„Partei und Arbeiterklasse“ von Anton Pannekoek und ein Kommentar von Paul Mattick dazu

Wir haben diese beide Texte ausgegraben und übersetzt, was der Fall beim Text von Paul Mattick ist, weil sie sich beide der Kritik der Parteien, auch der leninistischen Avantgardevorstellung der Partei, widmen. Dies sollte nicht nur für alle Anarchistinnen und Anarchisten interessant sein, sondern kann qualitativ in der Debatte zur Formalität vs. Informalität eingefügt werden. Denn die Kritik an Parteien-Avantgarden, Gewerkschaften/Syndikate und dergleichen wird rasch auf den entweder autoritären und/oder reformistischen Charakter beider zum Ausdruck gebracht. Nicht dass diese Kritiken falsch wären, liegt jedoch das Problem eher darin dass diese Kritik nicht den Umfang trägt denn die Kritik an sich inne haben müsste. Parteien-Avantgarden und/oder Gewerkschaften/Syndikate könnten durchaus „in der Lage sein“ dennoch die soziale Revolution vorantreiben, dass tun sie aber nicht und die Kritik von Mattick wie auch von Pannekoek unterstreicht dies auf einer materiellen und nicht idealistischen Art und Weise. Daher sehen wir diese Texte als eine Bereicherung für alle Anarchistinnen und Anarchisten die der aufständischen Praxis eine Absage gemacht haben.


(März 1936 Anton Pannekoek) Partei und Arbeiterklasse

Aus: Rätekorrespondenz, Heft 15, März 1936.

Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; die alte Bewegung ist verkörpert in Parteien; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind – jede Partei mußte klein anfangen – sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Losungen eines Anderen, einer Gruppe übernehmen, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir als ihr natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisationen.

Diese Anschauung steht im schärfsten Widerspruch zu den überlieferten Auffassungen über die Rolle der Partei als wichtigstes Organ zur Aufklärung des Proletariats. Daher stößt sie in vielen Kreisen, die von der sozialistischen oder kommunistischen Partei nichts mehr wissen wollen, auf Widerstand und Ablehnung. Teilweise ist das die Macht der Tradition; wenn man immer den Arbeiterkampf als Parteikampf und Kampf der Parteien betrachtet hat, ist es sehr schwer, die Welt vom Gesichtspunkt der Klasse allein und des Klassenkampfes zu sehen. Aber teilweise steckt darin auch das Bewußtsein, daß trotz alledem die Partei eine wesentliche und wichtige Rolle in dem Befreiungskampf des Proletariats zu spielen hat. Diese wollen wir jetzt näher betrachten.

Der Unterschied, um den es sich hier handelt, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: eine Partei ist eine Gruppierung nach Anschauungen, eine Klasse ist eine Gruppierung nach Interessen. Die Klassenangehörigkeit wird bestimmt durch die Rolle im Produktionsprozeß, die bestimmte Interessen mit sich bringt. Die Parteiangehörigkeit beruht auf dem Zusammenschluß von Personen, die die gleichen Ansichten über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen hegen.

Früher hat man geglaubt, aus theoretischen und praktischen Gründen, daß dieser Gegensatz verschwinden werde in der Klassenpartei, der „ArbeiterPartei“. Während des Emporkommens der Sozial-Demokratie schien es, als ob diese Partei allmählich die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte, teils als Mitglieder, teils als Mitläufer. Und weil die Theorie besagte, daß gleiche Interessen notwendig gleiche Ansichten und gleiche Ziele bewirken müssen, müßte der Unterschied zwischen Klasse und Partei stets mehr verschwinden. Die geschichtliche Entwicklung hat dann ganz andere Dinge gezeigt. Die Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, andere Arbeitergruppen organisierten sich gegen sie, Teile spalteten sich ab, ihr eigener Charakter änderte sich, ihre Programmpunkte wurden revidiert oder bekamen eine andere Bedeutung. Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht nach einer glatten Linie, sondern in Kämpfen und Gegensätzen. Mit dem Wachstum des Arbeiterkampfes wächst auch die Macht des Gegners und wirft immer wieder neue Unsicherheit und Zweifel in die Herzen der Kämpfer, welchen Weg sie zu wählen haben. Und jeder Zweifel bewirkt Spaltungen, innere Gegensätze und Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung.

Man soll diese Spaltungen und Richtungskämpfe nicht einfach bejammern als etwas Schädliches, das nicht sein sollte und die Arbeiter machtlos hält. Es ist schon oft in diesen Schriften gesagt worden: die Arbeiterklasse ist nicht schwach weil sie innerlich gespalten ist, sondern sie ist innerlich gespalten weil sie schwach ist. Weil die Macht des Gegners gewaltig ist und die alten Mittel gegen ihn sich unfähig zeigten, deshalb muß die Arbeiterklasse sich ihre neuen Wege suchen. Was sie zu tun hat, kann nicht als eine Erleuchtung von oben kommen; sie muß es sich in schwerer Arbeit, in Denkarbeit, im Zwiespalt entgegengesetzter Meinungen, im harten Meinungskampf erringen. Selbst muß sie den Weg suchen, und dazu dient der innere Kampf. Sie muß alte Gedanken und Illusionen aufgeben und neue Wege finden; und weil das jetzt gerade so schwer ist, deshalb ist die Spaltung so groß.

Man soll auch nicht die Illusion haben, daß diese scharfen Partei- und Meinungskämpfe nur für diese Übergangszeit natürlich sind und nachher in einer großen Einheit verschwinden werden. Gewiß, in der Entwicklung des Klassenkampfes kommen Zeiten vor, daß auf einmal alle Kräfte sich auf einen großen erreichbaren Erfolg konzentrieren, und die Revolution von einer mächtigen Einheit getragen wird. Aber dann, wie nach jedem Sieg, kommen sofort die Differenzen über die weiteren Ziele. Auch wenn die Arbeiterklasse siegreich ist, steht sie immer wieder vor den schwierigsten Aufgaben, die Gegner weiter niederzuwerfen, die Produktion aufzubauen, neue Ordnung zu schaffen. Es ist unmöglich, daß dabei alle Arbeiter, alle Schichten und Gruppen mit ihren oft noch verschiedenen Interessen dabei ganz dasselbe denken und fühlen, und sofort von selbst einmütig sind in dem weiteren Handeln. Gerade weil sie Menschen sind, die es selbst machen müssen, die selbst ihren Weg finden müssen, werden die schärfsten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die sich gegenseitig bekämpfen, und dadurch erst die Gedanken zu Klarheit bringen können.

Wenn dabei nun die Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, daß in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen. Die Tat, das Handeln, der materielle Kampf ist die Sache der Arbeitermassen selbst, in ihrer Gesamtheit, in ihrer natürlichen Gruppierung als Fabrikbelegschaften, weil diese die Einheiten im praktischen Kampfe sind, oder in anderen natürlichen Gruppen. Es wäre widersinnig, wenn die Anhänger einer Parteimeinung in einen Streik treten und die Anhänger einer anderen Richtung weiter arbeiten sollten. Aber beide Richtungen werden durch ihre Anhänger ihren Standpunkt über Streik oder Nichtstreik in der Fabrikversammlung verfechten, und dadurch der Gesamtheit eine wohlbegründete Entscheidung ermöglichen. Der Kampf ist so groß, der Feind so mächtig, daß nur die Kraft der Massen in ihrer Gesamtheit einen Sieg erringen kann; materielle und moralische Kraft der Tat, der Einheit, der Begeisterung, aber zugleich geistige Kraft der Einsicht, der Klarheit. Und darin liegt die große Bedeutung solcher Parteien oder Meinungsgruppen, daß sie diese Klarheit bringen, durch ihre gegenseitigen Kämpfe, ihre Diskussionen, ihre Propaganda. Sie sind die Organe der Selbstaufklärung der Arbeiterklasse, mittels deren sie für sich selbst den Weg zur Freiheit herausfindet.

Es versteht sich dabei, daß solche Parteien und ihre Anschauungen nicht fest und unveränderlich sind. Mit jeder neuen Lage der Dinge, mit jeder neuen Kampfaufgabe werden sich die Geister trennen und vereinigen; andere Gruppierungen bilden sich mit anderen Programmen. Sie haben einen fluktuierenden Charakter, und passen sich damit den stets neuen Situationen an.

Die heutigen Arbeiterparteien haben einen völlig entgegengesetzten Charakter. Sie haben ja auch ein anderes Ziel; sie wollen die Herrschaft für sich erobern. Sie wollen nicht Hilfsmittel der Arbeiterklasse sein sich zu befreien, sie wollen selbst herrschen, und sagen, daß das die Befreiung des Proletariats sein wird. Die Sozialdemokratie, die im Zeitalter des Parlamentarismus aufwuchs, denkt sich diese Herrschaft als eine Parlamentsmehrheitsregierung. Die kommunistische Partei führt die Parteiherrschaft zur äußersten Konsequenz, als Parteidiktatur.

Solche Parteien, im Gegensatz zu dem oben Gesagten, müssen starre Gebilde sein, die sich fest abgrenzen, durch Mitgliedsbuch, Statut, Parteidisziplin, Aufnahme- und Ausschlußverfahren. Denn sie sind Machtapparate, kämpfen um die Macht, halten ihre Anhänger durch Machtmittel bei der Stange, und suchen ihre Ausdehnung, ihr Machtgebiet stetig zu erweitern. Ihre Aufgabe ist nicht, die Arbeiter zum Selbstdenken zu erziehen, sondern sie zu gläubigen Anhängern gerade ihrer Lehre zu dressieren. Während daher die Arbeiterklasse für ihre Machtentwicklung und ihren Sieg die unbeschränkteste Freiheit der geistigen Entwicklung braucht, muß die Parteiherrschaft alle anderen Meinungen als ihre eigene zu unterdrücken suchen. Bei „demokratischen“ Parteien geschieht das verhüllt, unter dem Scheine der Freiheit, bei den Diktatur-Parteien geschieht es durch offene brutale Unterdrückung.

Es gibt schon viele Arbeiter, die einsehen, daß die Herrschaft der sozialistischen oder der kommunistischen Partei nur eine verhüllte Form der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse sein würde, wobei die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse bestehen bleibt. Aber statt derer soll nun nach ihrer Ansicht eine „revolutionäre Partei“ aufgebaut werden, die wirklich die Herrschaft der Arbeiter erstrebt und den Kommunismus verwirklichen will. Nicht eine Partei in dem Sinne als wir im ersten Stück darlegten, eine Meinungsgruppe, die nur aufklärt, sondern eine Partei im heutigen Sinne, die selbst um die Macht kämpft, die als Vorhut der Klasse, als Organisation der bewußten revolutionären Minorität die Parteiherrschaft erobert, um sie für die Befreiung der Klasse auszunutzen.

Wir behaupten demgegenüber: In dem Namen „revolutionäre Partei“ liegt schon ein innerer Widerspruch. Eine solche Partei kann nicht revolutionär sein. Es sei denn, daß man einen Regierungswechsel mit etwas Gewalttätigkeit – wie z. B. den Beginn des dritten Reiches – eine Revolution nennt. Wenn wir über „revolutionär“ reden, ist dabei natürlich immer an die proletarische Revolution, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse gedacht.

Die „revolutionäre Partei“ beruht auf der Idee, daß die Arbeiterklasse eine Gruppe von Führern braucht, um für sie die Bourgeoisie zu besiegen und eine neue Regierung zu bilden – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig zur Revolution ist. Sie beruht auf der Idee, daß diese Führer dann durch Gesetzesdekrete den Kommunismus einführen, – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig ist, ihre Arbeit und Produktion zu verwalten und zu ordnen.

Ist aber diese Idee vorerst nicht richtig? Da jetzt, in diesem Augenblick, die Arbeiterklasse als Masse sich noch nicht fähig zeigt zur Revolution, ist es daher nicht nötig, daß jetzt die revolutionäre Vorhut, die Partei, es für sie macht? Und gilt das nicht solange die Massen den Kapitalismus ruhig ertragen? Demgegenüber muß die Frage gestellt werden: welche Macht könnte eine solche Partei zur Revolution aufbringen? Wie ist sie imstande, die kapitalistische Klasse zu besiegen? Nur dadurch, daß die Massen hinter ihr stehen. Nur dadurch, daß die Massen aufstehen und durch Massenangriff, Massenkampf, Massenstreik die alte Herrschaft stürzen. Also ohne das Auftreten der Massen geht es auf keinen Fall.

Dann kann zweierlei geschehen. Entweder die Massen bleiben bei der Aktion. Sie gehen nicht nach Hause, um der neuen Partei die Regierung zu überlassen. Sie organisieren ihre Macht in Fabriken und Werkstätten, sie bereiten den weiteren Kampf zur völligen Besiegung des Kapitals vor, sie bilden durch Arbeiterräte eine feste Verbindung, um damit die Leitung der ganzen Gesellschaft in die Hand zu nehmen – kurz, sie zeigen, daß sie nicht so ganz unfähig zur Revolution sind als es schien. Dann werden sich notwendig Konflikte entwickeln mit der Partei, die selbst die Herrschaft in die Hand nehmen will, und die durch ihre Lehre, daß die Partei Führerin der Klasse sein müsse, diese Selbsttätigkeit der Klasse nur als Unordnung und Anarchie betrachtet. Es kann dann geschehen, daß die Bewegung der Arbeiterklasse sich machtvoll entwickelt und über die Partei hinweggeht. Oder umgekehrt könnte die Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter niederwerfen. Aber jedenfalls ist die Partei dann ein Hemmnis der Revolution. Weil sie mehr sein will als Propaganda- und Ausklärungsorgan. Weil sie als Partei herrschen und führen zu müssen glaubt. Oder die Arbeitermassen befolgen die Parteilehre und überlassen ihr die weitere Leitung der Sachen; sie folgen den von oben gegebenen Parolen, haben Zutrauen in die neue Regierung (wie in Deutschland 1918), die den Sozialismus oder Kommunismus verwirklichen wird, und gehen nach Hause an die Arbeit. Sofort setzt nun die Bourgeoisie ihre ganze Klassenkraft ein, deren Wurzeln noch ungebrochen sind: ihre Geldmacht, ihre gewaltige geistige Macht, ihre wirtschaftliche Macht in Fabrik und Großunternehmen. Dagegen ist die regierende Partei zu schwach; sie kann nur durch Mäßigung, durch Zugeständnisse, durch Nachgeben sich aufrecht erhalten. Dann sagt man, daß mehr im Augenblick nicht zu erreichen ist, und daß es Torheit bei den Arbeitern ist, durch Drängen unerfüllbare Forderungen durchsetzen zu wollen. So wird die Partei, beraubt von der Massenkraft einer revolutionären Klasse, zum Werkzeug der Erhaltung der bürgerlichen Herrschaft.

Wir sagten vorher, daß eine „revolutionäre Partei“ ein innerer Widerspruch sei, im Sinne der proletarischen Revolution. Man könnte es anders sagen: in dem Wort „revolutionäre Partei“ bedeutet revolutionär immer eine bürgerliche Revolution. Immer wenn die Massen auftreten, um eine Regierung zu stürzen, und dann die Herrschaft einer neuen Partei überlassen, haben wir eine bürgerliche Revolution, die Ersetzung einer herrschenden Schicht durch eine neue frische herrschende Schicht. So kam in Paris in 1830 die Geldbourgeoisie an die Stelle des Grundbesitzes, in 1848 die industrielle Bourgeoisie an Stelle der Finanz, in 1870 die gesamte kleine und große Bourgeoisie. So kam in der russischen Revolution die Parteibürokratie als regierende Schicht zur Herrschaft. Aber in West-Europa und Amerika ist die Bourgeoisie so viel mächtiger und fester verankert in Betrieben und Banken, daß sie sich durch eine Parteibürokratie nicht beiseite schieben läßt. Sie kann nur besiegt werden, indem immer wieder an die Massen appelliert wird und diese die Betriebe beschlagnahmen und ihre Räteorganisation aufbauen. Aber dann stellt sich immer wieder heraus, daß in den Massen die wirkliche Kraft liegt, die in der fortschreitenden eigenen Aktion die Kapitalsherrschaft vernichtet.

Diejenigen, die also von einer „revolutionären Partei“ träumen, ziehen nur eine halbe, beschränkte Lehre aus der bisherigen Entwicklung. Weil die Arbeiterparteien, die S.P. und die K.P. zu bürgerlichen Herrschaftsorganen zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung geworden sind, ziehen sie nur den Schluß, sie müssen es besser tun. Sie sehen nicht, daß hinter dem Versagen jener Parteien ein viel tieferer Konflikt liegt, nämlich der Konflikt zwischen der Selbstbefreiung der ganzen Klasse durch eigene Kraft und der Beschwichtigung der Revolution durch eine arbeiterfreundliche neue Herrschaft. Sie glauben, eine revolutionäre Vorhut zu sein, weil sie die Massen ohne Aktivität, gleichgültig sehen. Die Massen sind aber inaktiv, weil sie den Weg des Kampfes, die Einheit der Klasse noch nicht klar sehen, und instinktiv die gewaltige Macht des Gegners und ebenso instinktiv die riesige Größe ihrer eigenen Aufgabe herausfühlen. Werden sie durch die Verhältnisse einmal zur Aktion getrieben, dann müssen sie diese Aufgabe, die Selbstorganisation, die Beschlagnahme der Produktionsmittel, den Angriff auf die wirtschaftliche Macht des Kapitals anfassen. Und dann stellt sich heraus, daß jene angebliche Vorhut, die versucht, die Massen nach ihrem Programm, mittels einer „revolutionären Partei“ zu führen und zu beherrschen, gerade durch diese Auffassung sich als rückständig erweist.


Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.

(Paul Mattick 1941) Pannekoek’s „Die Partei und die Arbeiterklasse“

Unsere Gewohnheit, Namen wegzulassen, hat zu einem Missverständnis geführt. Der Artikel „Partei und Arbeiterklasse“, der nach seinem Erscheinen in der Council Correspondence von der APCF nachgedruckt und in Solidarity (Nr. 34-36) von Frank Maitland besprochen wurde, stammt von Anton Pannekoek. Dieser ist derzeit nicht in der Lage, auf Maitlands Kritik zu antworten. Da ich in gewisser Weise für den Inhalt der Council Correspondence verantwortlich bin, werde ich versuchen, einige der Fragen von Maitland zu beantworten.

Die aufgeworfenen Probleme können nicht abstrakt und allgemein angegangen werden, sondern nur spezifisch in Bezug auf konkrete historische Situationen. Als Pannekoek sagte, dass der „Glaube an Parteien“ der Hauptgrund für die Ohnmacht der Arbeiterklasse ist, sprach er von Parteien, wie sie tatsächlich existiert haben. Es ist offensichtlich, dass sie weder der Arbeiterklasse gedient haben, noch ein Instrument zur Beendigung der Klassenherrschaft waren. In Russland wurde die Partei zu einer neuen herrschenden und ausbeutenden Institution. In Westeuropa sind die Parteien durch den Faschismus abgeschafft worden und haben sich damit als unfähig erwiesen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu emanzipieren oder in Machtpositionen aufzusteigen. (Die faschistischen Parteien können nicht als Instrumente zur Beendigung der Ausbeutung der Arbeit angesehen werden). In Amerika dienen die Parteien nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern, sondern den Kapitalisten. Parteien haben alle möglichen Funktionen erfüllt, aber keine, die mit den wirklichen Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu tun hat.

Maitland stellt diese Tatsachen nicht in Frage. Wie die Christen, die Kritik mit dem Argument zurückweisen, dass das Christentum nie ernsthaft ausprobiert wurde, argumentiert Maitland, dass „das Problem nicht ist, ob es eine Partei gibt oder nicht, sondern welche Art von Partei.“ Selbst wenn es stimmt, dass bisher alle Parteien gescheitert sind, beweist das seiner Meinung nach nicht, dass eine neue Partei, seine „Konzeption der Partei“, ebenfalls scheitern wird. Es ist klar, dass eine „Vorstellung von einer Partei“ nicht scheitern kann, nur weil reale Parteien gescheitert sind. Aber dann spielen „Konzepte“ keine Rolle. Die Partei, von der er spricht, gibt es nicht. Seine Argumente müssen in der Praxis bewiesen werden, aber eine solche Praxis gibt es nicht. Alle Parteien, die bisher funktioniert haben, sind mit Maitlands Vorstellungen davon gestartet, was eine Partei sein sollte. Das hat sie nicht daran gehindert, im Laufe ihrer Geschichte gegen diese Vorstellung zu verstoßen.

Die Partei, die „Lenin schaffen wollte“, und die Partei, die er tatsächlich schuf, waren zwei verschiedene Dinge, weil Lenin und seine Partei nur ein Teil der Geschichte waren; sie konnten der Geschichte nicht ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. Neben den Vorstellungen gibt es noch andere Kräfte in der Gesellschaft, die die Ereignisse beeinflussen. Maitland mag Recht haben, wenn er sagt, dass das „gegenwärtige Debakel der Komintern nicht beweist, dass Lenins Konzeption der Partei falsch war“, aber das Debakel zeigt mit Sicherheit, dass die Partei, unabhängig von seiner Konzeption, tatsächlich „falsch“ war, wenn man sie an Maitlands Ideen und den Bedürfnissen der internationalen Arbeiterklasse misst.

Die Partei, so Maitland, „ist eine historische Schöpfung, die nicht weggeworfen werden kann“. Leider war das in der Vergangenheit so, aber die Geschichte hat auch gezeigt, dass Parteien nicht das waren, was sie sein sollten. Sie sind eine historische Schöpfung des liberalen Kapitalismus und dienten – eine Zeit lang – den Bedürfnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter, aber nur am Rande. Sie dienten in erster Linie dazu, das Gruppeninteresse und den sozialen Einfluss der Partei zu stärken. Sie wurden zu kapitalistischen Institutionen, die sich an der Ausbeutung der Arbeit beteiligten und mit anderen kapitalistischen Gruppen um die Kontrolle von Machtpositionen kämpften. Aufgrund der allgemeinen Krisenbedingungen, der Konzentration des Kapitals und der Zentralisierung der politischen Macht wurde der Staatsapparat zum wichtigsten gesellschaftlichen Machtzentrum. Eine Partei, die – legal oder illegal – die Kontrolle über den Staat erlangt, kann sich in eine neue herrschende Klasse verwandeln. Das haben die Parteien getan oder versucht zu tun. Wo immer die Partei Erfolg hatte, diente sie nicht den Arbeiterinnen und Arbeitern. Das Gegenteil war der Fall: Die Arbeiterinnen und Arbeiter dienten der Partei. Auch der Kapitalismus ist eine „historische Schöpfung“. Wenn die „Partei nicht abgeschafft werden kann, weil sie eine historische Schöpfung ist“, wie will Maitland dann den Kapitalismus abschaffen, da er mit dem Einparteienstaat identisch ist? In Wirklichkeit müssen beide „beiseite geworfen“ werden; die Abschaffung des Kapitalismus bedeutet heute auch die Abschaffung der Partei.

Für Maitland „sollte die Partei der materielle Apparat sein, um die bewusste Minderheit und die unbewusste Masse zu integrieren.“ Die Masse ist jedoch aus demselben Grund „unbewusst“, aus dem sie machtlos ist. Die „bewusste“ Minderheit kann die eine Situation nicht ändern, ohne die andere zu verändern. Sie kann der Masse kein „Bewusstsein“ bringen, wenn sie ihr nicht die Macht gibt. Wenn das Bewusstsein und die Macht von der Partei abhängen, bekommt die ganze Klassenkampffrage einen religiösen Charakter. Wenn die Menschen, die die Partei bilden, „gute“ Menschen sind, werden sie den Massen Macht und Bewusstsein geben; wenn sie „schlechte“ Menschen sind, werden sie beides zurückhalten. Hier geht es nicht um die Frage der „Integration“, sondern nur um die Frage der „Ethik“. Wir können also nicht nur auf abstrakte Vorstellungen darüber vertrauen, was eine Partei sein sollte, sondern auch auf den guten Willen der Menschen. Kurz gesagt: Wir müssen unseren Anführern vertrauen. Was Parteien geben können, können sie aber auch wieder wegnehmen. Unter den gegebenen Bedingungen ist das „Bewusstsein“ der Minderheit entweder bedeutungslos, oder es ist mit einer Machtposition in der Gesellschaft verbunden. Das „Bewusstsein“ zu stärken, bedeutet also, die Macht der Gruppe zu stärken, die es in sich trägt. Es entsteht keine „Integration“ zwischen „Anführern“ und „Geführten“, sondern die bestehende Kluft zwischen ihnen wird immer größer. Die bewusste Gruppe verteidigt ihre Position als bewusste Gruppe; sie kann diese Position nur gegen die „unbewusste“ Masse verteidigen. Die „Integration“ der bewussten Minderheit und der unbewussten Masse ist nur eine angenehmer klingende Beschreibung der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen.

Die Tatsache, dass Maitland die Partei als „materielles Instrument“ sieht, das das Denken und die Aktion koordiniert, zeigt, dass er noch in der Vergangenheit denkt. Deshalb plädiert er für die Partei der Zukunft. Der materielle Apparat (Versammlungen, Zeitungen, Bücher, Kino, Radio usw.), von dem er spricht, steht den Parteien, wie sie Maitland vorschweben, inzwischen nicht mehr zur Verfügung. Die Phase der kapitalistischen Entwicklung, in der Parteien wie jedes andere Unternehmen aufwachsen und die Instrumente der Propaganda zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten, ist vorbei. In der heutigen Gesellschaft kann die Entwicklung von Arbeiterorganisationen nicht mehr den traditionellen Wegen folgen. Eine Partei, die „das Klassenbewusstsein in den Massen entwickelt“, kann nicht mehr entstehen. Die Propagandamittel sind zentralisiert und stehen ausschließlich im Dienst der herrschenden Klasse oder Partei. Sie können nicht genutzt werden, um sie zu stürzen. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in der Lage sind, Kampfmethoden zu entwickeln, die sich der Kontrolle der herrschenden Gruppen entziehen, werden sie sich nicht emanzipieren können. Eine Partei ist keine Waffe gegen die herrschenden Klassen; es gibt sie nicht einmal in faschistischen Gesellschaften. Gegen die gegenwärtige Macht der Kombination aus Staat, Partei und Kapital hilft nur die „bewusste Aktion der ganzen Masse der Menschen“. Solange diese Masse „unbewusst“ bleibt, solange sie das „Gehirn“ einer Partei braucht, wird diese Masse machtlos bleiben, denn dieses „Gehirn“ wird sich nicht entwickeln.

Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Wir können eine weitere Frage stellen: Was ist dieses „Bewusstsein“, das die Parteien den Arbeiterinnen und Arbeitern angeblich vermitteln sollen? Und was ist das für ein „Bewusstsein“, das die Unterstützung der Massen durch ein eigenes „Gehirn“ verlangt – durch die Partei? Ist diese Art von Bewusstsein, die wir in Parteien finden, wirklich notwendig, um die Gesellschaft zu verändern? Was bisher wirklich gefährlich für die Massen und ihre Bedürfnisse war, ist genau dieses „Bewusstsein“, das in Parteiorganisationen vorherrscht. Das „Bewusstsein“, von dem Maitland spricht und das er in der Praxis erlebt hat, hat nichts mit dem „Bewusstsein“ zu tun, das nötig ist, um gegen die Gegenwart zu rebellieren und eine neue Gesellschaft zu organisieren. Das Fehlen eines solchen Bewusstseins, das von Parteien genährt wird, ist kein Mangel, wenn es um die praktischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse geht.

Die Aufgabe der Arbeiterinnen und Arbeiter ist im Grunde ganz einfach. Sie besteht darin, zu erkennen, dass alle bisher existierenden herrschenden Gruppen die Entwicklung einer wirklich sozialen Produktion und Verteilung behindert haben; sie besteht darin, die Notwendigkeit zu erkennen, Produktion und Verteilung abzuschaffen, die von den Profit- und Machtbedürfnissen spezieller Gruppen in der Gesellschaft bestimmt werden, die die Produktionsmittel und die anderen gesellschaftlichen Machtquellen kontrollieren. Die Produktion muss so umgestellt werden, dass sie den wirklichen Bedürfnissen der Menschen dient; sie muss zu einer Produktion für den Verbrauch werden. Wenn diese Dinge erkannt sind, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf reagieren, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verwirklichen. Es braucht nur wenig Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, um diese einfachen Dinge zu erkennen und nach dieser Erkenntnis zu handeln. Der tatsächliche Klassenkampf ist hier entscheidend und bestimmend. Aber auf dem praktischen Feld der revolutionären und sozialen Aktivitäten ist die „bewusste“ Minderheit nicht besser informiert als die „unbewusste“ Mehrheit. Eher das Gegenteil ist der Fall. Das hat sich in allen tatsächlichen revolutionären Kämpfen gezeigt. Außerdem ist jede Fabrikorganisation besser in der Lage, ihre Produktion zu organisieren als eine Partei von außen. Es gibt genug überparteiliche Intelligenz auf der Welt, um die gesellschaftliche Produktion und Verteilung ohne die Hilfe oder Einmischung von auf ideologische Bereiche spezialisierten Parteien zu koordinieren. Die Partei ist ein fremdes Element in der gesellschaftlichen Produktion, so wie die Kapitalistenklasse ein unnötiger dritter Faktor neben den beiden ist, die für die Durchführung des gesellschaftlichen Lebens benötigt werden: die Produktionsmittel und die Arbeit. Die Tatsache, dass Parteien an Klassenkämpfen beteiligt sind, zeigt, dass diese Klassenkämpfe nicht auf ein sozialistisches Ziel ausgerichtet sind. Sozialismus bedeutet schließlich nichts anderes als die Beseitigung des dritten Faktors, der zwischen den Produktionsmitteln und der Arbeit steht. Das „Bewusstsein“, das die Parteien entwickeln, ist das „Bewusstsein“ einer Ausbeutergruppe, die um den Besitz der gesellschaftlichen Macht kämpft. Wenn sie ein „sozialistisches Bewusstsein“ propagieren will, muss sie zuallererst das Parteikonzept und die Parteien selbst abschaffen.

Das „Bewusstsein“, gegen die Gesellschaft zu rebellieren und sie zu verändern, wird nicht durch die „Propaganda“ bewusster Minderheiten entwickelt, sondern durch die reale und direkte Propaganda der Ereignisse. Das zunehmende soziale Chaos gefährdet das gewohnte Leben immer größerer Massen von Menschen und verändert ihre Ideologien. Solange Minderheiten als separate Gruppen innerhalb der Masse agieren, ist die Masse nicht revolutionär, aber die Minderheit auch nicht. Ihre „revolutionären Vorstellungen“ können weiterhin nur kapitalistischen Funktionen dienen. Wenn die Massen revolutionär werden, verschwindet die Unterscheidung zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Mehrheit und damit auch die kapitalistische Funktion des scheinbar „revolutionären Bewusstseins“ der Minderheit. Die Unterscheidung zwischen einer bewussten Minderheit und einer unbewussten Mehrheit ist selbst historisch bedingt. Sie ist von der gleichen Größenordnung wie die Unterscheidung zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen.

So wie der Unterschied zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern und Bossen im Zuge der unlösbaren Krisenbedingungen und der damit verbundenen sozialen Nivellierung tendenziell verschwindet, so wird auch der Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse verschwinden. Wo sie nicht verschwindet, werden wir eine faschistische Gesellschaft haben.

„Integration“ kann nur bedeuten, dazu beizutragen, den Unterschied zwischen bewusster Minderheit und unbewusster Masse zu beseitigen. Innerhalb der Klassen und innerhalb der Gesellschaft wird es weiterhin Unterschiede zwischen den Menschen geben. Einige werden tatkräftiger sein als andere, einige klüger als andere usw. Es wird weiterhin eine Arbeitsteilung geben. Dass diese realen Unterschiede zu Unterschieden zwischen Kapital und Arbeit, zu Unterschieden zwischen Partei und Masse erstarrt sind, liegt lediglich an den historisch bedingten spezifischen Produktionsverhältnissen, an der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Unterscheidung hinsichtlich der gesellschaftlichen Tätigkeit muss beendet werden, damit der Kapitalismus beendet werden kann. Wenn man die Notwendigkeit einer „Integration“ sieht, muss man das Problem auf eine ganz andere Weise angehen als Maitland. Die „Integration“ muss nicht von oben nach unten erfolgen – wo die Partei der Masse das Bewusstsein vermittelt -, sondern von unten nach oben, wo die Klasse ihre ganze Intelligenz und Energie für sich behält und sie nicht in getrennten Organisationen isoliert und damit kapitalisiert.

Die Produktion ist sozial. Alle Menschen, egal wer sie sind oder was sie tun, sind in einer sozial bestimmten Gesellschaft gleich wichtig. Ihre tatsächliche Integration, nicht die „ideologische Integration“ durch die traditionelle Partei-Masse-Beziehung, ist erforderlich. Aber diese tatsächliche Integration, die menschliche Solidarität, die notwendig ist, um dem Elend in der Welt ein Ende zu setzen, muss jetzt gefördert werden. Sie kann nur entwickelt werden, wenn die Kräfte, die ihr entgegenwirken, zerstört werden. Klassensolidarität und Klassenaktionen können nicht mit, sondern nur gegen Gruppen und Parteiinteressen entstehen.

August-September 1941

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