemein bekannt. Kronstadt wurde als geächtet erklärt. In der Sprache der Kreml`schen Diktatur meinte das, daß Kronstadt zur Ausrottung verurteilt war.

Die bolschewistische Regierung setzte den 7. März fest, an dem Kronstadt von Artillerie beschossen werden sollte. Die Sache erschien so monströs, so unglaublich, daß selbst viele Kommunisten nicht an eine solche Möglichkeit glauben wollten. Allein Trotzki hatte den Einwohnern von Kronstadt bereits verkünden lassen: „Ich werde euch wie die Fasane niederknallen!“

Es war am 6. März. Eine kleine Gruppe von Anarchisten machte einen letzten Versuch, die Bolschewiki zur Vernunft zu bringen. Ich war in jener Zeit in sehr freundlichen Beziehungen mit Sinowjew und erachtete es als meine Pflicht, die ich der Revolution gegenüber hatte, einen letzten, wenn auch fruchtlosen Versuch zu machen, um die drohende Massakrierung der revolutionären Blüte Rußlands, der Matrosen und Arbeiter von Kronstadt, zu verhindern. Zusammen mit mehreren Kameraden schrieb ich eine Protesterklärung an den Verteidigungsausschuß, in dem ich die friedlichen Absichten und die gerechten Forderungen der Kronstädter Matrosen auseinandersetzte, Sinowjew an ihre wunderbare revolutionäre Vergangenheit erinnerte und vorschlug, die strittigen Punkte in einer Weise zu erledigen, wie sie unter Kameraden und Revolutionären angebracht erscheint.

Dieses Dokument wurde Sinowjew übergeben. Ich weiß nicht, ob der Verteidigungsausschuß eine Stellung dazu nahm oder nicht, ich weiß nur eins – daß es ignoriert wurde. Einige Zeit später fragte mich Sinowjew in einem persönlichen Gespräch, ob ich selbst bereit gewesen wäre, einer Kommission anzugehören, die Dinge in Kronstadt zu schlichten, wie wir in unserem Proteste vorgeschlagen hatten. – „Ich wäre glücklich gewesen, wenn es mir vergönnt gewesen wäre“, antwortete ich, „umso mehr als die Matrosen von Kronstadt und die Arbeiter von Petrograd es gewesen sind, die mir durch ihre Demonstrationen gegen den amerikanischen Gesandten Francis das Leben retteten, als Californien meine Auslieferung auf Grund der Mooney-Aftare verlangte.“ – Sinowjew wurde bleich. Meine Worte erinnerten ihn wohl an die Zeit, da die Arbeiter von Petrograd auch ihn vor den Krallen Kerenskis gerettet hatten. Und jetzt – jetzt war er ihr Henker geworden.

Um 6.45 Uhr, am Abend des 7. März, grollte das Echo des schweren Arilleriefeuers durch die Straßen von Petrograd. Trotzki hatte Kronstadt angegriffen. Die Bolschewisten feuerten den ersten Schuß ab und schrieben damit die schwärzeste Seite in der Geschichte ihrer Herrschaft.

Zehn blutige Tage und der Kampf war zu Ende. Am 18. März feierten die Bolschewiki das Andenken der Pariser Kommune und in derselben Zeit – O Ironie der Hölle – ihren Sieg über Kronstadt. Über 14.000 Leichen waren das Ergebnis dieses „Sieges“. Und die Geschichte schrieb quer über den Namen der Kommunistischen Partei Rußlands die Worte: Der Judas der Revolution.

Stockholm, im März 1922

Alexander Berkman

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