Radencommunisme, 2. Jahrgang, Nr. 1, November 1939
DIE IDEOLOGIE DES NATIONALISMUS1
Der Kapitalismus der Blüteperiode, der in seiner Struktur ein reiner Privatkapitalismus war, schuf die Ideologie des Nationalismus. Denn im Zuge seiner Entwicklung brauchte er mehr Platz für die Warenproduktion, größere Märkte für den Verkauf seiner Waren, breitere Perspektiven für seine Expansionstendenz. Und nicht weniger brauchte er Schutz durch Einfuhrzölle, die Sicherung seiner Rechtsbeziehungen, Kreditschutz, polizeiliche und militärische Macht. All dies konnten die vielen kleinen Staaten von einst nicht gewährleisten. So verschmolzen die vielen kleinen Staaten, die zu Entwicklungsbremsen zu der Einheit der großen Nationen geworden waren.
In der ideologischen Küche wird in den Begriff der Nation alles hineingemischt, was als Sprache, Heimatgefühl, Kindheitserinnerungen, Lebensgewohnheiten usw. die Seele des Menschen von Kindheit an mit bestimmten geographischen Gebieten verbindet. In gleicher Weise wurden verschiedene Teile der Bevölkerung vom Nationalismus erfasst und an ihn gekettet. Vor allem die Arbeiterklasse, die durch die fehlende Klasseneinsicht leicht in die Irre geführt wird, war das Hauptopfer. Bis der Sozialismus sich von seinen nationalistischen Vorurteilen und Fesseln befreit und sich für den Internationalismus ausgesprochen hat.
Gewiss war dieser Internationalismus vorerst nur eine Eroberung des Geistes. Denn er bestand aus einer einfachen Addition der verschiedenen Nationalismen, bzw. er war ein Entwurf der utopischen Weltrepublik aus der Zeit der großen Lehrmeister der Französischen Revolution. Dieser Internationalismus war also eine Kopfsache. Das Herz blieb mehr oder weniger im Nationalismus gefangen. Und in Fällen, in denen eine Entscheidung getroffen werden musste, war die Irrationalität des Herzens meist stärker als die Rationalität des Kopfes.
Selbst eine so abstrakte Doktrin wie der Bolschewismus, der mit knallharten Begriffen und eiskalter Logik bis zur äußersten Raffinesse arbeitete, bot bei seiner ersten ernsthaften Bewährungsprobe in der politischen Realität den überraschend-schmerzlichen Anblick, dass er den Rest seiner nationalistischen Bürgerlichkeit noch nicht verloren hatte. Dies zeigte sich insbesondere darin, dass die bolschewistische Regierung das Recht der kleinen Nationen, ihr eigenes politisches Schicksal zu bestimmen, „einschließlich der politischen Abspaltung von Russland“, propagierte und praktisch umsetzte. Dies war eine unmissverständliche Anerkennung des nationalistischen Prinzips.
Rosa Luxemburg wandte sich heftig gegen diesen bolschewistischen Nationalismus, prangerte seinen utopischen, kleinbürgerlichen Charakter scharf an und zeigte seine schädlichen Auswirkungen auf die künftige Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes auf.
Man kann nicht oft genug und mit Nachdruck auf die Überlegungen Luxemburgs verweisen, wenn man bedenkt, dass nicht nur der Faschismus eine neue Welle des Nationalismus über den Globus schickt, sondern auch Russland selbst eine ähnliche Entwicklung durchmacht.
Wir skizzieren hier Rosa Luxemburgs Argumentation durch eine Reihe von Zitaten aus ihrer Broschüre:
„Die Russische Revolution“, herausgegeben von Paul Levi (Verlag Gesellschaft und Erziehung, Berlin 1922)2
Darin heißt es:
„Dass überhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und Sondertendenzen mitten in die revolutionären Kämpfe hineingeworfen, ja, durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum Schibboleth3 der sozialistischen und revolutionären Politik gestempelt wurde, hat die größte Verwirrung in die Reihen des Sozialismus getragen und die Position des Proletariats gerade in den Randländern erschüttert. (S. 93) […] Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, dass sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar ‚bis zur staatlichen Absonderung‘, Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen ‚Nationen‘ benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen. (S. 90) […] Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. (S. 95) […] Statt die Proletarier in den Randländern vor jeglichem Separatismus als vor rein bürgerlichem Fallstrick zu warnen, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert. Sie haben durch diese Forderung des Nationalismus den Zerfall Russlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stoßen sollten. (S. 94-95) […] Statt gerade im Geiste der reinen internationalen Klassenpolitik, die sie sonst vertraten, die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, die Integrität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Länder im Bereiche der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen, haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie von dem ‚Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung‘ gerade umgekehrt der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten, glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre konterrevolutionären Bestrebungen geliefert.” (S. 94)
Rosa Luxemburg fährt fort:
„[…] den Bolschewiki war es beschieden, mit der Phrase von der Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die Mühle der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern.“ (S. 96) […] „Es liegt klar zu Tage, dass die Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung gegenwärtig die größte Gefahr für den internationalen Sozialismus bildet.“ (S. 97)
Diese Worte von Rosa Luxemburg hatten prophetischen Wert. Denn zur konterrevolutionären Liquidierung des Krieges gehörte der Versailler Vertrag mit seinen Reparationsforderungen und Abrüstungsbestimmungen, der später zum Sprungbrett für nationalistische Racheaktionen wurde und heute die größte Gefahr für den Sozialismus darstellt.
Der deutsche Faschismus hatte ein besonderes Interesse an der Stärkung des Nationalismus. Der Monopolkapitalismus, die treibende Kraft des Faschismus, war jedoch selbst längst über die nationalen Grenzen seiner Entwicklung hinausgewachsen. Sein internationaler Charakter hatte sich in der gegenseitigen Durchdringung und Verflechtung, der Kartellbildung und dem Zusammenschluss mit ausländischen Monopolen voll entfaltet. Und in seiner imperialistischen Politik war er sich ihrer aktiven und aggressiven Übertretung nationaler Tendenzen und Interessen voll bewusst.
Aber der Monopolkapitalismus brauchte den Nationalismus des Mutterlandes als Vormarschgebiet für seine weiteren imperialistischen Ziele. Denn er braucht für seine Eroberungspolitik, seine Raubzüge und Kriegsabenteuer die Aufrüstung und die notwendigen Mittel des Staates, er braucht die nationale Armee, die chauvinistische Gesinnung des Volkes und die Kriegsbereitschaft des ganzen Volkes. Diese ideologischen Voraussetzungen und die praktische Bereitschaft zu schaffen, es durch den Einsatz schreiender Propaganda in einen Zustand der Hetze und des Kriegswahnsinns zu versetzen und jede Gegenaktion brutal zu zerschlagen – das ist die nationale Mission des Faschismus.
Man muss zugeben, dass der Faschismus diese Aufgabe glänzend erfüllt hat. Er hat die Ideologie des Nationalismus in eine Ideologie der Wehrhaftigkeit umgewandelt und durch den Appell an die Angst der Menschen dafür nicht nur Verständnis, sondern sogar begeisterte Unterstützung gefunden. In der Praxis hat sich die Idee der Verteidigungsfähigkeit in Form von Staatsnotwendigkeiten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens durchgesetzt: in der Wirtschaft, der Verwaltung, der öffentlichen Meinung, der Technik, der Wissenschaft, der Bildung, der Kunst usw. Alle Kräfte, Ressourcen, Sympathien, Impulse und Triebe des nationalen Lebens wurden in den Dienst der nationalen Interessen gestellt. Es sind die Interessen des Monopolkapitalismus, die Politik der Welteroberung, des Imperialismus. Weil diese Interessen auf dem Spiel stehen, ist Deutschland entschlossen, die Hölle eines Zweiten Weltkriegs zu entfesseln.
So schrecklich diese Aussicht auch sein mag, sie hat etwas Selbstverständliches an sich. Wer die kapitalistische Notwendigkeit akzeptiert, muss auch den imperialistischen Krieg akzeptieren, und wer ihn akzeptiert, muss den Nationalismus mit all seinen Konsequenzen akzeptieren. Deshalb sind die demokratischen Staaten nicht weniger nationalistisch als die faschistischen Staaten, nicht weniger bereit, den Nationalismus in den Dienst des Krieges für kapitalistische Interessen zu stellen. Wenn sie den Faschismus bekämpfen wollen, dann nur, weil sie in ihm einen Konkurrenten sehen, der sie beherrscht und der ihre wirtschaftliche Position in der Welt bedroht. Wenn ihre Entwicklung auch das Stadium des Faschismus erreicht hat, werden sie es einem sorgfältig kultivierten Nationalismus bedenkenlos zur Verfügung stellen.
Nationalismus bedeutet das Recht auf staatliche Unterstützung. In kritischen, schwierigen, gefährlichen Situationen des Existenzkampfes sucht der nationalistische Mensch, allein oder in Gruppen und Klassen, die mit anderen verbunden sind, Hilfe beim Staat, bei der Nation.
Andernfalls würde der sozialistische Mensch oder die proletarische Klasse zum Klassenbewusstsein erwachen. Sie suchen Hilfe bei sich selbst, im Zusammenschluss mit anderen, in der Solidaritätsarbeit, im Kampf der Klasse. Sie erwarten keine Rettung von einer bürgerlichen Institution oder Kampfweise, keine Hilfe von einem bürgerlichen Staat oder der Nation. Sie beseitigen die Ursache der Gefahr, die ihre Existenz bedroht, indem sie die bürgerliche Gesellschaft beseitigen. Und sie bilden eine Gesellschaft, in der die Gefahr für sie nicht mehr besteht.
Der Bourgeois hat also das Recht, nationalistisch zu sein. Als Nationalist handelt er formal gesehen richtig, auch wenn er in der Praxis keinen Erfolg hat. Der Sozialist hingegen begeht ein Unrecht gegen seine Klasse, wenn er den Weg des Nationalismus beschreitet. Entweder hat er das Gebot seiner politischen Überzeugung noch nicht verstanden, oder er begeht Verrat. Auf die eine oder andere Weise ist er schuldig. Denn durch seine Haltung werden die Interessen der Bourgeoisie gefördert und die des Proletariats benachteiligt.
In diesem Sinne konnte Rosa Luxemburg schon vor zwanzig Jahren mit dem Finger auf die Bolschewiki zeigen, als sie den Vorwurf erhob, die Bolschewiki hätten durch ihren Nationalismus die größte Gefahr für das Weltproletariat geschaffen. Das Wort „Verräter“ hat sie nicht in den Mund genommen, aber es steht ungeschrieben zwischen den Zeilen ihrer bitteren Polemik.
Zum jetzigen Zeitpunkt können wir die Richtigkeit ihrer Anschuldigung bestätigen. Denn ihre Vorhersage ist eingetreten. Der Bolschewismus hat nicht nur die russische Revolution korrumpiert, er hat auch dazu beigetragen, die Revolutionen in Deutschland und Ungarn niederzuschlagen und die Revolutionen in China und Spanien zu verraten. Er hat das gesamte Weltproletariat an die Konterrevolution ausgeliefert.
Und dies im Zuge der gleichen Entwicklung, in der die ehemaligen Revolutionäre zur Verherrlichung Peters des Großen als Nationalheld und zur Proklamation des „Sozialismus in einem Land“ gelangt sind. Wann wird ihr Nationalismus durch einen Pakt zwischen Stalin und Hitler gekrönt werden?
1Anmerkung: Der Artikel wurde im Mai 1939 geschrieben. (GIK)
2Die Russische Revolution. Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen Manuskript
aus dem Nachlass. http://www.mlwerke.de/lu/lu3_106.htm
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