(Spanien) Das Coronavirus als Kriegserklärung

Aus dem Buch vor kurzem erschienen Buch „Coronavirus. Crisis y confinamiento – [Lazo Ediciones. Rosario. Lazo Negro. 2020] VV.AA.“, die Übersetzung ist von uns.

Das Coronavirus als Kriegserklärung

Santiago López Petit 19. März 2020 Barcelona

Morgens wasche ich mir gründlich die Hände. Auf diese Weise gelingt es mir, die Augen zu vergessen, die mir die Polizei in Chile, Frankreich oder im Irak ausgerissen hat. Bevor ich esse, wasche ich mir noch einmal die Hände mit einem guten Desinfektionsmittel, um die in Lesbos eingepferchten Migranten zu vergessen. Und nachts wasche ich wieder meine Hände, um zu vergessen, dass im Jemen alle zehn Minuten ein Kind an den Bombenangriffen und am Hunger stirbt. Damit ich schlafen kann. Ich weiß nur nicht mehr, warum ich mir so oft die Hände wasche oder wann ich damit angefangen habe. Radio und Fernsehen bestehen darauf, dass dies eine Maßnahme des Selbstschutzes sei. Indem ich mich selbst schütze, schütze ich andere. Durch das Fenster kommt die Stille der verlassenen Straße. Alles, was unmöglich und unvorstellbar schien, geschieht gerade jetzt. Schulen werden geschlossen, es ist verboten, ohne guten Grund die Wohnung zu verlassen, ganze Länder werden isoliert. Der Alltag ist wie weggeblasen, und es bleibt nur noch Zeit zum Warten. Es war schön, gestern Abend den Applaus zu hören, den die Menschen den medizinischen Fachkräften von ihren Balkonen aus spendeten.

Wir bleiben eingeschlossen in einer großen Fiktion mit dem Ziel, unser Leben zu retten. Sie wird als totale Mobilisierung bezeichnet, und paradoxerweise ist ihre extreme Form die Einsperrung. „Der größte Beitrag, den wir leisten können, ist folgender: Kommt nicht zusammen, verursacht kein Chaos“, sagte ein wichtiger Führer der Kommunistischen Partei Chinas. Und ein mosso1, der gestern Igualada beobachtete, fügte hinzu: „Denken Sie daran, dass Sie, wenn Sie die Stadt betreten, nicht wieder hinausgehen können“, während er zu einem Gefährten sagte: „Angst erreicht, was niemand sonst erreicht“. Aber Menschen sterben, nicht wahr? Ja, das tun sie. Es kommt jedoch vor, dass die derzeitige Naturalisierung des Todes das kritische Denken zunichte macht. Einige Verblendete glauben sogar, dass wir von derselben Macht, die den Alarmzustand ausruft, beschworen werden: „Wir werden diesen Virus gemeinsam stoppen“. Aber nur diejenigen, die dringend Geld brauchen, gehen zur Arbeit und entblößen sich in der U-Bahn. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Krankheiten, und diese Krankheiten sagen die Wahrheit über diese Gesellschaft. Die Wechselbeziehung zwischen der kapitalistischen Agrarindustrie und der Ätiologie der jüngsten Epidemien ist nur allzu bekannt: Der entlaufene Kapitalismus produziert den Virus, den er später wieder verwendet, um uns zu kontrollieren. Die Nebenwirkungen (Entpolitisierung, Umstrukturierung, Entlassungen, Todesfälle usw.) sind für die Verhängung eines standardisierten Ausnahmezustands unerlässlich. Der Kapitalismus ist mörderisch, und diese Behauptung ist nicht die Folge einer konspirativen Behauptung. Es ist einfach eine Frage der Betriebslogik. Drohnen und Polizeikontrollen auf den Straßen. Die militarisierte Sprache erinnert an Handbücher zur Aufstandsbekämpfung: „In der modernen Kriegsführung ist der Feind schwer zu definieren. Die Grenze zwischen Freunden und Feinden findet sich innerhalb der Nation selbst, in derselben Stadt und manchmal auch innerhalb derselben Familie“ (Biblioteca del Ejército de Colombia, Bogotá, 1963). Denken Sie daran: Der beste Impfstoff ist man selbst. Dieser Zufall ist nicht verwunderlich, denn die totale Mobilisierung ist vor allem ein Krieg, und der beste Krieg – weil er unsichtbar bleibt – ist der, der im Namen des Lebens geführt wird. Hier ist die Täuschung. Wenn die Mobilisierung als Krieg gegen die Bevölkerung eingesetzt wird, dann deshalb, weil ihr einziges Ziel darin besteht, den Algorithmus des Lebens zu retten, was natürlich nichts mit unserem persönlichen und irreduziblen Leben zu tun hat, das wenig zählt. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes hat alles an seinen Platz gesetzt: Sie hat Ressourcen verteilt, Preise und Gewinne bestimmt. Es war erniedrigend. Jetzt ist es Leben, aber Leben verstanden als ein Algorithmus aus geordneten Sequenzen von logischen Schritten, der für die Organisation der Gesellschaft zuständig ist. Die Fähigkeiten, die erforderlich sind, um zu arbeiten, zu lernen und ein guter Bürger zu sein, wurden vereinheitlicht. Das ist die wirkliche Enge, in der wir gefangen sind. Wir sind Terminals des Algorithmus des Lebens, der die Welt organisiert. Diese Gefangenschaft ermöglicht die Grosse Gefangenschaft der Bevölkerungen, die bereits in China, Italien usw. stattfindet und die nach und nach aufgrund ihrer unkontrollierbaren Natur zur Gewohnheit werden wird. Die Regierung stellt sich neu auf, und die politische Entscheidung tritt wieder in den Vordergrund. Der Neoliberalismus zieht unverhohlen das Gewand des Kriegszustands an. Das Kapital fürchtet sich. Unsicherheit und Ungewissheit stellen die Notwendigkeit des Staates selbst in Frage. Das dunkle und paroxysmale Leben, das in seiner Ambivalenz unberechenbar ist, entzieht sich dem Algorithmus.

1A.d.Ü., Mossos d´esquadra ist eine Polizeieinheit die nur im Katalonien zuständig ist.

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