(Antipolitika) Man kann den Imperialismus nicht mit Anti-Imperialismus bekämpfen

Dieser Text erschien in der dritten Nummer der anarchistischen Publikation aus dem Balkan, namens Antipolitika. Wir finden nicht nur die komplette Ausgabe sehr gut, interessant und lesenswert, sondern finden dass einige der Artikel aus mehreren Gründen ins Deutsche übersetzt werden müssen.

Der hier vorhandene Text interessiert uns vor allem angesichts der Debatte um den falschen Antagonismus zwischen Imperialismus und Anti-Imperialismus, zum Thema siehe auch Gegen die leninistische Position zum Imperialismus von Antithesi. Darüber hinaus sehen wir die falsche und inflationäre Verwendung dieses, und nicht nur dieses, Begriffes im Krieg in der Ukraine, wo alle Seiten die andere als imperialistisch beschimpfen. Nun denn, hier ein Text der hoffentlich etwas Klarheit verschaffen kann.

Soligruppe für den sozialen Krieg und für Gefangene


Man kann den Imperialismus nicht mit Anti-Imperialismus bekämpfen

Heute wird Imperialismus im Allgemeinen als ein Begriff verstanden, der die Tendenz bestimmter Länder beschreibt, andere Länder auszubeuten. Diese scheinbar einfache Formulierung führt zu sehr unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Interpretationen – und politischen Praktiken.

Einleitung

Wie leisten Bevölkerungen in ausgebeuteten Ländern Widerstand? Welche Folgen hat die Tatsache, dass die Bevölkerung in den „mächtigen Ländern“, obwohl sie nicht für ihre Position verantwortlich ist, an den Privilegien ihres Landes teilhat? Bedeutet die Vorstellung, dass „[ganze] Länder andere [ganze] Länder ausbeuten“, nicht, dass Gesellschaften in Staaten organisiert sein sollten, um der Ausbeutung zu widerstehen? Und schließlich: Bedeutet die Existenz konkurrierender Imperialismen das Ende der sogenannten Globalisierung? All diese Fragen machen deutlich, dass Imperialismus nicht einfach zu definieren ist. Auf jeden Fall hat sich die Bedeutung des Wortes zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts „nicht weniger als zwölf Mal“ geändert.1

Der folgende Text geht von der Prämisse aus, dass der Kolonialismus der Eckpfeiler des kapitalistischen Systems ist, und erörtert zunächst die Folgen des völligen Fehlens des Begriffs Imperialismus in Marx‘ Werk. Dann wird kurz darauf eingegangen, dass der Anti-Imperialismus, der von der Linken im Dienste des „Kampfes gegen den Imperialismus“ eingesetzt wurde, auf dieselben Ideologien zurückgriff, die die Bourgeoisie gegen den Feudalismus eingesetzt hatte, d.h. die angebliche Notwendigkeit des Nation-Staates, der Mythos der „Entwicklung“ und des „Fortschritts“ sowie die Vorherrschaft des ökonomischen gegenüber dem sozialen und politischen Bereich. Abschließend werden einige Überlegungen zur Rückkehr des Anti-Imperialismus in der gegenwärtigen Zeit angestellt, in der auf den vermeintlichen Triumph des globalisierten Kapitalismus eine tiefe Krise folgt, in deren Rahmen starke Antagonismen innerhalb des Systems zunehmen.

TEIL Ι. DER FREIE MARKT FÜHRT ZUM KRIEG, UND DER ANTI-IMPERIALISMUS VON LENIN AUCH

Marx hat den Produktionsprozess als Ausbeutung der Arbeit gründlich analysiert, aber er hat sich nur kursorisch und zögerlich zu den Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion und dem Gründungskapital geäußert, das diesen Prozess ermöglicht hat. Ohne das Gründungskapital hätte es keine Investitionen, keine Produktion und keinen großen Sprung nach vorn geben können. (…) Diese Voraussetzung kann nicht aus dem kapitalistischen Produktionsprozess selbst hervorgehen, wenn dieser Prozess noch nicht in Gang gekommen ist. Sie muss von außerhalb des Produktionsprozesses kommen, und das tut sie auch. Sie kommt aus den geplünderten Kolonien. Sie kommt von den enteigneten und ausgerotteten Bevölkerungen der Kolonien. (…) Die primitive oder vorläufige Kapitalakkumulation ist nicht etwas, das einmal in der fernen Vergangenheit geschah und danach nie wieder. Sie ist etwas, das den kapitalistischen Produktionsprozess ständig begleitet und ein integraler Bestandteil davon ist.“ Fredy Perlman. Der anhaltende Reiz des Nationalismus, 19842

Imperialismus: der Ursprung eines Begriffs

Wie bereits erwähnt, unterscheiden Koebner und Schmidt zwölf Veränderungen des Imperialismusbegriffs im Laufe von hundert Jahren. Robert Young dokumentiert diese unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs3: Das Wort „Imperialismus“ wurde 1858 zum ersten Mal im Englischen verwendet, als Synonym für Despotismus (in demselben Sinne, in dem Marx es später verwenden sollte). In der damals stärksten Kolonialmacht, die sich selbstgefällig das „Britische Empire“ nannte, war der Begriff Imperialismus zunächst abwertend und bezog sich auf das Regime von Napoleon III. Von 1880 bis 1890 erhielt der Begriff im Englischen eine positive Bedeutung und bezeichnete eine potenzielle angelsächsische Föderation, die sich über den ganzen Globus ausbreiten und innerhalb des Britischen Reiches alle Staaten mit einer Bevölkerung britischer Herkunft, wie die USA und Australien, vereinen würde. Im Jahr 1895 beschrieb der Begriff „neuer Imperialismus“ die neue Explosion des europäischen Kolonialismus. Nach den Burenkriegen (1899-1902) behielt der Begriff seine negative Konnotation sowohl gegenüber dem französischen als auch dem britischen Kolonialismus bei. Im Jahr 1902 verknüpfte John A. Hobson in seinem Werk Imperialism: A Study, den Imperialismus mit dem Kapitalismus in Verbindung. Die Unterkonsumtion, so schrieb er, sei die Hauptursache der kapitalistischen Krise, und der Imperialismus schaffe neue Märkte, um dieses Problem zu lösen.

Marx und der Imperialismus

Marcel Stoetzler merkt an, dass „Marx das Wort Imperialismus nur selten und nur in seiner damals üblichen Bedeutung verwendete, nämlich als Beinahe-Synonym für Cäsarismus oder Bonapartismus. In diesen Kontexten bezeichnete Imperialismus die Herrschaft auf der Grundlage von Bündnissen der Eliten mit den unteren Klassen gegen die liberale Bourgeoisie oder sogar gegen das Parlament und die Herrschaft über bestimmte politische Parteien nach dem Vorbild des römischen Imperiums, die auf zentralisierten staatlichen Behörden und Monopolen basierte“.4

Anthony Brewer analysiert Marx‘ Ansicht über die fortschrittliche Rolle des Kolonialismus im Zeitalter des industriellen Kaptalismus: „Marx definierte den Kapitalismus als Verhältnis zwischen einer Klasse von freien Lohnarbeitern und einer Klasse von Kapitalisten. Der Wettbewerb erzwingt Akkumulation und technischen Fortschritt. Der Kapitalismus braucht kein untergeordnetes Hinterland oder eine Peripherie, auch wenn er sie nutzt und von ihr profitiert, wenn es sie gibt. Bis zur industriellen Revolution wurden die Außenbeziehungen des Kapitalismus durch das Handelskapital vermittelt und veränderten nicht unbedingt die anderen Gesellschaften, die in den Weltmarkt einbezogen wurden. Sobald das Industriekapital das Kommando übernommen hatte, konnte die kapitalistische Eroberung eine fortschrittliche (wenn auch brutale) Rolle spielen, indem sie die kapitalistische Industrialisierung einleitete.“5

Der indische Marxist Prabhat Patnaik formulierte es so: „Das von Marx im Kapital analysierte Modell des Kapitalismus ist für alle praktischen Zwecke ein Modell einer geschlossenen und isolierten Ökonomie. Sicherlich kann man dieses Modell erweitern, um eine koloniale Beziehung einzubeziehen, die im Wesentlichen darin besteht, einen Markt zu schaffen, auf dem die Waren der Metropole in Produkte der Dritten Welt umgewandelt werden, die von der Metropole benötigt werden; aber der Kolonialismus ist ein Lieferant von Mehrwert für die Akkumulation in der Metropole (…)“ Patnaik zufolge „taucht der Imperialismus in Marx‘ Diskussion über die primitive Kapitalakkumulation auf. Aber danach spielt er in seiner Analyse kaum noch eine bedeutende Rolle.“ Der Imperialismus gehört für Marx zur Vorgeschichte des Kapitalismus“.6

Der Imperialismus und der klassische Marxismus

Rosa Luxemburg versuchte in ihrer „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, wie sie es nannte, den analytischen blinden Fleck in Marx‘ Werk zu beseitigen.7 Laut Luxemburg ist die ständige Expansion der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der Grenzen eines rein kapitalistischen Systems unmöglich. Sie ist nur möglich, wenn sie von einer ständigen Ausweitung des Konsums begleitet wird. Je weiter sich jedoch das kapitalistische System und die Automatisierung entwickeln, desto weniger Kaufkraft haben die Arbeiterinnen und Arbeiter, so dass sich das System durch eine dritte, im Grunde vorkapitalistische und außerkapitalistische Produktionsweise reproduzieren muss. In ihren eigenen Worten: „[Die] vorherrschenden Methoden [des Kapitalismus] sind Kolonialpolitik, ein internationales Kreditsystem – eine Politik der Interessensphären – und Krieg. Gewalt, Betrug, Unterdrückung und Plünderung werden offen zur Schau gestellt, ohne dass man versucht, sie zu verbergen, und es bedarf einiger Anstrengung, um in diesem Gewirr aus politischer Gewalt und Machtkämpfen die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses zu entdecken.“

Lenin, dem es vor allem darum ging, die Rolle des Anführers des Proletariats zu übernehmen, verlangte von seinen Anhängern doktrinären Gehorsam gegenüber seinen eigenen theoretischen Konstruktionen des Marxismus. Es ging ihm nicht darum, Marx‘ Analyse zu verbessern, sondern darum, seine eigenen politischen Entscheidungen als unbestreitbare Konsequenz der marxistischen Orthodoxie zu fördern und unerschütterlich zu bestätigen. Lenins politisches Urteilsvermögen beschränkte sich auf die Überlegung, dass der Kampf der kapitalistischen Staaten um die Kontrolle der Kolonien den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde und dass die Bolschewiki bereit sein sollten, diese Chance zu ergreifen. Es ging ihm also nur darum, sich als unbestrittener Nachfolger von Marx in der Analyse des Status quo zu etablieren, und so ist auch sein berühmtes Pamphlet über den Imperialismus von 1916 zu verstehen. Sein Aufsatz griff die Argumente von Bucharin auf („Imperialismus ist die Politik des Finanzkapitals“), der wiederum die Analyse des Finanzkapitals des österreichischen Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie Hilferding (1910) aufgegriffen hatte: „Finanzkapital bedeutet eine Vereinigung des Kapitals, da die früher getrennten Sektoren des Industrie-, Handels- und Bankenkapitals jetzt unter der Kontrolle des großen Finanzkapitals stehen, mit dem die Industrie- und Bankmagnaten eng verbunden sind. Die Theorie der ‚Unterkonsumtion‘ in den kapitalistischen Metropolen als Ursache für die imperialistische Expansion wurde bereits 1898 von dem bourgeoisen Ökonomen J.A. Hobson formuliert“.

Was den analytischen Strang selbst angeht, hat Lenins Ansatz wenig hinzuzufügen. Die generative Verbindung zwischen Finanzkapital und Imperialismus wird einfach ohne Erklärung verkündet – die Explosion des Finanzkapitals am Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit der neuen Phase des kapitalistischen Kolonialismus zusammen, aber beide sollten als Folgen derselben Veränderungen im kapitalistischen System gesehen werden, nicht als Folgen des jeweils anderen. Offensichtlich ist der Imperialismus kein Stadium des Kapitalismus und schon gar nicht das letzte (er sollte vielmehr als Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus betrachtet werden), während die permanente primitive Akkumulation, zu der der Imperialismus gehört, ein dauerhaftes Merkmal des kapitalistischen Systems ist. Das Neue und Entscheidende an Lenins Analyse sind die politischen Schlussfolgerungen: „Wenn die Kapitalisten die Krisen im eigenen Land abwenden könnten, dann wäre der Kapitalismus ewig. Sie sind entschieden blinde Bauern im allgemeinen Mechanismus (…) Die Desintegration in der ganzen Welt breitet sich immer weiter aus“ Für Lenin sind „[d]iese blinden Bauern, die Bolschewiki in der Lage, sie für die Interessen der Revolution zu benutzen“, denn „für die Stabilisierung der sozialistischen Demokratie ist das Bündnis mit einem Imperialismus gegen einen anderen prinzipiell nicht unrealistisch (…) Unsere Politik besteht darin, die kapitalistischen Länder, die vom Imperialismus erdrosselt werden, um die Sowjetrepublik zu gruppieren. (…) Die Zweifel und Ängste, die in den fortgeschrittenen Ländern immer noch bestehen, die behaupten, dass Russland eine sozialistische Revolution riskieren könnte, weil es ein riesiges Land mit eigenen Lebensmitteln ist, während sie, die Industrieländer Europas, dies nicht können, weil sie keine Verbündeten haben – diese Zweifel und Ängste sind unbegründet. Wir sagen: ‚Ihr habt jetzt einen Verbündeten, Sowjetrussland.’“8

Anti-Imperialismus als Produkt der leninistischen Taktik

Das oben erwähnte Zitat von Lenin bezieht sich auf die (wünschenswerte) Möglichkeit eines taktischen Bündnisses der „Sozialistischen Republik“ mit den USA. „Großbritannien ging mit riesigen Kolonien aus dem Krieg hervor. Das tat Frankreich auch. Großbritannien bot Amerika ein Mandat – so nennt man das heute – für eine der Kolonien an, die es erobert hatte, aber Amerika nahm es nicht an. Amerikanische Geschäftsleute haben offensichtlich andere Gründe. Sie haben gesehen, dass ein Krieg aufgrund der Verwüstungen, die er anrichtet, und der Stimmung, die er unter den Arbeiterinnen und Arbeitern hervorruft, ganz konkrete Folgen hat, und sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es nichts bringt, ein Mandat anzunehmen. (…) Amerika steht in unvermeidlichem Widerspruch zu den Kolonien, und wenn es versucht, sich dort stärker zu engagieren, hilft es uns zehnmal mehr. Die Kolonien brodeln vor Unruhe, und wenn du sie anrührst, ob es dir gefällt oder nicht, ob du reich bist oder nicht – und je reicher du bist, desto besser -, wirst du uns helfen (…) Amerika kann sich nicht mit dem Rest Europas arrangieren – das ist eine Tatsache, die die Geschichte bewiesen hat.“9 Lenins Glaube an sich selbst als unfehlbaren und dämonischen Ingenieur der Revolution führte dazu, dass er die Kapitalisten der Vereinigten Staaten als einfache Geschäftsleute betrachtete. 1913 schrieb der US-Botschafter in Großbritannien, W. Page, an US-Präsident Wilson: „Die Zukunft der Welt gehört uns. . . . Was werden wir jetzt mit der Führung der Welt machen, wenn sie eindeutig in unsere Hände fällt?“ Und im Jahr 1914: „Was werden wir jetzt mit diesem England und diesem Empire machen, wenn die ökonomischen Kräfte die Führung der Rasse eindeutig in unsere Hände legen?“10

In diesem Wettstreit auf dem Weltschachbrett kam die Unterstützung der Kommunistischen Internationale für die „Selbstbestimmung der Völker“ zeitlich hinter der der Vereinigten Staaten zurück: Am 8. Januar 1918 machte US-Präsident Wilson in seiner Rede vor dem US-Kongress viele der Forderungen der damaligen Progressiven zu den Schlagworten der US-Außenpolitik: Freihandel, Demokratie und Selbstbestimmung der Völker. Am 11. Februar 1918 erklärte Wilson: „Nationale Bestrebungen müssen respektiert werden; die Völker dürfen nur noch durch ihre eigene Zustimmung beherrscht und regiert werden. Selbstbestimmung ist nicht nur eine Phrase. Es ist ein zwingender Grundsatz für Aktionen“11.

Nach der Schwächung der europäischen Mächte durch den Wettbewerb um die Kontrolle der Kolonien stimmte Lenin mit Wilson in der Aussicht überein, die kolonisierten Gebiete in Nation-Staaten zu verwandeln: „… wir sind zu dem einstimmigen Entschluss gekommen, nicht mehr von der „bourgeois-demokratischen“ Bewegung, sondern von der national-revolutionären Bewegung zu sprechen (…) Es steht außer Zweifel, dass jede nationale Bewegung nur eine bourgeois-demokratische Bewegung sein kann,“ (…) wir als Kommunisten sollten und werden die bourgeois-liberalen Bewegungen in den Kolonien nur unterstützen, wenn sie wirklich revolutionär sind.“12

Dieser Wandel in Analyse, Taktik und Strategie führte zu einer Reihe von Propagandastunts: Die bolschewistischen Anführer versprachen den muslimischen ehemaligen Untertanen des Russischen Imperiums einen „heiligen Krieg gegen den Imperialismus“ und riefen „Es lebe die Sowjetmacht, es lebe die Scharia“13. 1920 rief Gregory Zinoviev, Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, auf dem Kongress der Völker des Ostens in Baku (Aserbaidschan) aus: „Brüder, wir rufen euch zum heiligen Krieg [Dschihad] auf, in erster Linie gegen den britischen Imperialismus!“ Der Anführer der Roten Armee, Michail Frunze, erklärte im Mai 1920 den 118 Delegierten des Ersten Kongresses der turkestanischen Frauen – die alle einen Schleier trugen -, dass in den Augen der sowjetischen Behörden ihr Parandschi (der schwere Rosshaarschleier, der fast bis zum Boden reichte) nichts Negatives über sie oder ihre politische Einstellung aussagt. Während des Bürgerkriegs dienten diese Schleier sogar einem militärischen Zweck: Die Delegierten könnten dabei helfen, Turkestan zu befreien, erklärte er und fügte hinzu, dass „unter dem Paranji ein ehrenhaftes Herz schlägt, unter dem Paranji [man] der Revolution treu dienen kann und der Paranji manchmal einen mutigen Späher für die Rote Armee verbirgt“.14

Das theoretische Schema innerhalb der leninistischen Taktik, mit dem die marxistische Theologie begründet wurde, wird von Marcel Stoetzler zusammengefasst:

„Im Mittelpunkt des leninistischen Imperialismuskonzepts steht die Vorstellung, dass sich der zweideutige Kapitalismus, der verschärfte Ausbeutung mit der Möglichkeit der Emanzipation verbindet (wie von Marx und Engels beschrieben), um 1900 in einen ganz und gar negativen Kapitalismus verwandelt hat: Letzterer ist ein ‚Monopolkapitalismus‘, der durch das Finanzkapital, eine korrupte Arbeiterinnen und Arbeiteraristokratie und den Imperialismus gekennzeichnet ist und mit allen Mitteln bekämpft und zerstört werden muss. Der völlig schlechte im Gegensatz zum zweideutigen Kapitalismus wird ergänzt durch die Vorstellung von schlechtem, pervertiertem Nationalismus (Imperialismus) im Gegensatz zu gutem, gutartigem Nationalismus (wie im „gesunden Patriotismus“ usw.). (…) Die Leninisten stützen sich bei ihrem Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Nationen auf die damals von Liberalen und Demokraten geteilte Vorstellung des 19. Jahrhunderts, dass die Nationenbildung die spätfeudale Atomisierung überwindet und mit einer einheitlichen nationalen Gesellschaft die Voraussetzungen für emanzipatorische Bewegungen schafft. Die Behauptung der Leninisten, dass die „Völker des Ostens“ die Nationenbildung als erste Stufe der Emanzipation benötigen, während die „Völker des Westens“ diese „Stufe“ bereits hinter sich gelassen haben und für den Klassenkampf bereit sind, ohne durch Nationalität und Ethnizität belastet zu sein, hat wohl etwas Orientalisches. (Die Realpolitik des ‚Sozialismus in einem Land‘ hat selbst diese geografisch begrenzte antinationale Haltung schnell ersetzt.)“15

Kolonialismus als Vorbedingung des Kapitalismus

Mit anderen Worten: Es geht darum, klar zu sehen, klar zu denken – das ist gefährlich – und die unschuldige erste Frage klar zu beantworten: Was ist Kolonialisierung im Grunde? (…) Ein für alle Mal und ohne mit der Wimper zu zucken zuzugeben, dass die entscheidenden Akteure hier der Abenteurer und der Pirat, der Großhändler und der Reeder, der Goldgräber und der Händler, Appetit und Gewalt sind, und hinter ihnen der unheilvolle projizierte Schatten einer Zivilisationsform, die sich an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte aus inneren Gründen gezwungen sieht, den Wettbewerb ihrer antagonistischen Ökonomien auf die Welt auszudehnen.

Wenn ich meine Analyse fortsetze, stelle ich fest, dass die Heuchelei erst seit kurzem besteht; dass weder Cortez, der Mexiko von der Spitze des großen Teocalli aus entdeckt, noch Pizzaro vor Cuzco (geschweige denn Marco Polo vor Cambaluc) behaupten, sie seien die Vorboten einer höheren Ordnung; dass sie töten; dass sie plündern; dass sie Helme, Lanzen und Amoretten haben; dass die geifernden Apologeten später kamen; dass der Hauptschuldige in diesem Bereich die christliche Pedanterie ist, die die unehrlichen Gleichungen Christentum=Zivilisation, Heidentum=Saventum aufgestellt hat.

Ja, es würde sich lohnen, die Schritte, die Hitler und der Hitlerismus unternommen haben, im Detail klinisch zu untersuchen und dem sehr vornehmen, sehr humanistischen, sehr christlichen bourgeois des zwanzigsten Jahrhunderts klarzumachen, dass (… ), was er Hitler nicht verzeihen kann, ist nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen, es ist nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, es ist das Verbrechen gegen den weißen Mann, die Erniedrigung des weißen Mannes, und die Tatsache, dass er auf Europa kolonialistische Verfahren anwandte, die bis dahin ausschließlich den Arabern in Algerien, den Kulis in Indien und den Schwarzen in Afrika vorbehalten waren.“ Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme, 1955

TEIL II DIE „NEUE WELT“, DIE GÖTTLICHE AUFTEILUNG DES PLANETEN UND DER DREIECKSHANDEL

Das Zeitalter der Entdeckungen ist eine lose definierte europäische historische Periode vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Es begann mit dem Wunsch der europäischen Mächte, die „Seidenstraße“ durch eine alternative Seeroute für wertvolle Produkte „aus Indien“ zu ersetzen, um den Umweg über die muslimischen Königreiche zu vermeiden, was die Kosten für Gewürze und andere exotische Produkte in die Höhe trieb. Die Seestreitkräfte der iberischen Königreiche waren Vorreiter bei diesem Unterfangen. Schiffe aus Lissabon versuchten, die Indischen Inseln zu erreichen, indem sie Afrika umsegelten, während die katholischen Könige von Kastilien und Aragonien die Expedition von Kolumbus finanzierten, der die Indischen Inseln auf einer Weltumsegelung erreichen wollte. 1470 entdeckten Seefahrer aus Lissabon eine unbewohnte Insel am Äquator mit einem idealen Klima für tropische Landwirtschaft, auf der 1493 die Kolonie São Tomé gegründet wurde. Mit dem Ziel, umfangreiche Zuckerplantagen zu errichten, schlossen die Portugiesen ein Abkommen mit dem benachbarten afrikanischen Königreich Kongo. Der König des Kongo konvertierte zum Christentum und lieferte den „Entdeckern“ im Tausch gegen europäische Produkte Sklaven für die Plantagen. Dies war der Beginn des Kolonialismus, des Sklavenhandels und des „Dreieckshandels“. In der Zwischenzeit „entdeckte“ Kolumbus mit seinen Expeditionen zur See die „neue Welt“. 1494 teilte Papst Alexander VI. mit dem Vertrag von Tordesillas die Welt in die Seekönigreiche von Iberien auf: Alle Länder westlich des Meridians, der durch die Azoren verläuft, sollten dem Thron von Lissabon gehören und die Länder östlich einer imaginären Linie („Linea Alexandrina“) dem Thron von Kastilien und Aragon. Bis heute wird in den beiden westafrikanischen Ländern und in Brasilien Portugiesisch gesprochen und nicht Spanisch wie im Rest von Süd- und Mittelamerika. Der Vertrag von Tordesillas wurde durch den Vertrag von Saragossa (1529) ergänzt, der die asiatischen „Besitztümer“ in die Königreiche Iberia, „westlich und östlich des Antimeridians“ aufteilte (was erklärt, warum auch auf den Philippinen Spanisch gesprochen wird und warum Portugiesisch in Osttimor und Macau noch immer als Amtssprache anerkannt ist).

Am 9. Juli 1595 brach auf São Tomé eine Sklavenrevolte, die Revolta Angolar, aus. Die Rebellen nahmen die Hauptstadt ein, die Revolte wurde ein Jahr später blutig niedergeschlagen. Da die Kolonialherren keinen neuen Aufstand riskieren wollten, beschlossen sie, das „Dreieckssystem“ in die sogenannte Neue Welt, nach Amerika, zu übertragen. Der transatlantische Sklavenhandel, der vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert betrieben wurde, bildete die Grundlage für das bekanntere „Dreieckshandelssystem“, ein System der Zirkulation von Sklaven, landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Industriewaren zwischen Afrika, Amerika und Europa. Afrikanische Sklaven wurden in der „kolonialen“ Landwirtschaft in Amerika eingesetzt, und die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Produkte wurden dann nach Europa exportiert. Die Waren wurden in Europa weiterverarbeitet und ein Teil davon nach Afrika exportiert, im Austausch gegen afrikanische Sklaven, die dann von Afrika nach Amerika transportiert wurden.

Die Sklaven wurden nicht nur für die Plantagen in die Neue Welt gebracht, sondern auch für die Edelmetallminen wie Gold (das „Eldorado“, das die Konquistadoren suchten) und vor allem Silber. Potosí ist eine Stadt und Hauptstadt des gleichnamigen Departamento (A.d.Ü., gleichzusetzen mit einem Bundesland in Deutschland) in Bolivien. Im 16. Jahrhundert galt die Region als der größte Industriekomplex der Welt und stand unter der Kontrolle der spanischen Kolonialregierung. Die Gründung der Stadt Potosi war auf die Entdeckung von Silber in der Gegend im Jahr 1544 zurückzuführen. Die Ureinwohner wurden zur Zwangsarbeit in den Silberminen von Potosi gezwungen. Von Anfang an starben Tausende von Sklaven aufgrund der harten Arbeitsbedingungen und der großen Höhe an Lungenentzündungen oder Quecksilbervergiftungen während der Silberverarbeitung. Um 1600 stieg die Sterblichkeitsrate in den lokalen indigenen Gemeinden sprunghaft an. 1608 baten die spanischen Bergbauherren den Thron von Madrid um die Erlaubnis, afrikanische Sklaven zu importieren. Es wird geschätzt, dass während der Kolonialzeit acht Millionen einheimische und afrikanische Sklaven für den Abbau von Silber starben.

Die kolonialen Besitztümer verwandelten das Königreich Kastilien und Aragonien in das Spanische Reich, „in dem die Sonne nie unterging“, da es über die ganze Welt verbreitet wurde. Aber der Unterhalt all dieser Besitztümer war sehr teuer und die Edelmetalle aus den neuen Besitztümern wurden hauptsächlich zur Finanzierung von Kriegen in Europa und zur Verteidigung der überseeischen Besitztümer gegen Piraten und Söldner verwendet. Da das spanische Reich den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht vollzog, begann schließlich ein langer Weg des Niedergangs.

Die Geburt des kapitalistischen Systems

Die Weltherrschaft wurde von Kräften aus Nordeuropa beansprucht, die bereit waren, aus den neuen Bedingungen Kapital zu schlagen. Im Jahr 1602 wurde die erste offizielle Börse der Welt von der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC – Verenigde Oostindische Compagnie) gegründet. Die VOC war das erste Unternehmen in der Geschichte, das Anleihen und Aktien ausgab. Die globalen Systemtheoretiker Wallerstein und Arrighi (REFS?) betrachten die ökonomische und finanzielle Dominanz der niederländischen Republik im 17. Jahrhundert als das erste historische Modell kapitalistischer Hegemonie. Der „Kaufmannskapitalismus“ der Niederlande basierte auf Handel, Schifffahrt und Finanzen und nicht auf der Produktion oder der Landwirtschaft. Die enorme Kapitalanhäufung in dieser Zeit schuf eine Nachfrage nach „Investitionsmöglichkeiten“. Dies erforderte neue Institutionen zur Regulierung des Investitionskapitals, was zur Gründung der Amsterdamer Börse und der Amsterdamsche Wisselbank führte. Es gab auch Neuerungen in der Seeversicherung und in der rechtlichen Struktur des Handels, wie z. B. die Gründung (ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte) von Aktiengesellschaften. Nach der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) wurde (am 3. Juni 1621) die Niederländische Westindien-Kompanie (WIC – Westindische Compagnie) gegründet, deren Hauptzuständigkeitsbereich die Beteiligung der Niederlande am Sklavenhandel in der Neuen Welt (die oben erwähnten „Investitionsmöglichkeiten“) war. Es handelte sich auch um eine Art staatlichen Monopolkapitalismus, da die VOC und die WIC die ausschließliche Zuständigkeit für ihre individuellen Sektoren hatten, während sie gleichzeitig unter der Kontrolle der Föderation (Staten-Generaal) der „Parlamente“ der unabhängigen Regionen der Niederlande standen.

Nachdem die Niederlande ihre Unabhängigkeit von der damaligen Supermacht Spanien erlangt hatten, errichteten sie in einem 30-jährigen Krieg die kapitalistische Hegemonie über das bis dahin unschlagbare Spanien und Portugal, nur um anschließend (in einem weiteren 30-jährigen Krieg) von der englischen Marine besiegt zu werden, die konkurrierende Kolonial- und Handelsprojekte vorantrieb. Durch „Eisen und Blut“ wurde Großbritannien schließlich zur treibenden Kraft des Weltkapitalismus. Das heutige Zentrum des globalen Finanzsystems, die Wall Street, befindet sich an der gleichen Stelle, an der die Niederländische Westindien-Kompanie die „Waalstraat“ angelegt hatte, als Manhattan das Zentrum der Stadt war, die damals Neu-Amsterdam hieß und von einem der größten Sklavenhändler der Zeit, Pieter Stuyvesant, regiert wurde (zu dessen Ehren die gleichnamigen Zigaretten benannt sind). Am 13. Dezember 1711, als die Stadt unter die Kontrolle des englischen Throns übergegangen war und in New York umbenannt wurde, richtete der Stadtrat in der Wall Street einen gesetzlichen Markt für afrikanische und indische Sklaven ein. Die großen Gewinne der Händler und Spekulanten, die zum Sklavenmarkt strömten, und die zusätzlichen Transaktionen zwischen ihnen führten schließlich zur Gründung der New Yorker Börse am selben Ort.

Die neue Nutzung der Wall Street begann nur ein Jahrzehnt, nachdem die ehemaligen kolonialen Besitzungen Nordamerikas ihre Unabhängigkeit vom europäischen Kolonialismus erlangt hatten und die Vereinigten Staaten begannen, ihre eigene Kolonialgeschichte zu schreiben. Damit wurde gewissermaßen eine Brücke geschlagen zwischen der ersten Welle der expansiven Besetzung des gesamten Planeten durch westliche Mächte (15. bis 18. Jahrhundert) und der zweiten Welle, dem Kolonialismus des Industriekapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zweite Welle des Kolonialismus wurde weitgehend durch die Industrielle Revolution ausgelöst. Die Industriestaaten brauchten die Kolonien als Quelle billiger und stetig fließender Rohstoffe, als Absatzmärkte für die Industriegüter der jeweiligen Kolonialmacht, aber auch als Absatzmärkte für die Investition von überschüssigem (A.d.Ü., mehrwertigen/surplus) Kapital (mit garantierten Aussichten auf hohe Gewinne bei minimalem Risiko). Im Rahmen des industriellen Wettbewerbs zwischen den europäischen Staaten wurden Kolonien auch genutzt, um strategische Punkte wie die Straße von Gibraltar und den Suezkanal zu kontrollieren. Außerdem konnten die Kolonien als Militärstützpunkte auf der ganzen Welt genutzt werden.

Revolten als treibende Kraft der Geschichte

In dieser blutigen Darstellung der Geburt des Kapitalismus über den Kolonialismus bis hin zum „Imperialismus“ am Ende des 19. Jahrhunderts konnte die Aufzeichnung der Revolten, die von der eurozentrischen Geschichtsschreibung in der Regel ignoriert wird, nicht außer Acht gelassen werden. In der Tat wurden die Revolten während der ersten Welle des Kolonialismus in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung nicht einmal erwähnt. Die erste antikoloniale Revolte, die der Sklaven in São Tomé, fand, wie wir gesehen haben, bereits 1595 statt und führte zu einer Neuordnung des Dreieckshandels. Wir wollen hier nur die größten Revolten erwähnen, die folgten, als sich der Dreieckshandel zu einem Transfer von Sklaven aus Afrika in die „Neue Welt“ entwickelte und dort die großen Plantagen für „Kolonialprodukte“ entstanden: Revolten wie die berühmte „Nannie der Maroons“, die afrikanische Sklavin, die 1734 auf Jamaika den ersten „Maroon-Krieg“ auslöste. Es folgte der Aufstand von 1751 bis 1757 in St. Dominic, für den ihr Anführer, der afrikanische Sklave François Mackandal, von den französischen Kolonialherren als „Zauberer“ auf den Scheiterhaufen gebracht wurde. Es folgten der große Aufstand der Eingeborenen 1780-1782 in Bolivien und Peru und der Aufstand der „Schwarzen Jakobiner“ auf Haiti im Jahr 1791. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass die Sklavenrevolten und die antikapitalistischen Revolutionen in der „Neuen Welt“ den Kurs des Kapitalismus bestimmten (eine alternative Version von Marx‘ Formulierung, dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte des Klassenkampfes ist). Der Aufstand in São Tomé trug zur Verlagerung der Plantagen in die „neue Welt“ bei. Die Revolten in der Karibik (Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts) und die antikolonialen bourgeois-demokratischen Revolutionen in Lateinamerika verlagerten die „Aktivität“ der europäischen Kolonialisten auf die Sklavenplantagen im Süden der USA oder Brasiliens. Das Ende der Sklaverei in den USA (1865) und Brasilien (1888) lenkte die Aufmerksamkeit der Kolonialisten auf die Errichtung von Sklavenplantagen in Afrika selbst, im sogenannten „Kampf um Afrika“ – mit schrecklichen Folgen, z. B. starben im „freien (für die Ausbeutung) Staat Kongo“ (im Besitz des belgischen Throns) von 1885 bis 1908 fünf bis zehn Millionen Afrikaner auf Kautschukplantagen.

Schlussfolgerungen aus der kurzen Genealogie des Dekolonialismus als Kapitalismus

Einem weit verbreiteten (und manipulierbaren) Irrtum zufolge ist der Imperialismus relativ jung, besteht aus der Kolonisierung der gesamten Welt und ist die letzte Stufe des Kapitalismus. Diese Diagnose verweist auf ein bestimmtes Heilmittel: Nationalismus wird als Gegenmittel zum Imperialismus angeboten: Nationale Befreiungskriege sollen das kapitalistische Imperium zerschlagen.

Diese Diagnose dient einem Zweck, aber sie beschreibt kein Ereignis und keine Situation. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir diese Auffassung auf den Kopf stellen und sagen, dass der Imperialismus die erste Stufe des Kapitalismus war, dass die Welt anschließend von Nation-Staaten kolonisiert wurde und dass der Nationalismus die vorherrschende, die aktuelle und (hoffentlich) die letzte Stufe des Kapitalismus ist. Die Fakten wurden nicht erst gestern entdeckt; sie sind so bekannt wie der Irrglaube, der sie leugnet.“ Fredy Perlman. Die anhaltende Anziehungskraft des Nationalismus, 1984

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ist keine Folge der Entwicklung der Produktivkräfte; jahrhundertelang gab es kapitalistische Gesellschaften, in denen der Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit keineswegs im Mittelpunkt stand; die erste Verwirklichung der getrennten Arbeit war nicht die des Industriearbeiters und Arbeiters, sondern die des Söldnersoldaten. Die primäre Akkumulation fand nicht einmalig statt, sondern ist ein Prozess, der ununterbrochen andauert. Selbst in dem engen Sinne, in dem Marx sie beschrieb, geschah sie viel früher und an anderen Orten als in Europa. Im Kontext der westlichen Welt, in dem Marx das Phänomen der primitiven Akkumulation betrachtete, umfasste es viel mehr Ausprägungen.16

Jahrzehntelang war die Hauptinterpretation des Imperialismus durch die Linke, dass er Ausdruck einer anisotropen Entwicklung sei, d.h. dass die imperialistischen Länder die „Dritte Welt“ unterentwickelt hielten (und ihre „wahre“ kapitalistische Entwicklung verhinderten), um sie auszubeuten, während es vom ersten Moment des Kolonialismus an (Dreieckshandel) darum ging, wer mit Schwert und Kanone den Wert von Menschen und natürlichen Ressourcen in der globalen Ausbeutungsteilung bestimmt.

TEIL III ANTIIMPERIALISMUS ALS AUSSENPOLITIK

Imperialismus und Antiimperialismus in der Zeit des Kalten Krieges

Wie wir bereits gesehen haben, entschied sich Lenins Staatskapitalismus dafür, die nationale Ideologie zu „benutzen“, indem er sie mit verschiedenen antikapitalistischen Chips und Emanzipationsnuggets verzierte, um eine neue vereinheitlichende Ideologie namens Anti-Imperialismus aufzubauen. Die Formierung der kolonisierten Bevölkerungen auf der ganzen Welt zu Nation-Staaten unter der Kontrolle lokaler kommunistischer Parteien und Bourgeoisien schuf ein globales, ebenfalls imperiales System mit der UdSSR im Zentrum. Die Bindung an die Militärmaschinerie des Sowjetimperiums würde die neuen Nation-Staaten vor der Ausplünderung ihrer Rohstoffe durch die „Imperialisten“ schützen. Natürlich würde das „Mutterland des Sozialismus“ diese „Ausbeutung“ der natürlichen Reichtümer übernehmen, während seine regionalen Verbündeten eine rasche Industrialisierung durchführen sollten, um die „anisotrope Entwicklung“, die angeblich „vom Imperialismus aufgezwungen“ wurde, umzukehren – das war die alternative Beschreibung der „primitiven Akkumulation“, diesmal „zugunsten des Sozialismus“.

Das maoistische China trat als Konkurrent „von links“ des Sowjetimperiums auf, das bereits mit dem westeuropäischen und nordamerikanischen Kapitalismus konkurrierte. Im April 1969 erklärte Marschall Lin Biao (Mao Zedongs offizieller Nachfolger) in seiner Grundsatzrede zur Außenpolitik Chinas auf dem 9. ZK-Kongress einen Zweifrontenkampf gegen die USA und die UdSSR, bezeichnete beide Supermächte als „Papiertiger des Imperialismus“ und erklärte die Bereitschaft seines Landes zu groß angelegten Kriegen: „Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution.“ Diese grundlegende These Lenins hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Nach den historischen Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs können wir sicher sein, dass, wenn die russischen Revisionisten, die amerikanischen Imperialisten und die Weltreaktion beschließen, einen dritten Weltkrieg anzuzetteln, dies unweigerlich die Entwicklung der Widersprüche beschleunigen und populäre Revolutionen entfachen wird, die die ganze Meute der Imperialisten, Revisionisten und Reaktionäre eine Stunde früher ins Grab schicken werden. Dann begann China, das seine Kriegsführung gegen die UdSSR intensivierte, seine schrittweise Annäherung an die USA, um… Stalins politisches Erbe als weltweiter Anführer des internationalen Proletariats zu verteidigen, „ein Erbe, auf das die UdSSR mit ihrer Destalinisierung verzichtet hatte“.17

Während das „Mutterland des Sozialismus“ in den 1970er Jahren in seiner Einflusszone eine koloniale Politik des Staatskapitalismus durchsetzte, begann in der „freien Welt“ ein neuer Kolonialismus mit IWF-Krediten an die frisch entkolonialisierten Länder, die sie zu Schuldenkolonien machten. In den kapitalistischen Metropolen stand der antiimperialistische revolutionäre Militarismus im Mittelpunkt der Politik und des öffentlichen Diskurses, der zu einem unglaublichen Patchwork führte, zu dem die IRA, die ETA, Gaddafi, die Stasi, die RAF, „marxistische“ palästinensische Organisationen, „Carlos der Schakal“, die Unterstützung „antiimperialistischer“ Diktatoren in der „Dritten Welt“ und andere gehörten, und zwar in einer Weise, die eher an einen schlechten Kriminalroman erinnerte als an ein Zusammentreffen von befreienden Praktiken und Zielen. Gleichzeitig wurde die maoistische „Drei-Welten-Theorie“, für die Zehntausende von Rebellen auf der ganzen Welt starben, schließlich zu einer diplomatischen Karte in den internationalen Beziehungen, als sich die Kommunistische Partei Chinas zu dem wandelte, was sie heute ist, und es ihr gelang, ihr Modell des Totalitarismus zu ändern, ohne auch nur ihren Namen ändern zu müssen. In Angola unterstützten die USA im Zuge der „Annäherung“ zwischen den USA und dem kommunistischen China von den 1970er bis in die 1990er Jahre die maoistische Guerillagruppe UNITA gegen die prosowjetische Volksbefreiungsbewegung von Angola (MPLA) in einem Bürgerkrieg zwischen zwei kommunistischen antiimperialistischen Guerillagruppen, der 500.000 Menschen das Leben kostete.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten wir in der Balkanregion das groteske, aber auch äußerst tragische Ereignis der Unterstützung des „Antiimperialisten“ Milošević durch die griechische Geschäftswelt, die Medien, die orthodoxe Kirche, die Kommunistische Partei, verschiedene Zweige des Staatsapparats und die Neonazis. Die bekennenden griechischen Antiimperialisten haben in der letzten Phase der Kriege im ehemaligen Jugoslawien gegen den „von der NATO inszenierten“ Krieg gewettert.

Interessant ist, dass das Vorbild der „pro-NATO UCK“ die Koalition verschiedener antiimperialistischer kommunistischer pro-Hodscha („Interventionist“) Organisationen im Kosovo war. Nach den Arbeiterbewegungen 1981 in Jugoslawien und der gewaltsamen Repression der jugoslawischen Armee gegen albanische Arbeiterinnen und Arbeiter im Kosovo aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit schlossen sich verschiedene linke Gruppen zur Kosovo-Volksbewegung (LPRK) zusammen. Sie traten für den „echten Stalinismus“ Albaniens gegen die „westfreundlichen Revisionisten“ Belgrads ein und stellten die Ausbeutung des albanischsprachigen Agrar- und Industrieproletariats des Kosovo als jugoslawischen Imperialismus in Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Westen dar. Nach dem Zusammenbruch des Hoxha-Regimes in Albanien blieb vom „stalinistischen Anti-Imperialismus“ im Kosovo nur noch der Nationalismus übrig, der in der NATO Verbündete suchte.

Die „Besonderheit“ des Balkans

Die Geschichte des Balkans hat ihre eigenen besonderen und sehr wichtigen Merkmale. In regelmäßigen Abständen wird heutzutage irgendein Balkanland als „Pulverfass“ bezeichnet, womit das Stereotyp der Beschreibung des Balkans als „Pulverfass Europas“ aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aufrechterhalten wird. Dies wird nach dem vorherrschenden Narrativ durch den Ausbruch der Jugoslawienkriege unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestätigt. Das erste europäische Stereotyp über den Balkan war jedoch das des Vampirs – man denke an Le Fanus Horrorroman Carmilla (1872) oder Bram Stokers bekannteren Dracula (1892).

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Balkan zu einem beliebten Gesprächsthema und Reiseziel, da Städtereisende aus den entwickelten europäischen Nation-Staaten den exotischen Balkan als lebendiges Laboratorium sahen, in dem sie Zuschauer ihrer eigenen Vergangenheit werden konnten, da sich verschiedene Ethnogenesen direkt vor ihren Augen abspielten, während die Abwesenheit von kapitalistischer Ethik und eurozentrischem Szientismus auf dem Balkan die Westler mit ihrem wilden, animalischen Alltagsleben faszinierte. Die ethnisch unreine, „uneheliche“ und „fremde“ Identität des Balkans kommt am besten in der Figur des Dracula zum Ausdruck, des halbmenschlichen Untermenschen, der das rassisch reine Europa ansteckend bedrohte. In den Romanen dieser Zeit tauchen verschiedene fiktive Balkanländer wie Ruritanien, die Steiermark oder die Herzo-Slowakei auf, die den transzendentalen Charakter der Ethnogenese einfangen. In den darauffolgenden Jahren wurden transzendentale Erbfolgekriege provoziert, da die verschiedenen lokalen Bourgeoisien ihre Interessen mit einigen der europäischen Großmächte identifizierten, die ihre Konfrontation miteinander nach außen verlagert hatten und in diesem Fall den Nutzen aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches maximieren wollten. Die Geschwindigkeit, mit der der zivilisierte Westen von der Horrorliteratur zur schrecklichen Realität der Kriege für die kapitalistische Expansion übergehen konnte, ist nur mit der Geschwindigkeit der kapitalistischen Expansion selbst vergleichbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte der Antagonismus der nationalen Kapitalistenklassen nach einem Vorwand, um auf dem Balkan auszubrechen. Am Ende desselben Jahrhunderts musste der Balkan erneut in den Krieg ziehen, dieses Mal im Namen der sogenannten kapitalistischen Globalisierung. Und jetzt hören wir wieder Kriegsgeschrei, im Kontext des innerkapitalistischen Wettbewerbs.

TEIL IV. DER KAMPF GEGEN DEN IMPERIALISMUS KANN NICHT ANTI-IMPERIALISTISCH SEIN

Den Kapitalismus herauszufordern bedeutet, die Art und Weise, wie er die Macht neu ordnet, zu verändern und schließlich abzuschaffen. Doch um dies effektiv zu tun, müssen wir genau verstehen, was wir in Frage stellen. Macht, so argumentieren wir, ist kein äußerer Faktor, der einen materiellen Akkumulationsprozess verzerrt oder unterstützt; sie ist vielmehr die innere Triebkraft, das Mittel und der Zweck der kapitalistischen Entwicklung im Allgemeinen. Aus dieser Sicht lässt sich der Kapitalismus am besten nicht als Konsum- und Produktionsmodus, sondern als Machtmodus verstehen und bekämpfen.18

Wenn der Anti-Imperialismus historisch gesehen die Antwort auf die Frage war, wie man mit dem nicht ökonomischen Aspekt des Kapitalismus (ein Aspekt, den die Anhänger des „exogenen Sozialismus“ viel zu spät entdeckt haben) so umgehen kann, dass er den Interessen des bolschewistischen und dann des maoistischen Staatskapitalismus dient, sollten wir wahrscheinlich eine andere Frage stellen: Wie können die Kämpfe derjenigen, die die Brutalität der Ausplünderung in der kapitalistischen Peripherie erleben, vermeiden, sich auf Nationalismus zu beschränken und alternative Wege zur kapitalistischen Ausplünderung aufzuzeigen? Wie können wir uns in den Wohlstandszonen organisieren, ohne die planetarische Ungleichheit zu ignorieren und ohne auf Orientalismus zurückzugreifen? Wie können wir die Kämpfe der Ausgeschlossenen und der von Ausgrenzung Bedrohten mit den Kämpfen in den globalen kapitalistischen Zentren verbinden? Wie schaffen wir es, auf internationalistische Weise auf das Aufkommen der extremen Rechten zu reagieren, die sich angeblich gegen die Auswirkungen der Globalisierung richtet? Wie können wir die kapitalistische Kriegsmaschinerie stoppen? Die Antworten auf diese Fragen hängen von der kollektiven Intelligenz und den vielschichtigen Aktivitäten der Bewegung ab. Hier wollen wir nur einige Punkte ansprechen.

Es gibt viele, die wohlwollend fragen: „Aber sollten sich die Bevölkerungen in der kapitalistischen Peripherie nicht selbst organisieren, um sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren?“ In der Geschichte hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass, wenn sich eine Bevölkerung in einem vertikalen, pyramidalen Machtsystem organisiert, „um sich gegen die mächtigen Länder zu wehren“, die Verwalter dieses Systems versuchen werden, sie in ein breiteres Pyramidensystem zu integrieren. Mit anderen Worten: Sie werden sich nicht gegen die stärkeren kapitalistischen Mächte und schon gar nicht gegen hierarchische Systeme im Allgemeinen wenden. Darüber hinaus wird der heutige internationalisierte Kapitalismus über die vertikalen Strukturen hinaus, auf denen er beruht (die verschiedenen Nation-Staaten, ihre Armeen und ihre Polizeikräfte), von einem erdrückenden transnationalen Netzwerk von Banken beherrscht, aber auch von einem Mediensystem, das die imaginäre Dimension der Menschheit prägt und unser abstraktes und symbolisches Denken bestimmt. Wenn wir vertikale Machtstrukturen schwächen und Risse im Netz der globalen Ökonomie aufreißen wollen, müssen wir zuerst versuchen, genau dieses symbolische System zu verändern. Das geht nicht, indem wir Interpretationen wiederholen, die auf ganzer Linie versagt haben.

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus zwar immer universeller wird, die „einheitliche Theorie“, die ihn zu erklären versuchte, sich aber längst aufgelöst hat. Gab es jemals ein anderes Beispiel für eine internationalistische Organisation und Aktion gegen den Kolonialismus als den Anti-Imperialismus des Sowjetimperiums? Die Antwort lautet: Ja. Die Erste Internationale hat durch ihre bloße Existenz und ihre erklärten Ziele Kräfte auf der ganzen Welt befreit. Die IWW war ein Vorbild für eine Organisation mit wirklich internationalistischem, revolutionärem Charakter, da sich Einwanderer aus Europa neben Einwanderern aus Asien und Nachkommen afrikanischer Sklaven in den USA organisierten. Die IWW unterstützten die rebellischen indigenen Bauern in Mexiko und organisierten darüber hinaus die ersten gemischten Gewerkschaften/Syndikate aus afrikanischen und weißen Arbeiterinnen und Arbeitern auf dem afrikanischen Kontinent. „Lange Zeit konnte man sagen, dass der Anarchismus ernsthafter internationalistisch war als sein Konkurrent [der Marxismus]. Diese Haltung kam zum Teil dadurch zustande, dass der Anarchismus auf den riesigen Migrationswellen aus Europa ritt, die die letzten 40 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg prägten: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Juden und so weiter strömten in die Neue Welt, rund um das Mittelmeer und in die von den Europäern gegründeten Reiche in Asien und Afrika. (Malatesta verbrachte zum Beispiel Jahre in Argentinien und Ägypten, während Marx und Engels in Westeuropa blieben).“19

In vielen Teilen der Welt „kam es zu einer massenhaften proletarischen Migration, die transnationale Netzwerke von Militanten schuf und radikale Publikationen hervorbrachte. Die Kombination dieser Prozesse führte zur Entstehung einer Bewegung, die sich über alle Kontinente ausbreitete“.20 Dennoch war die Komintern, wie D. Broder feststellt, „… von Anfang an ein weitgehend europäisches Phänomen (…) es gab einige asiatische Vertreter, aber keine aus Lateinamerika oder Afrika.“ Die Komintern verbreitete sich dank der Politik des so genannten „Anti-Imperialismus“. Broder zitiert den charakteristischen autobiografischen Satz von Ho Chi Minh: „Was mich zuerst dazu brachte, an Lenin und die Dritte Internationale zu glauben, war nicht der Kommunismus, sondern der Patriotismus“.21

In krassem Gegensatz zu dieser Priorität des Vaterlandes stand die praktische Unterstützung der antikolonialen Kämpfe durch anarchistische Organisationen (die in der „tragischen Woche“ von Barcelona gipfelte, d.h. dem Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen Spaniens Kolonialkrieg in Marokko vom 26. Juli bis 2. August 1909), die mit einer ausdrücklichen Ablehnung sowohl des Militarismus als auch des Nationalismus einherging.

Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Lenins Pamphlet über den Imperialismus hatte William Du Bois, ein weithin missverstandener afroamerikanischer Schriftsteller und Militanter, im Atlantic Monthly eine ausführliche Analyse mit dem Titel „The African Roots of War“ veröffentlicht, in der er das Gemetzel des Ersten Weltkriegs nicht mit „ungleicher Entwicklung“, der „Verschmelzung von Bankkapital mit Industriekapital“ und „Monopolkapitalismus“ in Verbindung brachte, sondern den Krieg als Zusammenstoß konkurrierender Interessen zwischen den westlichen Mächten als Teil eines Prozesses betrachtete, der im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte.

„Es ist nicht mehr nur der Handelsfürst oder das aristokratische Monopol oder sogar die Arbeiterklasse, die die Welt ausbeutet: Es ist die Nation; eine neue demokratische Nation, die aus vereintem Kapital und Arbeit besteht. Die Arbeiter bekommen zwar noch nicht so viel Anteil, wie sie wollen oder bekommen werden, und unten gibt es immer noch große und unruhige ausgeschlossene Klassen. (…) Solche Nationen sind es, die die moderne Welt beherrschen. Ihr nationales Band ist nicht nur sentimentaler Patriotismus, Loyalität oder Ahnenverehrung. Es ist die Vermehrung von Reichtum, Macht und Luxus für alle Klassen in einem Ausmaß, das die Welt noch nie gesehen hat.“22

In The Souls of White Folk (1920) interpretiert Du Bois den „neuen Imperialismus“ als eine Notwendigkeit für die Reproduktion der Macht im Westen:

„Der modernen weißen Zivilisation ist klar, dass die Unterwerfung der weißen Arbeiterklasse nicht mehr lange aufrechterhalten werden kann. Bildung, politische Macht und zunehmendes Wissen über die Technik und Bedeutung des industriellen Prozesses werden in naher Zukunft zu einer immer gerechteren Verteilung des Reichtums führen. Die Zeit der Superreichen neigt sich dem Ende zu, soweit es die einzelnen weißen Nationen betrifft. Aber es gibt ein Schlupfloch. Es gibt eine Chance für Ausbeutung im großen Stil und für übermäßigen Profit, nicht nur für die sehr Reichen, sondern auch für die Mittelklasse und für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Chance liegt in der Ausbeutung der dunkleren Völker. Hier winkt die goldene Hand. Hier gibt es keine Gewerkschaften/Syndikate oder Wählerstimmen oder fragende Zuschauer oder unbequeme Gewissen. Diese Männer können bis auf die Knochen ausgebeutet und in „Strafexpeditionen“ erschossen und verstümmelt werden, wenn sie revoltieren. In diesen dunklen Ländern kann die „industrielle Entwicklung“ in übertriebener Form alle Schrecken der europäischen Industriegeschichte wiederholen, von Sklaverei und Vergewaltigung bis hin zu Krankheit und Verstümmelung, mit nur einem einzigen Erfolgskriterium: der Dividende!“23

Die anti-imperialistischen Kämpfe gegen den Kolonialismus vertrauten auf den Rahmen der national-patriotischen staatskapitalistischen Perspektive, anstatt den Kapitalismus als Machtsystem, das auf Plünderung, Krieg und Rassismus – aber auch auf Integration – beruht, ins Herz zu treffen. Bei dem Versuch, alles auf den „zentralen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ zu reduzieren, ignorierten die meisten Theoretiker des Marxismus entscheidende Kategorien wie Kolonialismus und Militarismus. Die Taktik des Leninismus brachte die nationale Ideologie durch die Hintertür ins Spiel. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn heute erleben wir das scheinbar paradoxe Phänomen, dass „fortschrittliche“ Mitglieder der transnationalen globalen Elite sich gegen den wachsenden populistischen Nationalismus aussprechen. Ist es möglich, dass der Kapitalismus, der sich auf die nationale Ideologie (als einigendes ideologisches Regime, das die Religion ersetzt) verlassen hat, nun transnationale Formationen fördert und gleichzeitig den populistischen Nationalismus als seinen Gegner definiert? Der transnationale Kapitalismus strebt nach höheren Profiten durch die Verlagerung der Produktion in Zonen mit niedrigen Arbeitskosten, kombiniert mit einem neuen Kolonialismus (Plünderung von Ressourcen durch „Freihandel“, Kreditaufnahme und ständige Kriege „niedriger Intensität“ in der Peripherie) und mit dem Angriff auf Rechte und Leistungen in den „privilegierten Zonen“, wodurch Bedingungen extremer Ungleichheit innerhalb der kapitalistischen Zentren entstehen. In diesem Zusammenhang könnten wir „Imperialismus“ als ökonomischen, kulturellen und militärischen Expansionismus (außerhalb der eng gefassten kapitalistischen Produktionsweise) definieren, der darauf abzielt, den Kapitalismus als globales System zu reproduzieren. Darüber hinaus gibt es „individuelle Imperialismen“, die die jeweiligen (nicht unbedingt territorialen) Expansionsbestrebungen supranationaler Formationen oder regionaler Mächte im Rahmen eines Wettbewerbs um die Macht innerhalb des Weltsystems beschreiben. Schließlich sind alle Staaten innerhalb der globalen kapitalistischen Aufteilung und entsprechend ihrem Potenzial expansionistisch, da sie einerseits den Expansionismus ihrer bourgeoisen Klassen unterstützen und andererseits an suprastaatlichen Formationen beteiligt sind, die genau für die Bedürfnisse des imperialistischen Aspekts des Weltsystems eingerichtet wurden. Die nationale Ideologie ist immer noch notwendig: Sie ist das wirksamste falsche Bewusstsein der Unterdrückten. Konfrontationen führen zu einem neuen Gleichgewicht, da in jedem Land die Verschlechterung der Lebensqualität als Ergebnis eines „nationalen Feindes“ (eines anderen Staates, einer supranationalen Organisation, aber nicht des Kapitalismus und seiner Krise) gerechtfertigt werden kann. Außerdem bereiten sie ständig den Boden für einen Krieg, den ultimativen Neustart der kapitalistischen Maschine.

Der Nationalismus war für die sogenannte Bourgeoisie in ihren ersten Schritten nützlich, weil er sie einte, indem er sie spaltete. Der transnationale Kapitalismus wird nicht durch die Individuation seiner Subjekte bedroht. Im Gegenteil, er entwirft und reproduziert alle Arten der Trennung. Während innerstaatliche Rivalitäten und Antagonismen zwischen verschiedenen suprastaatlichen Formationen zunehmen, wird die globale Vorherrschaft des Kapitalismus nicht im Geringsten in Frage gestellt. Das kapitalistische Imaginäre wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern die Apathie steigt in unvorstellbare Höhen. Im Gegensatz zu Guy Debords beruhigender Prophezeiung, dass „die Tage dieser Gesellschaft gezählt sind (…) ihre Bewohner in zwei Teile gespalten sind, von denen einer sie zerstören will“ (vielleicht der berühmteste Aphorismus aus der 4. italienischen Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels), erzeugen die „Nationalismen von unten“ auf der ganzen Welt nun Spaltungen, die den Menschen helfen, die Strukturen unserer eigenen Unterwerfung tiefer zu verinnerlichen.


TEXTE:

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1Richard Koebner und Helmut Dan Schmidt. „Imperialism: The Story and Significance of a Political Word“, 1964.

2A.d.Ü., auch wenn wir den Text von einer anderen Übersetzung auf unseren Blog übernommen haben, haben wir die Stelle selber nochmals übersetzt um gewisse marxistische Begriffe korrekter anzuwenden.

3Robert Young. Postcolonialism: An Historical Introduction 2007.

4Marcel Stoetzler. «Marx, Karl (1818-83) and imperialism», Palgrave Encyclopaedia of Imperialism and Anti-Imperialism, vol 1. 2016.

5Brewer 1980.

6Patnaik 2017.

7Rosa Luxemburg. The Accumulation of Capital 1913.

8V. I. Lenin, Eighth All-Russia Congress of Soviets, December 29, 1920.

9Lenin, Ebenda

10Briefe vom Botschafter Page and den Präsidenten Wilson, 1913 und 1914, zitiert von Aimé Cesaire, Discourse on Colonialism, übersetzt von Joan Pinkham, Monthly Review Press, New York 2001, p. 76.

1111 February, 1918: President Wilson’s Address to Congress, Analyzing German and Austrian Peace Utterances,http://www.gwpda.org/1918/wilpeace.html

12V. I. Lenin, The Second Congress Of The Communist International, July 19-August 7, 1920.

13Dave Crouch, “The Bolsheviks and Islam”, International Socialism 2 : 110, Spring 2006.

14Rote Armee Anführer Mikhail Frunze, 1920 zitiert in D.T. Northrop, Veiled Empire: Gender and Power in Soviet Central Asia, New York 2004.

15Marcel Stoetzler. „Critical Theory and the Critique of Anti-Imperialism“, The SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory, τόμος 3. 2018.

16Zusammenfassungen dieser Idee, die hauptsächlich in den Werken von Silvia Federici, George Caffentzis und Peter Linebaugh entwickelt wurde, findest du zum Beispiel in: Camille Barbagallo, Nicholas Beuret und David Harvey (Hrsg.) Commoning with George Caffentzis and Silvia Federici, Pluto Press 2019. Siehe auch die Proceedings der Konferenz: Towards a Global History of Primitive Accumulation, International Institute of Social History, Amsterdam, 9. bis 11. Mai 2019.

17Lin Biao. Report to the Ninth National Congress of the Communist Party of China, delivered on April 1 and adopted on April 14, 1969, https://www.marxists.org/reference/archive/linbiao/1969/04/01.htm

18Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan. “Capital as Power – Toward a New Cosmology of Capitalism,” Dissident Voice, May 2010.

19Steven Hirsch und Lucien van der Walt (eds.). «Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940», Studies in Global Social History, 6, 2010.

20Adams 2003.

21David Broder, “Machete and Sickle”, https://jacobinmag.com/2019/03/latin-american-communism-comintern-third-international].

22W.E.B. Du Bois, «The African Roots οf War», Atlantic Monthly, May 1915.

23W.E.B. Du Bois. The Souls οf White Folk, New York 1920.

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