Cajo Brendel – Lenin als Stratege der bürgerlichen Revolution

Cajo Brendel – Lenin als Stratege der bürgerlichen Revolution

Kritik des Bolschewismus anhand einer Analyse von Lenins Schrift über die sogenannte „Linke Kinderkrankheit“

I.

Die verhältnismäßig kleine Schrift von Lenin über den „linken Radikalismus“ als „die Kinderkrankheit im Kommunismus“1 nimmt einen – auf den ersten Blick merkwürdigen, bei näherer Betrachtung gar nicht so überraschenden – Sonderplatz in seinem ganzen Schrifttum ein. Viele Jahre hindurch wurde sie, namentlich in den westeuropäischen Ländern, häufiger zitiert und eifriger studiert und diskutiert als jedes andere Leninbuch. Zudem wurde sie auch heftiger angegriffen.Sie war weder die erste Arbeit Lenins, die außerhalb Rußlands eine Kritik am Bolschewismus auslöste, noch die letzte. Jedoch war sie diejenige, welche den größten Widerhall fand und das natürlich keineswegs zufällig, sondern aus bestimmten historischen und politischen, das heißt also gesellschaftlichen Gründen.

Lenin griff, als er sie schrieb, nicht in russische Fragen ein, sondern in solche, die damals in Westeuropa auf der Tagesordnung standen. Was er unternahm, war ein Versuch, die Strategie und Taktik der bolschewistischen Revolution als grundlegend für den proletarischen Klassenkampf im Kapitalismus darzustellen. Damit wurde praktisch eine Frage aufgerollt, die theoretisch schon um 15 Jahre früher eine Rolle gespielt hatte, als Rosa Luxemburg 1904 in den Spalten der „Iskra“ und der „Neuen Zeit“ das Leninsche Organisationsprinzip kritisierte2.

Worum es sich 1920 handelte war jene niemals mehr von der Bildfläche verschwundene Frage, inwiefern die russische Revolution „internationale Bedeutung“ habe.

„Ich spreche hier von internationaler Bedeutung nicht im weiten Sinne des Wortes: im Sinne der Einwirkung unserer Revolution auf alle Länder sind nicht einige, sondern alle ihre Grundzüge und viele ihrer sekundären Züge von internationaler Bedeutung. Nein, ich spreche davon im engsten Sinne des Wortes, d.h., versteht man unter internationaler Bedeutung, daß das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird, so muß man einigen Grundzügen unserer Revolution eine solche Bedeutung anerkennen.“

Gerade so formulierte es Lenin selbst buchstäblich gleich am Anfang seiner Schrift (S. 393). Die Absichten, welche er beim Schreiben vor Augen hatte, waren damit aufs genaueste präzisiert. Seine Schrift sollte – wie die meisten seiner Publikationen – einen handgreiflichen Zweck erfüllen, einem Bedürfnis entgegenkommen, das vom faktischen, durch ihre Klassenlage bedingten Verhalten der westeuropäischen Arbeiter wachgerufen wurde. Deren Praxis vertrug sich schlecht mit den taktischen Schemata des Bolschewismus. Sie ließ bei westeuropäischen Marxisten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser Schemata aufkommen3. Schon tauchte dahinter die Frage auf, ob denn die bolschewistischen, Ansprüche auf die Führung der „Weltrevolution“ – ob man sie nun in „nicht ferner Zukunft“ (Lenin, S. 394) zu erwarten habe, oder nicht – wirklich berechtigt seien.

Lenin machte es sich zur Aufgabe, jene Zweifel zu zerstören. Das Ergebnis seiner Bemühungen war gerade das Gegenteil. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift brach in den Kreisen der europäischen Linken die Kritik am Bolschewismus – so dürftig sie damals auch nur sein konnte – erst recht los. Als Gorter die Schrift als einer der ersten angriff, warf er Lenin vor, er habe mit ihr – allerdings für Westeuropa – „sein erstes schlechtes Buch“ geschrieben4.

In seiner Gegenschrift verwirft Gorter die Leninsche Strategie deshalb, weil sie für die westeuropäischen Verhältnisse ungeeignet sei, keineswegs den Forderungen der westeuropäischen Praxis im allgemeinen, der deutschen Revolution insbesondere, entgegenkomme, von falschen Prämissen ausgehe und sodann zu unrichtigen Schlußfolgerungen gelange. Seine ganze Gegenargumentation basierte Gorter auf die damalige Lage, auf die vorhandene Situation. Lenin, so könnte man Gorters Standpunkt zusammenfassen, schätze sie falsch ein, weil er eine falsche, eine russische Brille aufgesetzt habe. Mit diesem Prädikat „russisch“ gab sich Gorter einstweilen zufrieden. An die Frage, was das denn eigentlich für eine Brille sei, kam er 1920 kaum heran.

Otto Rühle, auch einer von Lenins damaligen linken Gegnern, ging bedeutend weiter, als er sich fast zwanzig Jahre später abermals mit der Leninschen Schrift über die „Kinderkrankheit“ beschäftigte.

An der Leninschen Arbeit rügt er nicht nur die praktischen Ratschläge und die empfohlene Taktik – die sich später tatsächlich als völlig untauglich erwiesen hat – sondern auch die von Lenin angewandte Methode. Er wirft Lenin einen Mangel an Dialektik vor, eine Unfähigkeit, „Dinge und Prozesse in ihren historischen Zusammenhänge und in ihrer dialektischen Bedingtheit zu sehen“, eine Unfähigkeit „bürgerliche und proletarische Revolution als zwei historisch völlig verschiedene Kategorien auseinanderzuhalten.“

Nichtsdestoweniger schreibt Rühle in Bezug auf unseren Gegenstand: „So löst sich die Polemik Lenins in eitel Dunst auf. Seine Schimpferei und Polterei hat keinerlei Bezug zur Wirklichkeit. Er rennt gegen politische Gegner an, die nur in seinen Halluzinationen existieren. Er macht sich lächerlich durch einen Kampf gegen Windmühlen.5

Uns interessiert hier weniger die – schon längst entschiedene – Frage, ob Lenin damals die westeuropäischen Verhältnisse richtig eingeschätzt hat, als jene, wie er zu seiner Einschätzung gekommen ist, worauf sie eigentlich basierte. Nicht daß er eine andere Sprache führte als seine Opponenten – wie diese selbst schon festgestellt haben – ist für uns der Angelpunkt, sondern die Frage weshalb, und die worin denn der Unterschied bestanden hat. Nicht darum, ob er sich „lächerlich“ gemacht hat oder ob er „einen Kampf gegen Windmühlen“ führte, handelt es sich für uns, sondern darum, was seine Schrift bedeutet, was sie ist! Nicht – was an und für sich natürlich durchaus berechtigt wäre – von der damaligen Lage aus wollen wir sie beurteilen. Es geht uns um ihren theoretischen Gehalt. Daß Lenins Schrift der Kritik der Tatsachen erlag, ist selbstverständlich wichtig, aber leicht zu konstatieren. Es besagt jedoch weder, wie es dazu kommen mußte, noch was bei dieser tödlichen Kritik der Tatsachen wesentlich sich abgespielt hat und auf dem Spiele stand.

II.

Nach Georg Lukács6 hat Lenin „niemals örtlich oder zeitlich beschränkte, lokalrussische Erfahrungen verallgemeinert. Er hat aber“, so fährt Lukács fort, „mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeltpunkt seiner ersten Wirksamkeit das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle Erscheinungen, sowohl die russischen wie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht.“

Was die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit der Behauptung im ersten Satz dieser Stelle angeht – sie wird sich im Verlauf unserer Darlegungen genügend zeigen. Es ist uns hier um deren zweiten Teil zu tun, wo von der herannahenden Revolution als Grundproblem unserer Zeit die Rede ist, und woran unmittelbar auffällt, daß dort die Frage nach dem sozialen Charakter, nach dem sozialen inhalt dieser Revolution überhaupt nicht gestellt wird. Sie ist offenbar für Lukács gleich unbedeutend wie für Lenin selbst. Dennoch kommt dem zitierten Passus jeweils eine ganz andere Bedeutung zu, je nachdem, ob er sich auf eine Revolution dieses oder jenes Typus bezieht. Auch darauf kommen wir näher zurück. Wir möchten hier erst, und zwar anhand der Schrift, die uns beschäftigt, ein Beispiel dafür bringen, daß Lenin – trotz gelegentlicher Trennung derselben – die sozialen Merkmale ganz verschiedener Revolutionen kunterbunt durcheinanderwirft. Man findet es gleich im ersten Kapitel, und zwar dort, wo er (S.395) voller Begeisterung einen Aufsatz zitiert, den Karl Kautsky am 10.März 1902 in der russischen revolutionären Zeitung „Iskra“ unter dem Titel „Die Slawen und die Revolution“ publizierte.

Kautsky vertritt in den von Lenin angeführten Stellen die Ansicht, daß „der Schwerpunkt des revolutionären Denkens und Wirkens (sich) immer mehr nach den Slawen zu (verschiebe). Das revolutionäre Zentrum“, schreibt er, „wandert von West nach Ost. in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war es in Frankreich, zeitweise in England, 1848 trat auch Deutschland in die Reihe der revolutionären Nationen ein … Das neue Jahrhundert jedoch beginnt unter Erscheinungen, die den Gedanken nahe legen, daß wir einer weiteren Verschiebung des revolutionären Zentrums entgegengehen, und zwar einer Verschiebung nach Rußland hin … Rußland, das so viele revolutionäre Anregungen von dem Westen empfangen, ist vielleicht jetzt daran, auch seinerseits revolutionäre Anregungen zu geben.“ (S.394)

Das Kautsky-Zitat nimmt bei Lenin etwa 3 mal so viel Raum ein wie hier bei uns. Er führt es fort bis zu einem fast rührenden poetischen Schluß, in dem Kautsky die Slawen des Jahres 1846 vergleicht mit „einem eisigen Frost, der die Blüten des Völkerfrühlings tötete“, sodann aber die Hoffnung äußert, „es sei ihnen vielleicht beschieden, nun zum Föhnsturm zu werden, der das Eis der Reaktion zum Bersten bringt“ (S.395).

Für unsere Zwecke brauchen wir das alles nicht zu wiederholen. Zum Kerngedanken wird da weiter nichts hinzugefügt. Also können wir uns auf das Obige beschränken, das wir – einschließlich der von Lenin vorgenommenen Kürzungen – genau so wiedergegeben haben, wie man es in seiner Schrift findet. Lenin sagt dazu (S.394), Kautsky habe vorausgesehen, „daß eine Situation eintreten könne, in welcher der Revolutionismus des russischen Proletariats zum Vorbild für Westeuropa werden würde.“ Inwiefern das zutrifft, können wir, gerade der Kürzungen wegen, nicht beurteilen. Jedenfalls ist davon in dem Zitat, so wie es von Lenin gebracht wird, keine Rede, auch nicht in dem weiteren Teil, den wir vernachlässigt haben. Von den Slawen spricht Kautsky, oder von den russischen Revolutionären, nicht vom Proletariat oder von irgendeiner anderen Klasse.

Wovon die Rede ist, ist ganz etwas anderes als das, was Lenin da hineininterpretiert. Was ist das für ein revolutionäres Denken, für ein revolutionäres Wirken, dessen Schwerpunkt sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Frankreich befand, im Jahre 1848 in Deutschland? Damals erlebten die genannten Staaten entweder die Vollendung, oder – wie Deutschland – den Auftakt ihrer bürgerlichen Revolution. Was Kautsky behauptet, oder was jedenfalls Lenin ihn behaupten läßt, läuft darauf hin aus, daß die bügerlich-demokratische Revolution, welche die fortschrittlichen Länder im Westen (der Reihenfolge ihres gesellschaftlichen Fortschritts nach) im 19.Jahrhundert schon hinter sich oder begonnen hatten, nun auch im politisch zurück gebliebenen Rußland auf der Tagesordnung stehe. Darauf allein beschränkt sich die ganze Auffassung der „Verschiebung des revolutionären Zentrums“.

Lenin hätte den „Marxisten“ Kautsky7 fragen sollen, wie es denn eigentlich um den Klassencharakter der russischen Revolution bestellt sei, den Rosa Luxemburg sofort in den Vordergrund gerückt hat, als sie denselben Entwicklungsprozeß schilderte8. Lenin, falls er Kautsky dahingehend verstanden hätte, daß dieser vom proletarischen Charakter der russischen Revolution überzeugt sei, hätte Kautsky darauf aufmerksam machen können, daß es sich sodann doch wohl weniger um eine „Verschiebung“ des bürgerlich-demokratischen Sturmzentrums, als um die Entstehung eines neuen handele. Aber nichts davon!

Lenin hat die Schwäche Kautskys nicht durchschaut. Er übersieht ganz und gar die Leere von dessen Darlegung – die nur eine Binsenweisheit im scheinbar originellen Gewande enthält – und weiß nichts besseres als, entzückt von der Tatsache, daß von einem Abendländer die „revolutionäre Quelle“ Rußlands entdeckt wird, begeistert auszurufen: „Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren!“ (S. 395).

Das bewußte Kautsky-Zitat, bemerkten wir schon, ist bei Lenin nicht wenig ausführlich. Es füllt in seiner Schrift genau ein Drittel jenes ersten Kapitels aus, in dem dargelegt werden soll, daß die russische Revolution das Vorbild aller übrigen herannahenden Revolutionen der Weit sei. Von irgendeiner Beweisführung dieser These, die eben von den linken Kritikern des Bolschewismus bestritten wurde, und die also bei der Diskussion untermauert werden sollte, gibt es bei Lenin keine Spur.

Er behauptet bloß, versteht den eigentlichen Inhalt jener Kritik so wenig, daß er ganz unsachlich mit einen Seitenhieb gegen eine Broschüre des Österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer losschlägt, die mit dem Standpunkt der radikalen europäischen Linken nichts zu tun hat, um sodann – wie ein Gaukler ein Kaninchen aus einem Zylinderhut hervorzaubert – gleich den Kautsky heraufzubeschwören. Das ist alles! Daß es recht wenig ist, geht daraus hervor, daß jenes Kautsky-Zitat alles andere als Belege für Lenins Behauptung bringt. Im Gegenteil: nicht von Rußland als Vorbild der übrigen Länder wird dort gesprochen, sondern von einem europäischen Vorbild (aus dem Jahre 1848 oder sogar noch früher!), dem – „weil sich das revolutionäre Zentrum verschiebt“ – endlich mal in Rußland nachgefolgt wird.

Die Grundfrage, um die es sich handelt – die Frage, ob die Zweifel an der Allgemeingültigkeit der bolschewistischen Revolutionsschemata berechtigt seien oder nicht; eine Frage, die über die Wichtigkeit aller übrigen zur Diskussion stehenden Fragen entscheidet und die Lösung dieser Fragen nichts weniger als vorbedingt – wird von Lenin einfach umgangen.

Mit Recht hat er sie – aber bloß im Titel – in seinem ersten Kapitel aufgeworfen. Wenn Rußland 1917 tatsächlich das Vorbild anderer Länder gewesen wäre, dann hätte es selbstverständlich einen Zweck, genau die verschiedenen Etappen des russischen Revolutionsprozesses zu verfolgen, genau jene Methoden zu beachten, welche den russischen Bolschewisten den Sieg brachten. Und so weiter, und so weiter! Mit Unrecht aber wird gerade diese Grundfrage von Lenin nicht behandelt, geschweige denn gelöst.

Mit Unrecht, aber nicht mit Unlogik. Was sich hier auf den ersten Blick als polemische Taschenspielerei auftut, ist in Wahrheit nichts anderes als Lenins Unfähigkeit, die „Revolution schlechthin“ von der Revolution eines bestimmten sozialen Typus zu unterscheiden. Er befindet sich da ganz in der Fußspur Kautskys, der gleichfalls, wo er über seine „Verschiebung des revolutionären Zentrums“ faselt – nur von der Revolution schlechthin spricht.

Es kann natürlich nicht geleugnet werden, daß Lenin – gelegentlich, wie wir schon sagten – vom Unterschied der proletarischen von der bürgerlichen Revolution geredet hat. In seiner Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ z.B. zeigt er sich vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution (im Gegensatz zu einem proletarischen Charakter) „unbedingt“ überzeugt. Er fügt hinzu, „daß diejenigen demokratischen Umwandlungen in der politischen Ordnung und diejenigen sozialökonomischen Umwandlungen, die für Rußland unabwendbar geworden sind … zum ersten Male die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse möglich machen werden“9. An einer an deren Stelle korrigiert er sich dahingehend, daß „der Sieg der bürgerlichen Revolution in Rußland unmöglich ist als Sieg der Bourgeoisie“ und daß dieser Umstand und andere Umstände „ihr einen besonderen Charakter verleihen“, der aber „den bürgerlichen Charakter der Revolution nicht beseitigt“10. Somit hat Lenin den eigentümlichen Charakter der russischen Revolution äußerst scharf erblickt. Er weiß ganz genau, daß sie, die da heraufsteigt, sich trotz ihrer Eigentümlichkeit von einer proletarischen unterscheidet. Aber formelles Wissen und praktisches Kennen ist nicht dasselbe.

In Westeuropa fußt das Wissen von den Bedingungen des proletarischen Befreiungskampfes auf der täglichen Kenntnis und Erfahrung eines klar sichtbaren gesellschaftlichen Gegensatzes innerhalb einer gegebenen, vollentwickelten Produktionsweise, bei welcher die Warenform das allgemeine Muster aller sozialen Verhältnisse, das heißt; aller menschlichen Beziehungen, geworden ist. Bei Lenin nicht, und zwar deshalb nicht, weil der kapitalistische Produktionsprozeß in Rußland noch nicht der vorherrschende geworden, weil das russische Proletariat – so kämpferisch es aus politischen Gründen auch auftrat – erst im Werden begriffen, sein Los noch nicht das allgemeine Los, weil der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit noch keineswegs das allgemeine, alle übrigen Verhältnisse durchdringende Merkmal der russischen Gesellschaft geworden ist.

Wenn Lenin, trotz seines Wissens um jene Unterschiede, welche das gesellschaftliche Handeln und Auftreten der Arbeiter und der Bürger kennzeichnen, nichtsdestoweniger das Proletariat mit der revolutionären Demokratie verwechselt11, wenn er die Ereignisse von 1905 als eine „wirkliche Volksrevolution“ bezeichnet12, wenn er sämtliche Werktätige, einschließlich jener, die nicht zur Arbeiterklasse gehören, auf den gemeinsamen Nenner des Volkes bringt13, wenn er in einer Rede zum 4. Jahrestag der Oktoberumwälzung die russische Revolution eine proletarische heißt14, obwohl er an einem früheren Zeltpunkt schon hatte anerkennen müssen, daß auf den Staatskapitalismus losgesteuert wurde – dann deutet das auf eine Hilflosigkeit hin, die eben jene Schwäche, die wir in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ festgestellt haben, in ein grelles Licht setzt.

Lenin vertuscht, ohne es selbst zu ahnen, jene klare Trennung von proletarischen und bürgerlichen Interessen, die sich im Westen begrifflich durchsetzt, nachdem sie sich als praktische Erfahrung durchgesetzt hat, das heißt; nachdem der sich breit entfaltende Kapitalismus allen vor- oder frühkapitalistischen Illusionen über die Einheit des Volkes oder eine Volksrevolution den Garaus gemacht bat.

Lenin handelt natürlich, um mal mit Hegel zu reden, als Sohn seiner Zeit, dessen Philosophie seine Zeit in Gedanken erfaßt. Aber nicht nur das. Zudem handelt er auch als Sohn Rußlands, der gedanklich die kommende russische Revolution vorwegnimmt. Wenn Lukács behauptet, „in der Leninschen Konzeption vom Charakter der russischen Revolution (kehre) der alte Gedanke der Narodniki dialektisch verwandelt wieder“15, dann hat er gewissermaßen recht. Jedoch nicht in dem Sinne, daß – wie er schreibt – „der unklare und abstrakte Begriff des ‚Volkes‘ beseitigt werden (mußte) …, um aus dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution den revolutionär differenzierten Begriff des Volkes, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten entstehen zu lassen.“ Jener „revolutionär differenzierte Begriff des ‚Volkes‘ von dem hier Lukács spricht, war nichts anderes als eine eng-russische Variante des „unklaren“, deren Notwendigkeit dadurch hervorgerufen wurde, daß aus dem Begriff des „Volkes“, wie ihn die Narodniki verstanden, die bürgerliche Klasse auszuscheiden hatte aufgrund jener Eigentümlichkeit der russischen bürgerlichen Revolution, die Lenin klar erkannt hatte.

Was übrigblieb, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten, war genau eingestellt auf die Forderungen der russischen Verhältnisse, war deren theoretischer Ausdruck, hatte aber mit dem Marxismus als dem theoretischen Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes (vgl. Fußnote 3) nichts zu tun. Das „revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten“, das später in Gestalt der „Smytschka“, des Klassenbündnisses zwischen Arbeitern und Bauern verabsolutiert wurde, ist eine Bedingung der bürgerlichen, nicht aber der proletarischen Revolution. Im Kapitalismus gibt es nicht jene Mannigfaltigkeit von unterdrückten Klassen, denen man in vorkapitalistischen oder frühkapitalistischen Verhältnissen begegnet. Die Bauern werden kapitalistische Unternehmer; was man als die „Dorfarmut“ bezeichnen könnte, wird von dar technischen Agrarentwicklung ins Proletariat gedrängt; der Kleinbetrieb weicht dem Druck neuer Formen der Distribution. Das gerade versucht die westeuropäische Linke Lenin vergeblich beizubringen, als die Diskussion um seine Schrift über die sogenannte „Kinderkrankheit“ aufflammte.

Die Leninsche Konzeption war also alles weniger als aus „dem konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution“ entstanden. Aber Rühle hatte natürlich Unrecht, als er der Haltung Lenins jeden Bezug zur Wirklichkeit absprach. Wenn sie schon keinen Bezug zur kapitalistischen Wirklichkeit Westeuropas hatte, zu der russischen umso mehr. Die Leninsche Konzeption vereinigte in sich die russische Vergangenheit und die russische Zukunft. Nicht ohne Grund hat der nichtbolschewistische Ökonom Boris Brutzkus, Lenin „den echten Nachfolger Stenka Razins“ genannt16. Mit Recht betrachteten sich die russischen Bolschewiki – wie auch Lukács bemerkt – als Erben der Narodniki. Gerade als solche aber waren sie den Fragen der proletarischen Revolution im Westen in keiner Weise gewachsen. Die Leninsche Schrift, die unseren Gegenstand bildet, trägt davon nicht nur im ersten Kapitel, sondern überall Spuren.

III.

Die bolschewistischen Anschauungen über die russische Revolution bildeten sich zu einer Zeit, da Rußland noch ein riesiges Agrarland war und die Morgenröte des Kapitalismus erst heran brach. Der wesentliche Charakter bestimmter, zur kapitalistischen Gesellschaft gehörender Erscheinungen war somit kaum sichtbar. Es fehlte die Erfahrung wiederholter Wirkungen auf sozialökonomischem Gebiete, anhand derer sich das menschliche Bewußtsein eine Einsicht in die Sozialgesetze der jungen Produktionsweise hätte bilden können. Im Westen war die Ökonomie als Wissenschaft nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt der bürgerlichen Verhältnisse. Die Kritik, die vom proletarischen Standpunkt an ihr geübt wurde – indem ihre Entwicklungstendenzen mit Hilfe einer materialistischen Dialektik, die als Methode wiederum erst innerhalb jener Verhältnisse entstehen konnte, aufgezeigt wurden – war erst bei einer gewissen Reife ihrer inneren Gegensätze möglich. In Rußland gab es keine bürgerlichen Verhältnisse. Damit fehlte zugleich die Voraussetzung für ein richtiges Verständnis von deren Sozialgesetzlichkeit17.

Zwar wurde, als der westeuropäische Marxismus als geistige Waffe im notwendigen Kampfe gegen die Vorstellungen des Narodnikentums Anwendung fand, mit ihm eine Philosophie der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze nach Rußland geholt. Aber mit ihm geschah, was manchmal in der Geschichte vorgeht, wenn eine nicht aus der örtlichen Wirklichkeit selbst entwickelte Theorie an diese Wirklichkeit herangetragen wird. Er wurde, infolge einer unabdingbaren „Versöhnung“ mit jener Wirklichkeit, teils durch ihm fremde Konstruktionen vergewaltigt, teils durch die Notwendigkeit, die Gedankenbestimmungen an die oberflächlichen, bloß empirischen Daseinsformen der historischen Wirklichkeit anzupassen und diese – infolge der Anpassung – zu Kategorien zu erheben, verabsolutiert.

Infolge dieser „Versöhnung“ kam es bei den russischen „Marxisten“ nicht zu einer wirklichen Überwindung jener primitiven, vorkapitalistischen, idealistischen, die herrschenden Verhältnisse abspiegelnden Anschauung, daß der revolutionäre Wille die wichtigste Voraussetzung für die Umänderung der Gesellschaft sei. Die unmittelbare Konsequenz dieser als Voluntarismus zu definierenden Tendenz ist die Ansicht, daß ein Mißlingen der herbeigesehnten sozialen und politischen Änderungen entweder einem Mangel an diesem Willen oder etwa einer von einem „bösen“ Willen hervorgerufenen Gegenwirkung zuzuschreiben wäre.

Hier hat man es mit einem charakteristischen Merkmal der bolschewistischen Gesellschaftsauffassung zu tun. Der Kulak, ein gewisser Spekulant, ein Privatkapitalist; Verräter, Konterrevolutionäre, Philister und Spießbürger, Reformisten oder Dummköpfe, Versöhnler oder Liquidatoren, Feinde oder selbstzufriedene Bürokraten, sind, wie es gerade den Bolschewiki in den Kram paßt, nach Belieben für bestimmte soziale Erscheinungen verantwortlich zu machen; nie werden diese Erscheinungen als das Ergebnis einer sozialgesetzlichen Entwicklung verstanden.

Zur Probe nehme man nur die Schrift über „die Kinderkrankheit“ in die Hand. Wenn Lenin dort auf die von der europäischen Linken kritisierten Gewerkschaften eingeht und auf ihre Bürokratie zu sprechen kommt, erklärt er diese Bürokratie nicht aus der gewerkschaftlichen Struktur, sondern er erklärt umgekehrt die gewerkschaftliche Praxis aus dem (schlechten) Charakter der Bürokraten. Jene Auffassung, daß die Gewerkschaften die Gewerkschaftler bilden, liegt ihm fern. Lenin faßt die reale Gestalt der Gewerkschaften nicht als ein Ergebnis der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft auf, sondern er glaubt allen Ernstes, sie sei vom „Willen“ der Gewerkschaftsführer gestaltet. Wenn da irgend etwas „nicht in Ordnung“ ist, das heißt, wenn der wirkliche Sachverhalt nicht mit dem Willen Lenins übereinstimmt, dann haben die Gewerkschaftsführer schuld: sie wollen „das Falsche“, weil sie „demoralisiert“ oder etwas noch schlimmeres sind (S.422).

Die europäische Linke gründete eine Kritik an den Gewerkschaften auf deren immanente Eigengesetzlichkeit als Organisation. Diese Kritik ging darauf hinaus, daß die Linke für – sich aufgrund der gewerkschaftlichen Erfahrungen schon darbietende – andere Organisationsformen der Arbeiterschaft eintrat.

Lenin, der sich den (westeuropäischen) Gewerkschaften gegenüber durchaus nicht mit Wohlwollen verhält, versteht, aus den Gründen, die wir erörtert haben, von dieser Kritik kein Jota! Wo er über die Gewerkschaften im Westen, auf welche die Linke zur Begründung ihrer Auffassungen hinweist, spricht, da sagt er: „…dort hat sich eine viel stärkere Schicht einer beruflichen beschränkten, bornierten, selbstsüchtigen, verknöcherten, eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten und vom Imperialismus bestochenen, vom Imperialismus demoralisierten ‚Arbeiteraristokratie‘ herausgebildet als bei uns. Das ist unbestreitbar.“(S.422)

Bei Lenin also steht der frei nach eigenem Gutdünken (oder nach dem Gutdünken des ‚Imperialismus‘) handelnde Gewerkschaftsführer im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Ganz folgerichtig gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß der Kampf gegen diese schlechten Führer „rücksichtslos“ geführt werden solle bis zu ihrer „Vertreibung aus den Gewerkschaften“ (S.422). Macht man aber, wie es die von Lenin angegriffene marxistische Linke tat, den realen Sachverhalt durchaus nicht vom Willen schlechter oder tüchtiger Führer abhängig, so ist was er verlangt buchstäblich und figürlich ein „unmögliches“ Postulat.

Für Lenin handelt es sich darum, daß die Gewerkschaften in dem Moment „gewisse reaktionäre Züge zu offenbaren (begannen)“ „als die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier, die revolutionäre Partei des Proletariats (…) sich herauszubilden anfing“ (S.420). Ganz abgesehen davon, daß jene Partei, von der er hier spricht, die Partei nach bolschewistischem Muster, sich außerhalb Rußlands nirgendwo gebildet hatte, als jene Züge, die er da meint, hervortraten und somit schon aus diesem Grunde seine Auseinandersetzung der westeuropäischen Wirklichkeit einfach widerspricht, ist wiederum die ihr zugrundeliegende Methode charakteristisch.

Lenin erklärt die „reaktionären Züge“, die er wahrzunehmen glaubt, nicht aus dem Charakter der Gewerkschaften, sondern er erklärt umgekehrt den Charakter der Gewerkschaften aus ihren „reaktionären Zügen“; ein Verfahren, bei dem letztere eben völlig ungeklärt bleiben. Die Frage, ob es sich denn wirklich um „reaktionäre Züge“ handelt, oder ob die Gewerkschaften aufgrund ihrer Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (d.h. Verkauf der Ware Arbeitskraft nach ihrem jeweiligen Marktpreis18) als Institution die Fortbildung der kapitalistischen Produktionsweise sichern und deshalb, obgleich auf der anderen Seite der Barrikade, den Arbeitern gegenüberstehend, nichtsdestoweniger die herrschende Sozialordnung vervollkommnen, also dem historischen Fortschritt dienen – diese Frage liegt außerhalb von Lenins Blickfeld.

Daß die Gewerkschaftsbürokratie das regelrechte Gegenteil von „reaktionär“ sein, und trotzdem als Feind der kämpfenden Arbeiter sich verhalten kann, das ist eine Erfahrung, von der Lenin nichts weiß, weil er sie im Rahmen der russischen vor- oder frühkapitalistischen Verhältnisse noch nicht gemacht hat, weil gerade unter Voraussetzung der russischen Realität ein feindseliges Verhalten gegenüber den Arbeitern nur mit der Bezeichnung „reaktionär“ angedeutet werden kann, weil in Rußland ja die Arbeiterklasse als Vollstreckerin der bürgerlichen Revolution auftritt.

Hieraus ergibt sich, daß die marxistische Linke die Gewerkschaften ganz anders einschätzen mußte und tatsächlich auch anders einschätzte als Lenin; hieraus ergibt sich auch, weshalb Lenin ihre Einschätzung nicht verstehen konnte und sie als einen „Anti-Gewerkschaftsstandpunkt“ auffaßte, ein Ausdruck, dessen sich die hervorragendsten Theoretiker der damaligen Linken nicht bedienten und der ihre Auffassung ebenso unrichtig wiedergibt wie die Leninsche Behauptung, die Linke fürchte die reaktionären Züge der Gewerkschaften (S. 421)19.

Lenins Kritik an der Gewerkschaftsbewegung ist charakterisiert durch ein naives, instinktmäßiges revolutionäres Gefühl, aus dem man zwar einen tiefen Haß gegen den Kapitalismus folgern kann, nicht aber ableiten kann, daß er den wirklichen Charakter der bürgerlichen Einrichtungen verstehe. Anstatt deren Gesetze, werden von ihm bloß Fallstricke und Korruptionsquellen wahrgenommen.

Lenin, der – wie soeben dargelegt – an die empirischen Daseinsformen, in diesem Falle der Gewerkschaften, wie sie sich in Rußland darbieten, anknüpft und sie verabsolutiert, steht weit entfernt von jenem Gesichtspunkt, unter dem die historische Beschränktheit der Gewerkschaften in den Vordergrund gerückt wird, unter dem die Relativität ihrer Funktion betont wird, unter dem ihr doppelter Charakter – natürliche Organisation der sich eben bildenden Arbeiterklasse im Frühkapitalismus und Zwinger dieser Klasse im Hoch- oder Spätkapitalismus – nachgewiesen wird.

Rühle hatte natürlich vollkommen recht, als er in Bezug auf die Meinungsverschiedenheiten in der Gewerkschaftsfrage Lenin wegen Mangel an dialektischem Denken kritisierte. Wo Rühle aber schreibt, daß „Lenin absolut nicht begreifen wollte, um was es ging“20, da hätte er besser bemerkt, daß Lenin es nicht begreifen konnte. Zudem geht Otto Rühle unserer Meinung nach auf die falsche, das heißt auf die Leninsche Fährte, indem er in fast denselben Worten, derer sich sein Gegner bediente, die Gewerkschaftsbürokratie als „eine Korruptionsgilde, ein Gangsterführertum“, die „besonders während der deutschen Revolution auf Kosten der Massen ihre moderne Piraterie trieb“ bezeichnete.

Selbstverständlich urteilen wir über Gewerkschaftsführer wie damals Carl Legion und Theodor Leipart, in unseren Tagen Tarnow, Richter oder der vor kurzem verstorbene Otto Brenner, gleich ungünstig wie Rühle, aber darum gebt es eben nicht. Es geht darum, daß nicht nur völlig korrumpierte, sondern auch scheinbar „anständige“, gewissermaßen radikale, grundsatztreue oder „oppositionelle“ Gewerkschaften unter demselben Gestirn, das heißt unter demselben Entwicklungsgesetz antreten, und daß auch letztere aus diesem Grunde eines gewissen Tages gegen die Arbeiter vorgehen müssen, auch wenn ihre „ehrlichen“ und „aufrichtigen“ Führer das in ihrer keuschen Unschuld nicht glauben wollen.

Wo Lenin auf seine Weise vom Gangstertum der Gewerkschaftsführer redet, – da ruft ihm Rühle zu: „Na, siehst du?“, anstatt gerade an dieser zwar verständlichen, aber völlig unsachlichen „Kritik“ die methodologische Schwäche Lenins aufzudecken.

IV.

Alles was wir bis jetzt in Bezug auf Lenins Stellung zur Gewerkschaftsfrage und zu den Gewerkschaften selbst gesagt haben, trifft in fast gleicher Weise auf seine Stellung zur Frage des Parlamentarismus zu. Nicht vom Standpunkt der westeuropäischen Arbeiterklasse tritt er an sie heran, sondern von jener Position aus, die sich der russische Bolschewismus zu Anfang unseres Jahrhunderts mittels einer Analyse der Bedingungen und Voraussetzungen der kommenden russischen Revolution erobert hatte.

Der Unterschied kommt ihm gar nicht zu Bewußtsein und konnte von ihm auch nicht zu Bewußtsein kommen. Ein anderer Ausgangspunkt war ihn ebenso fremd wie eine reale Kenntnis jener Tatsache, die bei der Kontroverse mit der radikalen Linken im Hintergrund stand: des Funktionswechsels des Parlamentarismus innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.

Daß dies keine leere Behauptung ist, geht z.B. hervor aus einer Mitteilung von seiner Witwe. in zweiten Band ihrer „Erinnerungen“ erzählt sie, wie der damals (1908) in Genf lebende Lenin „in halb verwundertem, halb verächtlichem Ton“ die Worte eines Schweizer Abgeordneten wiederholte, der gesagt hatte, die seit Jahrhunderten bestehende Schweizer Republik könne „niemals eine Verletzung des Eigentumsrechts zulassen“. Für die (halbe) Verwunderung Lenins gab es einen guten Grund, der auch gleich von der Verfasserin erwähnt wird. „Kampf für die demokratische Republik“, so fügt sie hinzu, „war ein Punkt unseres damaligen Programms“21.

Die Bedeutung ist klar: Lenin hatte offenbar bis zu diesem Zeitpunkt eine naive Auffassung von der „demokratischen Republik“. Es wäre wohl nicht in Widerspruch mit den Tatsachen, wenn man behauptete, sie stimmte etwa mit den naiven Vorstellungen der bürgerlichen französischen und deutschen Revolutionäre des Jahres 1848 überein, mit jenen Vorstellungen also, die – mit Hinwels auf Lenin/Kautsky – vorherrschten in einer Umwälzung, deren Zentrum sich „ostwärts verschoben“ hatte.

Daß für Lenin, wie die „Neue Züricher Zeitung“ mal behauptete, „auch in der Schweiz die demokratischen Einrichtungen nur als Instrumente der sozialistischen Revolution von Bedeutung“ wären22, stimmt wohl, sollte aber anders verstanden werden, als es: dieses Prachtstück der bürgerlichen Schweizerischen Journalistik gemeint hat. Lenin konnte die demokratischen Einrichtungen nur aus der Perspektive der russischen – d.h. einer bürgerlichen Revolution „von besonderem Typus“ – verstehen und beurteilen.

Daß Lenin von da an die bürgerliche Republik mit anderen Augen betrachtet haben soll, wie die Krupskaja fortfährt, überzeugt uns wenig, am allerwenigsten wegen seiner Äußerungen in jener Schrift, die wir hier zu analysieren versuchen.

In seiner Antwort auf die europäische Linke hatte Lenin sich zu beschäftigen mit der Frage, ob der Parlamentarismus überholt sei oder nicht. Als das Problem unter anderem von dem zur Linken gehörenden holländischen Marxisten Anton Pannekoek aufgeworfen wurde, da geschah dies in einem sehr bestimmten Sinne, der von Lenin völlig übersehen wurde. Bei Pannekoek handelt es sich um die Frage, ob der sogenannte „revolutionäre Parlamentarismus“, der als Kampfmethode von der radikalen Sozialdemokratie befürwortet wurde, und den Pannekoek in einer bestimmten historischen Phase des Kapitalismus für richtig hält, noch einen Zweck hat in jener Periode, die am Ende des Ersten Weltkrieges angefangen hatte.

Dort wo Lenin darauf eingeht, wirft er – abermals – die Begriffe durcheinander, und es zeigt sich, daß er die Probleme völlig mißversteht. Nicht vom „revolutionären“, sondern von dem bürgerlichen Parlamentarismus, nicht von einer Kampfmethode, sondern von einer politischen Institution spricht Lenin bei seiner Widerlegung der linken Auffassungen. Manchmal bekommt man dabei den Eindruck, daß er vom bürgerlichen Parlamentarismus redet, daß jedoch das Parlament gemeint ist.

Lenin stellt die merkwürdige These auf, daß dieser bürgerliche Parlamentarismus historisch überholt sei, politisch aber nicht. „Historisch“, schreibt Lenin (S. 426), „ist die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus … beendet“. Das behauptet die Linke im Jahre 1920 bestimmt nicht. Sie sagt etwas anderes. Sie versucht darzulegen, daß der „revolutionäre Parlamentarismus“ als Taktik nicht mehr paßt in einer Periode, in der zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Klasse ganz andere Gegensätze in den Vordergrund treten als in der Vergangenheit, und in der ein ganz anderer Kampf als bis dahin auf der Tagesordnung steht.

Lenin richtet sich gegen diese Argumentation, ohne sie zu verstehen. Er spottet darüber, daß die Linke „Jede Rückkehr zu den … Kampfformen des Parlamentarismus … ablehnt“ (hier zitiert Lenin die Linke). Er nennt das „eine leere Phrase“ und fragt anläßlich dieses Wörtchens „Rückkehr“ ironisch, ob „es in Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik gibt?“. Wenn er schon bemerkt hat, daß vom „Parlamentarismus als Kampfform“ die Rede ist, so verwechselt er trotzdem diesen „Parlamentarismus als Kampfform“ mit dem Parlamentarismus oder mit dem Parlament „schlechthin“, genau so wie er gleich zu Anfang seiner Schrift die proletarische Revolution mit der Revolution schlechthin verwechselt hat, und zwar aus demselben Grunde:

Die Auffassungen der Linken fußen auf dem geänderten Charakter der Klassengegensätze und auf den geänderten Verhältnissen in der Gesellschaft. Die aber zieht Lenin gar nicht in Betracht. Er geht bloß davon aus, daß es ein Parlament gibt, und er schreibt diesem Parlament wesentlich einen absoluten und unabänderlichen Charakter zu, ohne als sogenannter Dialektiker auch nur mit der Wimper zu zucken. Er setzt weiter voraus, daß noch immer Millionen Proletarier „für den Parlamentarismus schlechthin eintreten“ (S.427).

Daß das für Deutschland 1919/1920 gar nicht zutrifft – Gorter hat es in seinem Offenen Brief betont – können wir hier bei Seite lassen. Für uns handelt es sich vor allem darum, daß Lenins Ansichten nicht darauf fußen, was die Arbeiter infolge ihrer Klassenlage im Klassenkampf zu tun gezwungen sind oder zu tun gezwungen sein werden. Er geht davon aus, was sie an Vorstellungen in ihrem Kopf haben, also nicht von dem, was sie tun müssen. sondern von ihrem Willen. Nicht die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung bilden Lenins Leitfaden, sondern die subjektiven Vorurteile der Individuen.

Vorurteile, Erwartungen, Hoffnungen oder Illusionen, sie bilden der Reihe nach für Lenin und seinesgleichen keine Folge jener Tatsache, daß die Ideen nun einmal hinter der sozialen Wirklichkeit zurückbleiben. Nichts findet sich bei ihm von der Auffassung, daß die Vorstellungen, welche die Menschen im Kopf haben, durch ihre Praxis, durch ihr soziales Handeln umgewälzt werden.

Im Gegenteil: es ist bei ihm gerade umgekehrt. Dasjenige, was er mit rein subjektiven Maßstab als „eine richtige Praxis“ begreift, erwartet er als Ergebnis des Verschwindens der Vorurteile und Illusionen. Und wo er von „Praxis“ redet, da meint er in den meisten Fällen nicht die Praxis der Massen, sondern die der Partei.

Nach Lenin soll die (bolschewistische) Partei, sich eine Vertrauensposition erwerben, eine derartige Position, daß sie stark genug sei, „um das bürgerliche Parlament … auseinanderzujagen“ (S.428). Diese Auffassung ist typisch für den Bolschewismus, der die proletarische Revolution als Staatsstreich versteht, nicht als Massenaktion, nicht als gesellschaftlichen Prozeß. Er inszeniert Revolutionen, denkt immerfort in Begriffen einer solchen Inszenierung, nicht in Begriffen des Klassenkampfes, deshalb, weil er die Traditionen bürgerlicher Umwälzungen weiterfuhrt.

Für Lenin ist ein solches Ende des Parlaments mittels einer von der Partei durchgeführten Art Staatsstreich gleichbedeutend mit den Ende des Parlamentarismus. Die Linke dagegen spricht über das Ende des Parlamentarismus als Kampfmethode, sobald jene Zeit hereinbricht, da die Massen selbst zu kämpfen anfangen. Die Linke betrachtet den autonomen Massenkampf als dasjenige, was die Massen von ihren Illusionen befreien wird, als das Merkmal der proletarischen Revolution im Unterschied zur bürgerlichen. Für die Linke gibt es keinen größeren Gegensatz als den zwischen diesem Kampf der Massen und dem sogenannten „Kampf“ der sogenannten „Führer“ im Parlament.

Für den autonomen Kampf der Proletariermassen bringt Lenin nicht das geringste Verständnis auf. Für ihn handelt es sich lediglich darum, „im reaktionären Parlament“ – der Ausdruck ist genauso bezeichnend wie jener der „reaktionären Gewerkschaftsbürokratie“ – über eine „gute Parlamentsfraktion …“ zu verfügen (S.434). Für ihn dreht sich die ganze Frage nicht um die sich ändernde Funktion des Parlaments in der sich ändernden Gesellschaft, sondern um die Gesinnung der Parlamentarier. Lenin glaubt, die Frage wäre gelöst, wenn auch hier „die schlechten Führer“ durch „gute und zuverlässige“ ersetzt wären. Er ist auch in Bezug auf diese Frage ganz und gar ein Voluntarist, dem es darum gebt, was die (parlamentarischen) Führer wollen, nicht was sie können.

Der Voluntarismus findet keine Stütze in der Marxschen materialistischen Dialektik. Die Frage ist also berechtigt, wie er Lenin immer wieder unterlaufen kann. Die Antwort ist, daß seine in marxistisches Gewand verkleidete Konzeption ein Produkt jener „Versöhnung“, jener „Vergewaltigung“ ist, auf die wir schon hingewiesen haben. Als Lenin, durch die Eigenart der russischen Verhältnisse dazu genötigt, an die Probleme der bürgerlichen Revolution mit Hilfe der Theorie der proletarischen Revolution heranging, da wurden zwar die Mysterien der ersteren aufgelöst, da wurde ihm aber zugleich letztere zum Mysterium.

Anders gesagt: der besondere Charakter der herannahenden Revolution in Rußland hat Lenin eine Rolle aufgezwungen, die rein äußerlich grundverschieden ist von jener, welche von früheren bürgerlichen Schauspielern auf der historischen Bühne vorgeführt wurde. Diese haben immer, eben wenn sie damit beschäftigt waren, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen in Epochen revolutionärer Krisen, zu ihrem Dienste ängstlich die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen. Ihnen entlehnten sie, zu ihrer Legitimation, Namen, Schlachtparole und Kostüme, und mit erborgter Sprache (des Alten Testaments, der Römischen Geschichte oder der Griechischen Städtedemokratie) schrieben sie alsdann das neue Kapitel der Weltgeschichte.

Lenin dagegen – der Dagewesenes schuf – führte nicht die Sprache der Vergangenheit, sondern bediente sich mutig jener der Zukunft, jedoch ohne sich ihren Geist aneignen zu können und ohne die ihm angestammte Sprache in ihr zu vergessen. Er hat die Sprache der Zukunft rückübersetzt – „angepaßt“ um den von Lukács gewählten Ausdruck zu benutzen – in jene, die ihm vertraut war. Das heißt soviel als daß bei allen seinen „Übersetzungen“ geschichtliche Täuschungen, an erster Stelle natürlich Selbsttäuschungen, herauskommen.

Rühle, der in Bezug auf die Frage des Parlamentarismus Lenins Schwächen viel schärfer hervorhebt als in Bezug auf die Gewerkschaftsfrage, schreibt mit Recht, daß für Lenin Parlament eben Parlament war … „sich immer gleich bei allen Völkern, in allen Zonen, zu allen Zeiten“ und daß er „immer das junge Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Aufschwungs dem alten Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Verfalls gegenüberstellt“, das aber bloß in seiner Polemik23. Wir haben dagegen nichts einzuwenden, möchten aber für unsere Zwecke noch etwas genauer präzisieren.

Nicht irgendein junges Parlament aus den bürgerlichen Flitterwochen wird immer von Lenin aufgeführt, sondern entweder die russische Reichsduma oder jene russische Konstituante, die Januar 1918 durch ein Dekret der bolschewistischen Exekutive aufgelöst wurde. Zwar gibt Lenin zu, daß „selbstverständlich … von einer Gleichsetzung der Verhältnisse in Rußland und der Verhältnisse in Westeuropa keine Rede sein (kann)“ (S.429). Aber im selben Atemzug erklärt er sodann, daß bei der Lösung der Parlamentarismusfrage doch ganz entschieden die russische Erfahrung in Betracht gezogen werden müsse. Denn, so Lenin, „der Satz: ‚Der Parlamentarismus ist politisch erledigt !‘ …“ und ähnliche Aussprüche „verwandeln sich allzu leicht in hohle Phrasen, wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird“ (S. 429).

Die Begründung ist wirklich köstlich. Als ob das kapitalistische Europa seine eigene konkrete Wirklichkeit eines Parlamentes im bürgerlich-revolutionären Sturme nicht schon längst hinter sich und daraus nicht seine Erfahrungen bezogen hätte, wird hier den Abendländern das Studium eines russischen Beispiels empfohlen, das – gerade seiner einzigartigen Umstände wegen – in die Probleme des proletarischen Klassenkampfes keinen tieferen Einblick gewährt.

Aber Lenin sieht das nicht und kann das nicht sehen, infolge jener „Übersetzungs- und Sprachschwierigkeiten“, jener geschichtlichen Täuschungen, die wir eben erwähnt haben. indem er die Schlachtparole einer künftigen Revolution für jene, die in Rußland auf der Tagesordnung steht, anwendet, ist er nunmehr außerstande, die spezifischen Probleme jener künftigen Revolution von denen der russischen Revolution zu unterscheiden. Nachdem er zuerst eine proletarische Theorie für die russische Praxis übersetzt hat, will er sodann ohne weiteres die russischen Erfahrungen übertragen auf die proletarische Praxis.

Natürlich ist namentlich die Geschichte mit der russischen Konstituante äußerst lehrreich. Die Forderung zu ihrer Einberufung im Programm der revolutionären russischen Sozialdemokratie war eine ganz logische, da es sich ja in Rußland um die bürgerliche Revolution handelte. Nicht weniger logisch war ihre Auflösung am 19.Januar 1918. Lenin hatte völlig Recht, als er in seinen „Thesen über die Konstituante“ feststellte, daß „es ein Mißverhältnis zwischen ihrer Zusammensetzung und dem Volkswillen geben mußte“24. Die Ursache war aber nicht, daß „in die Konstituante Parteien gewählt wurden, die sich schon bildeten zu einem Zeltpunkt, da die Bourgeoisie noch herrschte“, wie er schreibt, sondern das Fehlen einer wirklich bürgerlichen Herrschaft infolge des „besonderen“, auch von ihm nachdrücklich anerkannten, Charakters der russischen Revolution.

Nicht deshalb weil Menschewiki und Kadetten (Konstitutionelle Demokraten) in ihr vertreten waren, schwebte die Konstituante in der Luft, sondern weil es weder für sie, noch für diese Parteien einen wirklichen sozialen Boden gab. Der Umstand, daß die bürgerliche Revolution in Rußland gegen die Bourgeoisie und ohne sie vollzogen werden mußte, das beißt: die gesellschaftliche Schwäche jener Klasse, machte einfach die Errichtung ihrer traditionellen Institutionen zu einer Unmöglichkeit.

In der russischen bürgerlichen Revolution war ein Parlament also zum Scheitern verurteilt. Nicht die Bolschewiki haben das Todesurteil gefällt, um ihrer Monopolherrschaft den Weg zu bahnen; das Schicksal der Konstituante und der Weg, den die bolschewistische Partei zurückgelegt hat, wurden beide von sehr eigentümlichen Bedingungen vorgeschrieben, die erst anband der Praxis als Erfahrungstatsachen festgestellt werden mußten, ehe sie sich dem politischen Bewußtsein der unmittelbar Beteiligten als zwingend darstellten. Und auf das politische Bewußtsein kam es an, weil es sich um eine rein politische Frage handelte.

Die Auflösung der Konstituante hatte nichts zu tun mit einer Beseitigung bürgerlicher Herrschaftsformen infolge einer Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie stand nicht am Ende, sondern am Anfang einer kapitalistischen Entwicklung. Nicht von einer Aufhebung der Lohnarbeit war die Rede. Für sie und für eine kapitalistische Produktionsweise machte die russische Revolution gerade den Weg frei, wenn auch einen anderen Weg, als er im Westen gegangen worden war. Das russische Proletariat war, trotz seiner hochentwickelten Kampfformen, trotz seiner spontan gebildeten Räte (Sowjets), nicht imstande, diese gesellschaftliche Entwicklung zu verhindern. Unter diesen Umständen bedurfte es einer politischen Macht, die an die Stelle jener traditionellen treten konnte, die sich zu entfalten nicht imstande war.

Auf die Beschleunigung dieses Prozesses zielte die Strategie der Bolschewiki ab, als sie sich an den Konstituantenwahlen beteiligten und als Fraktion in diesem politischen Körper arbeiteten, nachdem er gebildet war. Lenin hat das ausführlich auseinandergesetzt in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ und in einer Betrachtung, auf die er dort einige Male hinweist25. Es war eine vorzügliche Strategie, deshalb, weil sie den Bedingungen der Revolution in konsequentester Weise angepaßt war. Man braucht sich aber nur ihre Voraussetzungen und ihre politischen Ziele zu vergegenwärtigen, um festzustellen, daß sie auf die Voraussetzungen des proletarischen Klassenkampfes in keiner Weise zugeschnitten war.

Noch viel klarer tritt das hervor, dort wo Lenin in seiner Schrift die verschiedenen Elemente dieser bolschewistischen Strategie bis hin zur geringsten Kleinigkeit entwickelt.

V.

Was wir bis jetzt anhand der Leninschen Schrift am Bolschewismus festgestellt haben – sein Voluntarismus; sein Mangel an Verständnis für soziale Eigengesetzlichkeit; die durch bestimmte Umstände hervorgerufene Verquickung der Parole einer künftigen mit den Aufgaben einer (1789; 1848) schon dagewesenen Umwälzung; seine Verwechslung der bürgerlichen mit der proletarischen Revolution; seine Unfähigkeit, verschiedene wirtschaftliche Bedingungen und verschiedene historische Situationen zu unterscheiden – das alles finden wir in nahezu überspitzter Weise wieder in jenen praktischen Ratschlägen und Empfehlungen, die Lenin, dort wo er sich mit dem Verhalten der kämpfenden Arbeiter dem Klassengegner gegenüber beschäftigt, nicht müde wird mit seiner Kritik an der europäischen Linken zu verflechten.

Mit dem Verhalten der kämpfenden Arbeiterklasse, schreiben wir. Davon handelten ja die Thesen und Erörterungen der Linken. Genauer betrachtet jedoch, rächt sich die eigentümliche Position, worin sich die Bolschewiki als Exponenten ihrer bürgerlichen Revolution von besonderem Charakter befinden, auch diesbezüglich sofort in der Hinsicht, daß sie nicht einmal imstande sind, den eigentlichen Inhalt der von ihnen kritisierten Auffassungen zu verstehen. Nicht von dem Verhalten der Arbeiter spricht Lenin, sondern vom Verhalten der Partei. Für die Linke handelt es sich gerade um diesen Unterschied; für Lenin ist die Identität beider Kategorien eine Selbstverständlichkeit.

Lenin substituiert, auf dem Wege immer weiterer Einschränkungen (S.443) – das Proletariat, sein klassenbewußtester Teil, seine Vorhut und so weiter – die Klasse durch die Kommunistische Partei. in einem am Vorabend der Oktoberrevolution geschriebenen Artikel „Über Kompromisse“, auf den wir noch zurückkommen werden, schreibt er: „Unsere Partei erstrebt wie jede andere politische Partei die politische Herrschaft für sich. Unser Ziel ist die Diktatur des revolutionären Proletariats26„. Infolge solcher Gleichsetzungen rückt die von der Linken erhobene Frage, ob es sich denn um die Diktatur der Partei oder um die Diktatur der Klasse bandele, außerhalb seines Gesichtskreises27.

Er vernimmt sie, er versteht sie jedoch nicht. Deshalb macht er sie lächerlich (S. 412), ohne die geringste Spur einer Argumentation.

Wenn man Lenin gegenüber von einem Gegensatz zwischen Führern und Massen spricht, denkt er (S.413) an das Verhalten der reformistischen Führer während des imperialistischen Krieges 1914-1918. Er „übersetzt“ in einer Weise, als ob da vom „tadelnswerten“ Benehmen „schlechter“ Führer die Rede wäre. Somit geht es bei ihm gleich wieder um die Frage des „Wollens“. Er versteht nicht, daß es sich um den grundsätzlichen Unterschied handelt zwischen einem Kampfe, bei dem die Massen geführt werden und einem solchen, in dem sie selbst ihre Entschlüsse fassen. Der erstgenannte Typus charakterisiert die bürgerliche, letzterer die proletarische Revolution; der erste Typus hat eine Strategie als Gegenstück, die beim zweiten Typus unvorstellbar ist!

Bei Lenin ist – mit Recht – die Frage der Strategie mit jener der Führung eng verbunden. Die Kombination einer „richtigen“ Führung mit einer „richtigen“ Strategie ist für ihn, wie er schreibt (S.396), „eine der Hauptbedingungen für den Sieg“, faktisch, weil er keine anderen Voraussetzungen behandelt, die einzige! Jene Führung hält er für richtig, die eine richtige politische Strategie und Taktik hat (S.390). Ganz ähnlich der Kriegführung, wo die Durchführbarkeit oder die Anwendungsmöglichkeit einer bestimmten militärischen Strategie von der Disziplin in den Reihen einer regulären Armee bedingt wird, so ist bei Lenin die politische Strategie von der Existenz einer „unbedingten Zentralisation und strengster Disziplin des Proletariats“ abhängig (S.396).

Die Begründung dieser seiner Ansicht findet sich dort, wo er (S.438) „die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer“ darin erblickt, „daß man durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das – neben Wissen und Erfahrung – notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen.“ Es handelt sich hier um die Ansicht derjenigen, für welche der Gang der historischen Ereignisse bestimmt wird und nur bestimmt werden kann von einer Führerschicht, die fortwährend die Massen manipuliert, obgleich sie nie müde wird, „im Namen des Volkes“ zu reden. Mit einen Wort: man hat es mit der Ansicht der bürgerlichen Gesellschaft zu tun.

Diese zwingende Schlußfolgerung ergibt sich auch daraus, daß Lenin vom politischen Fingerspitzengefühl redet anstatt von sozialem Klasseninstinkt. Er hat diesbezüglich sein ganzes Leben hindurch jenes Mißverständnis gehegt, das schon zu Anfang seines publizistischen Wirkens in seiner Schrift „Was tun?“ hervortritt, das Mißverständnis nämlich, daß es deshalb einer Parteiführung bedürfe, weil die Arbeiter niemals in hinreichendem Maße ein politisches Bewußtsein entwickeln könnten, Lenin, der folglich sich keine proletarische Revolution ohne Eingriff der politisch „Wissenden“ vorstellen kann, hat keine Ahnung davon, daß ein politisches Bewußtsein ein Attribut einer wohlhabenden Klasse im allgemeinen, der bürgerlichen Klasse insbesondere ist, und daß die Arbeiterschaft desto mehr sich in nutzlosen, irrationellen Kämpfen verschwendet, je mehr politisches Verständnis in ihr vorbanden ist. Er hätte – wenn es ihm möglich gewesen wäre – sich in dieser Hinsicht von Marx belehren lassen können28. Was ihn jedoch daran hinderte, war eben jene „Brille“, die von Gorter als eine „russische Brille“ bezeichnet wurde, von uns bezeichnet wird als die „Brille“, die drüben getragen werden mußte von einer Gruppierung, die beim Mangel einer selbstsicheren bürgerlichen Klasse mit einem entwickelten politischen Bewußtsein diese Lücke auszufüllen und somit das fehlende politische Bewußtsein zu ersetzen hatte.

Ein Vergleich der politischen Strategie dieser Gruppierung mit einer militärischen Strategie ist unserer Meinung nach durchaus berechtigt. Für Lenin war ja, wie er 1905 bereits geschrieben hatte, „die Revolution … ein Krieg“29 und diese Auffassung kehrt in seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ auf fast jeder Seite wieder. „Nehmen wir“, sagte er 1915, „die moderne Armee. Sie ist eine mustergültige Organisation. Und diese Organisation ist nur deshalb gut, weil sie elastisch ist und zugleich Millionen von Menschen einen einheitlichen Willen verleihen kann“30.

Da hat man abermals, einschließlich des unentbehrlichen „einheitlichen Willens“, der nur von oben, vom Olympus der politischen Götter herabsteigt, genau den Standpunkt von 1920.

Bei einer solchen Analogie kommt man aber nicht daran vorbei, daß das Wesentliche jener mustergültigen Heeresorganisation: die Disziplin, unzertrennlich verbunden ist mit einer historisch und gesellschaftlich bedingten und somit beschränkten Form der Kriegskunst, und daß eine andere als die bürgerliche Gesellschaft und somit auch der Kampf um sie, eine ganz andere Form der Gewaltanwendung schaffen, die gar nicht mehr als eine von „wissenden“ Spezialisten des Generalstabs betriebene Armeeführung zu betrachten wäre und nicht mehr von einer traditionellen militärischen Kriegsmaschinerie praktiziert wird. Die Auflösung der militärischen Disziplin erscheint unter diesem Gesichtspunkt als die Bedingung des revolutionären Sieges zugleich aber auch als die Folge der Revolution.

Das Ergebnis der Analogie widerspricht also energisch der Leninschen Auffassung, daß gerade die Disziplin eine, sogar bedingungslose, Voraussetzung der Revolution sei. Friedrich Engels hat über die gänzliche Auflösung der militärischen Disziplin als Bedingung wie Resultat jeder bisher siegreichen Umwälzung gelegentlich mal bemerkenswerte Sätze niedergeschrieben31. Wenn wir hier darauf hinweisen, so nicht, um damit den – blödsinnigen – Versuch zu unternehmen, mit Hilfe von Marx und Engels die „Unrichtigkeit“ der Leninschen Stellungnahme aufzudecken. Es handelt sich für uns nicht um Lenins „Unrecht“ – das weder mit einem Engels- noch mit einem Marxzitat zu beweisen wäre,- sondern um die bloße Tatsache, daß er sich im Gegensatz zu Marx und Engels befindet, und um die Frage weshalb; um die Frage, wie man das erklären könne.

Was wir darzulegen versuchen ist nichts anderes, als daß die politische Strategie des Leninschen politischen Generalstabs eine Ähnlichkeit mit der militärischen Strategie eines militärischen Generalstabs einer regulären Armee der bürgerlichen Klassengesellschaft aufweist, und zwar aus dem Grunde, daß er sich keinesfalls auf den spezifischen Klassencharakter der proletarischen Kämpfe stützt. Wenn er zum Beispiel (S.406) über die Transformation der Massenstreiks, zuerst in politische, sodann in revolutionäre Streiks spricht, so zeigt sich ein ganz anderer Gedankengang als man bei Rosa Luxemburg an jener Stelle findet, wo sie einen preußischen Minister zustimmte, daß „hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauere“. Rosa Luxemburg betrachtet den Streik als solchen als das Muster jedes Konfliktes der proletarischen mit der bürgerlichen Klasse. Lenin bei weitem nicht. Für ihn soll, damit es eine wirkliche Kollision gebe, das politische Moment, das politische Bewußtsein, von außen herangetragen werden. Für ihn ist die Revolution (immer noch die Revolution schlechthin) ein politischer Akt, der nicht nur dem Willen, sondern auch der Fälligkeit ihrer notwendigen politischen Führer die Krone aufsetzt.

Diese Auffassung der Revolution und jene von der Unentbehrlichkeit einer Strategie sind unlöslich miteinander verbunden. Sie bedingen einander. So wie sich aus der bürgerlichen Revolutionstheorie Lenins seine Befürwortung einer Strategie folgern läßt, so kann man aufgrund seiner Befürwortung einer Strategie auf den bürgerlichen Charakter seiner Konzeption schließen.

VI.

Nachdem wir bis jetzt die Leninsche Strategie dahingehend kritisiert haben, daß sie ausschließlich als die politische Praxis einer Führerschicht, niemals als die soziale Praxis selbsthandelnder Massen verstanden werden kann, wollen wir nunmehr zur näheren Betrachtung ihres Inhalts schreiten.

Was beim Lesen seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist der Umstand, daß man unwillkürlich fast fortwährend erinnert wird an jene frühkapitalistische Phase, in welcher – wie es Marx im Kommunistischen Manifest schrieb – das junge, erst im Werden begriffene Proletariat gemeinsam mit seinem künftigen Klassengegner gegen den Feudaladel oder gegen die absolute Monarchie kämpfte.

Damals herrschte in der eben sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft eine durchaus andere Situation als an der Schwelle der 20-er Jahre des XX. Jahrhunderts. Das Kleinbürgertum und die Parzellenbauernschaft hatten eine weit größere wirtschaftliche Bedeutung und spielten demzufolge auch politisch eine viel wichtigere Rolle. Dazu gab es inmitten der aufsteigenden Bourgeoisie zwischen ihren verschiedenen Fraktionen noch tiefe Gegensätze, die sich, zum Beispiel im Kampf um Freihandel oder Schutzzölle, aufs heftigste äußerten. Die politische Lage jener Gesellschaft war selbstverständlich mehr oder weniger die Abspiegelung ihrer materiellen Verhältnisse.

In Deutschland, wo viel länger als in Frankreich das Königtum von Gottes Gnaden und preußischer Signatur den Gipfel des feudalen Sumpfes bildete, stand das kapitalistische Bürgertum Schulter an Schulter mit den Mittelschichten und den Arbeitern im Kampfe um die Demokratie, welche die ungehinderte Entfaltung der modernen Produktionsweise sichern sollte. im französischen Nachbarland, wo zwar die Revolutionen von 1830 und 1848 das von der großen Revolution und dem Jakobinischen Terror angefangene Werk vollendet hatten, war nichtsdestoweniger die Frucht der bürgerlichen Umwälzung immer noch bedroht. Und sogar im kapitalistischen Musterland Großbritannien gab es immer noch einen schweren Kampf um die vollkommene Ausbildung jener Einrichtungen, welche die richtige Funktion der kapitalistischen Produktion politisch garantieren.

Innerhalb der geschilderten Verhältnisse boten sich politische Bündnisse, Abkommen und Kompromisse, die geschickt ausgenutzt werden sollten, gleichsam von selbst an. Zwar trat die britische Arbeiterklasse, im Kampfe um die „Charter“; zum ersten Male in der Geschichte für ihre eigenen Interessen an, aber nichtsdestoweniger unterstützte sie leidenschaftlich die Versuche des radikalen bürgerlichen Flügels zur Durchführung einer parlamentarischen Reform. In dem kontinentalen Westeuropa, wo der politische ebenso wie der wirtschaftliche Fortschritt hinter dem Englands zurückgeblieben war, lagen Verbindungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und den verschiedenen politischen Parteien, die innerhalb der bürgerlichen Ordnung deren Exponenten bildeten, noch weit mehr auf der Hand als anderswo.

Diese Situation war einmalig. Im Laufe eines halben Jahrhunderts war sie in den wichtigsten Industriestaaten überall verschwunden. in England hörte sie nach der Erlassung des parlamentarischen Reformgesetzes, in Frankreich nach der endgültigen Niederlage des Boulangismus32, nach und nach zu bestehen auf. In Deutschland wurde sie nach der Bildung des Wilhelminischen Kaiserreichs faktisch bedeutungslos. Der wesentliche, für den Kapitalismus charakteristische und ihn als Gesellschaftsordnung voraussetzende Klassengegensatz drückte fortan allen politischen und sozialen Verhältnissen seinen Stempel auf. Interessen, wofür Lohnarbeiter und Kapitalisten gemeinsam hätten kämpfen können, gab es keine mehr. Nicht länger konnten sich Proletarier und radikale Bourgeois zusammenschließen gegen eine Gefahr von rechts. Im Gegenteil: gegen die für ihre Klasseninteressen kämpfenden Arbeiter schloß sich der ganze übrige Rest der Gesellschaft fest zusammen.

In Rußland aber kehrte zu Anfang unseres Jahrhunderts genau jene gesellschaftliche und politische Situation wieder, die es im vormärzlichen Deutschland oder im Frankreich am Vorabend der Revolutionen von 1830 und 1848 gegeben hatte. Bis Februar 1917 war Rußland eine absolute Monarchie. Adel und Klerus waren die Herrschenden. Die erst in den Kinderschuhen sich bewegende Arbeiterklasse, die ungeheure Masse der Bauernschaft und gewisse Intellektuellenkreise hatten ein gemeinsames Interesse an Sturz des Zarismus, an der Durchführung jener Revolution, die Westeuropa schon seit langem modernisiert hatte. Gerade von dieser verspäteten Situation aus beurteilte Lenin die westeuropäische Lage.

Auf diese Tatsache kann man nicht nur mittelbar aufgrund der Leninschen Argumentation schließen, sie wird von ihm selbst auch wiederholt nachdrücklich betont. „Kein anderes Land“, schreibt er (S. 396) in Bezug auf Rußland, „hatte in diesen fünfzehn Jahren (1903-1917) auch nur annähernd soviel durchgemacht an revolutionärer Erfahrung“. „Alles“, heißt es (S.401/402) „was wir jetzt über die Scheidemänner und Noske, über Kautsky und Hilferding, über … die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei in England lesen, alles das … haben wir schon bei den Menschewiki gesehen.“ (S.402) „Die Erfahrung hat bewiesen“, behauptet er (S. 402) ohne jede Zurückhaltung, „daß in einigen sehr wesentlichen Fragen der proletarischen Revolution alle Länder unvermeidlich dasselbe werden durchmachen müssen, was Rußland durchgemacht hat.“

Von welcher Erfahrung die Rede sein könnte, wird nicht von ihm erörtert, da es sich für ihn offensichtlich um ein Axiom handelt, für welches (bei der gegebenen Tatsache der russischen Revolution) etwaige Belege überflüssig sind. Stattdessen bezeichnet er unverfroren (S. 453) die britische Labourpartei (die auf die Modernisierung des Kapitalismus lossteuert) als die „englischen Kerenskis“ – nach jenem, von der Februarrevolution 1917 zum völligen Fiasko emporgehobenen Politiker also, der Exponent einer kläglich versagenden, keineswegs den Forderungen der kapitalistischen Produktionsweise gewachsenen Bourgeoisie war .

Lenin überträgt ganz einfach und ohne Bedenken die russischen auf die britischen Zustände, so wie er (S.441/442) den Standpunkt der deutschen Linken auch aufgrund russischer Ereignisse verwirft, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dessen angebliche Unrichtigkeit anhand der vorhandenen deutschen Verhältnisse darzulegen.

„Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor dem Sturz des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d.h. sie haben eine Menge praktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen.“ So Lenin (S.440/441). Er glaubt damit den Widerwillen der Linken gegen Jene Art von Kompromissen, die in seiner Schrift immer wieder in den kräftigsten Farben als die einzig vernünftige Strategie geschildert werden, als durchaus sinnlos entlarvt zu haben. Was er tatsächlich entlarvt – indem er von dem redet, was sich „vor dem Sturz des Zarismus“ ereignet hat – ist der gesellschaftliche Rahmen seiner politischen Stickerei. Es ist ein Rahmen, den es allerdings auch in Westeuropa gab, jedoch ebenfalls nur vor dem Sturz der absoluten Monarchie.

Die Strategie der „vernünftigen“ und „zulässigen“ Kompromisse bildet einen der Hauptgegenstände der Leninschen Schrift. Dabei unterläßt es ihr Verfasser nicht, nachzuweisen, daß Marx und Engels dieselbe Strategie befürwortet hätten. Jedoch ohne hinzuzufügen: in Verhältnissen, die den russischen glichen. Indem er seinen „Nachweis“ ohne jede Berücksichtigung der historischen Umstände führt, hat Lenin es damit verhältnismäßig leicht.

Es ist unbestreitbar, daß die Autoren des „Kommunistischen Manifest“ um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht nur jene Bündnisse und Kompromisse verteidigt haben, für die auch Lenin leidenschaftlich eintritt, sondern, daß sie darüber hinaus auch im Geiste einer Politik der – von ihnen gleichfalls als eine politische, untrennbar mit den Massen verbundene Vorhut betrachteten- kommunistischen Partei gesprochen haben33. In dieser Hinsicht bedarf unsere Darlegung am Anfang dieses Abschnitts, wo von Bündnissen der proletarischen Klasse mit ihrem Gegner die Rede war, einer, übrigens bloß formalen, Korrektur. Anscheinend ist somit Lenins Beziehung auf Marx und Engels ganz berechtigt. Wahrheitsgemäß aber verhält es sich anders damit.

Der Marxismus von 1848 war – selbstverständlich – Kind seiner Zeit, Ausdruck der damaligen sozialen und politischen Verhältnisse und der damaligen, der proletarischen Lage entsprechenden Gegensätze, ging aber zugleich, indem er die künftige Entwicklung sowohl der kapitalistischen Produktionsweise, als der mit ihr gegebenen Gegensätze ins Auge faßte, dialektisch darüber hinaus. Lenin war, von diesem Gesichtspunkt aus, unfähig, diese Gleichzeitigkeit im dialektischen Sinne zu erblicken. Seine Philosophie war, in völliger Übereinstimmung mit den Forderungen der herannahenden russischen Revolution, nicht der dialektische, sondern der bürgerliche, der mechanische Materialismus, derselbe, der etwa ein Jahrhundert früher die erprobte Waffe der gegen Adel und Kirche Kämpfenden gewesen war34.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die proletarische Lage und der Charakter der sozialen Gegensätze bildeten 1848 überhaupt keine Voraussetzung, weder für ein selbständiges Handeln, noch für autonome Kämpfe der Arbeiterschaft. Die Tatsache wurde von dem zeitlich bedingten gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer politischen Führung, welche für die proletarische Klasse auftritt und sich in ihrem Namen an die Öffentlichkeit wendet, zum Ausdruck gebracht. Lenin, der in Rußland derartig primitive Verhältnisse und noch keine entwickelten kapitalistischen Gegensätze vorfand, konnte nur da anknüpfen.

Lenin holte, ganz undialektisch, vom sogenannten Frühmarxismus eine bestimmte Seite heraus, die ihm gerade paßte. Deshalb kommt dem Verfasser dieser Zellen die Ansicht von Arthur Rosenberg, „der revolutionäre Marxismus von 1848 fände seine Fortsetzung im Rußland des Zaren“ und „Lenin habe den echten revolutionären Urmarxismus wieder zum Leben erweckt“, unrichtig vor35.

Mit den Auffassungen von Marx und Engels hatte das nichts zu tun. Es kehrten dabei vielmehr vormarxistische – idealistische – Auffassungen wieder, von welchen unter andern die Betonung des Willens – nicht einer Klasse, sondern des politischen Führers, eines Individuums also – im Gegensatz zur Berücksichtigung der sozialen Eigengesetzlichkeit ein Symptom bildet.

Lenin schreibt (S.408): „Ein Politiker, der dem revolutionären Proletariat nützlich sein möchte, muß es verstehen, die konkreten Fälle gerade solcher Kompromisse herauszugreifen, die unzulässig sind, in denen Opportunismus und Verrat ihren Ausdruck finden …“ Er sinkt damit zu einem bürgerlichen Politiker herab, der im Interesse einer noch völlig abhängigen Arbeiterklasse tätig sein möchte, aber, trotz seines Willens, nur Politik treiben kann und somit den sozialen Inhalt und damit auch die diesem gebührende Form des sich entwickelnden proletarischen Klassenkampfes mißverstehen muß.

Der Verrat, von dem er spricht, kann nur verstanden werden als Verrat am „Sozialismus“, der somit als eine politische Konzeption aufgefaßt wird, nicht als eine wirkliche Bewegung, welche die kapitalistischen Verhältnisse aufhebt. Das konnte auch nicht anders sein, da ja diese kapitalistischen Verhältnisse in ausgeprägter Form in Rußland noch nicht existierten und es folglich dort eine wirkliche Bewegung, welche sie auflösen könnte, gar nicht gab. So eine Bewegung kann nur als das Produkt kapitalistischer Verhältnisse entstehen, genau so wie die wirkliche Bewegung, welche die vorkapitalistischen Verhältnisse aufhebt, das Produkt vorkapitalistischer Verhältnisse ist. Wenn letztere, wesentlich bürgerliche, in der Geschichte manchmal verschwörerische Bewegung mit sogenannten sozialistischen idealen gerüstet wird, bekommt sie unvermeidlich jene schon dem Blanquismus anhaftenden Züge, die auch für den Bolschewismus charakteristisch sind.

Diese blanquistischen Züge fehlen dem Frühmarxismus von 1848 ganz und gar, weil er nicht auf der vormärzlichen deutschen, sondern zum Teil auf der Wirklichkeit in Frankreich, mehr noch auf der in England fußt. Lenin konnte da zwar anknüpfen, aber seine bolschewistische Partei stimmt doch keineswegs mit einer solchen Partei, wie sie im Kommunistischen Manifest definiert wird, überein. Vielmehr ähnelt sie, wie auch der Blanquismus, dem Jakobinertum.

Lenin hatte davon zu Anfang seiner Tätigkeit eine dunkle Ahnung36. In seiner Schrift über „die Kinderkrankheit“ ist er sich dessen überhaupt nicht mehr bewußt. Mit Hilfe einer von Engels am Blanquismus vorgenommenen Kritik geht er (S.436) gegen die Linke vor, bloß deshalb, weil Engels dort von „Zwischenstationen“ und „Kompromissen“ spricht und es „eine kindliche Naivität“ nennt, „die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen“37. Lenin glaubt mit Unrecht, er vertrete dieselbe Auffassung wie Engels. Er täuscht sich offenbar derart, daß er meint, eben die „Ungeduld“, von der Engels gesprochen bat, bei der Linken beobachten zu können. Er ist weit davon entfernt die Engelssche Kritik an Leuten, die „sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben … sei die Sache abgemacht und wenn … sie nur ans Ruder kommen, so sei über morgen ‚der Kommunismus eingeführt’“ gerade als Kritik an der bolschewistischen Konzeption zu verstehen.

Es würde zu weit führen, hier aus der Engelsschen Kritik weitere Stellen anzuführen, die nicht nur den Blanquisten, sondern auch den Bolschewisten einen Stoß versetzen38. Worum es hier geht ist die Tatsache, daß sich die Linke nicht darin von Lenin unterscheidet, daß sie vor Ungeduld Kompromisse ablehnt, sondern darin, daß sie jenen historischen Rahmen, innerhalb dessen eine Strategie der politischen Führer mitsamt Kompromissen auf der Tagesordnung steht, in Westeuropa schon längst hinter sich hat.

Lenin kennt eben keinen anderen historischen Rahmen. Er vergleicht aus diesem Grunde Dinge, die unvergleichbar sind, so zum Beispiel (S.437) die Kompromisse, welche am Ende eines Streiks kämpfenden Arbeitern abgenötigt werden mit Parteibündnissen wie einem solchen, das die britischen Kommunisten dem Labourführer Arthur Henderson vorschlagen sollten in Form einer gewissen parlamentarischen Unterstützung (S.463).

Lenin versteht nicht, daß die strategischen Konstruktionen, die er in seiner historisch-paradiesischen Unschuld herstellt, auf die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse und deren jeweiligen Ausgang nicht mehr zugeschnitten sind, sobald die Arbeiter die Früchte des Gartens Eden geprüft, wir meinen: sobald sie selbst den Inhalt ihrer Kämpfe und sodann auch deren Form, das heißt ihre Kampfmethoden zu bestimmen angefangen haben; sobald nicht länger die bürgerliche, sondern fortan die proletarische Revolution die gesellschaftliche Perspektive bildet.

Lenin sieht diese Perspektive nicht. Das hängt damit zusammen, daß nach seinen Vorstellungen die Revolution (schlechthin!) ein politischer Akt ist, welcher den politischen Verstand erfordert. Er hebt nachdrücklich als eine ihrer Voraussetzungen hervor, „daß die Mehrheit der Arbeiter (…) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen …“(S.453/4). Er versteht nicht, daß die Arbeiter in ihrem täglichen Kampf nicht auf die Revolution abzielen, sondern auf die Verbesserung ihrer Klassenlage, und daß es zu den Eigentümlichkeiten der bürgerlichen Produktionsverhältnisse gehört, daß gerade jener Kampf zur Umwälzung dieser Verhältnisse führt.

Nach Lenin ist die Revolution nicht die Folge des täglichen Arbeiterkampfes, nicht ein gesellschaftlicher Prozeß, in dessen Verlauf erst das Bewußtsein sich ändert, sondern ein Ereignis, das eine bestimmte politische Reife des Bewußtseins im Voraus verlangt. Lenin versteht nicht, daß die proletarische Revolution aus den Kämpfen hervorgehen muß, zu denen die Arbeiter auf Grund ihrer Stellung im Produktionsprozeß immer wieder gezwungen werden, welche Vorstellungen sie auch im Kopfe haben. Daraus ergibt sich, daß für Lenin die Arbeiter nicht die Subjekte der Revolution sind, die durch ihre Selbsttätigkeit die materielle Grundlage ihrer Existenz umwälzen, sondern – weil ja ihre „politische Reife“ von der Partei als ihrer Erzieherin an sie herangetragen werden muß – ihre Objekte.

Lenin, der die Revolution für notwendig hält, betrachtet sie jedoch nicht als das Ergebnis einer gesellschaftlichen Tendenz, die aus der täglichen spezifischen Praxis der Arbeiter hervorgeht. Wenn er von der Notwendigkeit der Revolution spricht, so in einem moralischen, in einem idealistischen Sinne, analog dem Kantschen kategorischen Imperativ. Das imperative (politische) Gebot der Revolution muß, soll sie überhaupt möglich sein, von der Arbeiterschaft verstanden werden, aufgestellt aber wird es von der Partei, die die Führerin der Arbeiterschaft sein soll und zur erfolgreichen Führung eine Massenbasis braucht. Zur Sicherung dieser Massenbasis dient die gesamte Leninsche, der proletarischen Revolution völlig fremde Strategie. Das ist der Zweck aller von Lenin empfohlenen Kompromisse. Das geht eindeutig hervor aus allen seinen Erläuterungen.

Außerordentlich interessant ist es, die Erläuterungen in der „Kinderkrankheit“ mit jenen Betrachtungen zu vergleichen, die Lenin am Vorabend des Oktober der Taktik der Kompromisse gewidmet hat39. An keiner Stelle hat er sich so klar und so überzeugend geäußert; nirgendwo geht die Richtigkeit seiner Politik für die russischen Verhältnisse zu einem sehr bestimmten Zeitpunkt deutlicher hervor und nirgendwo zeigt sich auffälliger ihre eng-russische Beschränktheit. Er ist der meisterhafte Stratege jener, in Rußland verspäteten – deshalb in umgestalteter Form sich vollziehenden – Revolution, die sich im industrialisierten Teil Westeuropas längst vollzogen hatte. Wenn er andere, den seinigen entgegengesetzte Auffassungen, die sich auf andere gesellschaftliche Kämpfe als die in Rußland beziehen, als „Kinderkrankheit“ bezeichnet, so deshalb, weil er sie mit Unrecht wieder mit russischen Erscheinungen der historischen Vergangenheit verwechselt, mit denen sie nichts gemein haben. Es rächt sich hier seine Verwechslung der verschiedenen Arten der sozialen Revolutionen überhaupt.

„Was für ein alter, längst bekannter Plunder“, fährt er in Bezug auf den Standpunkt der Linken los (S. 412). Die Wahrheit ist, daß er nur deshalb in dieser Weise redete und reden konnte, weil ihm jener „Plunder“ völlig unbekannt war und unbekannt sein mußte. Trotzdem beabsichtigte er, mit seiner Kritik den Schlüssel zum weltrevolutionären Sieg zu liefern. Jedoch zeigte es sich sofort, daß dieser Schlüssel zu der Tür des proletarischen Kampfs jedenfalls nicht paßte. Daraus erklärt sich der Lärm, den damals seine Schrift hervorrief. Für Westeuropa klang Lenins Stimme wie eine Stimme aus dem Grab, dem Grab der bürgerlichen Revolutionen. Nur ein politischer Leichnam konnte von ihr verführt werden.

1N. Lenin, „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“. Die Arbeit wurde April 1920 geschrieben, Mai 1920 mit einem Anhang versehen. Die erste – russische – Ausgabe erschien im Juni desselben Jahres. in deutscher Übersetzung findet man sie heute im 31. Band der Lenin-Werke, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED sowie in den „Ausgewählten Werken in drei Bänden“ in Band III, S.339-485. Hier wird nach der letztgenannten Ausgabe zitiert. Unterstreichungen rühren vom Verfasser dieser Arbeit her. Sperrungen sind Hervorhebungen im Originaltext.

2Rosa Luxemburg, „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, „Die Neue Zeit“, Jahrgang 22, 1903/1904, Band 2, S. 492. Auf russisch wurde ihr Aufsatz am 10. Juli 1904 von der „Iskra“ veröffentlicht.

3Mit Grund: Was wäre ihr Marxismus, wenn nicht der begriffliche Exponent der reell vor sich gehenden proletarischen Klassenkämpfe?
„Herr Heinzen“, schrieb Engels an 7.Oktober 1847 in der „Deutschen-Brüsseler-Zeitung“ Nr. 80 „bildet sich ein, der Kommunismus sei eine gewisse Doktrin, die von einem bestimmten theoretischen Prinzip als Kern ausgebe und daraus weitere Konsequenzen ziehe. Herr Heinzen irrt sich sehr. Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung: er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung. Der Kommunismus ist hervorgegangen aus der großen Industrie und ihren Folgen, aus der Herstellung des Weltmarkts, aus der damit gegebenen ungehemmten Konkurrenz, aus den immer gewaltsameren und allgemeineren Handelskrisen, die schon jetzt zu vollständigen Weltmarktkrisen geworden sind, aus der Erzeugung des Proletariats und der Konzentration des Kapitals, aus dem daraus folgenden Klassenkampfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats.“ (MEW. Band 4. S.321/322) Die Wichtigkeit dieser Worte, speziell der unterstrichenen, in Bezug auf die Leninsche Schrift wird sich noch zeigen.

4Gorter, „Offener Brief an den Genossen Lenin“, holländische Ausgabe, 1921, S.57

5Das geschah im Rahmen seiner Schrift „Brauner und roter Faschismus“. Sie wurde zu Ende der 30-er Jahre in der Emigration verfaßt, zum ersten Male aber 1971 veröffentlicht, als sie mit anderen Arbeiten aus seinem Nachlaß aufgenommen wurde in seine beim Rowohltverlag in Reinbek erschienenen „Schriften“. Siehe dort S. 49 ff., insbesondere S.50/51, 56 und 62

6Georg Lukács, „Lenin, Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, geschrieben 1924; Neuauflage: Neuwied 1969, S.9

7Lenin, der vom Anfang des Ersten Weltkrieges an Karl Kautsky einen Renegaten nannte und ihn beschuldigte, daß er mit dem Marxismus gebrochen habe, „weil er davon nicht die revolutionären Kampfmittel und Kampfmethoden akzeptiert“ (Vgl. W. I. Lenin, „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Vorwort des Verfassers, S.5), hatte keine Ahnung davon, daß Kautsky, auch wenn jene Kampfmittel eifrigst von ihm propagiert worden wären, mit dem Marxismus trotzdem auf Kriegsfuß gestanden hätte. Lenin nannte 1920 in seiner Schrift über die „Kinderkrankheit“ den Kautsky des Jahres 1902 nachdrücklich einen „Marxisten“, offenbar deshalb, weil er für die wirkliche Position Kautskys überhaupt kein Verständnis hatte. Der Grund dafür wird dem Leser auf den nächsten Selten klar werden.

8Rosa Luxemburg betrachtete (in einem Aufsatz, der Januar 1905 in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde, heute in ihren „Gesammelten Werken“, Dietz-Verlag, Ostberlin 1972, Band 1/2 S.477, vorliegt) die russische Revolution als eine Revolution „mit einem ganz besonderen Typus“. Für sie war jene „so rein proletarisch wie noch keine vorher“. Jedoch meinte sie mit diesem Ausdruck nichts mehr (aber auch nichts weniger), als daß das Proletariat auf der russischen Revolutionsbühne die Hauptrolle spielen würde, wie es das, nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung ihres Artikels, tatsächlich tat. Daß trotzdem die russische Revolution „nur nachholen würde, was die Februar- und Märzrevolution (1848) für das westliche und mittlere Europa vollbracht hatte“, das war ihr besonders klar. Sie wußte, daß Rußland „vom Standpunkte der bürgerlichen Klassenentwicklung mit dem vormärzlichen Deutschland keinen Vergleich aushalten“ könne und sie schätzte – wie auch Paul Frölich in seiner Luxemburg-Biographie bemerkt (dort S.117) – das wahrscheinliche Ergebnis der russischen Revolution noch weit skeptischer ein als die Menschewiki. Von einer „Verschiebung des Revolutionszentrums“ ist bei ihr keine Rede. Was ihre Darlegung von derjenigen Kautskys unterscheidet, ist eben die klare Klassenanalyse und die damit zusammenhängende scharfe Begriffsdefinition, die bei dem „Marxisten“ Kautsky völlig fehlt. Aber ausgerechnet Kautsky wählt sich Lenin als Zeuge in seiner Schrift. Keineswegs von ungefähr!

9 Die Broschüre „Zwei Taktiken …“ wurde von Lenin im Sommer 1905 in Genf niedergeschrieben, unmittelbar nach Ende des III. (Londoner) Kongresses der russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki). Wir zitieren Lenin nach dar holländischen Ausgabe „Verzamelde Werken“ („Gesammelte Werke“), Amsterdam 1938, Band 3, S.79. Der angeführte Passus bildet der Anfang vom 6.Kapitel.

10 Wir zitieren Lenin indirekt aus einem Artikel von N. Insarow, der September 1926 in der linkskommunistischen deutschen Zeitschrift „Proletarier“ veröffentlicht wurde. Insarow bediente sich der russischen Ausgabe von Lenins Gesammelten Werken, erschienen im russischen Staatsverlag. Die Stelle befindet sich dort, wie er angibt, Bd. XI, l.Teil, S. 78/79.

11„Verzamelde Werken“, Bd.3, S.311

12Lenin, „Staat und Revolution“, zit. aus: „Sämtliche Werke“, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Bd. XXI, S.499

13(13) Lenin, „Entwurf einer Resolution über die gegenwärtige Lage“, „Sämtliche Werke“, a.a.O., Bd. XXI, S.173

14Lenin, „Verzamelde Werken“ (holl.), Bd.6, S.523

15Lukács, a.a.O., S. 21

16Boris Brutzkus, „Agrarentwicklung und Agrarrevolution in Rußland“, Berlin 1926, S 147. Brutzkus war 1917 Professor der Landwirtschaftlichen Hochschule in Petrograd. Er gehörte zu den bürgerlichen Gegnern des Bolschewismus, denen es während des „Tauwetters“ der N.E.P. ermöglicht worden war, kurzfristig die nichtbolschewistische Zeitschrift „Ökonomist“ herauszubringen, bis Sinowjew 1922 einen „geistigen Kampf“ gegen sie ankündigte. Als dessen Ergebnis wurde Brutzkus zuerst verhaftet, sodann aufgefordert, das Land zu verlassen. Über seine Ideen äußerte sich die bolschewistische Presse in abgeschmacktester Weise, was die Bolschewisten nicht daran hinderte, sie gelegentlich eitrig zu plündern. Selbstverständlich sind wir nicht mit Brutzkus einverstanden. Nichtsdestoweniger betrachten wir seine Werke als interessant. An verschiedenen Stellen enthalten sie treffende Bemerkungen. Seine Schilderung der russischen Agrarentwicklung ist besonders aufschlußreich.

17Georg Lukács hat den hier nur sehr schematisch angedeuteten geschichtlichen Vorgang beschrieben am Beispiel der Entwicklung der philosophischen und sozialen Ansichten von Moses Hess und den „wahren Sozialisten“. Vgl. Georg Lukács, „Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik“, Leipzig 1926, S.9/10. Praktisch jedes Wort seiner Darlegung trifft auf das Schicksal des dialektischen Materialismus in Rußland zu. Das aber ist eine Konsequenz, die Lukács nicht gezogen hat.

18Vgl. Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution“, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag, Ostberlin 1972, Bd. 1/1, S.389

19Lenin behauptet (S. 421),daß „gewisse ‚reaktionäre Züge‘ der Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats unvermeidlich“ wären. Das geht daraus hervor, daß in dem gerade hochkommenden Staatskapitalismus, welcher einer Diktatur bedarf, der Verkauf der Ware Arbeitskraft natürlich fortbesteht, die Gewerkschaften also ihre wesentliche Funktion ausüben werden. Weil es sich um Staatskapitalismus handelt, handelt es sich auch um staatliche Gewerkschaften. Der Form nach verschieden, ist ihr inhalt derselbe wie im Westen, mögen sich sowohl die Bolschewiki als die westlichen Gewerkschaftsführer darüber auch andere, ganz ideologische, Gedanken machen

20Otto Rühle, „Schriften“, a.a.O., S.53

21N.K. Krupskaja, „Erinnerungen an Lenin“, Ring-Verlag, Zürich, 1133, Bd. II, S.29/30

22„Neue Züricher Zeitung“ vom 24 .Januar 1954, Blatt 7, Artikel: „Lenin in der Schweiz“.

23Otto Rühle, „Schriften“, a.a.O., S.59

24W. I. Lenin, „Thesen über die Konstituante“, Verzamelde Werken (holl.), a.a.O., Bd. 6, S. 469 ff.

25V.l. Lenin, „Die Wahlen für die Konstituante und die Diktatur des Proletariats“, „Verzamelde Werken“ (holl.) a.a.O., Bd.6, S.485. Unser Hinwels bezieht sich insbesondere auf den VI. Abschnitt des Artikels.

26W. I. Lenin, „Über Kompromisse“, Sämtliche Werke, Bd. XII, S.164. Man vergleiche dazu seinen Ausspruch; „… wir kämpfen für die Eroberung der politischen Macht durch unsere Partei. Diese Macht wäre die Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft“ („Zur Revision des Parteiprogramms“ Sämtl. Werke, Bd. XXI, S.397). Oder seinen Ausspruch auf dem XI. Parteitag der Bolschewiki: „… der Staat, das sind die Arbeiter, ihr fortgeschrittenster Teil, die Avantgarde, das sind wir“ (d.h. die Bolschewiki!)

27Die Diktatur der Klasse, die in dieser Frage in klarer Weise der Parteidiktatur gegenübergestellt wird, ist natürlich die berühmte Diktatur des Proletariats. Der Begriff scheint geeignet, Mißverständnisse hervorzurufen. Aus diesem Grunde zieht der Verfasser dieser Zellen es vor, sich dieses Begriffs nicht zu bedienen. Nach seiner Meinung ist die Anwendung des Begriffes durch Marx und Engels aus historischen Gründen zwar verständlich, aber nichtsdestoweniger wären da, gerade vom Marxistischen Standpunkt aus, manche Bedenken zu erbeben. Diese wollen hier nicht erörtert werden. Wohl aber muß hier festgestellt werden, daß der Leninsche Begriff der Diktatur des Proletariats mit dem von Marx und Engels nichts zu tun hat.

Bei Lenin ist die Diktatur des Proletariats eine besondere Repressionsgewalt des Proletariats, die an die Stelle der Repressionsgewalt der Bourgeoisie getreten ist. In der Marschen Auffassung wird in der proletarischen Revolution die bürgerliche Repressionsgewalt, d.h. der Staat, zerschlagen! Dieser stirbt sodann ab, weil es unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen keiner Repression mehr bedarf. „Wird es“, schreibt Marx gegen Proudhon, „nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein.“ (MEW, Bd. 4, S.181).

Jedoch tritt bei Lenin der „proletarische Staat“ an die Stelle des bürgerlichen Staates. Bei ihm (Lenin) stirbt nicht der bürgerliche, sondern der „proletarische Staat“ ab. Die Marxsche Auffassung vom Absterben des bürgerlichen Staates (der doch schon zerschlagen ist) bildet für Lenin das große Hindernis. Das zeigt sich unter anderem auch dort, wo er (in „Staat und Revolution“) über „die Beibehaltung des engen bürgerlichen Rechtshorizonts während der ersten Phase des Kommunismus“ spricht (Sämtliche Werke XXI, S.554). Somit wird nach Lenin das Recht vom Staate bedingt, anstatt daß er Recht und Staat beide aus der Gesellschaft heraus erklärt. Er achtet nicht darauf, daß die juristischen Beziehungen sich langsamer ändern, als die sozialen Beziehungen, deren Ausdruck sie bilden.

Das alles hat eine merkwürdige Konsequenz: Lenin, der verneint, es könne sich um das Absterben des bürgerlichen Staates handeln, schlußfolgert nichtsdestoweniger: „Unter dem Kommunismus bleibt nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen, sondern sogar der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie“. in Rußland war das tatsächlich die wirkliche Lage, die aber am allerwenigsten mit Kommunismus bezeichnet werden konnte. Da haben wir es abermals mit den theoretischen Früchten jener „Versöhnung“ zu tun, von der schon die Rede war!

28Karl Marx, „Kritische Randglossen zu dem Artikel ‚Der König von Preußen und die Sozialreform’“, MEW 1, S. 406 und 407. Auf die Bedeutung des Marxschen Aufsatzes in Bezug auf die Leninschen Organisationsauffassungen wurde 1935 von Paul Mattick hingewiesen. Vgl. Paul Mattick, „Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin“, „Rätekorrespondenz“, Heft 12. Nachdruck im Sammelbändchen „Partei und Revolution“, Kramer Verlag, Berlin o.J.

29W. I. Lenin, „Sämtliche Werke“, Bd. VII, S.122

30N. Lenin, „Der Zusammenbruch der II. internationale“, geschrieben 1915; Erstveröffentlichung in der Zeltschrift „Der Kommunist“, die (nur einmal) 1910 in der Schweiz erschien. Nachdruck im Sammelwerk; N. Lenin und G.Sinowjew, „Gegen den Strom“, im Verlag der Kommunistischen internationale, Carl Hoym Nacht., Hamburg 1921. Dort siehe S. 165.

31Vgl. dazu den Brief von Engels an Marx vom 26.September 1851, MEW Bd.27, S.353. Wörtlich so wie Engels sich dort geäußert hat, hat er sich kurze Zeit danach geäußert in einer unvollendet gebliebenen Broschüre „Die Möglichkeiten und Voraussetzungen eines Krieges der Heiligen Allianz gegen Frankreich im Jahre 1852“. Die Broschüre wurde 1914 von N. Rjasanow in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht (33.Jahrgang, l. Bd., S.265 u. 297). Exzerpte daraus wurden 1931 mitaufgenommen in ein Bändchen der Reihe „Elementarbücher des Kommunismus“ (Bd.15) mit dem Titel „Militärpolitische Schriften“ (internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin, S.27ff.). Liest man dort die Auszüge aus der Engelsschen Arbeit, so wirken die Anstrengungen des bolschewistischen Herausgebers K.Schmidt, die klar hervortretenden Differenzen der Engelsschen und der Leninschen Auffassungen zu vertuschen, geradezu komisch. Wo Engels von der gänzlichen Auflösung der Disziplin redet, da fügt Schmidt in Klammern das Wörtchen „alten“ hinzu, um für die „neue“ Disziplin, wie sie von den Bolschewisten z.B. nach dem Oktober wieder in der Roten Armee eingeführt wurde, eine Ausnahme zu kreieren. Nachdem der Marxismus mit den russischen Verhältnissen „versöhnt“ war, sollte also von diesem „angepaßten“ Marxismus aus die Auffassung von Engels (bzw. Marx) „korrigiert“ werden! Ein erbauliches Schauspiel! übrigens sucht man die Engelssche Broschüre vergeblich in den MEW im Dietz-Verlag.

32Boulangismus – so genannt nach dem reaktionären französischen General Boulanger, der, als seine politischen Hoffnungen fehlschlugen, im Jahre 1891 Selbstmord beging.

33Vgl. „Das kommunistische Manifest“, MEW Bd.4, S.492 u.474

34Man sehe dazu: Anton Pannekoek, „Lenin als Philosoph“, Erste Auflage, Amsterdam 1938; Neuauflage Frankfurt 1969

35Arthur Rosenberg, „Geschichte des Bolschewismus“, Berlin 1932, S.26 u. 31. Rosenberg selbst ist an der Stelle wo er diese Behauptung aufstellt, gleich schon wieder gezwungen, sie beträchtlich einzuschränken. „Die mechanische Übertragung des Urmarxismus nach Rußland“, schreibt er, „war doch nicht ohne weiteres möglich.“ Also!

36Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“, AW, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1932, 8.436

37F. Engels, „Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge“ MEW Bd. 18, S.533

38Die wichtigste wäre wohl jene, wo Engels den Atheismus als Kampfansage an die Religion verspottet (MEW, a. a. 0. S. 5)2). Lenin, der ja im absolutistischen Rußland den Kampf gegen die Kirche als herrschende Macht zu führen hatte, hielt dagegen den Atheismus und den Kampf gegen die Religion immer für höchst wichtig und für einen Bestandteil des Marxismus, so wie er ihn auffaßte.

39W. I. Lenin, „Über Kompromisse“, Sämtliche Werke Bd. XXI, S.163 ff.

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